Der Dichter
Vita Nuova
Philosophie
Inferno
Purgatorio
Das Ziel: Paradiese der Kunst
Petrarca: Ascendentes
1 Der Dichter
Der Kapitalismus als Vorgang und Beziehung erfährt im 13./14. Jahrhundert, als er bereits in vielen Städten fest etabliert ist, keine analytische Kritik, sondern den ethischen Vorwurf. Beschrieben wird der Verlust von Bräuchen, die Zerrüttung von Sitten, der Verfall der Tugenden. Die Position der Ablehnung ist eine konservative und offenbar die einer kleinen Minderheit, und die Hoffnung geht darauf, diese Entwicklung korrigieren zu können. Einen Begriff von Kapitalismus gibt es noch nicht, so wenig wie das Wort, aber seine frühe, offenbar zerrüttende Wirkung (Tugendlosigkeit, Korruption, Lasterhaftigkeit) ist das Fundament für die Gesellschaftskritik.
Dantes 'Comedia' ist eine Versgeschichte in christlichem Gewand, die zugleich eine Kontinuität heidnisch-antiker Vorstellungen belegt. Für Dante ist das kein Widerspruch, denn er begreift sich als Römer im Sinne eines Bürgers (cives) des verfallenden römischen Imperiums. Für ihn gab es keinen radikalen Ruptus, keinen Bruch mit dem Erscheinen Jesu, dem Einfall der Germanen oder dem Zerfall des Reiches nach 400, kein wirkliches Entweder-Oder, so wenig wie für Christen der Antike. Für ihn gibt es auch keine unterschiedliche Vorgeschichte hebräischer und römischer Art, denn beide verschmelzen zu einer Menschheitsgeschichte, die von der römischen Zivilisation überhöht ist.
Er überblickt dabei die ganze bekannte Welt, zu der auch Mohammed und der ganze Orient gehören, eine Welt von den Säulen des Herkules bis sogar hin zum Ganges.
Im Mittelpunkt seiner Dichtung steht ein revolutionärer Akt: Zunächst wird ein vom Poeten geliebtes Mädchen, Beatrice (laut Boccaccio: eine Portinari) zu einem Engel, damals noch ein wesentlich christlich-religiöser, bzw. theologischer Begriff, und dann (fast?) zu einer Göttin, etwas zutiefst heidnisches. Unterwegs wird sie auch noch zu einer Heiligen, um im Paradies die nächste Nähe Gottes zu genießen. Dante maßt sich damit als Dichter-Philosoph eine Autorität an, die in letzterem Fall zunehmend dem Papst (Heiligsprechung), ansonsten aber – theologisch gesehen - überhaupt keinem Sterblichen zukommt. Flasch spricht von Dante, „der in religiöser Diktion Säkularisierung betreibt.“ (Einladung, S. 247) Das hätte Dante wohl nicht so gesehen, versucht er doch vielmehr, so viel Christliches wie möglich in seine Ansicht eines welthistorischen Kontinuums zu retten, das von der Rezeption antiker Philosophie auf dem Niveau seiner Zeit geprägt ist.
Die Vermischung von Weltlichem und Geistig-Geistlichem ist verblüffend beim Aufstieg des Dichter-Erzählers zu Gott bzw. Beatrice, von der Hölle zum Paradies. Das immer wieder durchbrechende Kernanliegen ist ein um Florenz und allgemein um Mittel- und Norditalien kreisender konservativer Antikapitalismus, und er bricht durch ein wenig in christliche Sprache gefasstes aristotelisches Gedankengut mit neuplatonischen Einflüssen und denen der Stoiker. Beim Lesen verfestigt sich dabei immer mehr der Eindruck, dass das Christentum vor allem der poetischen Bildhaftigkeit des Textes dient, weniger einer christlich-religiösen Botschaft.
Christliche Heilige werden unentwegt in die Reihen der Tugendheroen der Antike eingeordnet: Maria – Peisistratos – Hl.Stephanus scheinen zum Beispiel auf einer Stufe zu stehen (Pu15). Heiden wie David, Trajan, Konstantin werden in den Himmel versetzt. (Pa20) Luzifer hält in den Tiefen der Hölle Judas, Cassius und Brutus in seinen drei Mäulern. Das irdische Paradies wird mit dem goldenen Zeitalter der antiken Dichter in eine direkte Beziehung gebracht. Ein heidnischer Dichter, Vergil, führt Dante bis an den Eingang des himmlischen Paradieses. Und mitten in diesem wird ganz ausführlich der Verfall einer eher antik gedachten Tugendhaftigkeit in Florenz abgehandelt. Im Unterschied zu Augustinus ist Tugend hier möglich ohne Christentum, nämlich im heidnischen Rom, und sie ist nicht nur in dieser Welt möglich, sondern sie entstammt sogar dieser.
Der Antikapitalismus ist ethisch (nicht moralisch) begründet, und er ist nicht analytisch, sondern eine vorausgehende doppelte Vergangenheit idealisierend: Einmal die der Antike, und die vor allem, und dann, noch nebulöser, die einer ritterlich-aristokratischen Zeit danach, die mit dem Aufkommen einer intensivierten Geldwirtschaft und dem Aufstieg von Händlern und Finanziers korrumpiert wurde. Geschichte wird dabei als Verfall von Tugendhaftigkeit beschrieben, und die wiederum wird verursacht durch den Verfall kaiserlicher Herrschaft und kirchlicher Autorität.
Der Blick geht dazu nach Norden, über die Alpen, zu jenen Deutschen, deren Rückständigkeit gegenüber Italienern und Franzosen ihre Könige als römisch gedachte Kaiser zu den einzigen macht, die dem allgemeinen Verfall durch die Restaurierung des Imperiums Einhalt gebieten könnten. Dazu müssten sie aber das Papsttum, schon damals die große Hure Babylon, wieder unter ihre Kontrolle bekommen, die gerade an die Franzosen abgegeben worden war.
Die großen antiken Autoren, Homer, Aristoteles, Cicero, Vergil, Ovid, Seneca, Boethius bilden in der Schönheit ihrer Sprache und der Klarheit ihrer Gedanken für Dante eine Antike ab, die er für bare Münze nimmt. Das gelingt auch dadurch, dass die Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen, der breiten Masse, ignoriert wird, im literarisch vermittelten Römerreich wie im damals schon alten Florenz. Hinter diesen Klassikern verblassen beide Teile der jüdisch-christlichen Bibel in erstaunlichem Maße für die, die gerne vom christlichen Mittelalter reden. Manche Neuerungen des Augustinus werden abgelehnt; gegen die Texte, die die Macht der Kirche begründen (Thomas von Aquin etc) setzt Dante einen arabisch und neuplatonisch kommentierten Aristoteles, der nicht mehr hauptsächlich scholastisch ist, sondern am Ende in eine nur noch als mystisch zu bezeichnende innere Schau mündet.
Auf die ausdrückliche Frage des poetischen Wanderers erfahren wir, eine leibliche Himmelfahrt habe es nur für Jesus und Maria gegeben, nicht einmal für den längst kirchlich neben Petrus herausgehobenen Jünger Johannes. Aber Dante beschreibt, wenn auch nur als Poesie, seine eigene leibliche Himmelfahrt (Pa25), zwar nur als Besichtigungstour, aber er gibt sich seine Erlaubnis dazu letztlich selbst, und er braucht dazu auch keine göttliche Autorisierung, es genügt der Wunsch der heiligen Beatrice und ihrer christlicheren Version Maria.
Ebenso deutlich macht er schon am Anfang seiner Wanderung, die den theologisch durch nichts zu rechtfertigenden Umweg durch die Hölle in den Himmel nimmt, dass Unterwelt/Hades bzw. Hölle/Inferno bislang nur von zweien (damals noch nicht Gestorbenen) besichtigt worden waren, nämlich Aeneas und Paulus. Entsprechend ist er höchst erstaunt darüber, dass ihm dasselbe Vorrecht zuteil wird.
Das 'Paradiso' beweist schließlich, dass der Mensch keine kirchliche Hilfe beim Aufstieg zu Gott braucht, so wenig wie zum Abstieg in die Hölle. Dante, der Wanderer, hat als persönlichen Führer zunächst den heidnischen Aeneas, und dann die ebenfalls nicht kirchlich, sondern nur poetisch approbierte Beatrice, und damit er nicht in so fragwürdiger Gesellschaft einem Gott gegenübertritt, der immer noch irgendwie als christlicher erscheinen soll, landet er schließlich bei dem Himmelsführer Bernhard von Clairvaux. Nur, es war eine Frau, Beatrice, die ihn hier haben wollte, und sie war zumindest einmal ein Mädchen und eine junge Frau aus Fleisch und Blut gewesen, die der Poet angehimmelt hatte, und wenn der große, auf Erden einen sehr irdische Erotik eigenartig sublimierenden Marienkult betreibende Bernhard im Angesicht Gottes dem ans Ziel gelangenden Dante ein Marienlied als Abschluss bietet, dann fragt sich natürlich, was für ein Christentum der Poet hier propagiert.
Nun ist die Kirche derzeit (um 1300) laut Dante in einem verheerenden Zustand, wie er nicht schlimmer sein könnte. Von ihr wäre also ohnehin kein Beistand zu erfahren. Es wird nachzufragen sein, welche Rolle sie in irgendeiner Zukunft noch spielen könnte, wenn alle Hoffnung, die Dante in seiner comedia formuliert, auf einen Kaiser bzw. dux gerichtet ist, also auf einen weltlichen Herrn.
2 Vita Nuova
Um 1295, also etwa fünf Jahre, bevor Dante mit der Comedia beginnt, kleidet er eine Anzahl Sonette, Canzonen und Balladen, die er wohl schon früher geschrieben hatte, in einen kurzen Prosatext ein, der wie ein bescheidener Vorlauf für sein Monumentalwerk wirkt. Die darin enthaltene Geschichte ließe sich kurz zusammenfassen, wenn es denn damit getan wäre.
Der neunjährige Dante verliebt sich, als er die ebenfalls neunjährige Beatrice zum ersten Mal sieht, wie er wohl der Oberschicht von Florenz entstammend, in diese auf das Intensivste. Der Amore, welcher segnoreggiò la mia anima, welcher also seine Seele beherrschte (alles hier: II), ist nicht nur ein senior, also „Herr“, sondern ein Gott, nämlich der römische Amor. Um das besonders hervorzuheben, schreibt Dante ausnahmsweise in Latein: Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur michi. (Seht den Gott, der stärker ist als ich, und mich beherrschen wird.)
Was ist das für eine „Liebe“, die den vorpubertären Jungen zu einem ebensolchen Mädchen hinzieht? Sie scheint zwei Seiten zu bekommen im Text, eine körperlich-handfeste und eine mentale, und der Autor selbst gibt zu, dass das bei tanta gioventudine ...pare parlare fabuloso, also bei so frühem Alter eher fabelhaft, also gleichnishaft (oder: fabulös?) erscheint.
Der spirito de la vita, der in der secretissima camera de lo cuore wohnt, zittert in ihm. Der spirito animale, dem die spiriti sensitivi und insbesondere die del viso die Eindrücke zukommen lassen, sagt, nun ebenfalls lateinisch: Apparuit iam beatitudo vestra (alles II). Nun kann beatus sowohl sehr irdisches Glück meinen, als auch das christliche der ewigen Seligkeit in der Gegenwart Gottes.
Allerdings lässt sich hier nichts Christliches im Text entdecken, der Himmel, cielo, ist nichts anderes als lo cielo stellato, der Sternenhimmel, und dass er sie als angiola giovanissima bezeichnet, schließt einen christlichen Engel aus, der alterslos ist und grammatisch eher männlich. Seine Liebe ist durchaus körperlicher Natur, denn sie verdrängt sogar seinen Appetit auf Nahrungsmittel, und ihr Kleid ist nicht nur rot, sondern sogar blutrot (sanguino) von der Röte sexueller Erregung. Und schließlich betont er, dass er le passioni mit dem consiglio de la ragione beherrschte, was auf körperliche Regungen schließen lässt.
Andererseits aber ist sie die gloriosa donna della mia mente (weiterhin II), was als Option angibt, dass sie auch nur seine Erfindung sein könnte, ein Geschöpf seines poetischen Ingeniums, wie er das in der Comedia nennen wird, und er verstärkt diese Ambivalenz durch den Zu-Satz, dass sie von vielen, die ihren Namen nicht kannten, Beatrice genannt wurde. Dann wäre dieser Name nicht ihr wirklicher, denn sie würde nur wegen ihrer beatitudine so genannt, bliebe also tatsächlich namenlos. Bloß, in XXIV wird er von Bice reden, einer Koseform von Beatrice: Im Sonett sieht er einen Kahn, und io vidi monna Vanna e monna Bice/ venire, was Amor nun kommentiert: Quell'è Primavera. / e quell'ha nome Amor, sì mi somiglia. Die eine ist der Frühling und die andere heißt Amor, weil sie dem Gott so gleicht. Der Zahl neun, die immer wieder im Text auftaucht, und deren Bedeutung zunächst ganz rätselhaft bleibt, mag schließlich der Vorverlegung des Alters erster Liebe geschuldet sein, und so wird er sie im nächsten Kapitel wiedersehen, nachdem 9 Jahre vergangen sind. Diese programmatische Zahl nun verstärkt den Eindruck, es handele sich um Symbolisches, Allegorisches, welches eine Interpretation herausfordere.
Beatrice scheint eine Art Vexierbild zu sein, je nachdem, wie man drauf schaut, wandelt es sich. Die Macht, die sie bald über ihn gewinnt, stammt von der vertù che li dava la mia imaginazione (II), von der Tugend, die ihr sein Vorstellungsvermögen gab. Und ihr Bild, imagine, mochte auch nur eine Laune der Liebe (d'amore) sein, die ihn dadurch beherrschen wollte. Aber vielleicht war sie doch eben auch ein kleines Mädchen, welches er einmal sah und dann immer wieder sehen wollte, jene, die er so in Poesie verwandelte wie Homer, den er toskanisch zitiert: sie sei keine Tochter eines Sterblichen, sondern eines Gottes. Dies ma di deo formuliert nicht nur einen Affront gegenüber jedem Christentum, wo Gott nur einen Sohn haben kann, es deutet auch an, dass es sich auf der Ebene der Poesie jedenfalls nicht nur um eine Sache handfester (eben auch körperlich erlebbarer) Liebe handelt. Dass die Bezeichnung des Mädchens als Engelchen und göttlich am Ende in der Liebesschnulze, insbesondere auch der italienischen, ganz peinlich werden wird, nur am Rande.
3
Mit achtzehn also geschieht nun eines der wenigen Ereignisse, die sich als äußere Handlung bezeichnen ließen: Das endlich (und längst) geschlechtsreife Mädchen grüßt Dante auf der Straße, und zwar mit cortesia, einem Aspekt ihrer adeligen virtù, der zurückverweist auf höfische Vorstellungen, wie sie die Troubadoure (trovers/trovatori) vertraten, und nach vorne auf die Höflichkeit als Umgangsform, wie sie die stadtbürgerliche Oberschicht in einer Stadt wie Florenz vertritt (III).
In einer Traumvision wird er in derselben Nacht in una nebula di colore di fuoco (der feuerroten statt vordem blutroten Farbe der Liebe) Amor in furchterregender Pose sehen, wie er fröhlich eine in ein blutrotes Tuch gehüllte Frau (Beatrice) trägt und sagt: Ego dominus tuus. In einer Hand hält er das glühende Herz des Poeten und es gelingt ihm, sie dazu zu bewegen, sein Herz zu essen. Darauf la sua letizia si convertia in amarissimo pianto und weinend nimmt er sie, so scheint es dem Dichter, in den Himmel mit: verso lo cielo (III). Sobald die geliebte Frau ihren Verehrer erhört, stirbt die Liebe.
Das sich Einverleiben des Herzens (Essen!) ist eine drastische Version des eindringenden Penis, aber für die damalige Zeit bzw. genauer hier für Dante ist der sexuell besetzte Unterleib für die Poesie untauglich, wie er in der Comedia noch einmal kurz anmerken wird. (Pur 25: sangue (...) scende ov'è più più bello / tacer de dire. Das Blut sinkt auch dorthin, wovon es besser ist, nicht zu reden: zu den Geschlechtsorganen). Dagegen ist der Streik der Verdauungsorgane wegen der Vorherrschaft des Begehrens (Verehrens im Text des zweiten Kapitels) durchaus poetisch erwähnenswert. Aber alles in allem ist es Aufgabe der Poesie, körperlichen Vorgängen ihre animalische Qualität zu nehmen und sie in Gefühle und Gedanken zu übersetzen.
Der Poet wird sie weiter verehren, auch indem er Gedichte schreibt, und um seine Liebe und den Ruf der Verehrten nicht zu gefähren, wird er andere Frauen als Figuren seiner Verehrung vorschieben. Dies führt dazu, dass Beatrice, die ihn wegen seines missverstandenen (?) Verhaltens nun verachtet, ihre Augen ganz von ihm abwendet. Schließlich stirbt sie.
Während der Zeit, in der er sie aus der Ferne verehrt, wird seine Liebe immer mehr von Schmerz durchtränkt, von Seufzern und Tränen bis hin zur Todessehnsucht - wie sollte es auch anders sein. Aber dieser Schmerz ist süß, voller dolcezza, solange er vor allem Poesie ist, die edle Liebe erst wahrhaft veredelt. Dennoch sagt er seinem Dichterfreund: Io tenni li piedi in quella parte de la vita di là da la quale non si puote ire più per intendimento di ritornare. (XIV) Seine Liebe ist so weit gegangen, dass der nächste Schritt der Tod wäre. Sie hat ihn fest in ihrer Gewalt (XV). Eine Frau fragt ihn nach dem Kern seiner Liebe, und es ist ihr poetischer Lobpreis (XVIII: er ist in quelle parole che lodano la donna mia). Liebe ist das poetische „Kultivieren“ einer süßen Qual.
Es heißt, eine historische Beatrice Portinari sei verheiratet gewesen, bevor sie recht jung starb. Aber Dante verlässt die hohe Minne zur verheirateten Frau, in der Vita Nova bleibt sie unverheiratet, ein dadurch moderneres poetisches Lieben wird vorgeführt, und zweifellos eine größere Leistung der Enthaltsamkeit beim Poeten – der Verzicht ist großartiger. Ehen der vornehmeren Kreise in Florenz wurden gestiftet und verlangten eine gewisse Ebenbürtigkeit, aber keine intensive Verliebtheit, der Gedanke an Ehe oder gar Familie hätte das Bild seiner poetischen Höhe beraubt, entzaubert.
Jungfräulichkeit wiederum war für die nicht verheirateten Frauen der vornehmeren Kreise Pflicht, und Begriffe wie Tugend (virtú), zivilisierter Adel (gentilezza) und Höfischkeit (cortesia) waren selbstverständlich damit verbunden. Aber natürlich auch die Reinheit, und es ist nicht weit hergeholt, dabei auf die paradigmatische Jungfrau Maria zu kommen. XIX in der in die Comedia hinreichenden Canzone 'Donne ch'avete intelletto d'amore' wird deutlich, dass Beatrice durchaus Maria ein gutes Stück weit ersetzen kann. In der Übersetzung von Hannelise Hinderberger (S.34ff) sieht das so aus, nämlich als wenigstens Seligsprechung von Beatrice, über deren Christentum aber nirgends vorher ein Wort verloren wurde:
(…) Ein Engel rufet an den höchsten Geist / und spricht: „Herr, in der Welt sieht man geschehen / ein holdes Wunder (maraviglia), das nur kann entstehen / aus einer Seele, leuchtend bis hierher. /Dem Himmel fehlet diese nun zumeist; / wir bitten dich, mögst sie uns zugestehen!“ / Da alle Heil'gen diese Huld (merzede) erflehen, / hilft uns hier Mitleid (Pietà) nur und sonst nichts mehr. / Was spricht nun, der die Herrin kennt, der Herr? / „Geliebte (Diletti miei), duldet, dass behalt die Welt, / was ihr erhofft, so lang es mir gefällt, / denn einer bangt, sie zu verlieren sehr. / Dereinst sagt in der Höll' er den Verlornen: / Ich sah die Hoffnung der zum Heil Erkornen!“ (io vidi la speranza de' beati).
Die sehr irdische Geliebte als aus der Ferne Angebetete, die zugleich aus jeder Wirklichkeit herausgehobenes poetisches Bild ist, wird nun mittels Poesie ganz pseudo-christlich und geradezu blasphemisch überhöht: Der Sire, Herr-Gott nun, der die Herrin (madonna) kennt, anerkennt sie als Wunder, nennt es aber ganz weltlich maraviglia, und stellt sie auf eine Stufe mit Christus, indem er sie als die Hoffnung der Seligen bezeichnet. Ihr ist, heißt es dann weiter, maggior grazia, höchste Gnade, also hier: Kraft des Verströmens von Gnade, (von Gott) gegeben, denn „wer sie sieht, kann nicht übel mehr enden (mal finir).“ Ihr ist also die höchste Kraft christlicher Wundertätigkeit verliehen, sie ist „gratia plena“ wie eine Maria, allerdings ohne göttlich vermittelte Schwangerschaft. Was die Muttergottes nur durch den Empfang des Jesuskindes schafft, Heiligkeit, gelingt Beatrice schon durch die dichterische Verehrung eines Dante.
Das Fazit ist entsprechend: Dio ne 'ntenda di far cosa nova. Gott beabsichtigt, in ihr etwas Neues zu schaffen (alles XIX). XXXI heißt es dann, dabei handele sich um ein secol novo, was sich wohl auch als (zweites!) neues Zeitalter übersetzen ließe. Der Gott hier ist nicht mehr der römische Amor, aber auch nicht der christliche Gott, sondern ein poetischer von Dantes Hand geschaffener. Er ist vor allem Gott einer Dichtkunst, die ein neues Zeitalter schafft.
Kein Wunder, wenn Beatrice nach ihrem Tod sofort in die gloria etternale eingeht, an der Kirche vorbei, in einen Himmel poetisierender Erotik, der sich den platonischen Umweg um die ausgelebte Sexualität als unterste Stufe beim Aufstieg zum Schönen, welches das Gute ist, spart - ohne dass Dante das 'Symposion' wohl selbst kannte. (Ewiger Ruhm ist es auch, den Dante dann mit seiner Comedia erringen möchte)
Andere schließen sich dem Poeten an: Questa non è femmina, anzi è uno de li bellissimi angeli del cielo. (XXVI: Das ist keine Frau, sondern einer der schönsten Engel des Himmels). Das alles wird auch nicht christlicher, wenn dann erwähnt wird, Beatrice habe den Namen der Jungfrau Maria in höchsten Ehren gehalten (XXVIII), denn dass genügt theologischerseits nicht zur umgehenden Himmelfahrt.
Liebe, das wird dann wieder klar, ist beim Poeten nicht etwas ganz und gar Vergeistigtes, denn er verguckt sich (XXXVII) bald nach Beatrices Tod in eine andere schöne Frau. Als er davon dann mit Mühe abkommt, was sein Leiden (Tränen, Seufzer, Schmerz) wieder verstärkt, erhöht er, nun noch blasphemischer, das Liebesleid zum Martyrium (martirio) und setzt sich quasi die Märtyrerkrone (corona di martiri) auf. Märtyrer bezeugen ihren Glauben durch alle Qualen hindurch, den unglücklich ganz irdisch liebenden Poeten damit gleichzusetzen, reduziert das Christentum auf ein zu plünderndes Arsenal von Bildern und Metaphern. Und so wird der Poet, der seine Beatrice nicht nur vergöttert, sondern (fast ?) vergöttlicht, zum „Pilger“ (wie der nach Santiago oder Rom), der vom Irdischen zum Himmlischen aufsteigt: Der Eros (Amor) wird soweit veredelt, dass er geheiligt ist.
Das wird sich in der 'Comedia' in der Geschichte von Francesca und Paolo fortsetzen, deren aus begehrender Liebe geborene Qualen als martiri bezeichnet werden (Inf5), und die, wie Stierle anmerkt, sie „gleichsam zu Heiligen der Liebe machen“. (2, S.67)
Am Ende (XLII) heißt es: io spero di dicer di lei quello che mai non fue detto d'alcuna, er hofft, bald von ihr das zu sagen, was noch von keiner gesagt wurde, und er hofft, dass Gott seine anima dahin aufsteigen lassen werde, a vedere la gloria de la sua donna, cioè di quella benedetta Beatrice, la quale gloriosamente mire ne la faccia di colui qui est per omnia secula benedictus. Wenn benedictus der ewig gelobte/gesegnete Gott ist, wie kann dann in einem Atemzug Beatrice das selbe Prädikat, wenn auch in der Volkssprache, erhalten: Schaut sie etwa auf Augenhöhe in das Antlitz Gottes?
Das ist zwar nicht das Programm der 'Comedia', wird aber wenigstens der Aspekt, der sie zusammenhält.
4
Man ist versucht zu sagen, Dante habe mit den Mitteln der Poesie versucht, dem zeitlich begrenzten Zustand der Verliebtheit Dauer zu verleihen, schließlich wird er bis kurz vor seinem Tode an jener 'Comedia' arbeiten, in der Beatrice ihn aus dem Himmel heraus zu sich ruft, damit er am Ende erlebt, wie seine Sprachfertigkeit im Angesicht Gottes mystisch verglüht -auch wenn es in seinem großen Gedicht fast durchgehend auch um den Zustand von Florenz, Italiens, des Reiches, der (bekannten) Menschheit überhaupt geht.
Aber welche Form von Verliebtheit bindet den kleinen vorpubertären Knaben lebenslang an das Mädchen? Ist es nicht jene, welche der Poet erfindet, um erst damit zum Poeten zu werden? Ist doch der Gegenstand der Poesie immer einer, den es ohne sie gar nicht gäbe. Was wäre die Landschaft ohne Petrarca, Giotto und Jan van Eyck, bei dem letzterem sie so fein durchgestaltet durch das Fenster in die Stube dringt? Was die(se) Liebe ohne die, die sie erfunden haben, um sie besingen zu können?
Die Transformation des Begehrens in die „Liebe“ verlangt die durchgehaltene Distanz des Begehrenden von seinem Objekt, das Ausagieren des Geschlechtstriebes muss ersetzt werden durch Idealisieren des geliebten Wesens, wodurch das Begehren durchmischt wird mit dem Schmerz der Vergeblichkeit. Das darauf entstehende „Gefühl“ gewinnt so die Qualität einer literarischen Pose, und darin gewinnt es Dauerhaftigkeit.
Damit hatten die Troubadoure kürzlich das Leben der mächtigen Krieger in ihren befestigten Behausungen veredelt, und ihnen das Gefühl vermittelt, dass der Adel mehr sei als blanke Machtausübung, eher eine weit darüber hinaus reichende Lebensform. Im dolce stil nuovo wird diese Dichtung so geschmeidig, dass sie mit einem Dante in die Städte abwandern kann. Das Fräulein hat in Begleitung Ausgang, man wird seiner auf Straßen, Plätzen, in der Kirche ansichtig, die höfische Eleganz wird stadtbürgerlich.
Das Neue darin ist nun, dass der Dichter sich im Text dessen bewusst ist, was er tut – und was viel wichtiger ist, es auch sagt. Indem er die Liebe mit seiner Erfindungsgabe in die Sphäre des Unwirklichen hebt, schafft er ihr eine neue Ebene der Glaubhaftigkeit, allerdings nur durch die möglichst vollendete künstlerische Form. Diese schließt das Gedicht nach außen, zur außerpoetischen Wirklichkeit hin, ab. Dazu gehört auch die entsprechende Situation der Rezeption: Der Dichter singt es nicht mehr vor, sondern es wird in Abschrift gelesen, in der Regel in Abwesenheit des Autors.
Eine Liebe, die im gemeinsamen Alter von neun Jahren beginnt und den Tod der Geliebten bis ans Lebensende des Dichters überlebt, wobei der ihrer nicht anders als selten und aus der Ferne ansichtig wird, kann nur in dessen Vorstellungskraft existieren. Was der Poet also darbietet ist schieres Innenleben.
Dieses Innenleben dürfte kaum sein eigenes sein, vielmehr ist es ein imaginiertes, fiktives. Als der Dichter seine Poesie mit erklärenden Zwischentexten verbindet und als 'Neues Leben' einer Öffentlichkeit zur Lektüre und Abschrift anbietet, ist er gerade dabei zu heiraten und Familienvater zu werden. Einen Heiratsvertrag dafür gab es schon seit Jahren. Und sobald das für ihn möglich wird, steigt er in die Politik ein und arbeitet sich bis in die höchsten Ämter der Stadt vor. Dichten wird er erst wieder, als er im Parteienstreit zu den Unterlegenen gehört und aus Florenz verbannt und dann zum Tode verurteilt wird.
Dass seine Familie in der Stadt zurückbleibt, mag auch damit zu tun haben, dass sie dort weiter von ihrem Vermögen leben wird, während Dante selbst nun lebenslang auf die Protektion erst eines toskanischen, dann eines norditalienischen Hochadels angewiesen sein wird. Ein wenig ist er so den Troubadouren ähnlich, die von Burg zu Burg zogen, sangen und auf Geschenke hofften. Es gelingt ihm aber schließlich, unter den signori, also Gewaltherrschern von Verona und Ravenna wieder in Städte zurückzukehren.
Die Dichtkunst bringt selten und vor der Erfindung des Buchdrucks direkt überhaupt kein Geld ein. Vielmehr dient sie gerade im Italien Dantes im Falle der Mittellosigkeit dazu, Ruhm zu erringen (fama), welchen die Stadtherren dazu benutzen, ihre sehr prosaische Brutalität zu bemänteln. Außerdem eignen sich die Schreib-und Redekünste der Dichter für diplomatische Texte und Missionen. Man soll sich nicht davon täuschen lassen, wenn Stierle in seinem großen Petrarcabuch von „einer freischwebenden intellektuellen Existenz“ seines Dichters schreibt (S.118), denn Petrarca lebt nicht nur von mehreren (ziemlich verpflichtungsfreien) kirchlichen Pfründen, sondern erst von der Gunst des väterlichen Vermögens, danach der der Colonna, und dann diverser anderer Herren. Noch Goethe wird Urlaub von seinem fürstlichen Herren nehmen müssen, wenn er reisen will.
Das Innenleben als eine poetische Erfindung hat also ein deutliches Ziel, welches Dante wie nach ihm Petrarca mit „Ruhm“ bezeichnen, der jenen Müßiggang ermöglicht, aus dem die Dichtkunst wiederum sprießt. In 'Vita Nova' isoliert es sich aus allen Alltagserfahrungen heraus, die nicht mit dem Thema „Liebe“ oder besser andauernde Verliebtheit zu tun haben. Das lyrische Ich bietet so etwas an, was aus der Lebenswirklichkeit herausführt und von ihr ablenkt. Andauernde Verliebtheit macht an sich aus einem gerade noch so sozialverträglichen Wahn dabei etwas, was man in unserer heutigen Sprache wohl als krankhaft bezeichnen könnte, aber die Unwirklichkeit, in die alles kunstvoll eingefärbt ist, verweist dann auf die Harmlosigkeit des Unterfangens: Man kann den Text aus der Hand legen und die Wirklichkeit hat einen wieder.
Philosophie
Das politische Exil und, poetisch gesprochen, jenes, in das ihn Beatrices Tod gebracht hat, führen ihn laut seines 'Convivio' zu einer etwas anderen edlen Dame, donna gentile, nämlich der Philosophie. Anders gesagt, die bisherige Form der Liebeslyrik hat sich nach Behandlung erledigt, Beatrice muss ihn nun zu Höherem führen. Das tut sie, indem seine Treue zu ihr sie unsterblich macht: Zumindest ihre Seele muss für ihn weiterleben. (Con2).
In der Übersetzung von Flasch lautet das so: „Nach einiger Zeit besann sich mein Verstand, der mit sich zu Rate ging, um zu genesen... und ich machte mich daran, jenes wenig bekannte Buch des Boethius zu lesen, worin er, eingekerkert und davon gejagt, sich selbst getröstet hatte... Und (…) so fand ich (…) Worte von Autoren, Wissenschaften und Büchern, die, als ich sie näher bedachte, mich zu der richtigen Erkenntnis führten, daß die Philosophie, die ja die Herrin dieser Autoren, Wissenschaften und Bücher war, eine Sache von höchstem Wert sei.“ (In: Einladung, S.245f) Sie ist figli di Dio, regina di tutto, nobilissima e bellissmia Filosofia. (Con2)
Boethius 'Trost der Philosophie' ist das Buch eines nominellen Christen, wie sonst wäre er auch unter Theoderich zu höchsten Ämtern aufgestiegen – vor seinem tiefen Fall. Aber es spart sich die religiöse Terminologie des Christentums. Und ihm entnimmt Dante die stoisch beeinflusste Vorstellung einer Fortuna, die dann in der 'Comedia' recht eklektisch und widersprüchlich auftauchen wird, sowie die Vorstellung von der Freiheit des menschlichen Willens, die er dort etwas konsistenter einbringt.
Und dann entdeckt Dante den seiner Ansicht nach größten aller Philosophen in Kommentaren für sich: Aristoteles, - und Dante wird offensichtlich von jenen Kommentatoren besonders gefesselt, die Philosophie und Theologie methodisch trennen und sich als Philosophen deutlich aus der kirchlichen Dogmatik entfernen.
Immer wieder betont nun Dante mit Aristoteles, dass „Wissen“ das höchste Gut sei: „Der Mensch verlangt von Natur aus nach Wissen.“ Es ist „höchstes Glück“. Niemand kann dabei überlesen, dass Wissen und nicht Glauben hier an oberster Stelle steht, und dass zum Teil „heidnische“ Philosophen Trost bieten und nicht das Evangelium, wie es sich für einen Christen gehört.
Mit dem vierten Buch bricht Dante das 'Convivio' ab und beginnt mit dem Inferno. Inwieweit er ein darüber hinausgehendes Gesamtkonzept hat, muss wohl unklar bleiben. Nach Beendigung der Wanderung durch die Hölle gibt er diese jedenfalls bereits an Freunde weiter
Inferno
1
Die ersten zwei Gesänge des Inferno sind eine Art Einleitung, Exposition, und sie handeln von der rettenden Kraft der Dichtkunst. Der exilierte Dichter ist in einem Zustand der Verzweiflung, in dem er mit dem Tod als Ausweg ringt. Wir erfahren auch warum: Er sieht sich einer Welt als Wildnis (1: loco selvaggio) ausgesetzt, in der eine mehr als raubtierhafte, unersättliche Gier herrscht, bei der die Speise nur mehr Hunger macht (1: dopo il pasto ha più fame que pria).
Das lässt sich als Kritik am neuen kapitalistischen Unternehmertum lesen, im Unterschied zu einer ruhigeren adeligen Lebensweise auf der Basis der stetigeren Einkünfte aus Grund und Boden. Als Trost wird dem Poeten prophezeit, dass ein Kaiser kommen werde, der mit sapienzia, amore e virtute (1) diese neue Welt wegfegen wird. Aber das löst die aktuelle Lebenskrise erst einmal nicht.
Das weiß Vergil, der plötzlich im dunklen Wald der Verzweiflung aufgetaucht ist und Dante eine eigenartige Geschichte erzählt. Die edel-adelige (gentil) Gottesmutter Maria möchte den Dichter nicht seinem Geschick, dem Urteilsspruch Gottes (giudizio) überlassen, sondern ihn retten. Spätestens ab jetzt ist klar, dass wir es mit keinem christlichen Text zu tun haben, sondern einem, der sich christlicher Bilder nach Belieben bedient. Da Maria keinen Anteil an der Dreifaltigkeit jenes Gottes hat, der allmächtig und unfehlbar ist, ist es für Christen undenkbar, das Maria Gottes Gebot bricht (2: frange)
Maria nun verbirgt die Urheberschaft von Dantes Rettung, indem sie die heilige Lucia damit beauftragt. Sie begründet das damit, dass dieser ihr treu gewesen sei (2: il tuo fedele). Lucia, die Lichtgestalt, war Märtyrerin in der Verteidigung ihrer Jungfräulichkeit gewesen. Das kann nur heißen, dass ihr Verehrer in der Verehrung der Beatrice deren (beider) Jungfräulichkeit im Sinne höfischer Poesie achtete.
Lucia nun wiederum geht zu Beatrice und fordert sie auf, Dante zu helfen, ch'uscio per te volgare schiera. Für sie oder durch sie ist er aus dem „gewöhnlichen Volk“ (Übersetzung Flasch) aufgestiegen.
Die poetische Erfindung Beatrice, die Frau fatta da Dio (2: ist der Poet ein Gott eigener Schöpferkraft?), die Dante überhöht hatte, macht sich nun auf, dem Erzpoeten Vergil die Rettung Dantes anzuvertrauen. Die Poesie sagt dem Poeten, dass nur die Poesie ihn retten könne. Der Poet rettet den Poeten, der sich nun in die Poesie flüchten kann. Und das, was er in der 'Vita Nova' begann, wird nun zum großen Weltepos: io son tornato nel primo proposto (2), er ist zu seinem ursprünglichen Plan, Vorsatz zurückgekehrt, nachdem die dazwischen liegenden Texte eher gescheitert waren.
Wenn Vergil also Dante sagt, er solle einen anderen Weg einschlagen als jenen, der ihn in den dunklen Wald der Verzweiflung geführt hat (1: A te convien tenere altro viaggio), dann ist es jener in die Dichtkunst, der mit 'Vita Nova' begonnen wurde. Und Dante erinnert deutlich daran, wenn er betont, dass es der Weg jenes bello stilo sei, che m'ha fatto honore (1). Er begibt sich dabei gleich auf die Höhe dieses Stils, wenn er von Ehre anstatt von Ruhm (als fama) spricht. Und dieses höfisch-adelige Niveau hält er auch durch, bevor der Abstieg in die Hölle ihn in derbere Gefilde bringt. Die drei edlen und himmlischen Frauen, denen er seine Rettung verdankt, leben am „himmlischen Hof“, (2: corte del cielo). Vergil ist cortese gegenüber Dante, Beatrice redet Vergil mit anima cortese mantovana an (alles: 2). Sie wiederum ist so selig (beata) und schön (bella), dass Vergil sie auffordert, ihm Befehle zu erteilen, als sei er ein Troubadour oder ein höfischer Sänger des 13. Jahrhunderts, der seiner Herrin in poetischer Pose Gehorsam schuldet.
Den hohen Stil, das höchste Niveau kündigt der Dichter aber am deutlichsten in seinem Musenanruf an, der an den Anfang der homerischen Odyssee (andra moi ennepe, musa) oder den Musenanruf Vergils in der 'Aeneis' gemahnt: O Muse, o alto ingegno, or m'aiutate; / o mente che scrivesti ciò ch'io cidi, / qui si parrà la tua nobilitate (2).
Die Musen als Töchter von Mnemosyne (Erinnerung/Gedächtnis) und Zeus sollen also dem Autor helfen, so wie das „hohe Ingenium“. Ingignere heißt einpflanzen, gemeint ist eine klassische Pose der Bescheidenheit, die so tut, als ob die Poesie nicht dem Kopf des Poeten unmittelbar entspringe, sondern einer höheren Macht, ist zugleich aber eine enorme Anspruchshaltung, die besagt, dass der so entstehende poetische Text eine quasi übermenschliche Leistung darstelle.
In der zweiten Zeile soll mente, hier die lateinische memoria, das Erinnerungsvermögen, den Schreibakt übernehmen, nachdem dem Poeten die poetische Vision eingepflanzt wurde, und in der dritten Zeile sich als edel, adelig, vornehm erweisen.
2
Der Jesus der Evangelien drohte weniger mit einer Hölle, als dass er denen, die ihm nachfolgten, das Himmelreich versprach. Als seine Wiederkunft ausblieb und damit auch das letzte Gericht, etablierte die Kirche eine Lehre, die besagte, dass der Weg ins Himmelreich nur durch ihre Gnadenmittel zu erreichen sei. Die Nachfolge Jesu wurde durch die Unterwerfung unter die neuartige Institution ersetzt. Die Hölle wurde zudem nun allen Ungläubigen (Ungetauften) und den reuelosen Sündern als Ort ewiger Strafe angedroht, wobei das Ausmalen dieses Ortes jenes Potential an Lust an der Grausamkeit offenbarte, welches durch Zivilisierung in den Gehorsam einerseits verpönt, andererseits aber zumindest gesteigert wurde.
Dantes Hölle hat mit der christlichen außer der Lust an der Grausamkeit bzw. ihrer Darstellung wenig gemein. Hier werden nicht christliche Sünden, sondern antike Laster bestraft.
Im elften Gesang des 'Inferno' fragt der Wanderer Dante seinen Vergil nach dem Aufbau dieser Hölle, den sein kritischer Menschenverstand nicht begreift. Dessen Antwort macht klar, dass die Abstufung in verschiedene Kreise nicht einem christlichen Sündenkatalog, sondern einem vorchristlich-antiken Kanon von ethischen Normen und Lastern folgt. Nicht Gottes Wort, sondern die 'Ethik' und die 'Physik' des Aristoteles, die Vergil beide als Dantes, als „deine“ bezeichnet (la tua Etica, la tua Fisica), bestimmen, wer wo in der Hölle landet und wie das Böse jeweils bestraft wird. Gott taucht nur als der auf, der (laut Genesis) die Natur geschaffen hat, deren Regeln bzw. Gesetze dann gelten.
Aber der Poet Dante lässt Vergil, sein alter ego, noch weiter gehen: Da Dantes Kunst jene nachzuahmen trachtet, die Gott laut Aristoteles in der Natur vorführt, vostr'arte a Dio quasi è nipote, ist eure Kunst (quasi) eine Enkelin Gottes. Wenn die Malerei der Zeit mit ihren ihr damals zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, die Natur nachzuahmen, Ähnlichkeit zu erreichen, so ist es ebenso das, was Dante hier versucht. Dabei geht es allerdings um die Natur seiner aus Bildung gespeisten Vorstellungskraft.
Schon 7 Gesänge vorher, im Limbus, dem ersten Kreis der Hölle, in dem die auf ewig existieren, die große Männer waren, aber zu früh geboren und darum nicht getauft werden konnten, desavouiert Dante das Christentum, zumindest das kirchlich verordnete, indem er Leuten, die er besonders schätzt, einen privilegierten Platz am Rande der Hölle einräumt. Die größten Dichter wie Homer, Horaz, Ovid und eigentlich auch Vergil tauchen hier auf. Dann eine Gruppe mit Elektra, Aeneas, Caesar, Brutus, Lukrezia, Saladin und anderen. Schließlich die der Philosophen, Aristoteles, Heraklit, Avicenna, Averroes und vieler mehr.
Wer genau hinschaut, entdeckt, dass der im Mittelalter für die ungetauft kurz nach ihrer Geburt gestorbenen Kinder geschaffene Höllenrand hier willkürlich erweitert wird, und nicht nur auf die schuldlos ungetauften, sondern auch auf lange nach Entstehung der Kirche geborene Heiden, Muslime genauer gesagt. Saladin hatte für den Islam Jerusalem von den Kreuzfahrern zurückerobert, der arabische Muslim Averroes hatte eine Aristoteles-Rezeption entwickelt, die in der Kirche als ketzerisch galt, und Avicenna war ein persischer Muslim, dessen medizinische Texte und dessen Aristoteles-Kommentare unter den abendländischen Gelehrten sehr einflussreich wurden. Diese alle sind hier in bester Gesellschaft. Im 28. Gesang wird Mohammed nur unter denen auftauchen, die Zwietracht säen.
Als der Heide Vergil Dante das Walten der Fortuna erklärt, indem er beschreibt, wie der eine weise Gott sie wie all die anderen Götter (7: como (…) gli altri Dei) in die Menschenwelt schickt, die ihr wehrlos ausgeliefert ist (7: vostro saper non ha contasto a lei) widerspricht ihm dieser nicht, denn er ist dem antiken Poeten mehr verpflichtet als dem Neuen Testament und selbst den Kirchenvätern. Vergil ist das Meer alles Wissens, aller Weisheit (8: mar di tutto il senno). Fortuna und Fatum, zwei unterschiedliche Konzepte, sind beide nicht christlich. Im 21. Gesang der Hölle lässt der Dichter den göttlichen Willen und das Schicksal nebeneinander bestehen: voler divino e fato. Wenn Dante ihn die Geschichte von Rhea und Zeus (14) erzählen lässt, tritt diese im Ton und Überzeugungskraft zumindest neben die biblischen, sie wirkt gleichwertig. Man ist sogar geneigt zu sagen, dass die antiken Götter realer wirken als der christliche.
Dante baut sich seine Hölle nach den Gesetzen der Natur, die er von Aristoteles und seinen islamischen Schülern erfahren hat. Der Poet ist ein Gott in seiner Welt. Bald wird er für die Jünger der Kunst und ihre Kundschaft den Priester in eine Nebenrolle abgedrängt haben: Die persönliche Eingebung macht das Ingenium zu einem Hohepriester aus eigener Kraft. Die Kunst ist dann nicht mehr dekorativ wie in den orientalischen und asiatischen Zivilisationen, sie wird quasi Religion werden und irgendwann dann Religionsersatz.
Anders gesagt, lautet es so, wie es der Poet Vergil dem Bewacher des zweiten Höllenkreises entgegenwirft: Non impedir lo suo fatale andare: / vuolsi così colà, dove si puote / ciò che si vuole, e più non dimandare (5). Vergil bahnt Dante den Weg, wo der Höllenwächter Minòs ihn versperren möchte, indem er auf die Macht verweist, die kann, wo sie will, eine Instanz, die nicht weiter befragt werden sollte. Das lässt sich natürlich auf einen (christlichen) Gott beziehen, aber naheliegender ist hier wohl, dass es sich zumindest auch um die Macht der Poesie handelt, die sich jeden Weg bahnen kann, der in einer außerpoetischen Wirklichkeit versperrt ist.
3
In den Gemälden in den hochmittelalterlichen Kirchen taucht das Gericht als das eines Erzengels mit Waage und Schwert auf, der Himmel und Hölle zuteilt. Dies hat längst die Vorstellung eines „Jüngsten Gerichtes“ samt Wiederkunft des Christus ein Stück weit abgelöst, welche aber offiziell bestehen bleibt. Am Eingang zur zweiten Hölle entdeckt Dante aber noch einen Richter (Minòs) samt dessen seltsamem Urteilsspruch (giudizio): Die unglücklichen Sünder dort (die peccatori carnali) gestehen, hören das Urteil und stürzen dann in diesen Bereich der Hölle ab (5). Dante besetzt den Richterstuhl Gottes nach Belieben.
Das Jüngste (letzte) Gericht hat bei Dante dann die poetische Form der Apokalypse: Die tromba des Engels wird erschallen, der große Widersacher wird auftreten, dem Menschen aus der Hölle zumindest wird sein altes Aussehen (6: sua carne e sua figura) wiedergegeben und er bekommt „das zu hören, was ihm ewig in den Ohren widerhallen wird.“. Mit diesen dunklen Worten will sich Dante aber nicht zufrieden geben und wird darum durch Vergil auf Aristoteles (6: tua scienza) verwiesen, aus dem abgeleitet wird, dass die wieder Lebendigen der Hölle zwar nicht vera perfezion erhalten, aber mehr, als ihnen ihr bisheriges Schattendasein zu bieten vermochte. (Vgl. auch Inf 10)
Dies aus der Antike entnommene Schatten-Dasein wird aber nicht durchgehalten, wenn sich die Toten gegenseitig ganz physisch zerreißen oder Vergil im neunten Gesang die Zornesröte ins Gesicht steigt. Schwache Versuche, das zu erklären, können nicht verdecken, dass Dante seine Hölle als ein Spiegelbild jener „Realität“ konzipiert, wie sie sein Florenz und sein Italien für ihn bieten, so wie auch die Welt der Mythen und Sagen und der antiken Literatur. „Jenseits“ der irdischen Welt ist sie nur, weil sie dauerhaft ist, das ist sie aber plausibel nur durch Dantes Dichtkunst selbst.
Hatte Dante schon einmal den von ihm verehrten heidnischen Autoren und Helden einen privilegierten Platz eingeräumt, so macht er das im zehnten Gesang wieder mit den Epikuräern, che l'anima col corpo morta fanno. Auch wenn Epikur selbst hier liegt, geht es nicht allgemein um dessen Vorstellungen, sondern allein um Leute, die der Seele ein Leben nach dem Tode absprechen. Dazu gehören offenbar ein Florentiner Politiker und der Vater seines Dichterfreundes Guido Cavalcanti. Recht behütet liegen sie in Sarkophagen und scheinen den Unbillen der Hölle wacker zu trotzen (come avesse lo Inferno in gran dispitto). Der Dichter lässt den Eindruck zu, als ob er sich bei ihnen gut aufgehoben fände. Seine willkürliche Interpretation des Christentums könnte diese Vermutung verstärken. Vor Dantes Zeit fällt es schwer, solche ungläubigen Menschen in der Christenheit auszumachen, ist es für diese doch lebensgefährlich, sich offen zu ihrer Glaubenslosigkeit zu bekennen.
Das deutlichere, krassere Beispiel liefert Dantes Lehrer Brunetto in der Hölle der Homosexuellen, die vor allem von Gelehrten und Priestern bevölkert ist (15). Das enzyklopädische 'Schatzkästlein' seines Lehrers hatte Dante wohl mit die Idee für seine 'Comedia' gegeben, und der neigt sein Haupt zum Zeichen der Verehrung, der reverentia. Beide sind sich nicht nur in ihrer brachialen Verurteilung von Florenz einig. Brunetto verheißt ihm sogar für sein Weiter-Wandern und Weiterschreiben den „Hafen des Ruhms“, nachdem er ihn gelehrt hatte, „wie der Mensch sich verewigt“ (s'eterna). Nicht ein Gott ist es, der das ewige Leben verheißt, sondern ein Lasterhafter, der es als literarischen Nachruhm feiert. Am Ende wirkt Brunetto auf Dante wie ein Veroneser Wettläufer, der das Rennen gewinnt, nicht verliert (che vince, non colui che perde).
In 16 möchte Dante die dortigen Verdammten sogar umarmen: Non dispetto, ma doglia / la vostra condizion dentro mi fisse. Er verachtet hier die nicht, die für ihre Laster bestraft werden, welche auch kaum erwähnt werden. Er hat Mitleid mit ihnen.
Der Gott des Infernos ist ein Gott von alttestamentarischer Härte. Er übt Gerechtigkeit nach dem Talionsprinzip, er vergilt Gleiches mit Gleichwertigem, aber eben tausendfach. Das Wort dafür bei Dante heißt Rache. Im 14. Gesang der Hölle ruft er O vendetta di Dio aus angesichts der Höllenstrafen. Es gilt deshalb, ihn zu fürchten. Aber wenn seine Strafen so entsetzlich sind, ist er es dann nicht auch, diese Dantesche Erfindung? Im 24. Gesang sind den Räubern die Hände mit Schlangen auf dem Rücken gebunden, die durch die Nieren hindurch Schwanz und Kopf herausstrecken und vorne verknotet sind: O potenza di Dio, quanto se' vera! / chè cotai colpi per vendetta croscia. Die von Dante behauptete Gerechtigkeit Gottes ist grausam im Strafen, und dies zudem auf jede erdenkliche groteske Art. Dabei wird ein Mörder und Gewalttäter wie Vanni nicht einmal wegen seiner Blutschuld bestraft, sondern weil er einer Kirche ihre Reichtümer gestohlen und die Tat einem anderen untergeschoben hat.
Mittelalterliche Strafen konnten hart sein, aber was Dante als Gottes Gerechtigkeit beschreibt, sind die Qualen spätmittelalterlichen Folterns. Dieses diente aber nicht als Strafe, sondern zum Herauspressen von Geständnissen aus präsumptiven Missetätern. Die Opfer von Gottes Rache nach dem Vorstellungsvermögen des Poeten haben aber bereits gestanden, bevor sie in der Hölle landen.
Ist die – modern gesprochen – sadistische Ader von Dantes Gott vielleicht eine Möglichkeit für den Dichter, seinen eigenen Aggressionen nachzugehen, die sich offen und unmittelbar in Vernichtungsphantasien gegenüber ganzen Städten (Florenz, Lucca, Pisa, Pistoia) und ihren Einwohnern erweisen?
Bevor es zu diesen Ausbrüchen geradezu infernalischer Aggression kommt, hat Dante Mitleid (pietà) mit den in der Hölle so unendlich gequälten armen Seelen. Dies beginnt schon im zweiten Höllenkreis, nachdem es bei seinen Vorbildern und Helden im ersten dafür noch keinen Grund gab. Bei der Geschichte von Francesca und Paolo ist das Mitleid sogar so groß, dass Dante ohnmächtig dahinsinkt. Dass die Macht der „Liebe“ durch die Macht der Lektüre so groß ist, dass sie jede ethische Norm durchbricht, macht die des Lasters des Ehebruches Schuldigen schuldlos schuldig, eine tragische Situation, die seit der Poetik des Aristoteles sowohl Mitleid wie Furcht auslöst: In einer solchen Situation waltet kein christlicher Gott, und keine Poesie kann Versöhnliches erfinden.
Mit den Wucherern (Bankiers) endet Dantes Mitleid dann zunächst, um angesichts der brutalen Höllenstrafen für Magier und Wahrsager wieder aufzutauchen. Nun ermahnt ihn ausgerechnet der Heide Vergil, kein Mitleid mit denen zu haben, die Gottes Richterspruch verfallen sind: chi è più scellerato che colui /che al giudizio divin passion porta.(20). Das (allzu) menschliche Mitleid steht gegen Gottes Rachegedanken.
So weit, so gut, aber seine Hölle enthält (31) auch die Giganten, die sich gegen die olympischen Götter empört hatten, „denen Zeus/Jupiter (Giove) noch immer droht, indem er es donnern lässt“. Nicht ein Gott aber, sondern natura hatte sie geschaffen! Wieso sie in der Hölle landen, bleibt unklar. Aber Dante reiht dann unter sie Nimrod, den alttestamentarischen Erbauer des Turms von Babel ein, der an der Vielzahl der Sprachen schuld trägt. Wieder ist es Vergil, der erklärt, dass Nimrod sich in seiner Anmaßung mit dem sommo Giove, dem höchsten Jupiter, messen wollte. Dafür müsste ihn kein christlicher Gott strafen, es sei denn, es wäre der jüdisch-altestamentarische, aber selbst der duldete keine anderen Götter neben sich und würde einem Zeus nicht zur Genugtuung verhelfen.
Dantes Höllenphantasien sind fast alle von ausgeklügelter Grausamheit, viele enthalten extreme Schreckensbilder, nicht wenige sind zudem grotesk oder schlichtweg ekelerregend. Es ist unübersehbar, dass Dante die hochmittelalterlichen malerischen Darstellungen der Hölle übertreffen möchte. Er selbst lebt in einer Übergangszeit, in der in Italien die aus Frankreich gekommene Gotik durch einen Kunststil ersetzt wird, der seinen eigenen Übergang von der Romanik zur Frührenaissance sucht, wie er sich dann auch auf dem Berg der Reinigung und im Paradies findet. Dante erwähnt ausdrücklich den auf der Höhe seiner Zeit befindlichen Giotto di Bondone.
Aber in der Hölle dominieren romanische Schreckensgestalten. Nackte werden von Schwärmen von Mücken und Wespen gepeinigt, vom Gesicht tropft ihnen das Blut, welches zu ihren Füßen scheußliches Gewürm ernährt (3). Zerberus ist von abstoßender Hässlichkeit und ungezügelter Grausamkeit (6). Die Lasterhaften prügeln sich im Morast und reißen sich mit den Zähnen die Fetzen von den Leibern (die sie eigentlich nicht mehr haben.7) Im siebten Kreis kochen die Lasterhaften in einem Blutstrom. Kentauren schießen auf sie Pfeile ab, wenn sie zu weit heraus auftauchen. Einer von ihnen erklärt Dante den Teil der Hölle, über den er wacht.
Über einen Großteil der Höllen wachen (meist antike) Schimären. Kentauren haben einen menschlichen Kopf und Oberkörper und statt eines Unterleibes einen Pferdeleib. Im 13. Gesang tauchen Harpyen auf. Ihr Gesicht und Hals sind menschlich, sie haben einen gefiederter Körper, Flügel und Krallen an den Füßen. Menschen hier sind Sträucher, an denen die Harpyen fressen, worauf aus den Zweigen Blut quillt. Wer entkommen will, in den schlagen schwarze Hündinnen ihre Zähne, zerfleischen ihn in Fetzen und schleppen dann die blutenden Körperteile mit sich fort. Dis/Luzifer am Höllengrund hat drei Köpfe und drei Flügelpaare. In seinen Mäulern stecken Judas, Brutus und Cassius, wobei bei den letzteren die Köpfe zumindest noch herausschauen (34).
Alle diese Beispiele sind heute noch als „romanische“ Kleinplastik anzuschauen, besonders in Südwest-Frankreich. Auch Geryon hat ein menschliches Gesicht, aber Rumpf und Beine sind die einer Schlange (17). Aus der mittelalterlichen Märchenwelt stammt nur der feuerspeiender Drache (draco, 25), selbst keine Schimäre.
Mit solchen Gestalten demonstriert Dante einerseits sein enzyklopädisches Wissen von der Antike. Auf vornehmerer Ebene leistet das auch die Metamorphose eines Sünders, den eine Schlange raffiniert umschlingt, um dann mit ihm so zu verschmelzen, dass ein anderer entsteht. Damit will der Poet Lukan und Ovid übertreffen, vor allem, indem er die Verwandlung in allen Details und Zwischenschritten beschreibt, bis hin zu dem neuentstandenen und zweigeteilten Penis (25). Aber er verzichtet (bewusst?) auf den hochpoetischen Inhalt zum entsprechenden Stil, denn es entsteht ein groteskes, skurriles Bild, die Metamorphose entsteht aus einer fast burlesken Vereinigung, ganz anders als bei Ovid.
Andererseits verweist Dante darauf, dass wir es mit seiner Erfindungsgabe, einem Aspekt seines poetischen Talentes, zu tun haben. Seine Hölle ist ein Kunstwerk jenseits jeder Wirklichkeit bzw. sie schöpft ihre Wirklichkeit ganz aus seiner Kunstfertigkeit. Im 20. Gesang sind Leuten die Köpfe so verdreht, dass „die Tränen ihrer Augen die Gesäßspalte überschwemmten“. (Übersetzung Flasch) Angesichts der zu vermutenden mangelhaften Analhygiene des Mittelalters verbinden sich das Kuriose, das Groteske und das Ekelhafte hier miteinander. Inwieweit diese so Gequälten auch der Lächerlichkeit preisgegeben sind, ist für Dante schwer festzustellen. Aber die Schadenfreude war seiner Zeit so wenig fremd wie der unsrigen heute.
An manchen Stellen stinkt es durchdringend, wie in 17 und 29 besonders, nicht zuletzt nach Kot, wie behutsame Übersetzer schreiben. Gipfelpunkte Dantescher Poesie sind die Passagen, in denen exzessive Grausamkeit und extreme Ekelhaftigkeit zusammenkommen. Über einen Übeltäter heißt es: „Kein Fass, das Dauben oder Boden verliert, kann so auseinanderklaffen, wie ich einen sah, dem ein Riss den Leib vom Kinn bis dahin, wo man furzt, offenlegte. Die Gedärme hingen zwischen den Beinen, die ganzen Eingeweide samt dem elenden Sack, der aus Nahrung Scheiße macht.“ (Übersetzung Flasch, 28) Die dem Laster des Schmeichelns Verfallenen sind umgeben von Schimmel, der aus dem Dunst der Tiefe aufsteigend sich festsetzt. Weiter unten sind sie in den Brei der menschlichen Kloaken getunkt. Ein Kopf ist so mit Scheiße (merda) beschmiert, dass man nicht einmal mehr erkennen kann, ob er eine Tonsur hat. (18) Von solchen Bildern, die zeigen, wie es in Dante brodelt und gärt, welche Aggressionen es dichterisch zu zügeln gilt, ist es ein weiter Weg bis zur himmlischen Beatrice, der er entgegenstrebt. Der zivilisatorische Fortschritt hat die menschliche Aggressivität bereits soweit transformiert, auch indem er sie in den Untergrund trieb, dass es der Hölle bedarf, um sie wieder hervorzuholen.
Die eigentlichen Teufel (diavoli) tauchen erst im 21. Gesang auf, nach all den antiken und romanischen Ungeheuern. Als gefallene Engel haben sie geflügelte Menschengestalt und lauter putzige Namen. Zwar reißen sie den korrupten Amtsträgern die Haut ab und das Fleisch vom Leibe, aber nicht nur, dass das sie jeder ehrlichen Haut sympathisch machen könnte, ihr Treiben wirkt im 22. Gesang eher possierlich, bekommt eine derb-lustige Note. Launig erklärt der Poet am Anfang, wie ihre Gesellschaft als erträglich angesehen werden kann: „In der Kirche hat man die Gesellschaft der Heiligen, in der Kneipe die der Fresser und Säufer.“ Man soll wohl hinzufügen, „in der Hölle die der Teufel.“ Wir sind weit vom hohen Ton der Einleitung entfernt, nicht was die kunstvollen Terzinen angeht, aber inhaltlich. Am Ende des 21. Gesangs verabschiedet sich ein Haufe von Teufel(che)n von seinem Führer/Herzog (duca), indem er mit der Zunge winkt und aus dem Arsch eine Trompete macht (del culo fatto trombetta). Es geschehen Foppereien zwischen Teufeln und Sündern im See aus Pech, und Anfang 23 steigert der Poet dies durch den Übergang zu Albernheiten: Er wird an eine Fabel des Äsop erinnert, und wie „jetzt und nun“ ähnlich klingen wie das Geschehene und die Fabel, wie principio e fine, „wie ein Gedanke aus dem anderen entspringt, so wurde aus dem einen ein neuer...“.
4
Dantes Welt in der 'Comedia' ist zunächst eine fast reine Männerwelt, es gibt kaum Frauen außer im Kreis der Wollüstigen (5: vizio de lussuria), wo sie wohl unabweisbar sind. Dort befinden sich Kleopatra, Semiramis, Helena, Francesca da Rimini. Amor, der Gott der 'Vita Nova', wird hier zum amor des ausgelebten sexuellen Begehrens.
Francesca da Rimini erzählt ihre Geschichte von der (verheerenden?) Macht der Poesie: Zusammen mit Paolo liest sie, beide sind schon verliebt, wie die Frau des Königs Artus im Ritterroman Lanzelot küsst, was sie so erregt, dass die Lesenden sich wiederum küssen und dann unerlaubter fleischlicher Lust erliegen.
Beatrice, die allzeit ferne Geliebte, taucht natürlich in der Hölle nicht auf. Was Vergil (!) dazu treibt, ihn so ausführlich durch sie hindurch zu führen, bleibt unbekannt, handelt es sich doch um einen Umweg in den Himmel der Geliebten. Für den Poeten ist es immerhin die Gelegenheit, sein poetisches Talent auch hier zu erweisen. Die Folteropfer der Hölle ihrerseits wollen, dass nachher durch ihn ihre memoria gewährleistet wird (29). In seinem Text gewährt Dante ihnen denn auch ganz irdische Unsterblichkeit, wodurch er selbst mit ihnen unsterblich wird. Aber wirklich plausibel bleibt auch das nicht, wenn der Poet im Gespräch mit Kollegen dort unten feststellt, dass Kunst Moden unterworfen und somit auch vergänglich ist (vgl. auch Pur 11), es sei denn, Dante hielte sich tatsächlich für einen zweiten Vergil. Problematisch bleibt auch, ob die weiter Lebenden mit ihren Gebeten Gottes Ratschluss für die Toten beeinflussen können. Theologisch geht das nicht, aber die Kirche hatte es dennoch versprochen.
Das Inferno ist über weite Strecken ein Wutgesang über die Verhältnisse in Florenz, in Italien und der Welt überhaupt. Überall in Italien ist Krieg und Bürgerkrieg in den Städten. Florenz ist die Stadt des Neides (6: invidia) und des Haders (6: discordia). Selbst die, die Dante schätzt, sind tief unten in der Hölle. Die Leute sind überall habgierig und geizig (avaritia), nicht nur die Wucherer (wie die Bankiers in Florenz und Padua im 18. Gesang). Die Geldgier herrscht auch unter den Klerikern bis hinauf zu den Päpsten. Unter den in die Hölle verdammten Simonisten trifft Dante drei geldgierige Päpste und beklagt die konstantinische Schenkung, die die Päpste reich gemacht habe (19). Das öffentliche Leben, auf das Dante abzielt, ist halt eine Männerwelt, und das Privatleben sowie das Leben der kleinen Leute, also von fast allen, ist der hohen Poesie nicht wert. Im Kern wird das so bleiben.
Das sehr redundante Klagelied über die Schlechtigkeit der Welt, das seit der Antike immer wieder angestimmt wurde, wird, wie sich in den folgenden beiden Teilen der Comedia erweist, weiter substanzlos bleiben: Der Wunsch nach einem Kaiser aus Deutschland, der das römische Reich wiederherstellt wie der Franke Karl, ist genauso unrealistisch wie der nach einer armen, besitzlosen Kirche. Und eine Rückkehr der Städte zu einem idealisiert-vorkapitalistischen Zustand ist es ebenfalls – die Stadt des hohen und späten Mittelalters ist vielmehr selbst ein Kind des frühen Kapitalismus und es gäbe sie anders wohl kaum. Die Poesie ist der Deckmantel, in den sich ein – modern gesprochen – auch für seine Zeit hochgradig unpolitischer Geist kleiden kann, um zu „Politisieren“. Aber Poesie und Politik gehen nicht gut zusammen, es sei denn, dass Poesie geradezu als Ausflucht, folle volo, aus der Wirklichkeit genutzt wird.
5
Das Neue an der Comedia ist der hohe poetische Anspruch, ein Werk von der Größe und der poetischen Kraft der Aeneis des Vergil zu schreiben. Dafür war notwendig gewesen, dass eine neue städtische Zivilisation entstanden war. Diese war aber in ihrem Charakter völlig anders als die römische, was Dante genauso ignorierte wie nach ihm Petrarca. Es gab auch keine Möglichkeit, eine Geschichte wie die römische oder gar ein augustäisches Zeitalter zu verherrlichen. Was blieb, war das Klagelied über die aktuelle Realität und die Flucht in eine reine Kunstwelt, wie sie im Purgatorio eingeleitet und in den Paradiesen verwirklicht wird.
Der innere Dialog, den er mit seiner Kunstfigur Vergil pflegt, zeigt ihn nicht, wie Stierle (in 'Das große Meer des Sinns' etc). immer wieder betont, in der Position eines früh-modernen Intellektuellen, dem das Fragen und das Zweifeln in seiner ganzen Offenheit zur ureigensten Angelegenheit geworden ist. Vielmehr gibt es auf fast jede Frage eine gängige, wenn auch nicht kirchlich approbierte Antwort, die meist auf antike Philosophie und Literatur zurückgeht. Das Neue ist dabei nur, dass Dante sich selbst ermächtigt, seine Antwort zu geben und sich dabei keinen Deut um die Lehren der Kirche kümmert.
Als Vergil ihn allerdings kurz einmal verlässt, heißt es: ed io rimango in forse; / che 'sì' e 'no' nel capo mi tenciona (8). Hier bleibt ihm nichts als das „vielleicht“, welches zu keinem eindeutigen Ja oder Nein führt. Es geht aber hier andererseits nur darum, wie sein „verrückter Weg“ (folle strada) fortzusetzen sei, eine Frage, die mit der Hilfe Vergils und eines Engels im nächsten Gesang gelöst wird.
Dantes Wissensdurst (Pur18) wird bis zum Schluss bleiben, der Durst, der in unserer Natur liegt und den allein das Wasser löscht, um dessen Gabe die kleine Samariterin bat, er quälte mich. (Pur21) Seine Wissbegierde ist zwar nicht urmenschlich, die meisten Menschen bescheiden sich bekanntlich mit weniger, und den meisten erwächst nicht aus der Antwort eine neue Frage. Sie ist aber auch nicht der Motor von Dante, dem Wanderer, sondern nur der des Poeten, der Fragen stellt, die sonst vielleicht nicht gestellt würden, damit sein alter ego Antworten geben kann, die Dantes Belesenheit erweisen, weniger seine Welterfahrung.
Dante will zu Beatrice, um gerettet zu werden, und wo Vergil nicht weiter weiß, verweist er seinen Poeten-Freund auf sie. Aber sie wird ihm das auch nicht beantworten, sondern auf neue Fragen eingehen. Und Dante wird genau das nicht thematisieren, denn seine Rettung durch die Poesie findet ihren Endpunkt in Sprachlosigkeit. Poesie mag sich in das Kleid der Weisheit hüllen, aber sie weiß nicht mehr, als man auch ohne sie wissen kann.
Dante misst seinen Text an den Taten größter Vermessenheit, Maßlosigkeit, die allesamt bestraft werden. Nimrod will einen Turm in den Himmel bauen, Argo ein Schiff von nie dagewesener Größe, Odysseus die Grenze der bekannten und bewohnten Welt überschreiten.
In der Hölle ist Odysseus (26), wegen seiner trojanischen Kriegslist. Er starb aber, als er von der Begierde getrieben wurde, a divenir del mondo esperto,/ e degli vizi umani e del valore. Es ist das disìo (Begehren) nach esperienza. Denn der Mensch wäre ein Tier, wenn er nicht nach virtute e canoszenza (Kenntnis) streben würde. Und so missachtet er das Zeichen (segno), welches Herkules mit seinen Säulen gesetzt hat. Im folle volo gelangt das Schiff dann bis zu einem steilen und hohen Berg, wo es ein Sturm versenkt.
Es lässt sich vermuten, dass der homerische Held (mit einer neuen Geschichte ausgestattet) an den Steilhängen des Läuterungsberges (Purgatorio) unterging. Aber im Unterschied zu ihm und all den anderen Vermessenen ist Dantes Überspringen des bisherigen Maßes eines des Rückzuges aus der tätigen Welt in die Poesie. Der politische Exilant Dante findet sein wahres (inneres) Exil in der Dichtkunst, in der alle Begrenzungen/Zeichen übersprungen werden können, bis ihm die Zeichen, die Sprache sind, ausgehen. Sein Nachruhm wird nicht auf heroischem Scheitern, sondern auf dem literarischen Erfolg beruhen, denn er hat erst Beatrice, und dann Gott in die Augen geschaut.
Gleich am Anfang des Purgatorio wird Dante deutlich machen, dass er auf anderen Wellen segelt als Odysseus (und Jason, Chef der Argonauten), handelt es sich bei ihm doch um die navicella del mio ingegno, das Schifflein seines Ingeniums (Pur 1), die Poesie.
Purgatorio
1
Das „Fegefeuer“, Ort der Reinigung/Läuterung, ist vor allem eine Erfindung, die das gehobene Bürgertum der neuen Städte in ein kirchliches Christentum integrieren soll, denn Gier und Geiz sind die Triebfedern des Kapitalismus, der religiös gesehen derart auf Sünden (bzw. Dantescher Lasterhaftigkeit) aufgebaut ist. Im Wucher, dem Zins auf Geldleihe, findet diese Sündhaftigkeit ihren Höhepunkt. Wer eigentlich (laut Dante und der frühen Kirche) in der Hölle landen würde, kann nun durch „gute Werke“ und Reue vor dem Tode sein Strafmaß soweit mildern, dass ihm die ewige Verdammnis erspart bleibt und er stattdessen auf einem qualvollen Weg doch noch die Himmelspforte geöffnet findet. Die mittelalterliche Vorstellung von der reinigenden Kraft des Feuers („Fegefeuer“), mit der auch die Ketzerverbrennungen begründet werden, wird bei Dante dabei phantasievoll variiert. Vor allem handelt es sich um eine mühsame Bergbesteigung.
Im Inferno 14 heißt es : Die Seelen baden nach ihrem Bußgang im Purgatorium im Lethefluss, wenn sie ihre Schuld (la colpa) bereut haben und ihnen vergeben wurde. Beim Eintritt in den Himmel haben sie dann ihre Sünden vergessen. Dieses Amalgam aus Christlichem und Heidnisch-Antikem ist Dantes eigene Erfindung. Noch „dantesker“ wird es, wenn später Vergil zu Dante sagt: maggior difetto men vergogna lava. Schon geringere Scham wäscht auch größere Schandtaten ab (30). Dante hatte wie gebannt den Zänkereien der Verdammten zugehört.
Scham (vergogna) ist allerdings etwas ganz anderes als Reue. Das ist wichtig, denn Dante ist auch alles andere als ein reuiger Sünder. Er schaut nur zu, wie andere büßen, es genügt für ihn vorerst, über das Glaubensbekenntnis examiniert zu werden, um im Paradies von Beatrice/Gott anzukommen. Die alleine wird ihm allerdings ein Vergehen vorwerfen: Er hat sich nach ihrem Tod mit anderen Frauen abgegeben. Beatrice formuliert das aber nicht so sehr als christliche Sünde, sondern als Untreue an ihr als Unteue am poetischen Ideal.
Nun ist Dante der Poet noch nicht tot, er wird in der für ihn wichtigsten Weise auch nicht sterben, steigt er doch auf in den Himmel dichterischer Unsterblichkeit. Davon handelt sein Werk: sono in prima vita, / ancor che l'altra, sì andando, acquisti (8). Das zweite, ewige Leben wird er durch seine poetisch verschriftlichte Aufwärtsbewegung zu Beatrice/Gott erlangen. Deshalb genügt es für ihn auch, in direkter Parodie der Reinigungsbemühungen der reuigen Sünder, dass Vergil ihm das Gesicht wäscht (1: gli lavi il viso)
Der das dem Dichterkollegen aufträgt, ist Cato, der klassische Vertreter antiker ethischer Normen (1: gli editti eterni). Er war kein Christ, aber Dante übergibt ihm die Aufsicht über die Bußübungen, den Läuterungsweg der reuigen Sünder: che purgan (1). Catos Suizid, nach christlichen Normen eine Todsünde, der sogar ein christliches Begräbnis verweigert würde, wird ihm eines Tages wohl das Himmelreich einbringen, wie Vergil erklärt. Dann rückt der antike Epiker seinen Dante noch näher an diese vorchristliche Antike heran: libertà va cercando, ch'è sì cara / come sa chi per lei vita rifiuta (1). Wie Cato sucht Dante die Freiheit, und es ist jene vorchristlich-römische, für die Cato sein Leben hingab.
Diese im weitesten Sinne „politische“ Freiheit, die Dante für eine aristokratische ansieht, nur gebändigt durch eine monarchische Gewalt und aristotelische Ethik, nicht aber zerrüttet durch bewegliches Kapital, ist für ihn etwas gesichert Gegebenes. Ein anderes ist jene Freiheit, die erst die ethischen Normen nötig macht. Für Dante hat Augustinus das Theodizee-Problem nicht ein für allemal erledigt: Wie kann ein allmächtiger, weiser und guter Gott das Böse überhaupt zulassen. Der brave Christ erklärt das, so er belesen ist, mit den Rebellionen von Luzifer und Adam. Dante knüpft lieber an vorchristliche Vorstellungen anderer Art an.
Marco Lombardo erklärt im 16. Gesang die Willensfreiheit (libero arbitrio): Einerseits gibt der Himmel den Anstoß menschlichen Handelns, wenn auch nicht immer, andererseits ist der Mensch erleuchtet, zwischen gut und böse zu unterscheiden (bene/malizia). Also: A maggior forza ed a miglior natura / liberi soggiacete; e quella cria / la mente in voi, che il ciel non ha in sua cura. Die Menschen sind einer stärkeren Macht und einer besseren Natur in Freiheit unterworden, und die schafft in ihm den Geist, um den der Himmel sich nicht sorgt.
Gott, der hier so wenig direkt benannt wird wie die Seele (anima), setzt also nach der Schöpfung den/die Himmel in Bewegung und überlässt es dann den Menschen, das Richtige oder das Falsche zu tun. Sie haben die Freiheit zu entscheiden. Indem so der Sündenfall im Paradies zu einer Chance für die Menschen umgedeutet wird, sind sie aufgerufen, ihren vernunftgeleiteten Verstand einzusetzen. Entsprechend wird später der Sündenfall Adams nicht mehr im Essen der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis bestehen, sondern nur noch wie bei Odysseus im Überschreiten eines von wem auch immer gesetzten Zeichens, jenseits dessen der Mensch in seiner Hybris notgedrungen scheitern muss. Aber im Rahmen seiner Möglichkeiten ist der Mensch frei. Damit erledigt sich nicht nur Augustinus, sondern eine Menge theologisches Lehrgebäude danach, und das so ganz nebenbei.
In 18 heißt es: color che ragionando andaro al fondo /s'accorser d'esta innata libertate; / però moralità lasciaro al mondo. Einige entdecken die Freiheit, aber sie ist an die Moral (Ethik?) gebunden. Die Moral aber ist das, was für die stadtbürgerliche Gesellschaft seiner Zeit von der Religion bleibt, der Rest ist auf das Kirchliche abgeschobenes Ritual. Was Dante sich dabei angesichts der unruhigen Zeit weigert zu sehen, ist die zivilisierende Kraft des Kapitals, die „bürgerliche“ Rechtschaffenheit von Geschäftsleuten, die etwas ganz anderes birgt als das aristokratische Ethos höfischer Poesie, und dass beide weit entfernt sind von den Vorstellungen der Nikomachischen Ethik. Zudem ignoriert er, was den zivilisierten Alltag bestimmt: Nicht ethisch bestimmtes, sondern von historisch begründeten Konventionen geleitetes Handeln, und darüber der Druck der Gesetze, die Ausdruck von Macht sind. Dass das monarchische Element von ethischen Vorstellungen jenseits der Machtverhältnisse beherrscht sein sollte, macht die Poesie tatsächlich zu einer Himmelsmacht, zur gegebenen Fluchtperspektive aus der Wirklichkeit.
2
Damit niemand Dantes Großgedicht als ein politisches oder gar religiöses missverstehe, definiert er kurz zuvor, dass seine Freiheit die der Poesie sei. Denn er ruft zum zweiten Mal die Musen an, denen er sich (allein) verschrieben hat (1: poi che vostro sono), und nicht der Politik oder der Religion. Zwar wird er vom Purgatorio singen (canterò), aber (ma!) was hier wieder auferstehen soll (resurga), ist die morta poesì, die tote Poesie also. Und da haben wir es denn auch: Unter dem „schönen Stern, der das Lieben begünstigt“, der Venus also, agli occhi miei ricominciò diletto (1). Er wendet sich nun wieder der Sinnenlust, hier der der Augen, am Schönen zu. Dante kehrt dorthin zurück, wo er mit 'Vita Nova' aufgehört hatte, nur dass das Reich der Poesie nun einen viel weiteren Horizont gewinnt. Das, was in Form von Abhandlungen gescheitert war, soll nun in poetischer Form wieder auferstehen.
Zunächst einmal hören wir einen amoroso canto, den der Sängerfreund Dantes anstimmt: Amor che nella mente mi ragiona aus Dantes 'Convivio'. Die Süße (dolcezza) dieses Liedes klingt, wie Dante ausdrücklich betont, ihm beim Schreiben noch nach. Offensichtlich gibt es im Purgatorium bei all seinen christlichen Einschüben kein Gesetz (legge), welches verbietet, Lieder zu singen, die von der Liebe handeln, auch wenn die Schatten so körperlos sind, dass man sie nicht berühren kann, wie gerade erst festgestellt wurde. Vergil, Dante und die Büßenden sind allesamt so hingerissen, dass sie alles andere um sich vergessen. Welche frommen Gesänge in Zukunft noch auftauchen werden, mit Dantes Lyrik können sie nicht mithalten, insbesondere wenn sie auch noch kunstvoll gesungen wird.
Die Büßenden singen Psalmen, das sind poetische, nicht religiöse Visionen, sie werden an ihrer Schönheit mehr als ihrem religiösen Inhalt gemessen, sie sind Brauchtum und Ritual. In In exitu Israel de Aegypto (2) wird die Rückkehr der Kinder Israels aus dem Exil besungen, für Dante findet es nicht mehr nur geographisch als seine Flucht aus Florenz, sondern vor allem als Rückzug auf die Poesie statt. So singen die Büßenden Beati pauperes spiritu (12). was für Dante ein schönes Schauspiel sein mag, aber die Seligpreisung derer, die arm im Geiste sind, geht gewiss nicht zusammen mit Dantes Darstellung seiner großen Belesenheit und Kenntnis der Philosophie und Theologie. Die Frommen sind ein Spektakel außerhalb von Dantes Gedankenwelt. Sie sagen „Liebt die, die euch Böses angetan haben“ (13) und singen Beati misericordes (15), „Selig die Barmherzigen“. Aber Gott quält diejenigen singenden Büßer, die das Laster des Neides pflegten, indem er ihnen die Augen mit Drähten zunähen lässt, was bei Dante wieder compassion hervorruft, Mitleid (13). Das ist „sadistische“ Quälerei, denn Gott hätte ihnen die Augen auch anders schließen lassen können. Die Barmherzigkeit ist keine Sache dieses Gottes, sondern die Pflicht des frommen Christen. Dass sie nicht Sache Dantes ist, zeigen seine Hassgesänge auf die italienischen Städte und die Kirche, aber auch sein Mitleid gegenüber vielen der von einem mitleidslosen Gott Verdammten. Mitleid ist nicht christliche Tugend wie Barmherzigkeit, es entspringt vielmehr aus dem Gefühl, ist individuell, personalisiert und gilt darum auch nicht jedem, der leiden muss.
Engel (L'uccell divino, der göttliche Vogel, 2) und die zahlreichen Nymphen treten gleichwertig nebeneinander auf. Dass Dante nun die Hände falten soll, muss ihm Vergil erst sagen. Das klingt so, als wäre der Poet aus Florenz selbst nicht darauf gekommen. Die christliche Religion, die Dante vor allem als Arsenal von Bildern dient, wird dann im dritten Gesang in ihrem kirchlichen Kern jedem Verständnis entzogen. Schon die antike Philosophie stieß an ihre Grenzen (Aristotile, Plato und molt'altri), aber wie soll man erst die Trinität erklären (una sustanza in tre persone)! Wenn es möglich wäre veder tutto, „hätte Maria nicht gebären müssen.“ Das Mysterium der Empfängnis Mariens wird also damit erklärt, dass es das Mysterium der Dreifaltigkeit Gottes erkläre, indem es dieses sichtbar mache: Aber nur, um zu sehen, was nicht zu sehen ist. Das Unsichtbare sichtbar zu machen, ist aber weder Sache der Religion noch der Philosophie, sondern wie Dante beweisen möchte, höchstens die der Kunst.
Und natürlich weiß Dante, dass laut kirchlichem Christentum und in Interpretation der Evangelien Gott seinen Sohn nicht (auf so merkwürdige Weise auch noch) in die Welt schickte, um den Menschen die heilige Dreifaltigkeit zu verdeutlichen, sondern um ihn für sie zu opfern, damit sie erlöst werden: von der Sünde Adams, aus der jegliche Sündhaftigkeit herrührt. Deshalb auch der im Hochmittelalter so intensiv und gefühlvoll um sich greifende Marienkult, den Dante in die Verehrung Beatrices verwandelt: Christus erlöst Adam und Maria Eva, die Stamm-Mutter der Menschheit, die durch das ganze Mittelalter hindurch zuvor große (verführte) Verführerin war. Der Kult der Jungfräulichkeit, der mit dem Marienkult wieder neu bestärkt wird, der dann in der hohen Minne zur Verehrung der aristokratischen Frau wird, die unerreichbar bleibt, führt bei Beatrice zum hohen Lob sexueller Enthaltsamkeit bei höfisch-poetischer Treue. Bis Dante sich im dunklen Wald verirrte und der Verzweiflung anheim fiel, hatte er laut Beatrice nur einen Fehltritt begangen: Sich nach ihrem Tod mit anderen Frauen abzugeben. Sie rettet Dante daraus, indem sie ihn bei seiner alles Bisherige übertreffenden Wanderung wieder ganz auf sich bezieht. Sie sorgt dafür, dass er wie schon zu ihren Lebzeiten erneut durch die Poesie erlöst wird.
Drei Frauen hatten Vergil zu Dante geschickt, damit er zu Beatrice zurückfindet. Diese verlässt ihn am Schluss, um sich in ein himmlisches Präsidium einzureihen, dessen oberste Ränge nur aus Frauen bestehen. Nun sind diese allerdings nicht mehr alle Jungfrauen, aber es ist Weiblichkeit, die Dante nach oben zieht, Frauenlob, und es wird nachhallen bis in den verkorksten und wenig poetischen Schluss von Goethes 'Faust'.
Das Mittelalter hatte die Totenmessen und die Bittgebete für die Verstorbenen erfunden, um den Angehörigen zu suggerieren, durch Vermittlung der Kirche sei es ihnen möglich, dass Strafmaß der Toten zu lindern, um also etwas von der Macht der Kirche an die ihr Untergebenen abzugeben: Um die Macht der Kirche dadurch weiter zu steigern. Entsprechend bitten im Purgatorio die Büßenden Dante, nach seiner Rückkehr die noch Lebenden daran zu erinnern. Dante, dessen Gottesbegriff hier nicht erlaubt, dass Sterbliche den Allmächtigen in seinen Entscheidungen beeinflussen (ein absurder Gedanke ohnehin), fragt Vergil nach dessen Ansicht dazu. In seiner Welt, so antwortet er, sei das nicht möglich gewesen, wie die mente sana weiß. Sollte allerdings foco d'amor (das Feuer der Liebe) das doch einmal erreichen, würde das am Grundsatz nichts ändern. Das allerdings wird den sospetto, den Zweifel Dantes nicht auflösen, und darum solle er warten, bis Beatrice die schwierigen Fragen beantworten wird. (alles 6) Sie wird das, soweit überhaupt, nicht christlich, sondern mit den Mitteln des (auch antiken) Philosophierens tun.
3
Im sechsten Gesang des Purgatoriums verdichtet Dante sein Klagelied über das zerrissene und in Gewalt und Bürgerkrieg verstrickte Italien in hohes Pathos: Ahi, serva Italia, di dolore ostello, / nave senza nocchiere in gran tempesta, / non donna di provincie, ma bordello. Italien ist versklavt, Herberge der Schmerzen, Schiff ohne Steuermann in großem Sturm, nicht Herrin von Provinzen wie das alte Rom, sondern ein Bordell. Inmitten dieses Unheils befinden sich mit Dante die Vornehmen, der Adel (i gentili), die zur kaiserlichen Partei halten und darum unterdrückt werden. Nur ein Caesar aus Deutschland kann das Reich (das imperium romanum) gegen die Franzosen und die Päpste wieder einen, aber die deutschen Könige sind seit Rudolf von Habsburg ihrer Pflicht nicht mehr nachgekommen, denn sie sind von Eigennutz und Lastern befallen (6/7).
Die Willensfreiheit (definiert als eine der mente, nun aber der anima über- oder eingeordnet) lässt die meisten in die Irre laufen, deshalb bedarf es eines Gesetzes und eines Königs, che discernesse della vera cittade almen la torre, der wenigstens (aus der Ferne) den Turm der wahren Stadt (Rom) sieht. Aus zukünftiger Ferne lässt Hobbes grüßen. Aber zurück in Dantes Zeit um 1300: Seit die geistliche Gewalt dort sich mit Besitz und weltlicher Gewalt umgeben hat, sind weltliche und geistliche Macht nicht mehr getrennt, und l'uno l'altro no teme, die eine fürchtet die andere nicht mehr. Die Schuld liegt dabei vor allem bei Rom.
In Florenz wollen die Wohlgeborenen die Amtsgeschäfte nicht mehr wahrnehmen, nach denen der Pöbel (il popol tuo) giert. Athen und Sparta waren civil gewesen, zivilisiert, während in Florenz eine Bestimmung umgehend durch eine andere abgelöst wird (wohl die Verfassung der Stadt betreffend) und alles sich ständig (und offenbar beliebig) ändert.
Aber wieder und wieder erinnert unser Dante dabei eine höfische Welt der Poesie, die es so bestenfalls als inszenierten Festtag gegeben hatte: rimembro (…) le donne e i cavalier, gli affanni e le agi /che ne invogliava amore e cortesia, (die edlen Damen und die ritterlichen Kavaliere, ritterliche Kämpfe und Freuden/Annehmlichkeiten, zu denen (höfische) Liebe und höfischer Sinn uns einluden. 14)
Dante lässt seinen Ahnherrn Cacciaguida von vergangenen aristokratischen Zeiten schwärmen. Aber das er eine gewisse Distanz dazu hält, wird im vierten Buch seines 'Convivio' deutlich: Wahrer Adel ist keine Sache eines Standes, sondern des Individuums, er wird nicht vererbt, sondern erworben durch eigene Leistung. Man kann ihn sich auch nicht „erkaufen“ durch großen Reichtum, der in adeligen Status verwandelt wird. Schon in der 'Vita Nuova' erweist er sich als eine Form sublimierter Liebe, als Kultivisierung verfeinerter Gefühle, und implizit in der 'Comedia' als Bildungsideal.
Das nostalgische Moment einer Rück-Ansicht einer einfacheren, von kernigeren Werten bestimmten Vergangenheit ist nicht nur Sache der Poeten, sondern der neuen Historienschreiber wie des Paduaners Giovanni da Nono oder des Riccobaldo da Ferrara in folgender Passage:
Der Ruhm der Männer war es, reich an Waffen und Pferden zu sein: der des Adels war es, hohe Türme zu haben. Viele verschwenderische Gewohnheiten haben diese frühen Bräuche erstickt, viele davon solche, die zur Zerstörung der Seele führen, Sparsamkeit ist in Extravaganz verwandelt worden. Man sieht Gewänder aus kostbarrem Material, mit exquisiter und übertriebener Kunstfertigkeit geschmückt, mit wunderbar eingearbeitetem Silber, Gold und Perlen, mit breiten Stickereien und Seide eingearbeitet, mit exotischen und kostbaren Häuten versehen. Es fehlt nicht an Anreizen zur Gier. Fremder Wein wird getrunken und fast jeder ist öffentlich angetrunken, die Feste sind prunkvoll, und ihre Meister, die Köche, hochbezahlt. (…) Von daher kommen Wucher, Betrug, Raub, Plünderung, Streit im Staat, ungerechte Forderungen, Unterdrückung der Unschuldigen, Vernichtung von Bürgern, Verbannung der Reichen... (in:Hythe, S.165)
Man spürt implizit in der 'Comedia', wieviel Dante von solchen nostalgischen Vorstellungen teilt, aber auch, dass er inzwischen weiß, dass sie eine Vergangenheit beschreiben, die nicht mehr rückholbar ist. Der Aufstieg des Poeten in sein Paradies ist eben auch sein Ausstieg aus der vita activa in ein kontemplatives Leben, die Sphäre der Poesie erlöst alleine aus der Wirklichkeit. Anders als bei Chrétien de Troyes oder Gottfried von Straßburg zieht kein Ritter mehr hinaus in die (feindliche) Welt, sondern der wahre Adel des Geistes und des Herzens zieht sich aus ihr zurück.
Was Dante dabei seiner Ansicht nach leisten kann, ist zumindest dem Land, welches einst Hort der lateinischen Sprache war, und nun in zahlreiche volkssprachliche Dialekte zerfallen ist, wieder eine gemeinsame Sprache zu geben: O gloria de' Latin (…) per cui / mostrò ciò che potea lingua nostra, sagt der wohl für Dante herausragende Trovatore Italiens (7). Dante hat gezeigt, was „unsere Sprache“ kann, nämlich große Dichtung hervorbringen. Ganz klar ist das nicht, denn falls Dante den „Ruhm des Lateinischen“ verkörpert, was ist dann „unsere Sprache“? Dante hatte seiner Ansicht nach Großes auf Latein vollbracht, aber andererseits, falls Sordello und er sich in einer der italienischen Volkssprachen unterhalten, so wie Dante sich auch mit einem anderen Troubadour auf Provenzalisch unterhalten konnte, ist dann vielleicht doch gemeint, dass in der 'Vita Nova', im 'Convivio' und nun der 'Comedia' das erreicht wird, was Dante schon früher gefordert hatte: Ein gemeinsames Italienisch für ein gemeinsames Italien (?) Eine Sprache geboren aus dem Geist der Poesie?
In diesem „politischen“ Zusammenhang ist es zu verstehen, wenn er sagt, dass nicht der christliche Gott (Dio), sondern Giove, also Jupiter gekreuzigt wurde (o sommo Giove / che fosti in terra per noi crocefisso) und fragt, wohin der inzwischen seine Augen gerichtet hat. Dante ruft natürlich den obersten Gott des römischen Reiches an, denn unter dem christlichen Gott war es am Ende dem Verfall/Zerfall preisgegeben. Andererseits verbindet er ihn in extremem Synkretismus mit dem christlichen Gott, allerdings einem nicht trinitarischen, denn nicht die Vielfalt, sondern die wirkliche Einheit Gottes, wie sie auch die antike Literatur (zum Beispiel eines Vergil) verstand, kann die Einheit und nicht die Vielfalt Italiens und der ganzen bekannten Welt sich wünschen. Und dieser eine (nicht unbedingt christliche) Gott wird denn auch gekreuzigt, nicht „sein Sohn“. Aber ist er tatsächlich per noi gekreuzigt worden? Auf jeden Fall offenbar nicht für das Glück Italiens und darin insbesondere von Florenz – nicht wirklich „für uns“. Das Bild von Italien, welches Dante in der 'Comedia' zeichnet, ist eines absoluter Gottverlassenheit, und mir scheint jene die zu sein, die Dante im dunklen Wald der Verzweiflung gepackt hatte. Nicht ein christlicher Gott, sondern Maria/Beatrice/Lucia führen ihn denn auch da heraus, drei himmlische, verehrungswürdige Damen des „himmlischen Hofes“ (la sua corte, 16), der höfischen Liebe.
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Im Morgengrauen, vor dem Erwachen, wenn die Schwalben singen, ist der Geist (mente) noch nicht vom Körper (carne) und der Gedankenschwere belastet und hat Visionen/Träume: sue vision quasi è divina. (9) Er gelangt fast (sozusagen?) zu göttlicher Schau. Derweil kommt Lucia mit den schönen Augen auf einem Blumenteppich zu Vergil, weist ihm den Weg und trägt Dante an die Pforte der eigentlichen Reinigung. Das veranlasst den Dichter zu einer (erneuten) direkten Ansprache an den Leser: Dieser möge sehen, wie die Dichtung nach oben schwingt, und soll sich nicht darüber wundern, wenn Dante nun das Niveau des Poetischen weiter steigert. Siebenmal P für Sünde schreibt ein Engel ihm mit dem Schwert auf die Stirn und fordert ihn auf, die Wunden (piaghe) drinnen „abzuwaschen“ (lavi). Dante schafft das im weiteren mit seiner Poesie, die ihm (kurz) das Himmelreich gewinnen wird. Qui si conviene un poco d'arte, heißt es dann, um den engen Eingang zu überwinden (10). Und zur Poesie gehören nicht die Qualen der Büßenden, sondern ein etwas beschwerliches Wandern in von Menschen belebter Landschaft, und das als „Abwaschen“ dessen, was andere büßen müssen.
Einen neuzeitlichen Kunstbegriff gibt es noch nicht, und hier geht es wohl um Kunstfertigkeit (Geschicklichkeit). Was die im originären Wortsinn bedeutet, beschreibt Dante nun anhand mehrerer Reliefs: Kunst ist verace, also wahrheitsgetreu, wahrhaftig, wie ein Wachsabdruck der Wirklichkeit (di miglior sembianza, 12). Dieser aber ist der Natur überlegen (la natura lì avrebbe scorno), denn das Bild schweigt nicht, sondern drückt Empfindungen aus und erzählt, wie beim Mitleidsbild des Trajan, gar eine ganze Geschichte. (10) Wir sind damit der byzantinischen Ikonenmalerei entkommen in die eines Cimabue, Duccio und Giotto. Zudem beschreibt Dante hier seinen dolce stil novo: Die Dichtkunst ist nicht mehr nur kunstvolle Pose, sondern Ausdruck echten Gefühls, Bekenntnis, confessio. Und damit ist der neue Kunstbegriff zwar noch nicht von der antiken ars und ihrer mittelalterlichen Vielfalt begrifflich getrennt, aber der neue Inhalt ist ausformuliert.
Und damit ändert sich der Ton: Dem Leser (lettor) wird empfohlen, die Martern (martire, Qualen) nicht für so entsetzlich zu halten, sind sie hier doch zeitlich begrenzt: Bedenk die Folge (la succession), nämlich die letztliche Aufnahme in den Himmel, heißt es. (10). Zudem ist der Gott des Purgatorio ein grundanderer als der der Hölle. So heißt es in dem von Dante frei umgeformten Vaterunser: In seinem Reich – allerdings nur dort - ist Liebe (amore) das höchste Gut; und dann – „bitte vergib uns wohlwollend/gnädig und beachte nicht, was wir verdient haben, so wie wir jedem das Übel vergeben, das wir von jedem (a ciascuno) erlitten haben.“ (10) Der Gott dieses Paternoster ist, ganz anders als der der Hölle, einer, der verzeihen kann, denn ersterer verzeiht nicht einmal Vergil, dass er vor der Christianisierung Roms gelebt hat und darum ungetauft ist. Andererseits war aber auch Dante im Inferno dort nicht die Gnade der Kunst des Verzeihens gegeben worden, wo sein Hass übersprudelte.
Vor allem ist Dantes Wanderung nach oben nun eine Art von Gnade/Begnadigung (grazia), die daher rührt, „dass Gott ihn liebt (Dio t'ami 13). Er sagt: Dio m'ha in sua grazia rinchiuso, „Gott hat mich in seine Gnade eingeschlossen“ (16). Die sehr unchristliche Selbstbegnadigung des begnadeten Künstlers wird zum Strahlenkranz der künftigen Kunst in der kapitalistischen Welt werden. Die Lasterhaften/Sünder werden den Trost, als Kinder Adams ohnehin der Sünde verfallen zu sein, dadurch „menschlich“ zu sein, durch die Freiheit ihres Willens verlieren, die sie neu fordert, aber sie gewinnen den Trost der Künste, deren Priester bald über denen der Kirche stehen werden. Letztere ist dann vor allem für niedriges, unbelesenes Volk zuständig, dem der Konsum der Ware Kunst weder finanziell noch intellektuell zugänglich ist. In den Kirchen werden die Mächtigen sie Bilder schauen lassen, die der jeweils korrekten kirchlichen Lehre entsprechen, während den „gebildeten“ Wohlhabenden zuhause eine andere Welt zur Verfügung stehen wird.
Andererseits wird Dante, wie er kurz einmal einschiebt, irgendwann ernstlich das Purgatorium durchlaufen müssen. Aber vielleicht glaubt er, dass sein vorher vollendetes großes Werk ihn noch einmal begnadigen wird, hat er inzwischen doch ganz poetisch Gott gesehen, bzw. gesehen, dass man seiner nicht wirklich (ganz irdisch) ansichtig werden kann.
Vielleicht ist es aber auch sowieso nicht die Gnade Gottes, sondern die der Poesie (seines Vergils), die ihn aus dem lockeren Lebenswandel seiner jungen Jahre herausgeholt hat, jene Poesie, die vielleicht auch die höchste Gnade Gottes ist. (23: Di quella vita mi volse costui...). Dem Dichterkollegen sagt er es: Nicht Gott, nicht Beatrice, sondern die Dichtkunst hat ihn, den niederen Adeligen, auch innerlich geadelt. Und tut sie es nicht dadurch, dass er sein Reich der Poesie, deren Urgrund Liebeslyrik ist, mit den paradiesischen Zuständen da oben gleichsetzt?
Das Ziel: Paradiese der Kunst
1
Mit der Hölle zeigt Dante die „irdische“ Welt in ihrer ganzen Fülle. Da sind die Dichter, die Philosophen, die großen Liebenden. Da sind die Lasterhaften und die bös-gierigen Mächtigen, da ist die in Gier verstrickte und ekelhaft gewordene Kirche. Eine große weite Welt tut sich auf.
Im Purgatorio wird zunächst neben anderem formuliert, was Kunst leisten kann und soll. Sie soll die Natur nachahmen und zugleich dabei ihr Innerstes abbilden, Emotionen, Gefühle, Innenleben. Er belegt das wie schon gesagt einmal an einer „klassischen“ antiken Reliefkunst, die bald die der italienischen Frührenaissance werden soll. Dann an der Malerei Giottos, die Menschen nicht nur naturgetreu, sondern ausdrucksstark zeigt und zunehmend auf den früher üblichen Symbolismus als Kern verzichtet. Schließlich an seiner Poesie, dem neuen Stil, in dem am Thema „Liebe“ der Dichter sein Inneres nach außen kehrt und so das Gemüt und nicht nur den Verstand bewegt.
Im 19. Gesang macht er dann so deutlich wie noch nie zuvor, dass es sich dabei um eine Sublimation des sexuellen Begehrens handelt, aus der die Poesie hervorgeht, und zwar im Traum von der dolce serena (süßen Sirene). Bevor die ihn überwältigen kann, erscheint eine donna santa, holt Vergil, und der reißt der Sirene die Kleidung vorne auf, Dante sieht ihren Bauch/Leib (ventre) quel mi sveglio col puzzo che n'uscia, der mich mit dem Gestank aufweckt, der von ihm ausgeht. Der Unterleib taugt nicht für die Poesie, er hat seinen Platz in der Hölle der Wirklichkeit, in der (23) den Florentinerinnen bald von der Kanzel verboten werden muss, mit entblößten Brüsten herumzulaufen, wie er sagt.
Ganz anders dagegen Dante, der von einem Büßer erkannt wird als der Dichter von Donne ch'avete intelletto d'amore (O Frauen, die ihr die Liebe kennt / ich möchte mit euch von meiner Frau reden... 24) Es ist dies das Gedicht aus der 'Vita Nova', in dem Gott Beatrice entgegen den Wünschen der Engel noch eine Weile auf Erden lässt, Dante zuliebe. Der wird nämlich ihr Bild dereinst in sich durch die Hölle tragen. Entsprechend folgt ein Loblied auf den dolce stil novo, der dort gelingt, wo Amor einen „anhaucht“, und dessen Meister unser Dante ist.
Wenig später (26) lobt Dante dann die Meisterschaft von Guido Guinizelli, des „Vaters“ derer, die rime d'amor zu schreiben vermochten, dolci e leggiadre (süße und hold-liebliche Liebesreime).
Das Paradies ist eines der Liebeslyrik, die das Begehren am Leben erhält, indem sie es in höchsten Tönen sublimiert. Man ist versucht, einiges davon auf Platos 'Symposion' zurückzuführen, auf Diotimas Rede vom Aufstieg (auch ein ascensio) von der Liebe zum sinnlich wahrnehmbar Schönen zu dessen idealer Form, jener Schönheit, die sich als Liebe zum Guten, als Ethik erweist. Ist doch Dantes Großgedicht, welches die Poesie feiert, indem es sie darbietet, inhaltlich am ehesten verständlich als ein ethisches Lehrgedicht, welches seine Substanz aus der (heidnischen) Antike bezieht und das Christentum nur soweit einbezieht, wie es da hineinpasst.
Aber Dante kann Platos Text nicht gekannt haben, Gedanken daraus können nur (allerhöchstens) indirekt und über Ableger des Neoplatonismus vermittelt worden sein. Und Sublimation in der Poesie Dantes ist nicht Aufstieg vom sinnlich-wahrnehmbaren Göttlichen zu dessen vorgestellter Idee, sondern blanker Verzicht als Ausgangspunkt, wie zum Beispiel eine Passage im 22. Gesang des Purgatorio zeigt: Dort ist das goldene Zeitalter der Antike das irdische Paradies (Lo secol primo, che quant'or fu bello). Bei Dante reicht es bis weit in die Antike hinein, anders als bei deren Autoren. Es ist eine Zeit extremer Bescheidenheit, die Römerinnen tranken nur Wasser (und waren keusch), Johannes der Täufer ernährte sich von Honig und Heuschrecken. Es handelt sich hier wie so oft um extremen Synkretismus, Einordnung des Christlichen in eine von Dante vorgestellte Antike, die dabei ist, zum Dekor der Reichen und Mächtigen zu werden.
2
Bevor sich Vergil von Dante trennt, indem er ihm Krone und Mitra aufsetzt, sagt er ihm, er habe ihn bisher geleitet con ingegno e arte (27). Das Genie und die Kunst haben ihn so hoch hinaus geführt, dass er sozusagen König und Papst seiner Dichtkunst geworden ist. Was jetzt kommt, geht darüber hinaus, aber das wird der so Gekrönte jetzt alleine schaffen!
Warum Vergil gehen muss, ergibt sich nicht nur aus der rein formalen Tatsache, dass Verdammte nicht in den Himmel dürfen, nicht einmal Beatrice wird ihn da hinein bekommen, sondern viel deutlicher aus der Linie Aeneas (Vergil) – Dantescher Odysseus – Dante, der poetische Wanderer. In der schönen Untersuchung von Stierle (2) im ersten Kapitel des ersten Teils werden die für Dante wesentlichen Unterschiede herausgearbeitet: Aeneas hat die historische Aufgabe, jenes Rom zu gründen, welches unter Augustus dann so großartig erscheint und dessen Neuerstehung Dante propagiert. Seine inhaltliche und poetische Aufgabe ist damit erfüllt. „Aeneas steht in einem Kosmos der Bindungen, Er ist gebunden an das Geschick Trojas, an seine Familie, an die Sphäre des über ihm waltenden Göttlichen.“ (Stierle2, S. 43) Der Dantesche Odysseus ist nicht nur Zerstörer Trojas, er ist Vertreter eines zügellosen Wissensdrangs, den Dante durch virtù gezügelt wissen möchte (Inf26, Stierle2, S.46).
Diese zu erklären ist Sache des ganzen Textes. Da nun wird Stierle zum ästhetisierenden Romanisten: „Nicht in der Weltorientierung noch in der Selbstorientierung findet Dante letztlich seine Rettung, sondern im Werk. (Stierle2, S.60) Das stimmt insofern, als Dantes Seefahrt eine rein poetische (und praktisch-philosophische) ist und zudem seine Lebensaufgabe wird. Aber sie orientiert ihn dabei auf eine göttliche Weltordnung, der eine irdische als ethisch begründete Forderung entsprechen soll. Aus dem nicht mehr dem Verstand Zugänglichen, welches das ihm Erklärliche gebiert, welches zu ganz handfesten praktischen Vorstellungen führt, wird umgekehrt zugleich der Weg vom erfahrbar Verständlichen zu seinem unerklärlichen Kern.
Die Einheit in der Vielfalt wird dabei ganz im Sinne der lateinisch tradierten griechischen Antike formuliert, und sie ist sicher nicht „Rettung“, aber letzter Trost als beruhigende Vorstellung in einer beunruhigenden Welt.
Es handelt sich hier von nun an um zweierlei, um reine Poesie erotischer Sublimation einmal, und zum anderen um Gedankendichtung, und es wird nicht einfach sein, beide zusammenzubringen. Bei ersterem handelt es sich dabei um eine aufsteigende Linie vom Traum von Lea zur Vision von Matelda und schließlich zu Beatrice, in der sich der oben angekommene Eros mit den höchsten Gedanken vermischt.
Dante träumt von Lea, als Venus ihren (seinen?) Berg / ihre Insel Kythera, che di foco d'amor par sempre ardente (vom Feuer der Liebe ständig glühend) in strahlenden Glanz taucht. Jung und schön spaziert sie Blumen pflückend und sich Kränze windend (wie eine Botticelli-Medici-Göttin) über eine Wiese und singt dem Poeten folgendes zu: „Ich schmücke mich, um mir vor dem Spiegel zu gefallen; Meine Schwester Rahel ist vom Spiegel nicht fortzubekommen, sie sitzt dort den ganzen Tag. Sie erfreut sich am Anblick ihrer schönen Augen, so wie ich mich daran erfreue, mich mit meinen Händen zu schmücken.“ (27)
Was Dante dazu gebracht hat, ausgerechnet die beiden Frauen des biblischen Stammvaters Jakob in ein so erotisches Bild zu verwandeln, bleibt wohl ungewiss. Gewiss ist nur, dass die höchste hier sichtbare Stufe des Eros Tanz, Gesang und Poesie ist, höchste Kunst, sich selbst geweihte und genügende Schönheit. Während der entfaltete frühe Kapitalismus das aristokratische Ideal aus der Wirklichkeit verbannt, beginnt es auf dem Weg in die sogenannte Renaissance in der Kunst ein Eigenleben zu entwickeln, in dem die Freiheit die des Künstlers und die Willensfreiheit die einer Kunst wird, die sich autonom setzt, obwohl sie am Wohlwollen der Reichen und Mächtigen hängt. Wenn dann etwas später Petrarca sein Lob der Einsamkeit (solitudo) singt, ist dies die Einsamkeit des Künstlers beim Schöpfungsakt. Die Grenze der Autonomie ist dabei der Wunsch nach Lob und Anerkennung, nach Ruhm und vor allem auch Nachruhm, nach Unsterblichkeit.
Einen Gesang weiter wird das Bild mit Matelda variiert, die ebenfalls singend, tanzend und Blumen pflückend (wie eine Nymphe, heißt es 29) über eine Wiese geht. Erst senkt sie scheu den Blick, dann erfreut sie den Poeten, indem sie ihn ansieht. Ihre Augen leuchten stärker als die der Venus, als Amor sie mit seinem Pfeil getroffen hatte. Dante ist im irdischen Paradies angekommen, welches das „höchste Gute“ (lo sommo ben, 28) den Menschen schenkte. Dieses summum bonum der antiken Philosophie, zwar in das Gottesbild der Theologie eingegangen, aber doch etwas anderes als der christliche Gott, der immer ein persönlicher Gott ist, schafft, wie er ausdrücklich anmerkt, ein Paradies, welches dem età dell'oro entspricht, von dem die antiken (vorchristlichen) Autoren dichteten. In ihm „glüht“ das sexuelle Begehren umso stärker, je mehr es sich seine Erfüllung versagt.
Bevor nun eine Prozession erscheint, in der er Beatrice sieht, müssen die Musen noch einmal angerufen werden, denn jetzt wird das Versifizieren schwierig, es geht um forti cose a pensar, also: jetzt wird es auch gedanklich immer schwieriger (29). Sieben Leuchter erscheinen, die jüdischen wie die der Apokalypse wie die der sieben christlichen (der Antike in Anverwandlung entnommenen) Tugenden. Beatrice wird von 24 (so weisen wie wohl impotenten) Greisen angekündigt, die singen: „Gesegnet (benedetta) seist du unter den Töchtern Adams, und gesegnet sei auf ewig deine Schönheit.“
Diese Seligpreisung Beatrices (die wir schon aus der 'Vita Nova' kennen) klingt für einen gläubigen Christen noch blasphemischer, wenn sie im nächsten Gesang durch ein Veni, sponsa de Libano (30) ergänzt wird und dann durch den Ruf aller Benedictus qui venis. Das sind einmal Varianten der Anrufungen Mariens in der Kirche wie im Ave Maria: Benedicta tu in mulieribus. Zudem ist Maria die sponsa Dei, die Braut Gottes (im erweiterten Ave Maria/Ave virgo zum Beispiel). Das Antiphon der Messe heißt: Veni sponsa Christi, accipe coronam. Die Braut aus dem Libanon aber entstammt dem hocherotischen Hohelied Salomos. Doch das ist noch nicht der Gipfel: Auf dem von einem Greifen gezogenen Triumphwagen erscheint Beatrice (30), und der Greif ist das Tier, ch'è sola una persona in due nature (31), also Jesus der Mensch und Christus der Gott.
Man mag den Wagen als Symbol für die Kirche sehen, und die Schimäre Greif als Christussymbol, aber dass Beatrice auf einem von Christus gezogenen Wagen als Triumphator auftritt, ist ein für einen Christen üblicherweise nicht mehr denkbares Bild. Plausibel kann es nur dadurch werden, dass sie die Stelle Mariens (der Gottesmutter) einnimmt. Doch die Schimäre Jesus/Christus hat, so stumm sie bleibt, als Doppelnatur eben auch eine Funktion im Text: Sie spiegelt sich unter Dantes Blick in den Augen Beatrices, und zwar abwechselnd in ihren beiden Naturen. Und nicht um den Heiland als Mensch und Gott, der hier nur dienende Funktion in der Poesie hat, geht es, sondern um Beatrice als Frau und Göttin, um die irdische und himmlische Liebe, um das Leben und die Kunst.
Sie, die ihn körperlich von sich ferngehalten hatte, wirft ihm nun vor, dass er sich nach ihrem Tode mit anderen abgegeben habe, und verlangt von ihm dafür ein Schuldbekenntnis. Dabei schwanken beim Poeten die Begriffe, er sagt einmal Schuld (colpa) und einmal Irrtum/Fehler (errore), und er sagt einmal Reue (pentér/pentimento) und einmal Scham (vergogna), und er lässt offen, was ihm näherliegt. Aber wir können vermuten, dass er beides ganz unchristlich gleichsetzt bzw. zusammenfallen lässt, auch wenn das eine eher der himmlisch-religiösen (intellektuellen), dass andere eher der irdisch-leiblichen Sphäre zugehört. Modern gesprochen wird dies Amalgam aus Mythos/Religion und Kunst psychologisch. Und in diesen Aspekt hinein gehört auch sein ständiges Neubetrachten der Gedanken (die entstehen, bevor man sie bemerkt, Par 10) und des Entstehens der Fragen aus dem Zweifel. Hier wird die Scholastik um das auf den vernünftigen Verstand einwirkende Innenleben des Menschen bereichert und dabei in die Krise getrieben.
Aber ob nun Reue oder Scham oder beides: Der Dichters Folco/Folquet von Marseille wird bald klarmachen, dass es im Paradies ohnehin keine Reue gibt, da man das Böse hinter sich gelassen, vergessen hat. Qui si rimira nell'arte che adorna / con tanto affetto, e discernesi il bene / per che al mondo di su quel di giù torna. (Hier bewundert man die Kunst, die mit solcher Leidenschaft schmückt, und man gewahrt das Gute/die Güte, die die ganze untere Welt zur oberen hinwendet. Par9). Die Kunst bewertet ethisch, bewegt sich dabei aber auf einen Raum jenseits davon zu.
Was Dante Beatrice gewährt, ist eine confession (31), ein Schuldeingeständnis samt Reue, womit sie die Priesterrolle eines Beichtvaters einnimmt. Und die schöne Frau von vorher, Matelda, taucht seinen Kopf in den Fluss Lethe, gewährt ihm so das Vergessen seiner bösen Taten, aber ganz analog zu jener Taufe, die Christen zuteil wird, und analog auch zur Absolution, die der Beichtvater erteilt: Aus dem irdischen Paradies wird das himmlische, in dem es keinen Sündenfall geben kann. Die sinnliche Schönheit wird ganz zur Metapher einer ins Intellektuelle sublimierten, aber die Poesie wird ein kurzer Fluchtpunkt bleiben, denn der schreibende Dante wird wieder in der Wirklichkeit ankommen, und mit einem Leser sprechen, der beim Lesen gerade einmal daraus entflieht.
Die Doppelnatur der Liebe hier, das Begehren (disio) und die Entsagung, führt zu jener Mischung aus Lust und Schmerz, die schon in der 'Vita Nova' thematisiert wurde, und die seit den fahrenden Sängern des 12. und 13. Jahrhundert Gegenstand ist. Er erkennt (30) i segni dell'antica fiamma, die ganz körperlich sind, als er Beatrice wieder sieht. Bevor er die doppia fiera (die doppelte Bestie, 31) in ihren Augen sieht, sind es Mille disiri più che fiamma caldi, (tausend Wünsche heißer als Feuer) mit denen seine Augen ihren begegnen. Aber Beatrice sagt ihm, das das Paradies nur dem glücklichen Menschen offensteht (l'uom felice), und der Schmerz der Entsagung (oder besser und so wie es Dante nicht sagen wird: der Entsagung und der Erfüllung) schwindet erst, wenn er sich ganz auf Beatrices „zweite Schönheit“ seconda belleza, 31 einlässt, für die sie „ihren Mund entschleiern“, also reden muss.
Das erste, wovon Beatrice redet, ist der grausige Verfall der Kirche (32). Aber (33) ein „Fünfhundertfünfzehn“, ein DUX wird ganz irdische Erlösung bringen, ein Kaiser, der sich später als Heinrich VII erweisen wird. Nach Vergil wird Beatrice nun zum alter ego bzw. Sprachrohr Dantes.
Vorher aber muss der Poet noch einmal die Doppelnatur seiner Jugendliebe ansprechen, indem er sich an das erotische Begehren erinnert: Er spürt „die Macht der alten Liebe“ in sich (30), und zwar ganz physisch, nämlich mit „Staunen, Zittern und Zagen“, wie Stierle übersetzt (2, S.77). Und dann: Men che dramma / di sangue m'è rimaso che non tremi: / conosco i segni dell'antica fiamma. (30) Das ganze Blut in seinem Körper zittert bei ihrem Anblick.
Anders als Stierle sehe ich das innere Drama des Poeten/Dantes nicht in den immer neu auftauchenden Zweifeln, denn in der Auseinandersetzung zwischen Kirchen-Christentum und Philosophie kann sich der Autor immer für letztere entscheiden, und da bleibt für ihn kein wesentlicher Rest. Vielmehr findet sich der Konflikt als ganz innerer zwischen der körperlichen, leibhaftigen Existenz und der der davon abgezogenen Gedanken. Die Strenge, mit der Beatrice ihm zunächst begegnet, und die sexuelles Begehren als Schuld des Abwegs von der geistigen Existenz mit Unterwerfung unter ihr Geistwesen bestraft, richtet der Poet schließlich selbst gegen sich, aus dem heiligenden Martyrium der Liebe muss die Qual des Begehrens abzogen werden, um jenes Glück zu finden, eudaimonía, das Identität in der Einheit mit dem Göttlichen in seiner theoria findet, die Schau ist und zugleich Beruhigung alles Denkens in den Stillstand.
Beim Aufstieg hin zu den Paradiesen sagte er nämlich: e che la mente nostra, peregrina / più dalla carne e men da' pensier presa / alle sue vision quasi è divina. (s.o., Pur9). Morgens ist der Geist dem Fleische fremder und von sorgenvollen Gedanken weniger belastet; darum kann er fast schon in göttlicher Schau aufgehen.
Stierle schreibt: „ … Dante (muß), zwischen Odysseus und Aeneas, seine eigene Identität suchen, ohne ihrer je gewiß zu werden. Das Ende der Commedia mit seiner Vision des in der Liebe Gottes geordneten Ganzen ist vielleicht nichts anderes als ein poetisches Versprechen, vor dem die Frage nach der Identität erlischt, ohne doch eine Lösung gefunden zu haben.“ (2, S.100) Bloß, Identität ist ein Konzept, mit dem der Dante der 'Comedia' noch wenig anzufangen wüsste. Sich verirren hat für ihn nicht die Konsequenz „sich“ zu finden, sondern etwas, was ihn leben lässt, und dass ist Poesie als Kunst und als „philosophische“ Betrachtung, im Ergebnis: Anschauung.
Im Konflikt mit einem Körper, seinen Äußerungen, seinem Begehren, wird da wohl (fast?) immer ein Rest bleiben, der ständig im Test thematisiert und abgeführt wird. Die edlen Zwillingsdamen Poesie und Philosophie gehen nicht ganz ineinander auf.
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Beatrice wiederum ist das Sprachrohr einer göttlichen Offenbarung: „So strömten die Wellen des heiligen Flusses (del santo rio), die aus der Quelle entspringt, aus der alle Wahrheit kommt und versetzte das eine und das andere Begehren in Frieden.“ (Par 4) Die Suche nach Wahrheit schafft den Zweifel (die Frage) und dann die Antwort, und so geht es von Berg zu Berg bis zum Allerhöchsten (sommo) – und der Führer ist die Natur (natura). Beatrice ist Dante, der als höchster Welterklärer seine eigenen Fragen beantwortet. Aber auch die seligen Geister um sie herum sind im Inbesitz der Wahrheit: credi come a dii, glaub ihnen wie Göttern, sagt sie ihm. (5)
Pensa, lettor, se quel che qui s'inizia / non procedesse, come tu avresti / di più savere angoschiosa carizia (5) „Stell dir einmal vor, Leser, das, was einmal begonnen ginge nun nicht weiter. Besorgt würdest du wissen wollen, was nun kommt.“ Dante redet jetzt noch mehr von Dingen, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Kirche fallen und immer heikler werden. Darum bindet er den Leser, dessen Wissbegierde oder Neugierde, in seine ein, die ihn zu seinen unorthodoxen Aussagen führte.
Beatrice beginnt, indem sie schon im ersten Gesang erklärt, was Dante vor allem unklar ist: Gott (der alles bewegt), bewegt das eine mehr, das andere weniger. Die unterschiedlichen Naturen (nature) der Dinge/Menschen si muovono a diversi porti per lo gran mar dell'essere, e ciascuno con istinto a lei dato che la porti. (… bewegen sich zu unterschiedlichen Häfen durch das große Meer des Seins, und jede mit dem Instinkt/Beweggrund, der sie trägt und mit dem sie begabt ist.) Was Stierle als die Errungenschaft des Petrarca behauptet (in seinem großen Petrarcabuch), dass der nämlich im Kontakt mit dem Nominalismus eine einheitliche Welt in eine der Vielfalt auflöse, die horizontal aufgelöst und nicht mehr vertikal geordnet sei, ist gerade ein großes Thema der 'Comedia'. Die hierarchische Ordnung ist nämlich nur noch eine der poetischen Form, in die Vertikale hinab zur Hölle und hinauf in den Himmel sind unentwegt dieselben Themen gepackt, die Dante im Laufe der vielen Jahre seines Schreibens immer wieder neu angeht. Tatsächlich ist Gott nicht oben, sondern außerhalb einer antik in Sphären gegliederten Welt angesiedelt, und lokalisierbar ist er nur noch im sprachlos ihn Wahrnehmenden. „Gott ist überall und nirgends“, schreibt Flasch S.333) Hierarchisch ist nur noch die Kunst geordnet, die nach stetig neuen Höhen aufsteigt, um bei Dante ihre vorläufige Vollendung zu finden, und hierarchisch ist zudem die Reichsvorstellung, die aristotelisch den Menschen als zóon politicón benennt (wobei politisch eben auch staatlich heißt, sarebbe il peggio / per l'uomo in terra, s'è non fosse cive?) und dann ganz im Sinne der neu entstehenden Nationalstaaten und gegen die Bürgerrechte des Kapitals in den Städten ein streng monarchisches Regiment verlangt.
Kein Wunder, dass Dante sagen kann: L'acqua ch'io prendo, giammai non si corse. Die Meere, die sein Schiff durchpflügt wie noch nie ein anderes, enden nicht an äußeren Zeichen, sondern erst dort, wo die Zeichen der Sprache enden.(2) Er wird Odysseus und Jason übertreffen, aber mit den Mitteln philosophierender Poesie. Und er erweist sich denn auch gleich auf der Höhe von Albertus Magnus & Co: esperienza ist suol fonte ai rivi di vostr'arti. Flasch übersetzt etwas zu wagemutig: das Experiment (ist) die Quelle, aus der euer Wissen fließt. (S. 324)
Es ist schon noch die Erfahrung ganz allgemein bei Dante, und es handelt sich nicht nur um Dantes Künste, sondern die aller Menschen. Zudem sind mit arti alle menschlichen Kunstfertigkeiten gemeint, wozu auch die Handwerke gehören, aus denen später die Künste und die Wissenschaften (als scienza) sprachlich ausgegliedert werden. Aber sie schließt die Religion als reine Glaubenssache und als institutionalisierte Konvention aus. Beatrice vertritt eine wenig christliche Philosophie in christlichem Gewand: Sie wird immer versuchen, in der Einheit die Vielfalt zu verstehen, das Mehr oder Weniger, das Verschiedene im Rahmen des Einen. Und als Poet weiß Dante, wie sehr „das Eine“ und „der Eine“, in dem es allein seine Einheit findet, zusammenfällt.
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Die Kirche hat das Evangelium und die Dottor magni vergessen. Von einer Kirche der Armen in der Nachfolge Jesu, so wie sie Franz von Assisi und Dominikus, Gründer der Bettelorden, noch einmal vorlebten, ist sie zu einer reichen Kirche im Bündnis mit der französischen Krone geworden, die anders als ein noch zu benennender Kaiser aus Deutschland nur ihr Eigeninteresse vertritt. (9) Dass die großen und gelehrten Theologen sich weit vom Evangelium entfernt hatten, lässt Dante außer acht. Überhaupt, soweit ihm das Christentum nicht als Arsenal poetischer Bilder dient, betrachtet er es in Form von Theologie als Instrument zur Tradierung von Philosophie.
Der Gott von Dantes Paradies ist Liebe: Guardando nel suo Figlio con l'Amore / che l'uno e l'altro eternalmente spira, / lo primo ed ineffabile Valore, // quanto per mente o per loco si gira, / con tanto ordine fe', ch'esser non puote /sanza gustar di lui chi ciò rimira. (10) Um das zu verstehen, ist zunächst einmal festzuhalten, dass Dantes Gott keine Person ist, im Unterschied zu all den paradiesischen Seligen, weswegen an seiner statt hier auch Beatrice und all die anderen reden. Valore lässt sich mit dem Guten, dem Werten, dem Bedeutsamen hier übersetzen, und „es“ ist hier „das erste und unaussprechliche/unsagbare“, was nach dem höchsten Guten, Wahren und Schönen des Neoplatonismus klingt, wie er später in Florenz Einfluss gewinnen wird. Während also dies Valore mit Liebe seinen Sohn betrachtet, mit jener, die der eine wie der andere ständig atmet, schafft es mit so großer Ordnung, was uns vor unserem inneren/geistigen und äußeren Auge auftaucht, und was dem, der sehen mag, zum größten Vergnügen/Genuss gereicht. Und wie es dann weiter heißt: Leser, tu dich um in der Kunst (arte) dieses Meisters (maestro) – die Welt als Kunstwerk gleichsam wie die Poesie, die eine Welt bietet, die sehr irdisch einem Künstler entspringt. Wo Gott nicht mehr redet, muss der Künstler einspringen...
Dies ist einerseits die antike Auflösung Gottes in die Welt als Kosmos (Welt als Schmuckwerk des Göttlichen), in der „das Eine“ gedanklicher Fluchtpunkt für „den Einen“ die Welt Betrachtenden ist. Dabei ist Liebe keine Eigenschaft „Gottes“ mehr, sondern sie ist Gott, eine Art kosmischer Vorgang, in dem „er“ ständig ausatmet, was „er“ ist, er sich in die Welt entäußert. Das ist denn auch die Einheit des Werkes der Dichtkunst: Es steigt von der irdisch geliebten Beatrice zur Beatrice der himmlischen Liebe auf. Das Göttliche im Empyreum unterscheidet sich von ihr nur insofern, als es weder sinnlich wahrnehmbar noch Texte verströmend ist. Es ist Beatrice jenseits ihrer ihr vom Poeten gegebenen Gestalt; wenn man so will, ihre (fast?) unsagbare Quintessenz, oder besser: ihr letztes Wesen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir im himmlischen Paradies sind, denn die Hölle auf Erden, die hier kurz einmal in das Wasser Lethes getaucht ist, hat damit wenig zu tun. Die Trennlinie, die Dante hier stillschweigend zieht, ist ungeheuerlich. Francesca und Paolo schmoren in der (irdischen) Hölle, die ihnen Dante poetisch als dauerhafte bereitet, weil sie große, aber illicite Liebende sind, die Dante so bewundert wie den großen Vergil, der für immer am Rande der Hölle hausen muss, weil er zu früh geboren wurde. Eine Verbindungslinie zwischen irdischer Hölle, die sich nur notdürftig ordnen lässt, und himmlischer Seligkeit verläuft nur über die Wanderpfade der philosophierenden Poesie...
Dabei formuliert sich Dante auch als Erbe der großen Denker des hohen Mittelalters: Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Petrus Lombardus, Siger von Brabant. Es handelt sich um Scholastik und in dieser um den Einzug von immer mehr Schriften des Aristoteles. Aber Dante übeflügelt sie alle, indem er jeden seiner Gedankengänge gleich wieder von poetischen Bildern und für seine Zwecke erfundene oder umgeformte Geschichten unterbrechen lässt.
In Dantes Paradies lässt sich am ehesten Siger wiederfinden, den am Ende die Inquisition verfolgte:
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Die poetischen Texte des 13. Jahrhunderts erzeugen keine Illusion, die einen vergessen lassen soll, welcher Abstand zwischen Kunst und Wirklichkeit besteht, sondern sie betreiben das genaue Gegenteil: Das Wunderbare, das Außergewöhnliche bis hin zum ganz und gar Unglaublichen sind ganz bewusst Gegenstand der Kunst. Das gilt auch für die poetische Darstellung des Ritterlebens bei anderen Dichtern, bis dieses versucht, punktuell sich selbst in Szene zu setzen, szenisch darzubieten, nicht zuletzt dank des poetischen Vorbildes. Indem es das tut, hat es aber bereits einen erheblichen Substanzverlust erlitten: Söldner, Landsknechte, käufliche Krieger sind an seine Stelle getreten.
Das Publikum dieser „neuen“ Dichtung ist besonders auserlesen, wenn sie in lateinischer Sprache geschrieben ist. Es handelt sich dann um einen kleinen Kreis von Gelehrten: Zu ihnen spricht Dante in seinem Traktat über die Volkssprache, über die eloquentia vulgare, und in seiner Schrift 'De monarchia'. Selbst das wohlhabende mittlere Bürgertum der Städte dürfte damit kaum erreicht worden sein. Aber wenn Petrarca gut eine Generation später darüber spottet, Dante habe in seiner toskanischen Lyrik für die kleinen Handwerker und quasi den Pöbel geschrieben, ist das eine bösartige Invektive. Jede handschriftliche Kopie eines Textes war eine Kostbarkeit, die sich nur die Allerwenigsten leisten konnten. Und - ein Text Dantes (oder die volkssprachliche Lyrik des Petrarca) wird auch nicht einfach dadurch lesbar, dass man seine Volkssprache versteht, man muss sich zudem auf die poetische Höhe des Dichters begeben können und vor allem auch wollen. Das war von „Gastwirten, Färbern und Leinwebern“ nicht zu erwarten, wie Petrarca sehr wohl wusste.
Zur poetischen Höhe gehört nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt. Er ist „Bildungs“gut weniger belesener und gelehrter Menschen, in 'Vita Nova' ist es vor allem das höfischer Liebe als Hintergrund. In der 'Comedia' handelt es sich dann um ein Kompendium der ganzen Dante bekannten Welt. Vorausgesetzt werden detaillierte Kenntnisse der antiken Mythologie und „Geschichte“ mit ihren Helden, der beiden Teile der Bibel, antiker Dichter wie Homer, Vergil, Ovid und viele andere, der Philosophie und Theologie zwischen Aristoteles und der Scholastik. Aber damit nicht genug, tauchen auch Gestalten der nachantiken Geschichte auf, Päpste und Kaiser zum Beispiel, und insbesondere solche des toskanischen und norditalienischen 13. Jahrhunderts. Wenn Dante Schlachten des florentinischen Heeres erwähnt, auch solche, an denen er teilgenommen hat, und zudem Details der florentinischen Stadtgeschichte, dann mögen die zwischen Pisa, Lucca, Pistoia und Siena einigen bekannt gewesen sein, darüber hinaus aber wohl zum guten Teil kaum.
Dante schreibt in einer ins Poetische gehobenen toskanischen Volkssprache, aber er schreibt nicht für "das Volk". Als das 'Inferno', der erste Teil der 'Comedia', fertig ist, findet es bald in einigen Handschriften Leser, wir wissen nicht, wie viele es sind. Aber die 'Comedia' bleibt die Lektüre eines kleinen Kreises von Dichtern und Gelehrten, und mit der Zeit veralten Sprache und Inhalt immer mehr, bis hin zu zunehmend problematischer Lesbarkeit. Damit gerät das Buch dann fast ganz in die Hände von Spezialisten.
Dante wollte mit der 'Comedia' „ewigen Ruhm“ (gloria etterna) erringen, aber die Art seines Textes sorgt dafür, dass er zwar zum „Klassiker“ wird, aber wenig gelesen bleibt. Dennoch wird er ungeheuer einflussreich: Indem der Text nichts anderes als seine Selbststilisierung als Künstler betreibt, löst er die Kunst aus jeder dienenden Rolle, gewinnt ihr eine Autonomie, eine Rechtfertigung aus sich selbst heraus: Sie tritt neben die Religion, derer sie sich zwar bedient, aber der sie sich nicht mehr unterwirft, und sie maßt sich nun Urteile über alles und jeden an, die Politik, die Machtverhältnisse, die Werteordnung. Von „die Liebe ist alles“ (Tutti li miei penser parlan d'Amore in 'Vita Nova') geht der poetische Weg bis zu „die Kunst ist alles oder es ist nichts“, was Dante sein poetisches Ich so nicht sagen lässt, aber er lässt es am Anfang am Leben verzweifeln, damit der poetische Epiker Vergil es dann bis fast in den Himmel seiner künstlerischen Schöpferkraft begleitet.
Petrarca: Ascendentes
Irgendwann in der Mitte des 14. (nach)christlichen Jahrhunderts schreibt Francesco Petrarca seinem pater amantisissime,Francesco Dionigi aus der schönen Toskana einen ausführlichen Brief. Diesen väterlichen Freund hatte Petrarca an der Sorbonne kennengelernt, wo ihn der Augustinermönch mit Augustinus' Lehren bekanntmachte und ihm die 'Confessiones' schenkte. Sie also, liebster Vater, heißt es am Schluß des Briefes, wie ich nichts in mir vor deinen Augen verborgen halten möchte (occultum velim), der ich dir nicht nur mein geamte Leben (universam vitam meam), sondern auch jeden einzelnen Gedanken so gewisenhaft eröffne (aperio). Für diese zu beten bitte ich dich sehr, daß die, die so lange schweifend und unstet waren (vagi et instabiles), doch zur Ruhe kommen mögen nach all dem Durcheinander, - hin zum Einen, Guten, Wahren, Sicheren und Beständigen. Vale!
Plato, Antonius, Augustinus, Petrarca: Ascendentes
In seinem 'Symposion' läßt Platon Sokrates einen erotischen Aufstieg vom Sinnlich-Schönen bis zu jenem Geistig-Schönen beschreiben, der dort endet, wo das Schöne und das Gute, diese klassischen Nominalisierungen, zusammenfallen in jenes eine, das bei den Kirchenvätern der römisch-christlich gefaßte Gott wird. Petrarca nun in seinem Brief beschreibt seinen Aufstieg auf den Mont Ventoux, seit einen Jugendtagen in Carpentras ihm immer vor Augen: fere semper in oculis est. Cupiditate ductus...cepit impetus...aber immerhin honesteque delectationis appetens, macht er sich mit seinem Bruder auf den Weg, nicht ohne gelehrte und fromme Textstellen zur Begründung heranzuziehen. Aber jenseits von Begehrlichkeit, Impetus und Appetit bleibt für den kritischen modernen Leser nicht viel übrig, was Petrarca bestätigt, denn er berichtet von einem Hirten, der vor dem Aufstieg auf den windumtosten und wolkenverhangenen Zweitausender warnt: nobis...increduli, crescebat ex prohibitione cupiditas.
Der Aufstieg wird zum vielfältig allegorisch aufgezogenen Sündenfall, anstatt den steilen Pfad (arduum callem) zu gehen, verliert der Briefschreiber sich auf Umwegen: differebam ascendendi molestiam, und holt erst später fessus et anxius (müde und verärgert) den Bruder wieder ein. Wahrhaftig liegt das Leben, das wir als das selige bezeichnen, an einem hohen Ort, schreibt er, und schon ahnt der Leser, daß es nicht dieser windumtoste sein wird. Wahrhaftig, oben angekommen, blickt er nur kurz um sich, um in Gedanken, cogitationes, zu verfallen.
Inzwischen ahnt der aufmerksame Leser (es gab bis heute nicht allzu viele), daß es um keine wirkliche Bergbesteigung geht, selbst wenn Petrarca eine solche unternommen haben mag: ..an welchen Ort und aus welchem Grund ich gekommen war, schien ich irgendwie (quodammodo) vergessen zu haben. Vielmehr berichtet der Briefschreiber seinem liebsten Vater nun, wie er rein zufällig oben auf dem Berg (des Ausblicks schnell müde), zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen schwankt und seinen Adressaten mit des Augustinus furchtbaren folgenden Worten einstimmt: Recordari volo transactas feditates meas et carnales corruptiones anime mee, non quod eas amem, sed ut amem te, Deus meus. Es kann nun nicht mehr lange dauern, bis Petrarca seinen mit auf den Berg gebrachten (!) Augustinus aufschlägt und ganz zufällig die folgende Stelle vor Augen bekommt: Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum (Kreisbahn der Sterne), et relinquunt se ipsos. In der Anchauung des dem Auge sichtbaren verlieren die Menschen sich selbst: nichil preter animum esse mirabilis, weiß er plötzlich wieder, und ihm fällt ein, wieviel Bekehrungspotential Augustinus bei der Lektüre des Römerbriefes des Paulus an folgender Stelle fand: Nicht in Gelagen und Saufereien, nicht in Beischlaf und Unzucht, nicht in Streit und Eifersucht; vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an, und kümmert euch nicht so sehr um euren Körper, damit ihr nicht von seinen Lüsten geknechtet werdet. Und prompt fällt dem Briefschreiber ein, daß des heiligen Antonius Bekehrung auch an jener Aufforderung Jesu hing, die Matthäus so berichtet: Si vis perfectus esse, vade et vende et sequere me et habebis thesaurum in celis. Also: Geh und verkauf alles und folge mir nach!
Sein Bergsteiger-Fazit: O quanto studio laborandum esset, non ut altiorem terram, sed ut elatos terrenis impulsibus appetitus sub pedibus haberemus. So führte der heftige Impuls, den Berg zu besteigen, zu dem schwer erfüllbaren Wunsch, den von irdischen Impulsen bewegten Appetit mit Füßen zu treten.
Wofür soll der väterliche Freund beten: Für nicht anderes, als daß Petrarca innerlich, seelisch zur Ruhe kommen möge. Und was anderes bewirkt seine Unruhe als der Weltekel, der aus sinnlichem Lebensgenuß herstammt; womit wir ca 150 Jahre später bei 'Troilus und Cressida' sind, bei der bitteren Galle des Thersites und dem Ekel des Pandarus, beide hervorgerufen vom blinden Sinnentaumel einer Welt, die sich nur noch in Überdruß und nicht mehr in eine Theologie retten kann.
Das Abendland ist – nach den Maßstäben der Abendländer – das erfolgreichste Modell der letzten Jahrtausende: Es hat mit seinen, für sensible Menschen immer auch zweifelhaften - Segnungen die Menschheit des ganzen Erdballs überschüttet. Zugleich dokumentiert seine Literatur von Anfang an das existentielle Unglück seiner Bewohner. Petrarca, ein Zeitgenosse Chaucers, und wie der ein vielgereister, kann nach seinem Aufstieg, der ihn in seinem im Brief formulierten Erleben aus sich selbst heraus führt, wieder zu sich selbst finden: In römisch-christlicher Tradition ist dieses SELBST die SEELE. Die Metapher für das Außen dieser Seele ist GOTT.
Hamlets Selbst kennt keine Seele (mehr?), auf die es sich zurückziehen kann, denn mit ihr korrepondiert kein Gott außer ihr. Sein Inneres ist durchlässig geworden, und damit ganz und gar verletzlich durch die Außenwelt. Er hat im Theaterspiel nur zwei Optionen: Vor der eigenen Zerstörung ins heraufdräuende Bildungsbürgertum zu fliehen (nach Wittenberg, auch einer inneren Emigration, die die Seele in die Watte der Texte einhüllt),oder verzweifelt unterzugehen. Shakespeares späte Stücke heißen zwar tragedies, aber an ihnen ist nichts mehr tragisch, es ist vielmehr alles erbärmlich, und deshalb kommt es immer wieder zu Anmutungen von Wahnsinn.
Das Abendland ist der Zustand der Krise in Permanenz, immer neuer Aufbruch in den Untergang. Die einzigartige okzidentale Kultur oszilliert zwischen dem Rückzug “auf sich selbst” und Rettungsversuchen in der Welt: Ersteres verlangt innere, letzteres äußere Stärke, beide sind so fragwürdig wie das Leben endlich ist, beide versuchen aber auf ihre Art mit letzterer Tatsache fertig zu werden, sei es durch Akzeptanz oder durch Verleugnung.