Natur und Vernunft zum ersten
John Locke und Friedrich Nietzsche
Lockes Vater schließt sich 1642 der englischen Opposition an und wird Captain in einem Freiwilligen-Regiment der "parlamentarischen" Armee. Sein Sohn studiert Medizin und setzt sich mit den Schriften von Descartes auseinander. 1666 trifft er mit Anthony Ashley Cooper zusammen, dem zukünftigen Earl of Shaftesbury, und wird dessen Leibarzt und Freund. Nachdem Shaftesbury in die Monmouth-Rebellion verwickelt ist, wird er von James II. nach Holland verbannt. Locke folgt ihm und kehrt erst mit der Machtergreifung Williams of Orange nach England zurück, wo er für seine politischen Positionen mit öffentlichen Ämtern belohnt wird und eine enge Freundschaft mit Newton pflegt.
In der ersten seiner zwei 'Treatises of Government' wendet Locke sich gegen Sir Robert Filmers Begründung der “absoluten” Monarchie in seiner 'Patriarcha', in welcher dieser die Monarchie aus dem göttlichen Auftrag an Adam, Noah und andere ableitet, sich die Erde untertan zu machen. Wesentlich wirksamer wird im 18.Jahrhundert seine zweite Abhandlung concerning the true original extent and end of civil government.
Gleich am Anfang des zweiten Kapitels darin (II-4) wird deutlich, worum es geht: Um politische Macht richtig zu verstehen, und sie aus ihrem Ursprung abzuleiten, müssen wir betrachten, in welchem Zustand alle Menschen von Natur aus sind (what estate all men are naturally in), und dieser ist ein Zustand vollkommener Freiheit, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, über ihre Besitztümer und Personen so zu verfügen, wie sie es richtig finden innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur, ohne bei irgend einem anderen Mann/Menschen um Erlaubnis nachzukommen oder von seinem Willen abzuhängen.
Zunächst wird deutlich, wir befinden uns vor dem Zeitalter erzählender Geschichtsbetrachtung (Schiller z.B.) und lange vor dem Zeitalter quellenkritischer Geschichtsschreibung – nämlich in dem spekulativer Geschichtsklitterung, die sich selbst als “Philosophie” etikettiert, ohne sich mehr auf tradierte Ansprüche von Philosophieren zu beziehen. Rousseau, seine eingebildeten Feinde, die philosophes, und die komplette “Aufklärung” werden diesen Weg weitergehen.
Drei Elemente zeichnen diese Betrachungsweise aus: Eine Sprache, die unreflektierte Kraftakte enthält, eine Art von spekulativem Optimismus, der auf der Axiomatik der immer populäreren Mathematik beruht, ohne sich darüber explizit Rechenschaft abzulegen, und eine eigenwillige Art des logischen Schließens, die sich nicht in ihrer Vorgehensweise, sondern ihrem Ergebnis rechtfertigt.
Das tatsächlich zu rechtfertigende Ergebnis ist die neue Konstituierung von King, Lords and Commons in der “Glorreichen Revolution” von 1688, - der Triumph über die verhaßten Restoration-Stuarts. Wie bei Rousseau, Hegel und Marx wird die Geschichte so im Text von hinten aufgezäumt und ergebnisorientiert aufgerollt; das Ende verlangt dann nach den jeweils brauchbaren Prämissen.
Locke hat in seiner ersten Abhandlung die Herleitung von Macht, Herrschaft, Regierung (die er nicht immer fein säuberlich trennt) aus der Theologie abgelehnt. Burke wird diese hundert Jahre später aus der Erfahrung ableiten, die er Tradition und Vor-Urteil nennen wird. Locke, der in seinem erkenntnistheoretischen Text der Erfahrung einen später nie mehr übertroffenen Stellenwert einräumt, läßt diese im politischen Text völlig außen vor. Dies ist für ihn unumgänglich, kann er doch zum einen die bekannte Vergangenheit als Tradition nicht heranziehen, da die von ihm begründete Herrschaft nicht legitim ist, und wenn er zum anderen Theologie, Bibel und antike Schriften (Hesiod u.a.) außer Acht läßt; es gibt damals einfach keinerlei Kenntnisse über Zeiten, die vor textlicher Information liegen, und in die er für seine legitimatorischen Tricks zurückgehen muß. Diese Zeiten sind ja noch heute, nach den Arbeiten vieler eifriger Archäologen, sehr wenig einsehbar. Nachdem er aus den Begriffen Natur, Vernunft und Gott sein politisches Konstrukt erbaut hat, läßt er es sich dann doch nicht nehmen, auch auf obige Schriften zurückzugreifen, quasi als sekundäre Begründungen.
Die fehlende Kenntnis wird völlig nonchalant durch zwei Axiome ersetzt, die wie in der Mathematik notwendig sind, um (logisch) voranschreiten zu können. Beide Axiome verschmelzen dabei unmerklich in eines, das vom Zustand der Natur. Axiom 1 behauptet einen Menschen, der ohne Kultur definiert werden kann, Axiom 2, dass der Mensch als Gattungswesen von einem Zustand in einen anderen übergehen kann, so wie Wasser von fest über flüssig bis gasförmig. Beerbt werden dabei die biblische Paradiesgeschichte mit ihren zwei (Aggregat?)Zuständen der Unschuld und der Schuld und die antike poetische Vorstellung vom goldenen, silbernen und eisernen Zeitalter.
Bibel und Antike entwickeln beide eine solche degenerative Geschichtsvorstellung, und Rousseau wird Locke in gewissem Sinne weiterführen, indem er die Menschheitsgeschichte als völlig ruinös darstellt. Locke aber ist der Wendepunkt hin zu einer neuen Tradition, die sich als dialektisch verstehen wird: Die Geschichte ist degenerativ und zugleich positiv fortschrittlich: Niedergang und Weg ins Heil zugleich.
Der Text enthält schon in seinem ersten Abschnitt wesentliche Sprachtricks sogenannter bürgerlicher Ideologie des 18. Jahrhunderts. Das schwierige Verb “verstehen”, dank seiner Subjektivität Gegenstand streitbarer Diskurse (“du verstehst das nicht...ich muß es dir noch einmal erklären...ich finde nicht, daß du recht hast...”etc.), wird aus dem Diskurs herausgenommen, indem der Autor beansprucht, “richtig” zu verstehen. Richtig verstehen im Gegensatz zu anderer Meinung, die “falsch” versteht, wird erklärt als “vom Ursprung ableiten”. Der Ursprung nun aber ist das Axiom bzw. die Hypothese. Das Ableiten (derive) begründet sich in der Mathematik aus deren innerer Logik, und ohne das zu erwähnen oder diese Vorgehensweise zu begründen (Mathematik ist Wahrheit ist Vernunft?), leitet Locke ab bzw. her: und zwar leitet er die politische Macht her aus dem “vorher” bestehenden Zustand, in dem sie nicht vorhanden ist.
Dabei ist wichtig, daß er jede Gegenwart aus einer Vergangenheit herleitet, die ein logisches Konstrukt ist, welches ausschließlich auf Sprachlogik beruht: Wenn die Sprache einen Zustand von politischer Macht bzw. Herrschaft/Regierung hergibt, und wir heute diesen Zustand als Gegenstand unserer Erfahrung wahrnehmen können, dann gibt die Sprache, die alles negieren kann, auch einen (Natur)Zustand her, in dem es beides nicht gibt, - und wenn die Sprache es – jenseits aller Erfahrung – hergibt, kann man damit sprachlich operieren. Damit beginnt die moderne bürgerliche Philosophie. Etwas aus seinen Ursprüngen her zu verstehen, ist also kein historischer Anspruch, wie ihn Burke begründen wird, sondern ein explizit ahistorischer, einer, der Logik auf blinde Sprachlogik reduziert. Verstehen heißt (sprach)logisch herleiten, im 18. Jahrhundert wird daraus schiere verbale Emphase werden.
Was meint Locke, wenn er “Natur” schreibt? Bevor das Substantiv auftaucht, ist das Adjektiv in verdächtiger Verkleidung da: Der Zustand, in dem alle Menschen natürlich/erweise (naturally) sich befinden... Locke hütet sich bis zum 4. Kapitel, statt dem Adverb das Adjektiv zu verwenden. Dort taucht dann die natural liberty (of man) auf, so wie im 5. Kapitel die natural reason. Aber schon im dritten Kapitel erfahren wir durch die Hintertür, daß “der Zustand” natürlich ist: Menschen, die gemäß der Vernunft (reason) ohne einen gemeinsamen Vorgesetzen (superior) auf Erden leben, mit der Autorität, untereinander zu urteilen (to judge between them), das ist ganz eigentlich (properly) der Zustand der Natur.(3-19). Wenn die Natur natürlich ist (und was sonst), dann ist der Zustand der Natur implizit der natürliche Zustand (des Menschen).
Hier geschehen zwei Dinge: Zum einen wird etwas anderes als die Natur für natürlich erklärt, nämlich ein Zustand, und zum zweiten wird das Axiom, daß der Mensch, also die Menschheit Zustände durchläuft, damit verbunden, daß etwas anderes als die Natur natürlich sein kann, ein gewisser Zustand des Menschen nämlich. Und erstaunlicherweise weiß Locke, daß der Naturzustand des Menschen der der Freiheit ist. Das letzte Zitat umschreibt noch einmal, was unser erstes (II-4) schon erläutert hat: Freiheit heißt, in seinem Tun und Lassen von keinem anderen Menschen eingeschränkt zu werden. Daß das nicht geht, weiß Locke so gut wie jedermann heute, die Menschheit wäre (sozusagen) an ihrem Anbeginn gleich ausgestorben. Wir hätten es schnell mit jenem Krieg aller gegen alle zu tun gehabt, den der politische Gegner Hobbes für einen solchen Naturzustand formulierte. Locke wird später andeuten, daß die Menschheit schnell verhungert wäre, aber zunächst muß er anders vorgehen als Hobbes, um zum anderen Ergebnis zu gelangen.
Also findet die vollkommene Freiheit innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur statt. Der Naturzustand ist also die vollkommene Freiheit, die Grenzen hat, die die Gesetze der Natur ziehen. Der Mensch ist vollkommen frei von Menschengesetzen und völlig unterworfen unter die Gesetze der Natur. Hier ist die Crux, der Rousseau stärker verfallen wird als Locke: Mit unserem modernen naturwissenschaftlichen Denken definiert hier Locke das Tier - im Unterschied zum Menschen, während in Lockes Bewußtsein der Mensch noch ahistorisch und von einem Moment auf den anderen wie in der jüdischen Schöpfungsgeschichte entsteht. Aber Locke definiert in II-6, daß im Naturzustand doch etwas (jemand?) regiert (govern), nämlich das Naturgesetz (law of Nature), und dieses Gesetz ist die Vernunft (reason).
Daß den Menschen (ausgerechnet) im Naturzustand die Vernunft regiert, ist einerseits das Ei des Kolumbus, wird hier doch Herrschaft als Regiment der Vernunft in den Menschen hineingenommen, - er ist sich selbst der Vorgesetzte und lebt im “Naturzustand” die Freiheit eines Christenmenschen; andererseits nimmt Locke, dessen Text ständig mit Vernunft operieren möchte, um das vernunftgemäße politische Konstrukt von 1688 abzuleiten, für den Naturzustand den idealiter kultivierten Bürgersmann an, dessen intrinsischer Bürgersinn die große Hoffnung des 18. Jahrhunderts wird. Wenig später wird er diesem ideal guten Menschen den woher auch immer gekommenen Bösewicht an die Seite geben, damit der Naturzustand, den Locke ja nicht will, möglichst flott verlassen wird.
Nachdem inzwischen schon auffällt, daß Natur bei Locke immer groß geschrieben wird, (Nature) nun die Erklärung dafür, immer noch in II-6: Das Naturgesetz ...lehrt alle Menschheit, die es befragt, daß, da jeder ganz gleich und unabhängig ist, niemand einen anderen an Leben, Gesundheit, Freiheit oder Besitz verletzen soll; denn die Menschen sind alle das Werk eines allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers (Maker); alle die Diener eines souveränen Herrn, von Ihm in die Welt gesandt in seinen Diensten (seinem business).
Die großgeschriebene Natur und der großgeschriebene Dissenter-Gott scheinen dieselbe Heiligkeit zu repräsentieren: Die mosaischen Gebote sind die Gesetze der Natur. Dahin leitet Locke über, indem er die gleiche Freiheit im menschlichen Naturzustand als Gleichheit (equality) verselbständigt. Aus dem attributiven Adjektiv wird ganz ungeniert ein Substantiv. Die Eigenschaft wird zur Essenz, und so kann er ungeniert fortfahren: Diese Gleichheit der Menschen vor der Natur (by nature) hält der kluge Hooker für so selbstverständlich (so evident in itself) und jenseits aller Fragen, daß er daraus das Fundament jener Verpflichtung zur gegenseitigen Liebe unter den Menschen macht, auf der er die Pflichten aufbaut, die sie einander schulden, und von wo er die großen Maximen der Gerechtigkeit (justice) und Nächstenliebe (charity) ableitet (derives).
Aus der gleichen Freiheit wird die Gleichheit, die zur Nächstenliebe führt: Die Gebote der Natur sind die des christlichen Gottes. Locke zitiert dann Hooker: Der gleiche natürliche Anreiz hat die Menschen dazu gebracht zu wissen, daß es nicht weniger ihre Pflicht ist, andere zu lieben als sich selbst. (Alles II-5)
Die Natur induziert (Anreiz = inducement) die Nächstenliebe in den freien und (insofern?) gleichen Menschen. Da die Natur als Abstraktum der menschlichen Vorstellung nicht tätig sein kein, braucht Locke den handelnden Gott als Subjekt, da es aber schwierig ist, über ihn andere Aussagen zu machen als die biblisch verbrieften (aus denen sich Filmers patriarchalische Begründung der absoluten Monarchie ableitet), wird zugleich das handelnde Subjekt in die Natur versteckt.
Die Natur nun als Abstraktum ist ein weites Feld (siehe Filmer), und ein schwieriges Feld, um Macht, Herrschaft, Regierung herzuleiten. Die Herleitung von Gott wäre ein vermintes Feld, wenn Gott und Natur nicht in der gleichen heiligen Großschreibung verschmelzen würden. Aber mit einem solchen “natürlichen” Gott ist immer noch kein Staat zu machen, wenn er nicht definiert wird: Nun sagt Locke nicht, daß Gott die Vernunft (reason) sei, aber daß er sie eingesetzt habe. Das wiederum macht verständlich, daß bei Locke die Vernunft zum einen zwar logische Begründungszusammenhänge herstellen kann, zum anderen aber zugleich eine moralische Instanz ist: Die Vernunft als Naturgesetz lehrt ein hohes Maß an Mitmenschlichkeit, das der mosaischen Gebote nämlich.
Die Vernunft ist so der Logos, der zugleich das Denken formt und seinen Inhalt darstellt, Mittel und Zweck zugleich, am Ende der Gott des Johannes-Evangeliums. Die später so genannte bürgerliche Ideologie formuliert so schon an ihrem Anfang den Konflikt aus ihren politischen Konstruktionen hinaus; ihr Urkeim ist totalitär. Dies ist beachtlich, zielt doch Locke auf jenes politische England ab, das nach 1688 als das Land gilt, welches den Individuen die größten Freiheitsspielräume läßt, jedenfalls denen mit der korrekten Religionszugehörigkeit und der Bereitschaft, bei dem mitzuspielen, was die ungeschriebene "Verfassung" hergibt.
Im Unterschied zum späteren Rousseau ist der Naturzustand des Menschen bei Locke kein paradiesischer, ist der Mensch doch aufgrund der Ursünde längst aus dem Paradies der Unschuld gefallen. Im Naturzustand tun entsprechend Leute manchmal Unrecht, und der Gerechte darf es vergelten, so weit, als es ruhige Vernunft und Gewissen diktieren, nämlich soweit es proportional ist zu seiner Übertretung...(II-8).
Die Natur ist vernünftig; insofern wäre der Naturzustand des Menschen auch vernünftig. Diese göttliche Vernunft aber würde Missetaten unmöglich machen. Der Widerspruch wird nicht geklärt, schlägt sich aber sprachlich nieder: Die Vernunft ist plötzlich qualifiziert, sie ist ruhig, bedächtig (calm). Damit verliert sie, für Locke völlig unmerklich, die durch nichts zu qualifizierende Absolutheit, mit der sie in den Text eingeführt wurde (Gott setzt sie ein und sie durchwaltet die Natur). Tatsächlich ist ja nicht die Vernunft, sondern bestenfalls der sie gebrauchende Mensch calm.
Die aufkommende Unklarheit, d.h. Unsicherheit, wird zugleich überwunden und verstärkt, indem die Vernunft mit dem Gewissen (conscience) in Konjunktion tritt. Das Gewissen ist hier offensichtlich der Ort der deliberatio, in der Vernunft agiert. Sprachlich gesehen ist es aber zugleich eine Instanz, die zu der der Vernunft hinzutritt, und es liegt nahe, dem rationalistischen Dissenter zu unterstellen, daß es sich um die moralische Instanz handelt, die der Vernunft offenbar nicht innewohnt, ihr zum Urteilen aber beigegeben werden muß. Dies bleibt unklar, war doch zuvor die Vernunft schon einmal selbst eine moralische Einrichtung.
Die Naturgesetze verletzen heißt, von der rechten Herrschaft der Vernunft abweichen, das wiederum heißt, zu entarten (to degenerate) und die Prinzipien der menschlichen Natur zu verlassen (II-10), die in die Herzen der ganzen Menschen ...hineingeschrieben sind (II-11). Die zunehmende Verwirrung des Autors schlägt sich sprachlich immer deutlicher nieder: the right rule of reason verweist sprachlogisch auf eine mögliche falsche Herrschaft der Vernunft, die aber bei Lockes sonstigem Gebrauch des Begriffs ausgeschlossen ist. Lockes Naturzustands-Hypothese, die er nicht als solche begreift, und die auf den drei absoluten Abstrakta Natur, Vernunft, Gott beruht, wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit verlassen, um das (handelnde) Subjekt Mensch ins Spiel zu bringen: im rechten Gebrauch der Vernunft, in der Abwägung im Gewissen und schließlich im Fühlen des Herzens, das Locke ebenfalls und erstaunlicherweise für uns Heutige, als Text produzierend betrachtet.
Ohne das nur bewußt zu erwägen, fallen die mittelalterliche essentia und substantia in Lockes Begriff Natur zusammen, der so kein Begriff von Natur ist. Und der Mensch kann entsprechend aus dem Naturzustand herausfallen, indem er von der Essenz abweicht, so daß die Substanz verdirbt. Zugleich bleibt er aber bei Locke im Naturzustand, denn erst Gesellschaft und politischer Körper führen ihn dort heraus. Locke kann aber nicht umhin, sich diesen Widersprüchen auszusetzen, ist es doch die menschliche Missetat, die den (natürlich-vernünftigen) Naturzustand so labil und “unannehmlich” macht, daß die Menschen ihn laut Locke gerne und schnell verlassen.
Das alles beruht auf Selbst-Evidenz und befindet sich dergestalt jenseits jeder Frage, wiewohl Locke es nicht unterläßt, es mit Bibelstellen zu belegen.
Natur ist bislang die vernünftige, von Gott geschaffene Welt. Der Naturzustand des Menschen ist der von (individueller) Freiheit und Gleichheit. Beide sind vollkommen, aber begrenzt. Die Freiheit begrenzt das Naturgesetz, das zugleich die Vernunft ist, die Gleichheit wird begrenzt durch die umfassende tatsächliche Ungleichheit der Menschen, die Locke ausführlich darstellt, die Gleichheit besteht nämlich nur im gleichen Recht, das jeder Mensch an natürlicher Freiheit hat. (VI-54). Und wieder verfängt Locke sich und uns in dem Sprachtrick, aus einer Eigenschaft (der Natur, die natürlich ist), ein frei flottierendes Attribut zu machen.
Er meint gewiß mit der “natürlichen” Freiheit des Menschen die ursprüngliche in seinem Naturzustand, aber, nachdem er diese Freiheit zunächst durch ihre Grenzen qualifiziert hat, macht er sie nun auch noch natürlich: Damit wäre die Freiheit unter den Bedingungen des body politic nicht mehr natürlich, was sie selbstverständlich für Locke bleibt, wird sie doch freiwillig aufgegeben zugunsten der Mehrheitsentscheidung derer, an die sie abgegeben wird und von denen sie bei Mißbrauch (?) wieder zurückgefordert werden kann. Zugleich wird jetzt deutlich, warum Locke im zweiten Kapitel von dem Naturzustand als dem von perfect freedom geschrieben hat. Die Freiheit des von ihm angestrebten politischen Konstrukts ist imperfekt, auch wenn er das verdeckt, indem er ausführlich die Vorteile dieser Unvollkommenheit darstellt.
Einen neuen Anlauf macht Locke im Kapitel über das Eigentum. Ob wir die Vernunft oder die Offenbarung (revelation) konsultieren, letztere schleicht sich immer mehr in den Text ein, weil sie beide erstaunlicherweise auf das selbe hinauslaufen, - der Mensch hat schon im Naturzustand Rechte. Im zweiten Fall sind sie von Gott unmittelbar gegeben, was einleuchtet; im ersten Fall sind sie einfach da. Da die Vernunft an sich kein handelndes Subjekt sein kann, spricht Locke nun von natürlicher Vernunft (natural reason).(V-25). Die attributive Natur macht die Vernunft zum Agens, wie auch immer. Wir sehen, unter Lockes Schreibfeder kann alles “natürlich” werden, mag es sich in diesem Fall auch um eine Tautologie handeln, ist doch Natur, Vernunft und Gott qualitativ eins, -und der Mensch, wenn er sich an diese Trinität hält (wie auch immer).
Daß die Vernunft nun dem Schriftsteller natürlich gerät, hat aber damit zu tun, daß ganz unmerklich Natur und Kultur in eine Opposition treten, wird letzterer Begriff von Locke auch noch nicht verwendet. Zum ersten Mal wird Natur qualifiziert: Sie ist spontan (spontaneous, V-26) und als solche tritt sie dem Menschen unmittelbar als Subjekt gegenüber, bietet sie ihm doch eine mühelose Fülle zu seinem Lebensunterhalt, - wir sehen, die Natur ist nicht nur vernünftig, sondern auch paradiesisch.
Und nun werden zwei Dinge deutlich, die zusammengehören: Der Naturzustand des Menschen ist eine reine Denkfigur, ein bloß gedachter Moment in der Menschheitsgeschichte, und, - Mensch und Natur fallen per definitionem auseinander.
Die erste Stelle steht in V-28: Der Mensch eignet sich das an, (to appropriate), was die Fülle der Natur bietet, und konsumiert es; und, - er tut es ohne das Einverständnis der anderen (consent), denn, müßte er es einholen, wäre er längst verhungert. Und nun: Er bewegt es aus dem Zustand heraus, in dem es die Natur beläßt, was das Eigentum begründet. Rein sprachlich ist nun geklärt, daß der Mensch (noch immer im Naturzustand), nicht Natur ist, sondern “der Natur” entgegentritt, bzw. sie ihm. Die zweite Passage in V-29 lautet: Seine Arbeit hat es aus den Händen der Natur genommen, wo es noch (allen) gemein war, und gleichermaßen allen ihren Kindern gehörte, und hat es nun sich selbst angeeignet. Und prompt kommt zu dem unveräußerlichen Recht auf Freiheit (wie es in den Revolutionen des 18.Jahrhunderts heißen wird), das Recht auf Eigentum, das von der Arbeit des Menschen hergeleitet wird. Rechte sind also nichts tradiertes Handfestes, sondern beruhen auf reinen Denkfiguren. Ohne sie aber fällt Lockes Text in sich zusammen.
Wir sehen nun, der Mensch im Naturzustand (mit dem Lockes Text steht und fällt) tritt der Natur gegenüber: Er ist eben nicht Natur, aber doch (wie auch immer) natürlich. Andererseits hat er im Unterschied zu allem, was wir von “Natur” kennen, Rechte, und dieser elementare Unsinn wird dann von ihm und seinen Nachfolgern im 18. Jahrhundert sprachlich weggehobelt, indem diese Rechte “natürliche Rechte” werden, Naturrechte eben. Die nächste Wegstrecke macht dann den idealen (Staats)Bürger natürlich und zum idealen“Menschen”, so daß aus Naturrechten Menschenrechte werden.
Im weiteren Text wird dann der “Naturzustand” immer deutlicher zu einer reinen Denkfigur zurechtgestutzt. In VII-91 schreibt er von all den Unannehmlichkeiten dieses Naturzustands. In VIII-101 wird das gesteigert zu den Unannehmlichkeiten dieses Zustands und der Liebe zu und dem Wunsch nach Gesellschaft (society). Der Verdacht erhärtet sich, daß Lockes Naturzustand nicht sehr “natürlich” für den Menschen ist, er scheint vielmehr höchst unerfreulich zu sein. In VIII-105 scheint er fast kapituliert zu haben: ...denn Regierung ist etwas kaum vermeidbares unter Menschen, die zusammenleben. VIII-107 gar gibt es die, die sich so sehr mochten, daß sie sich gesellschaftlich verbanden. Da Nächstenliebe aber natürlich, vernünftig und gottgewollt ist, wer wollte da jemals in einem vereinzelnden Naturzustand sein.
Im 8. Kapitel scheinen die Menschen eine Regierung zu wollen und finden es naheliegend, ihre Freiheit weitgehend aufzugeben. Im 9. Kapitel nun wird der Ausstieg aus dem “Naturzustand” schließlich zu einer dringenden Notwendigkeit, denn sein Nutzen (enjoyment) ist sehr ungewiß und ständig Eingriffen anderer ausgesetzt. Der Naturzustand ist nämlich zwar frei, aber voller Ängste und ständiger Gefahren.(IX-123). Wäre es nicht wegen dern Verderbtheit und Bösartigkeit entarteter Menschen (degenerate= aus der Art geschlagen), gäbe es keine Notwendigkeit für einen anderen (Zustand) (IX-129). Der Naturzustand bietet nun so schlechte Bedingungen, daß die Menschheit...schnell in die Gesellschaft getrieben werden...und Schutz suchen unter den etablierten Gesetzen der Regierung. (IX-127)
Thomas Hobbes ist in seinem Leviathan kurz vor Lockes 'Treatise' von dem Punkt ausgegangen, an dem Locke nun angekommen ist: Die Menschen bedürfen der Herrschaft, weil sie sich sonst gegenseitig zugrunde richten. Sie sind also als “natürliche” Wesen nicht lebensfähig, die Kultur, zu der immer Herrschaft gehört, ist ihr Lebenselixir. Kultur aber ist je immer Unfreiheit, das Bezwingen des Unheils, das im Menschen angelegt ist.
Dem Diktat der wechselnden Mehrheiten der Representanten des besitzenden Volkes, welches Locke formuliert, setzt er entsprechend die absolute Herrschaft des Monarchen entgegen, die in seinen Augen wohlverstandenes Gemeinwohl exekutiert. Von Locke wird eine totalitäre Linie über Rousseau zu Robespierre und Lenin führen, eine liberale zu den modernen Demokratien, von Hobbes eine andere, die über das Austarieren von Interessenkonflikten bei Montesquieu, der dabei nicht aufs ideologische, sondern auf das wirkliche England schaut, zu Burke, der Montesquieus England gegen die spekulative "bürgerliche" Ideologie verteidigen wird. In den idealistischen Konstruktionen vom "bürgerlichen" Staat (inzwischen: der Nation) und vom Sozialismus/Kommunismus wird die totalitäre Linie enden, das liberale Konfliktmodell zum Beispiel in der bundesdeutschen Verfassungsdiskussion und (bislang noch ein wenig) – Wirklichkeit. Der Hobbessche Ansatz wird bis heute in der Öffentlichkeit verteufelt werden, denn in ihm zeigt sich Macht und Herrschaft immer als Notwendigkeit und nicht als erfreuliches demokratisches Geschenk von Verfassungsschreibern.
Zurück zu Locke, dessen Argumentation nun ganz ins Unheil gerät: Zunächst begründet er die flagrante Unkenntnis eines Naturzustandes damit, daß die Menschen in ihm noch Analphabeten waren und wir dadurch keine Dokumente von ihnen überliefert haben. Vielleicht fällt ihm nun auf, daß er inzwischen schon seine ganze Theorie von auf Zustimmung (consent) und Mehrheitsentscheidung begründeter Gesellschaft und Regierung entfaltet hat, und sie noch immer auf schwachem Fundament ruht, denn nun wird die Argumentationslinie der nicht augenfälligen aber intelligiblen Selbstverständlichkeiten des zweiten Kapitels noch einmal aufgenommen: Der zeigt wohl eine seltsame Neigung, evidentes Tatsachenmaterial zu verleugnen, wenn es nicht mit seiner Hypothese übereinstimmt, wer nicht zugibt, daß die Anfänge von Rom und Venedig in der Vereinigung einiger freier und von einander unabhängiger Männer bestand, unter denen keine natürliche Überlegenheit oder Unterwerfung bestand. Da es kein Tatsachenmaterial gibt, Locke erwähnt auch keins, muß es wenigstens evident sein, und wem das nicht eingängig ist, der ist nur im Besitz von Hypothesen (- nicht von Tatsachenmaterial). Dann wendet er sich ähnlichem "Tatsachenmaterial" zu wie später Rousseau. Aus einem Bericht will er wissen, daß die amerikanischen Indianer sich im Naturzustand befinden: diese Menschen, es ist evident, waren tatsächlich frei. (VIII-102).
Justin berichtet, daß einige Leute Sparta verließen, und bevor sie einen neuen Staat gründeten, waren sie laut Locke erst einmal wieder im Naturzustand. Wer immer noch nicht überzeugt ist: Die Vernunft ist schlicht und einfach auf unserer Seite, daß Menschen von Natur aus frei sind. (VIII-103). Schlicht und einfach!
Schließlich belegt Locke seine Behauptung eines Naturzustandes noch mit den biblischen Büchern der Richter (z.B.Jephta). Soviel Evidenz muß reichen zu zeigen, daß, soweit wir irgendein Licht aus der Geschichte haben, wir Grund haben (reason) zu schließen (to conclude), daß alle friedlichen Anfänge von Herrschaft auf der Zustimmung der Leute beruhten.
Eine letzte Crux bleibt noch für den Philosophen der (evidenten) Selbstverständlichkeiten: Was ist mit den Kindern, die in Gesellschaft und Herrschaft hineinwachsen, zu denen ihre Eltern, wie behauptet, einmal ihre Zustimmung gegeben haben? Es ist für jeden Zeitgenossen der Glorreichen Revolution klar, daß deren politisches Konstrukt nicht tatsächlich auf Zustimmung beruht, sondern auf einem Akt (erstaunlich geringfügiger) Gewalt, der erfolgreichen Landung des holländischen Herrschers mit seinem Militär, was genügte, um den (legitimen) Stuartkönig zu vertreiben.
Niemand hat irgendeinen Engländer um seine Zustimmung dazu gebeten, vielmehr, wer dagegen ist, muß die üblichen Nachteile ertragen. Und nun wird deutlich,wie wichtig für Locke der fiktive Naturzustand ist, denn damals (once upon a time...) haben die Menschen/die Engländer ihre Zustimmung zu einem System aus Exekutive, Legislative und Judikative gegeben, das sie weithin ihrer Freiheit beraubt, die nun die der (ans Gesetz gebundenen) Richter, die Mehrheitsentscheidung der Gesetzgeber, und die nur nach innen legal gebundenen Exekutive ist, die zudem Prärogative braucht, um handlungsfähig zu sein.
Die Zustimmung liegt also ganz bei diesem fiktiven ursprünglichen Akt, der von Generation zu Generation vererbt wird, und den die nächste Generation stillschweigend (tacit) und am besten außerdem noch lauthals erneuern....muß. Bei Locke heißt das so: ...daß jeder Mann/Mensch der irgendeinen Besitz (nicht mehr property sondern nun possession) oder Nutzen irgendeines Teils der Herrschaftsbereiche (dominions) einer Regierung hat, dadurch seine stillschweigende Zustimmung gibt und soweit zum Gehorsam gegenüber dieser Regierung verpflichtet ist...(VIII-119). Das ist aber am Ende (auch von Kapitel VIII) nicht genug: Nichts kann jemanden dazu (zu einem Mitglied des Gemeinwesens) machen, als in ihn durch positive Bindung (engagement) und ausdrückliches Versprechen und Übereinkunft (compact) einzutreten (122).
Damit sind wir bei Travens Überlegungen zu Anfang seines Totenschiffes angelangt: Der Mensch ist im staatsbürgerlichen Zeitalter nichts ohne Staatsbürgerschaft. Ist die erst einmal erfunden, ist der ein Nichts, der sie sich nicht beglückt sogleich zulegt. Denn Lockes Freiheit besteht darin, sich dem staatsbürgerlichen Gemeinwesen zu unterwerfen oder auszuwandern. Der wichtigste Unterschied zwischen Hobbes und Lockes Begründung von Herrschaft besteht also darin, daß ersterer den Gewaltcharakter von Herrschaft zur Grundlage seines Begründungszusammenhangs macht, während der bei letzterem durch eben seinen Begründungszusammenhang wegretuschiert wird.
Nachdem Locke nun im neunten Kapitel deutlich macht, daß die Menschen nichts eiliger haben, als den “Naturzustand” zu verlassen, beschließt er den ersten Teil seiner Abhandlung mit dem Satz: Und all das ist auf kein anderes Ende gerichtet als den Frieden, die Sicherheit und das öffentliche Wohl der Menschen (131).
Gemeint ist das England nach der Glorreichen Revolution. Locke ist jetzt die Erleichterung anzumerken, mit der er zusammen mit seinen fiktiven Urmenschen den Naturzustand verläßt. Von nun an beschreibt er die freiheitlichste politische Konstruktion des Staates, die Europa damals kennt, und er begründet sie immer mal wieder mit seinem ideologischen Fundament, aber dieses verliert angesichts der Auseinandersetzung mit politischer Wirklichkeit zunehmend an Gewicht.
1886 formuliert Friedrich Nietzsche einen monomanischen Text zwischen luzider Klarheit, irrlichterndem Wahnwitz und poetischer Wucht: 'Jenseits von Gut und Böse'. Grundlage ist zum einen die Erkenntnis seiner professoralen Basler Jahre, daß Philosophie, wenn sie denn überhaupt interessant ist, etwas über den Philosophen aussagt, und nichts über irgendeine “Wahrheit” jenseits von ihm; zum anderen, daß Sprache leicht den Blick auf eine Welt jenseits der Sprache verstellt. In I-9 heißt es da: “Gemäß der Natur” wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie könntet ihr -gemäss dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ “gemäß der Natur leben” bedeute im Grunde soviel als “gemäss dem Leben leben” -- wie könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Prinzip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst? -- In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie “der Stoa gemäss” Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen....ist denn der Stoiker nicht ein Stück Natur? (Seine Hervorhebungen) Dem seit langem üblen Spiel mit dem Wort Natur will Nietzsche so den Garaus machen.
Im 18. und 19. Jahrhundert wird Gott, werden die Götter für Philosophen Geschöpfe menschlicher Vorstellung, und ob Deismus, Pantheismus oder Atheismus, statt ihm/ihnen wird “die Natur” aufs Panier gehoben, entweder als göttliche oder als materialistische. Genau diesem Schritt wendet sich Nietzsche entgegen, der Tod Gottes, wie er poetisch formuliert, ist ein Skandalon, ja: das Skandalon, denn “die Natur” verspricht keine “aufgeklärte” Ersatzreligion. Sie ist vielmehr ganz und gar Indifferenz, so wie der Mensch ganz und gar Differenz sein muß. Das physio-psychologische Elend Nietzsches, das ihn gnadenlos umtreibt, entdeckt sich ihm in problematischer Selbstanalyse als das physio-psychologische Elend eines Bewußtseins, welches die Dinge auf den Kopf stellt, - das nihilistisch ist.
Dabei verweigert sich Nietzsche geschickt einer Begrifflichkeit, die längst möglich ist, der Natur nämlich die Kultur gegenüberzustellen. Different-sein-wollen ließe sich so als kultiviert sein wollen formulieren. Aber Nietzsche denkt seine Selbstanalyse als Bewußtseins-Analyse weiter, denn das anders-sein-wollen des Menschen enthebt ihn zugleich nicht dem ein-Stück-Natur-sein. Im Denken verharrt er so im Paradoxon, als Mensch flüchtet er in die reine Poesie, fordert den “Übermenschen”, das Bekenntnis zum “Willen zur Macht”, nicht ohne solche Worte an anderer Stelle implizit zu destruieren. Aber in 'Jenseits von Gut und Böse' I-10 formuliert er ungeniert: Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr, und sie würden hinaus wollen, -- und nicht zurück! -- (Seine Hervorhebungen)
Gedanklich baut er schon zuvor in demselben Text dem Paradoxon vor, indem er das (uns eingeborene, von ihm aber nicht so formulierte) antithetische Denken ablehnt: Die “Metaphysiker” setzen die Wahrheit positiv gegen die Unwahrheit...es wäre (aber) möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. I-2) Diese konjunktivische Provokation bezeichnet er im selben Abschnitt als Philosophie des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. Gefährlich ist daran zuallererst, daß Nietzsche hier (in meiner zurückgenommenen Sprache) die Opposition zur Wahrheit als bekannte Natur beschreibt. Das “gefährliche Vielleicht” ist aber vor allem die Option einer Vielfalt jenseits aller Gegensätze. Aber damit verlassen wir die Möglichkeiten einer nicht nur poetischen (romantischen) Sprache.
Zurück zu Nietzsche als Möglichkeit einer Kritik am sprachnaiven Rationalismus: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen! (I-16). Subjekt, Prädikat und Objekt gaukeln uns ein “Wissen” vor, das aber am Ende ganz und gar Sprache ist: Nicht ich denke, sondern es denkt, und dieses es ist instinktiv interessegeleitet: Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte? (II-34).
Sigmund Freud wird die Philosophie aus Nietzsches Konjunktiv herausführen, und sie wird dann das sein, was schon Nietzsche immer wieder formuliert: Psychologie. Ohne diesen Hintergrund aber ist "bürgerliche" Ideologie nicht sinnvoll zu betrachten....
Zehn Jahre vorher, in 'Menschliches, Allzumenschliches, legt Nietzsche den Grundstein für solche Positionen, und zwar im 11. Teil unter der Überschrift: 'Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft': Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur liegt darin, daß in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen... er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden zu glauben, daß er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus... Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich - jetzt erst - dämmert es den Menschen auf, daß sie einen ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben...- Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der wirklichen Welt entspricht, zum Beispiel auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit...(seine Hervorhebung).
Fast beiläufig hier zerschlägt Nietzsche den gordischen Knoten der Subjekt-Objekt-Problematik: Indem wir die Dinge benennen, geben wir ihnen etwas, was ganz uns gehört, und glauben zugleich, den Abstand zu den Dingen damit zu durchbrechen. Das Paradoxon, sprechen zu müssen, und – wie Nietzsche formuliert – zugleich das Perspektivische aller Rede im Auge zu haben, macht Nietzsche zum späten Romantiker, der die Auflösung in der poetischen Rede sucht, und zugleich zum heftigen Gegner der Romantik, der immer wieder mit der ganzen Schärfe seines Intellekts aus der poiesis herausfällt. Sein Hirn, oder besser, seine Seele, hält dem nur mit Mühe und nicht auf Dauer stand.
Die seltsame Leiblosigkeit, Leblosigkeit und Lieblosigkeit, die die Texte von Descartes, Locke, Kant, Fichte, Hegel und Marx durchzieht, und in denen die menschlichen Triebe, insbesondere die Sexualität, so merkwürdig abgegliedert sind, und in denen der Mensch ein zunächst und letztendlich denkendes Wesen wird, kennzeichnen eine spät -"bürgerliche" Welt (nicht die der städtischen Handarbeiter und der ländlichen Bevölkerung), in der die Beugung der Affekte in die Texte der schmerzhaften Erkenntnis der Verbiegung dieser in der Lebenswirklichkeit zuvorkommt.
Die Flucht im 17. und 18. Jahrhundert in den Begriff 'Natur', der genutzt wird als Vorstellung einer belebten 'Welt', wird vergeistigt, indem ein Gott als belebendes Element angenommen wird. Dieser säkularisierte und zugleich dämonisierte Gott wird als vernünftig begriffen, d.h. mit genau dem Vermögen ausgestattet, das sich die Autoren selbst zuschreiben, so daß ihre Texte gottgleiche heilige Schriften werden. Dies genau ist Nietzsches Kantkritik, die Kritik daran, daß der Mensch vermöge eines Vermögens erkenntnisfähig sei und tauglich für die ganz und gar nicht “fröhlichen” modernen Wissenschaften. Die “transzendentale Einheit der Apperzeption” ist so einerseits bedrohliche Hybris, andererseits totale Verengung lebendigen menschlichen Vermögens und insofern Spiegelbild spät"bürgerlicher" Lebenswirklichkeit, in ihr kulminiert eine lebendige “Dialektik der Aufklärung”.
Die Literatur zwischen Defoe und Richardson wird diese Zerissenheit noch einmal deutlich reflektieren, bevor dann schwächere Persönlichkeiten “die Widersprüche nicht mehr aushalten” und romantisch aus ihnen fliehen.