KÖRPER: KÖRPERLICHKEIT, SEXUS, EROS UND LIEBE (bis Anf.11. Jh.) (derzeit in völliger Umarbeitung)

 

Das antike Erbe (Lied der Lieder / Ovid)

Ganz unterschiedliche Körperlichkeit

Vergeistigung: Reinheit und Reinigung (ganz neu schreiben!)

Marien

(Angst und Schrecken

Beherrschung und Kultur)

Ehe, Familie, Verwandtschaft

Liebe

Weniger gebändigte Geschlechtlichkeit (Tracht und Kleidung / Schmuck und Zier)

 

 

Eigentlich müsste eine Geschichte der Entstehung des Kapitalismus wie jede Geschichte aus den Körpern der Menschen heraus geschrieben werden, aus ihrem Begehren zu leben, um sich fortzupflanzen, über das Menschen in der Regel nicht willentlich verfügen. Sie müsste dann den Dialog zwischen Kopf und Körper entwickeln, in dem der Kopf als Sitz vieler Sinne den Austausch mit der Außenwelt betreibt und reguliert und sich zum Herrscher über den Körper aufschwingen möchte, obwohl er ihm immer dienstbar bleiben muss.

 

Aber auf und in die Körper kann man als Historiker noch weniger hineinschauen als in die Köpfe, von denen wenigstens das kleine bisschen überliefert ist, was an Vorgängen darin in Texte hinein verschriftlicht wurde, allerdings in Rücksicht auf die eigene Selbstachtung und nicht zuletzt auch die Außenwirkung der Texte.

 

Damit bleibt Geschichtsschreibung in gewissem Sinne ein armseliges Unterfangen, denn sie dringt nicht so recht vor bis zu dem, was den Kern des Menschen und seines Lebens ausmacht und neigt darum dazu, ihn als eine Art Kopffüßler darzustellen, dessen Körper als notwendiger Teil letztendlich irgendwie auch dazugehört. Die Vorstellungswelten der Historiker versuchen dabei oft, sich mit denen der in ihren Augen wichtigeren Menschen zu verbinden, um so jeweilige Wirklichkeit zu konstruieren.

 

Hier soll es zunächst vor allem um Körperlichkeit  des 10. und frühen 11. Jahrhunderts gehen. Dafür steht eine relativ einheitliche Welt von Mitteleuropa bis zur iberischen Halbinsel und von den britischen Inseln bis Italien zur Verfügung, während Osteuropa und Skandinavien davon zunächst noch weitgehend ausgeschlossen sind. Aber so gut wie alles, was es dabei zu betrachten gibt, was also noch erhalten ist, ist dem Zufall der Überlieferung ausgesetzt und stand zudem von vorneherein fast völlig unter der Kuratel der allein seligmachenden Kirche. Damit erfahren wir unmittelbar überhaupt nur über ganz wenige Menschen etwas, jene vor allem, die Macht und korrekte Ansichten und Vorstellungen auf sich vereinten.

 

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Körperlichkeit soll hier sowohl die Körper selbst und das Verhältnis zu ihnen meinen, wiewohl vom Wort her das zweite näherliegend ist. Und Körper soll der Mensch hier von Kopf bis Fuß sein, jenes Lehnwort vom lateinischen corpus, welches in der deutschen Sprache die Leich in ihrer ursprünglichen Bedeutung ersetzt.

 

Zwischen dem Körper als Gegenstand biologischer Betrachtung, dem eigenen selbst wahrgenommenen und dem beim Anderen wahrgenommenen bestehen ganz offensichtlich generell erhebliche Unterschiede. Noch einmal anders sind bewusste wie unbewusste Körperideale sowie das diametral entgegengesetzte Ideal möglichst weitgehender Abwertung des (eigenen) Körpers.

 

Als Erbe griechisch-römischer Antike wird der Mensch in Körper, Seele (animus-anima/psyche) und Geist (mens/ pneuma-nous) eingeteilt, wobei die Übersetzungen Notbehelfe sind und diese Einteilung für die meisten Menschen bereits eine Überforderung darstellt, nicht zuletzt, weil nur der Körper wahrnehmbar ist und das übrige aus Regungen des Körpers erschlossen werden muss.

 

 

Das antike Erbe

 

Zunächst einmal ist festzustellen, dass das eine deutsche Wort "Liebe" in drei lateinische aufgeteilt war: Die caritas, die zur christlichen Nächstenliebe wird, die dilectio, die persönliche Zuneigung mit einem Unterton erotischer Sinnlichkeit, und amor, jene Liebe, die die ersten zwei Bedeutungsbereiche mitumfassen kann, aber auch die leibliche sexuelle Praxis enthält.

 

Das christlich-lateinische Mittelalter tut sich dabei semantisch so schwer wie jede darauf folgende Neuzeit in ihren Volkssprachen. In dem erst kürzlich aufgefundenen Briefwechsel zweier Liebender aus dem Hochmittelalter wirbeln alle drei Begriffe durcheinander und werden dann sicherheitshalber in einer Satzperiode auch schon einmal alle drei aufgeführt. (Ex epistulis duorum amantium, zweisprachig bei Manesse, Zürich, 2005)

Dabei findet allerdings immer noch nicht jene Sprachverwahrlosung statt, die im aktuellen Denglisch zu solchen Abartigkeiten wie dem Ausdruck "Liebe machen" oder "Sex" für den Koitus oder verwandte Formen der Triebabfuhr führt.

 

Mit den Völkerwanderungen trifft germanische Kunstfertigkeit auf die antik-römische und nicht zuletzt auf heidnisch-römische. Auch wenn die Beispiele hier unten Künstlern des frühen Mittelalters wohl nicht als Vorbilder zwecks Umarbeitung zur Verfügung standen,  zeigen sie doch etwas von der breiten Palette antiker erotischer Kunst, die ihnen wohl kaum völlig unbekannt war.

 

ausführlicher: Anhang 2, Kap.2

 

So etwas wird es im 10. und selbst noch im 11. Jahrhundert im lateinisch-christlichen Abendland nicht gegeben haben, obwohl bald in Kleinplastiken mancher romanischer Kirchen offen sexualisierte Themen auftauchen, die vor genau dem warnen, was in der Antike entweder propagiert oder zumindest humoristisch betrachtet wurde.

 

***Das Lied der Lieder***

 

Im Grunde lassen sich die beleseneren Vorstellungen von Liebe im Mittelalter, soweit verschriftlicht, vor allem auf einige wenige Texte/Autoren zurückführen. Da ist zum ersten das späthebräische 'Lied der Lieder', lateinisch der 'cantus canticorum', ein aus dem sonstigen jüdischen Textgut herausfallender und auf jeden Fall gar nicht christlicher Text, der aber im Hochmittelalter allegorisch umdeklariert wird. Da sind die Versdichtungen des Ovid zum Thema Liebe (Liebeskunst, Amores und Remedia amores, aber auch die Heroides), die das Mittelalter hindurch Klöster beflügeln, wiewohl sie nach christlichen Vorstellungen eigentlich als frivol gelten mussten (insbesondere die ersten beiden), die aber im späteren Mittelalter auch einer klerikalen Umdeutung unterzogen werden. Da ist schließlich das ganze dreizehnteKapitel des ersten Briefes des Paulus an die christliche Gemeinde in Korinth als Beispiel vollständiger Sublimierung des Eros und der ganz andere schöne Cicero-Text 'De amicita', - Von der Freundschaft.

 

Buchstabe aus dem Hohelied Salomons in der Kathedrale Winchester

 

Das Lied der Lieder, das gewiss wenig mit einem König Salomo zu tun hat ("Hohelied Salomonis" ist ein Fehl-Titel), wirkt bei genauerem Lesen (in meinem Fall in lateinischen Übersetzungen) wie eine Liedsammlung mit Liedern, die von unterschiedlichen Personen gesungen werden. Es gibt keinerlei wahrnehmbaren religiösen Kontext, weswegen es wohl ein Glücksfall ist, dass dieser pagane ("heidnische") Text in die heiligen Schriften der Juden und Christen geraten ist.

 

Es handelt sich um den Lobpreis sinnlicher Liebe zwischen einem Mann und einem Mädchen (Sulamith) und einen sehr sinnlichen Lobpreis von Geliebtem und Geliebter. Das ganze wird in eine Kulturlandschaft des vorderen Orient eingebettet, deren sinnliche Schönheit, Fruchtbarkeit genauso gepriesen werden wie ihre Eignung zum Stelldichein des Liebespaares:

 

Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. An Duft gar köstlich sind deine Salben, ausgegossenes Salböl ist dein Name. Darum lieben dich die Mädchen...

Ein Myrthenbeutelchen ist mir mein Geliebter, das zwischen meinen Brüsten ruht. Eine Blütentraube vom Hennastrauch ist mir mein Geliebter ...

Siehe, du bist schön, deine Augen blicken wie Tauben

Siehe, auch du bist schön, mein Geliebter, und hold, und unser Lager ist frisches Grün. ...

Seine Linke liegt unter meinem Kopf und seine Rechte umfasst mich...

Siehe, schön bist du, meine Freundin. Siehe, du bist schön! Deine Augen leuchten wie Tauben hinter deinem Schleier hervor. ... Wie eine karmesinrote Schnur sind deine Lippen, und dein Mund ist lieblich. Wie eine Granatapfelscheibe schimmert deine Schläfe hinter deinem Schleier hervor...

Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut. Du hast mir mein Herz geraubt mit einem einzigen Blick aus deinen Augen...

Esst Freunde, trinkt und berauscht euch an der Liebe...

Die Biegungen deiner Hüften sind wie Halsgeschmeide, ein Werk von Künstlerhand. Dein Schoß ist eine runde Schale. ... deine Brüste sind wie zwei Kitze, Zwillinge der Gazelle...

 

Komm, mein Geliebter, lass uns aufs Feld hinausgehen! Wir wollen unter Hennasträuchern die Nacht verbringen. Wir wollen uns früh aufmachen zu den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock treibt, die Weinblüte ausgegangen ist, ob die Granatapfelbäume blühen. Dort will ich dir meine Liebe schenken... (etc.)

 

Für die mittelalterliche Liebeslyrik sind solche Zeilen ergiebig, weil sie helfen, eine Erniedrigung der Frau in der erotischen Begegnung zu vermeiden, sie ist genauso aktiv Liebende wie der Mann. Zum anderen helfen diese Zeilen auch, der Abwertung des Eros durch Kirche und Kloster entgegenzutreten, sinnliche Lust tritt hier ohne jede Form der Abwertung, sozusagen unbefangen auf.

 

***Ovid***

 

Fast zeitgleich mit den Briefen des Paulus schreibt Ovid seine 'Amores', seine 'Liebeskunst' und seine 'Heilmittel' gegen die Liebe' und vermutlich werden sie dazu beitragen, dass er von Kaiser Augustus ans Schwarze Meer verbannt wird.

 

In dieser von eleganter, sich von Zeile zu Zeile schwingender Poesie beflügelten Dichtung propagiert ein lyrisches Ich einen uneingeschränkten erotischen Hedonismus. Dass dieser dann im Mittelalter so enormen Einfluss ausüben wird, zeigt zum einen, wie wenig - später - dieses Mittelalter überhaupt noch verstanden wurde, bekannt war, erklärt sich aber andererseits aus der Parallelität von unbeschränkter Gottesliebe und schrankenlosem Eros. In beiden Fällen geht es um die Haltung eines bedingungslosen Absolutismus.

 

In den Briefen zwischen der Äbtissin Heloissa und dem Mönch und Priester Peter Abaelard ebenso wie in seiner in Briefform gehaltenen Autobiographie wird es um 1100 nur so von Ovidzitaten wimmeln. Abaelard war wegen seines Verhältnisses und seines Verhaltens gegenüber Heloissa nächtens überfallen und kastriert worden. In ihren Briefen geht es mehr als alles andere um die Frage nach Wegen der Sublimierung des erotischen Strebens – von der wilden Begierde hin zur Süße eines friedlichen Liebens.

 

Zunächst zu Ovid. Wer immer im 18./19. Jahrhundert seine Tochter Corinna nannte, sollte Ovid gelesen haben. In der Prosaübersetzung von Michael von Albrecht aus dem ersten Buch der 'Amores' das fünfte Gedicht:

 

Es war heiß, und der Tag war schon über die Mittagsstunde vorgerückt; ich streckte meine Glieder mitten auf dem Bett aus, um mich auszuruhen. Ein Fensterladen war etwas geöffnet, der andere geschlossen, ein Licht, wie wir es vom Walde kennen, zart wie die Dämmerung, wenn die Sonne entflieht oder wenn die Nacht vergangen, der Tag aber noch nicht angebrochen ist. Auf solches Licht haben scheue Mädchen Anspruch; dort kann schüchterne Zurückhaltung (timidus pudor) hoffen, ein Versteck zu finden. Sieh, da kommt Corinna, gehüllt in eine Tunika ohne Gürtel; das gescheitelte Haar fällt ihr offen über den schneeweißen Hals: So soll die schöne Semiramis in ihr Brautgemach gegangen sein oder Lais, die vielgeliebte. Ich entriss ihr das Kleid, das freilich zu dünn war, um sonderlich zu stören. Sie aber kämpfte darum, sich damit zu bedecken. Doch da sie kämpfte wie eine, die nicht siegen will, fiel sie mühelos durch eigenen Verrat. Als sie mir hüllenlos vor Augen stand, war an ihrem ganzen Körper nirgends ein Makel zu finden: Welche Schultern, welche Arme habe ich gesehen und berührt! Wie bot sich die Form ihrer Brüste dem Fingerdruck dar! Wie schlank war der Leib unter dem straffen Busen ( planus sub pectore venter)! Wie edel die Wölbung der Hüfte, wie jugendlich der Schenkel! Wozu Einzelnes aufzählen? Alles, was ich sah, war vollkommen. Nackt, wie sie war, drückte ich sie immer wieder an mich. Wer kennt das Weitere nicht? Ermattet ruhten wir beide. Mögen mir solche Mittage oft zuteil werden! (Reclam-Heftchen UB Nr.1361)

 

Der erotische Hedonismus des Ovid vermittelt in seinen frühen Gedichten im Unterschied zum philosophischen des Epikur ein Gefühl spielerischer Leichtigkeit, was neben dem Inhalt auch die Sprachform im lateinischen Original hergibt. Diese Idealisierung des sinnlichen Eros gelingt nur als poetische Verzauberung, und die ist ein Spiel. Dessen eines Element ist das spielerische Verschränken von Keuschheit und Begehren; in anderen Gedichten kommt das zweite Element dazu, die Liebe schlägt Wunden, die nach Heilung drängen (der Pfeil des Amor).

 

Ovids 'Ars amatoria', Liebeskunst, unterrichtet in der Erfüllung erotischen Begehrens und in der Schmerzvermeidung. Die 'Remedia', die Abhilfen, konzentrieren sich auf letzteres. Am kunstvollsten sind am Ende die 'Heroides', die Liebesbriefe verlassener Frauen, in denen nur noch der Schmerz und die Erinnerung bleibt.

 

Auf der Suche nach den Gründen des enormen Einflusses Ovids im lateinischen Mittelalter bis in den kirchlichen und klösterlichen Bereich hinein ist sicher zunächst auf die große Kunstfertigkeit zu verweisen. Des weiteren ist das Verabsolutieren der Liebe etwas, was eine gewisse Analogie zur Liebesbotschaft des Neuen Testamentes aufweist: Wer sich ihm ganz hingibt, findet im christlichen Gott DEN Gott der Liebe, nur ist angestrebt, dieses Lieben ganz von irdischem Begehren zu lösen.

 

In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bereits wird dieser Ovid Unterrichtstext in Schulen des Klerus, und verbreitet sich unter ihm derart, dass er nun lateinische Liebesgedichte unter seinem Einfluss dichtet und verbreitet. Das ist nicht verwunderlich, denn ein großer Teil dieses Klerus hat durchaus ein eigenes Sexualleben mit Frauen.

 

 

Ganz unterschiedliche Körperlichkeit

 

Die christliche Version des frühen Mittelalters erklärt den handgreiflichen Körper zum Gefängnis einer „Seele“, die durch mancherlei körperliche Aktivitäten Schaden nimmt. Solche als Sünde bezeichnete Taten sind im Jüdischen Übertretungen kultisch-religiöser "Gesetze", im Christentum sind sie dem Menschen als Erbsünde angeboren. In der christlichen Interpretation der jüdischen Version der Paradiesgeschichte ist die zentrale Sünde das Ausleben jener Sexualität, die zugleich als Strafe für das Übertreten von Gottes Gebot den Menschen auferlegt ist. Darüber hinaus ist jeder nicht notwendige Konsum Sünde, da er den Menschen vom Erstreben des Himmelreiches ablenkt. Werden Sünden nicht gesühnt bzw. abgebüßt, landet man für immer und ewig in einer Hölle ewiger Folterqualen.

 

In der Praxis des frühmittelalterlichen lateinischen Abendlandes sieht alles recht anders aus. Eindeutig sündig ist ausgelebtes sexuelles Begehren nur für Mönche und Nonnen, und nur für sie gilt auch gottgewollte Armut als Bescheiden auf das Lebensnotwendige. Priester und überhaupt höherer Klerus sollen zwar zölibatär leben, aber daran halten sich nur wenige und bis ins 11. Jahrhundert scheint das auch keine sonderliche Rolle zu spielen. 

Besonders merkwürdig ist die Situation der Laien, für die ein Ausleben der Geschlechtsgier zwar einerseits "eigentlich" Sünde bleibt, von denen andererseits aber erwartet wird, das sie in der Regel heiraten und Kinder bekommen. Als eigenartigen "Kompromiss" erlaubt die Kirche dann grundsätzlich der Zeugung dienenden Geschlechtsverkehr und verbietet ihn nur an Fasten- und Feiertagen. Zum Glück für die Menschen schaut die Kirche ihnen nicht in ihre Schlafstätten hinein.

Das mindestens ambivalente Verhalten der Kirche gegenüber dem Geschlechtsleben der Laien gibt ihr die Möglichkeit, fast jeden von ihnen als Sünder einzuordnen und damit an sich zu binden. Entsprechend sind Heilige keusch, was ursprünglich fromm, religiös sein heißt und zwischen den Bedeutungen des Verzichtes auf das Ausleben des Geschlechtstriebes und einem Ausleben nur in den erlaubten Bahnen der Ehe oszilliert.

In der alltäglichen Lebenspraxis ist Keuschheit vor allem auf Jungfrauen  beschränkt, weswegen Virginität nicht nur eine Altersstufe, sondern auch geschlechtliche Unberührtheit dieser Mädchen meint, und weshalb es auch keinen entsprechenden Ausdruck für Knaben und junge Männer gibt, was jenseits aller Religion eben daran hängt, dass Mädchen/Frauen Kinder bekommen, was außerhalb der Ehe für die meisten damals ein ökonomisches Problem darstellt und darum meist mit Ehrlosigkeit bestraft wird.

 

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Während die Jagd und vielleicht auch noch das Sammeln von Früchten und selbst eine naturnahe Viehzucht bei guter Ernährung gesunde Körper hervorbringen, lässt sich das weder von den Ackerbauern noch für viele Formen von Handwerk sagen. Einseitiges Training bestimmter Muskeln zu ungunsten anderer, vielfach gebückte Haltung und für Bauern zumindest saisonal harte Arbeit und lange Arbeitszeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang treffen dann für das hier zentrale frühe Mittelalter unserer Schwellenzeit auf immer wieder mengenmäßig und qualitativ unzulängliche Ernährung.

Was die Hygiene in Land und Stadt angeht, sind wir auf Vermutungen angewiesen, auch was Körperreinigung angeht, da oft das Wasser herangeschleppt werden muss und man für ausgiebige Ganzkörpersäuberung auf größere Fließgewässer oder Seen angewiesen ist. Bei aller diesbezüglichen Quellenarmut tauchen einzelne Textstellen dazu auf. In Liutprands langobardischer Gesetzgebung taucht eine Verfügung darüber auf, wieviel Strafe ein Mann bezahlen soll, der einer Frau die Kleider stiehlt während sie badet, was wohl heißt, an offenem Gewässer. (Wickham(3), S.143)

 

Ganz im Gegensatz dazu lässt sich bei den Herren eine in der Jagd und der Einübung des Reitens und Kämpfens trainierte geradezu sportive Körperlichkeit annehmen, die in den wenigen Texten auch hervorgehoben wird. Für diese Leute, die nicht produktiv arbeiten müssen, sondern dafür andere ausnutzen, lässt sich eine Art Schönheitsideal vermuten, welches bei Männern auch im nordwestlichen Mittelmeerraum hohen Wuchs, helles Haar und helle Augen sowie Kraft und Stärke beinhaltet. Das gilt auch für "edle" Frauen, Herrinnen also, Damen später, die im wesentlichen ebenso von produktiver Arbeit ausgespart bleiben, wo sie nicht schiere Beschäftigung im textilen Bereich bedeutet. Frauen sollen vor allem kräftig sein, um viele Kinder zu bekommen.

 

Aussehen wird weder bei der Geistlichkeit noch den Klosterleuten ignoriert, wie denn auch, aber eigentlich ist ihr Körper ja nur der lästige Leib der Seele, dem man eher wenig Beachtung schenken sollte. Während die Kirche von produktiver Arbeit so befreit ist wie die Kriegerschicht, mit der sie oberhalb der Gruppe der kleinen Pfarreipriester die edle Herkunft gemeinsam hat, sollte sie eigentlich des Körpertrainings auf der Jagd und in der Vorbereitung für den Kampf entsagen, was aber höhere Prälaten wohl zumindest vom Jagdvergnügen nicht immer abhält. Aber insgesamt fehlt der allgemeinen Geistlichkeit der wohlgeübte Körper, und das Ausleben des Geschlechtstriebes wird zwar geduldet, aber nicht unbedingt gutgeheißen, weswegen der sexuelle Blick auf die Körper nicht so offen betrieben werden kann.

 

Da Mönche und die geringere Zahl der Nonnen ebenfalls in der Regel aus edleren Kreisen stammen, ist das benediktinische Arbeitsgebot für die meisten auf die weniger beschwerlichen Tätigkeiten reduziert, von wenigen häuslicheren Verrichtungen einmal abgesehen. In ordentlich ausgestatteten Klostern haben Mönche allerdings wie der übrige Adel eine solidere, weniger krisengeschüttelte  Ernährung als die, die für sie arbeiten, auch wenn ihnen das edle Schlemmen und Bechern untersagt ist. Auch ohne sportive Übungen haben Mönche und Nonnen so eine höhere Lebenserwartung als die arbeitende Bevölkerung, was ihnen eine längere Wartezeit hin zu den doch eigentlich angestrebten Gründen des ewigen Chorgesangs im Angesicht ihres obersten Herrn gewährt.

 

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Was wissen die Menschen von den im Körper verborgenen Vorgängen und was von den schambesetzten äußeren?

Die Masse der Bevölkerung dürfte im frühen Mittelalter in Verhältnissen gewohnt haben, die sowohl was das Ausagieren des Geschlechtstriebes, Nacktheit wie auch Urinieren und Defäkieren angeht, nur eingeschränkte Heimlichkeit zulassen. Aber die unsichtbaren Vorgänge im Körper sind weithin unbekannt. Aus der Antike stammt eine Humoraltheorie, die vier Körpersäfte annimmt, Blut, Phlegma, gelbe und schwarze Galle, welche in ihrer Zusammensetzung Persönlichkeit und Gesundheit bestimmen.

Ähnlich dubios sind die Ansichten über die nicht gleich sichtbaren Vorgänge der Fortpflanzung. So wird vielfach angenommen, dass nicht nur der Mann Samen ausstößt, sondern beim fruchtbaren Koitus auch die Frau, und dass die Vermischung beider vonnöten ist. Alternativ folgt man Aristoteles, der erklärt hat, dass das männliche Sperma durch Formung einer weiblichen Substanz den Fötus schaffe.

 

In den 'Practica secundum Trota' aus Salerno, die im 12. Jahrhundert zum ersten Mal ausführlicher auch Gynäkologisches in der Medizin behandeln, und zwar von Unfruchtbarkeit und Menstruationsproblemen bis zu Kosmetika, wird als empfängnisverhütendes Mittel folgendes empfohlen:

Nimm ein männliches Wiesel und lass seine Hoden entfernen und setze es anschließend wieder lebend in Freiheit. Lass die Frau diese Hoden, welche in die Haut einer Gans oder eines anderen Tieres gewickelt werden sollen, an ihrer Brust tragen, dann wird sie nicht empfangen. (in: Mazo Karras, S.151)

Ladurie berichtet aus Montaillou, dass der Dorfpriester, wenn er mit Beatrice de Panissoles schläft, zur Empfängnisverhütung ein Amulett mit Kräutern um seinen Hals trägt.  

 

Diese Art von (faulem) Zauber bringt auch das Gewerbe der Zauberer und Hexen hervor, und offensichtlich sind es vor allem Frauen, die sich auch ganz unprofessionell hier versuchen. Das veranlasst Burchard von Worms um 1000, Strafen auf Frauen auszusetzen, die zu magischen Zwecken den Samen ihrer Ehemänner trinken oder sie von ihrem Monatsblut zu trinken geben.

 

(Einen Gegensatz zwischen "prüde" und scham- bzw. hemmungslos gibt es wohl kaum, taucht doch "Prüderie" als Entlehnung aus dem Französischen überhaupt erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Deutschen auf, um einen Extremfall von Schamhaftigkeit zu bezeichnen und zugleich den Anstoß zu geben für den im 20. Jahrhundert durchgesetzten Extremfall der Schamlosigkeit in den europäischen Gegenden mit dem fortgeschrittensten Kapitalismus)

 

(Der menschliche Körper ist ein Verunreiniger und er bedeutet die Verunreinigung der Seele. Das griechische hygieinós heißt "gesund". Ins Deutsche kommt das Wort Hygiene erst im 18. Jahrhundert und es verengt die Bedeutung ganz auf das, was im Hochmittelalter als höfischer Manierenkatalog auftaucht, bevor es im 19. Jahrhundert dann im medizinischen Raum bedeutsam wird. Was das frühe Christentum bereits fordert, ist Seelenhygiene.

 

Es gibt keinen Grund, den frühmittelalterlichen Menschen für einen Dreckspatzen zu halten; die sogenannten Naturvölker, die weit mehr Kulturvölker waren als wir heute, schätzten eine gewisse Sauberkeit durchaus, wo sie denn zu haben war. Erst nach dem Mittelalter schwindet eine allgemeine Badekultur, an der mit ihren bescheidenen Mitteln auch die unteren Schichten teilhatten.)

 

 

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Keuschheit als Vergeistigung: Reinheit und Reinigung

(siehe Anhang 2, Kap.7)

 

Evangelischer Christ sein heißt zunächst, ihm auch ganz wörtlich nachzufolgen, mit ihm umherzuwandern und auf ihn zu hören. Daraus wird dann das gänzliche Ausrichten des Lebens auf die Erwartung seiner Wiederkunft. Als nach und nach klar wird, dass er womöglich erst viele Generationen später wiederkehren mag, wird es immer plausibler, sich in dieser Welt einzurichten und jegliche Erlösung auf irgendwann nach dem Tod zu verschieben. 

Wenn es dann zunächst opportun und danach zur Pflicht wird, sich taufen zu lassen bzw. von den Eltern als unmündiges Kind in die Kirchengemeinde geschickt zu werden, genügt es, Glauben vorzutäuschen und an einem Minimum von Ritualen teilzunehmen. Christentum wird mehr oder weniger lebendiges Brauchtum, wie man so etwas heute nennt und alles spricht dafür, dass es im 10. Jahrhundert auf dem Land und in den mehr oder weniger städtischen Siedlungen für die meisten Menschen genau das ist.

Das gilt allerdings nicht für die in Klöstern mehr oder weniger eingesperrten Mönche und Nonnen, ein Stück weit die Priester und einige andere Fromme, die ihr Leben auf die Begegnung mit ihrem Gott nach ihrem Tod hin ausrichten sollen. Sie haben den Aufforderungen des evangelischen Jesu samt den dem Judentum entlehnten zehn Geboten stellvertretend für die Masse der Christen zu folgen, die dazu wenig Neigung besitzen.

 

Heilige werden verehrt, aber nicht nachgeahmt und nur von ihnen und Mönchen wird bis ins 11. Jahrhundert hinein Keuschheit als sexuelle Abstinenz erwartet.

 

Dass der ausgelebte Geschlechtstrieb unrein ist und unrein macht, meint ganz anschaulich, dass man sich befleckt und beschmutzt. Bei Juden ist eine Frau während der Monatsblutung unrein und um wieder mit ihrem Ehemann kopulieren zu können, muss sie sich in der Mikwe einer rituellen Reinigung unterziehen. Davon übrig bleibt das kirchenchristliche Koitus-Verbot während dieser Zeit.

Jüdinnen müssen sich nach einer Geburt ebenfalls rituell reinigen. Christliche Frauen müssen vierzig Tage danach ebenfalls ein Reinigungsritual durchmachen und dürfen erst dann wieder in die Kirche hinein. Legendäre vierzig Tage nach der Geburt Jesu (an "Weihnachten") begehen die Christen darum mit einer Lichterprozession das Fest Mariä Lichtmess, also der Reinigung Mariä, bei den Juden ein Tieropfer. Daneben wird in der christlichen Legendenbildung die Darbringung Jesu im Tempel, wo er mit Geld ausgelöst wird, gefeiert.

 

Manche Experten meinen errechnet zu haben, dass die Kirche den (ehelichen) Koitus außerdem an allen Fest- und Fastentagen verboten habe, darunter auch die Sonntage, zudem während Schwangerschaft und Stillzeit - was mehr als die Hälfte der Tage des Jahres umfasst hätte. Aber im Dunkel der Nacht entzieht sich der Kirche vieles.

Im 19. Buch seiner Dekrete heißt es jedenfalls bei Burchard von Worms um 1000: Du musst zwanzig Tage lang vor Weihnachten die Keuschheit wahren, und jeden Sonntag, und während aller gesetzlich festgelegten Fastentage, und an öffentlichen Orten.

 

 

Heiligkeit ist Reinheit, und nur die reinen Heiligen werden von Gott in seinem Reich angenommen werden. Das schon von Tertullian als refrigerium oder als "Abrahams Schoß" bezeichnete Fegefeuer erhält seine erste dogmatische Ausformung bei Papst Gregor d.Gr. in seinen 'Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum':

Man muss glauben,dass es vor dem Gericht für gewisse leichte Sünden noch ein Reinigungsfeuer gibt, weil die ewige Wahrheit sagt, dass, wenn jemand wieder den Heiligen Geist lästert, ihm "weder in dieser noch in der zukünftigen Welt "vergeben wird. Aus diesem Ausspruch geht hervor, dass einige Sünden in dieser, andere in jener Welt nachgelassen werden können.

Die "ewige Wahrheit" ist hier das Matthäus-Evangelium.

 

Die sich erst im hohen Mittelalter im Zuge der Entfaltung von Kapitalismus allgemein ausbreitende Vorstellung von einem Purgatorium (Reinigungsort) ist also ein Ort, an dem unter strafenden Qualen der Körper von dem Schmutz seiner im Leben begangenen Sünden gereinigt wird.

 

Vom ursprünglichen Wortsinn her wird "Reinheit" hergestellt durch das Abscheiden von allem, was nicht zu etwas dazugehört. Soweit stimmt es mit dem lateinischen purus überein und wird in nichts so veranschaulicht wie im Gold. Dieses purus enthält aber auch die Bedeutung von "sittlich rein", die manchmal mit dem althochdeutschen "sauber" gemeint ist. Sittlich rein meint dann im christlichen Sinne sündenfrei. Die Bedeutungsverschiebung zwischen "sauber" und "rein" ist noch in dem Werbeslogan für ein Waschmittel: "wäscht nicht nur sauber, sondern rein" enthalten, der zwar abstrus, aber wirksam war.

 

Damit sind wir bei der Verbindung der Vorstellungen von Sünde und Schmutz, die der Sünde jene sinnliche Anschaulichkeit gibt, die es erlaubt, im Extremfall Ekel vor ihr zu empfinden. Auf der korrekten metaphorischen Ebene wird der Schmutz abgewaschen (Wasser!) oder durch das Feuer gereinigt. Auf der Ebene alltäglicher Wirklichkeit wird die Sünde gebüßt, und die Buße ist ursprünglich keine Strafe, sondern eine Chance auf das ewige Leben. Mit der zunehmenden Popularisierung der Vorstellung vom Purgatorium, dem Ort der Reinigung, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wird für diesen Ort nun als Abschreckung die reinigende Kraft des Feuers gewählt

 

Um dieses purgierende Feuer zu reduzieren bzw. zu vermeiden, wird nun einmal nach dem Tod des Angehörigen um seine Seele im Gebet gerungen, zum anderen wird auf dem Weg der Buße möglichst viel Sündenschuld schon in diesem Leben abgetragen. Die Buße wird als Waschvorgang anschaulich dargestellt.

 

Die Sünde ist Verunreinigung, bedeutet Schmutz. Kot und Urin sind Schmutz, der Rotz aus der Nase, das Ohrenschmalz, Fürze verunreinigen die Luft, der Mensch ist ein Schmutzproduzent. Das Sperma verursacht Befleckung bei Mann und Frau, nur Marias Empfängnis ist unbefleckt. Das Menstruationsblut befleckt, ist Schmutz und stinkt bald.

 

Schon tief im 11. Jahrhundert schreibt der Reformer Damiani über die Beteiligung des Volkes an religiösen wie (manchmal zugleich) "politischen" Fragen: In unseren Tagen geschieht es, dass Bauern und Tölpel, die nichts anderes können, als mit den Pflugscharen die Äcker aufzureißen, Schweine und andere Herdentiere zu hüten, nunmehr, ohne zu erröten, auf öffentlichen Plätzen und Straßen vor Dirnen und Ochsentreibern wie sie selbst, über den Sinn der hl. Schriften disputieren. Und, gar schändlich zu sagen, während sie die Nacht über brünstig zwischen den Schenkeln der Weiber liegen, scheuen sie sich nicht tagsüber Reden der Engel zu erörtern und auf solche Weise Urteile über die verba doctorum zu fällen. (in diesem Deutsch in: Fuhrmann, S.48)

 

Fehlende Belesenheit, der Schmutz der Schweine und die Geilheit in der Geschlechtlichkeit fallen hier plakativ zusammen, um jene Unreinheit zu benennen, die hier disqualifiziert.

 

 

Marien

 

Von einer von Männern dominierten Welt der Spätantike und des Frühmittelalters ist im wesentlichen der männliche Blick auf die Dinge erhalten. In diese Welt müssen die evangelischen Mariengestalten eingeordnet werden, erstaunlicherweise mit dem selben Namen ausgestattet, aber doch auch verschieden. Sie entsprechen alle nicht dem idealen Frauenbild früher katholischer Kirchenlehrer. Dass die Gottesmutter Modell für Jungfräulichkeit trotz Ehemann und einer gewissen Kinderschar sein soll, ist dabei eine Sache. Eine andere ist, dass die wohl interessanteste der Marien, die als Summe der drei übrigen Marien dann später gerne Magdalena genannt wird, weil eine von ihnen aus Magdala stammt, und die weniger den legendären Herkunfts- und Kindergeschichten um Jesus, sondern seinem Erwachsenenalter zugeordnet ist, wobei zwei der drei Marien, aus denen sie dann später zusammengesetzt wird, offenbar eine "große Sünderin" bzw. voller Dämonen waren, was man damals naheliegenderweise mit Prostitution verbinden könnte.

 

Der Gott der theologischen Texte ist geschlechtslos, auch wenn er dominus und pater ist. Er begehrt nicht, sondern er schenkt denen, die sich ihm unterwerfen. In den jüdischen und evangelischen Texten aber taucht er immer wieder als Vatergott auf. Bei Johannes und Paulus erklärt sich das folgendermaßen: Er ist ganz Geist, reiner Geist, und die beiden gehen davon aus, dass mehr Geist sich beim Mann versammle als bei der Frau. Deshalb hat die Frau in der ekklesia auch zu schweigen.

 

Wenn man sich etwas durch die spätantiken Texte arbeitet, dann kommt die Vermutung auf, dass die so ausführliche und augenfällige Ausstattung der Frauen als Objekt männlichen Begehrens, fürs Kinderkriegen und deren frühe Ernährung sie stärker als Geschlechtswesen wahrnehmbar macht als den Mann. Zudem sind die wohl damit verbundene andere Art sozialer Kompetenz, wie man das heute nennt, und der regulär etwas anders strukturierte Gefühlshaushalt mitverantwortlich. Tendenziell sind die Talentschwerpunkte bei Männern und Frauen etwas anders verteilt. Im Zweifelsfall ist darum der christliche Gott nicht nur vom grammatischen Geschlecht her männlich, auch wenn er anders als bei Griechen und Römern kein mythologisches Geschlechtsleben führt.

 

Das Mysterium der Gottessohnschaft hat notwendig im Gefolge, dass Jesus einmal ein Mann ist, Sohn eines Vaters, andererseits aber kein Geschlechtsleben haben kann, denn sonst wäre er ein Mensch wie alle anderen. Das ist er aber nicht als fleischgewordenes Wort Gottes, Verkünder einer allumfassenden Liebesbotschaft, die keine begehrende, sondern eine schenkende Liebe ist, Verkünder der Abkehr von einer vom Satan bzw. den Dämonen kontaminierten Welt, von der es sich abzukehren gilt zugunsten ewiger Seligkeit.

 

Er ist darum in den Evangelien ein Mann ohne Geschlechtstrieb, was nicht explizit thematisiert wird. Seine wenigen Äußerungen zur menschlichen Geschlechtlichkeit sind durch die Bank widersprüchlich: Einmal deutet er die Unauflöslichkeit der Ehe an, einmal fordert er den Bruch mit Ehe und Familie. Die vitale Triebhaftigkeit des Menschen wird dabei weithin ignoriert, aber sie wird bei ihm auch kaum diabolisiert.

 

Eine ganz eigenartige Rolle spielen dabei die Frauen in den Evangelien, die nicht in den Kreis der Apostel aufgenommen werden, aber angeblich zu seiner engsten und überzeugtesten Anhängerschaft gehören.

 

Eva hatte die Sünde in die Welt gebracht, Maria den Erlöser davon, Maria Magdalena aber wird im Mittelalter zu der Frau, die bewies, wie man durch Unterwerfung und Abkehr von der Welt auch als Frau in die Gnade gelangen kann. Mit den drei aus den Evangelien fusionierten Mariengestalten hat das wenig zu tun.

 

Die Maria aus Magdala des Lukas war eine Frau, „von der waren sieben Dämonen ausgefahren.“ Sie hatte also sieben Lastern gedient, folgte nun aber Jesus aus Liebe nach Jerusalem und ist am Ende die, die seinen Leichnam nach dem Sabbat mit parfümierten Ölen einbalsamieren möchte. Sie begegnet einem von ihr für einen Gärtner gehaltenen Mann (noli me tangere), entdeckt in ihm den Auferstandenen und verkündet das den „Jüngern“.

Eine zweite Maria ist eine Hure im Haus eines Pharisäers (ebenfalls bei Lukas), die spontan vor ihm niederkniete, ihm die Füße salbte und von Jesus darauf in den Stand der Reinheit erhoben wurde: „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat mich sehr geliebt.“

Eine dritte Maria erleben wir bei Markus und Matthäus in einem Haus in Bethanien: Auch diese Frau nimmt spontan ein Glas mit „Nardenöl“ und gießt es auf Jesu Haupt. Laut Johannes heißt auch diese Frau Maria und ist die Schwester von Martha und Lazarus. Bei Lukas sitzt sie gerne zu Füßen Jesu und lauscht seinen Worten.

 

Aus diesen drei Frauen macht Papst Gregor der Große eine einzige, der Einfachheit halber, und das wird dann zur mittelalterlichen Tradition. Interessanter wäre die Frage nach einem erotischen Moment, denn alle drei Frauen werden von Jesus nicht angenommen, weil sie irgendein Schuld- oder Sündenbewusstsein zeigten, sondern weil sie Jesus „liebten“. Zumindest bei der Maria aus Magdala ist diese Liebe so groß, dass sie Jesus nach Jerusalem folgt, seinen Tod erlebt und seine Auferstehung. Dem Zeugnis der Evangelien nach ist sie eine konsequentere Jüngerin als fast alle männlichen Apostel zusammen und im Unterschied zu ihnen Zeugin der beiden wichtigsten christlichen Ereignisse, der von Opfertod und Auferstehung. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die Evangelien wohl jeweils aus mehr als einer Quelle schöpfen.

 

Zu verwegenen Spekulationen gibt das alles keinen Anlass: Den Liebesbekundungen der Frauen (knien, salben, nachfolgen etc) tritt Jesus mit Worten der Vergebung, des Verzeihens gegenüber, das ist hier seine (einzige) Gegenliebe. Die Liebe dieser Frauen zu analysieren, fehlt jedes Textmaterial.

 

Das Konzept der Evangelisten hinterlässt Widersprüche: Wenn Jesus nicht nur ganz Gott, sondern auch „ganz Mensch“ war, dann müsste er sexuelles Begehren am eigenen Leibe erfahren haben. Die Auseinandersetzung damit, die Unterdrückung der Triebhaftigkeit wäre ein gewaltiges Thema seines Lebens, sie findet aber in den Texten nicht statt. Nicht er, sondern die Evangelisten würden also ein Konzept systematischer Verleugnung hier betreiben. Stattdessen lässt sich in die drei Frauen eine Liebe mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit hineinlesen, jedenfalls mit einer Komponente von Sinnlichkeit – sie berühren Jesu, schmücken ihn mit wohlduftenden Kostbarkeiten, scheinen deshalb auch recht wohlhabend zu sein im Gegensatz zu ihm, der allen, aber auch allen Besitz ablehnte. Ein weiterer Widerspruch, der jeden Armutsbewegten und überzeugten Bettler betriffen wird.

 

Mehr bleibt nicht als die vage Vermutung, die Leidenschaftlichkeit seiner sublimen Liebesbotschaft habe Frauen angezogen und eine sehr weibliche Flamme der Liebe (in einem sehr hochmittelalterlich-abendländischen Sinne) in ihnen angezündet. Dann wäre es das vielleicht damals dort seltene männliche Angebot einer nicht begehrenden, sondern gebenden Liebe, welches diese Frauen in ihren Bann gezogen hätte.

 

Jenseits des Mysteriösen und der Spekulationen lässt sich verfolgen, was mit der fusionierten Maria Magdalena bis ins Zeitalter der Säkularisierungen geschieht. Eine Spur führt nach ins 6. Jahrhundert nach Ephesus, wo die griechische Christenheit die spezielle Magdalenische Maria verehrt, deren Begräbnisstätte man dort "entdeckt", und deren Verehrung dann über England zu Beginn des Hochmittelalters anfängt, die lateinische Christenheit zu durchdringen, wo sie wieder in fusionierter Form auftritt.

 

Eine synthetisierte Magdalena wird in der hochmittelalterlichen Basilika von Sainte-Marie-Madeleine im burgundischen Vézelay begraben, was erhebliche Pilgerströme fördert.

Laut der 'Legenda aurea' wiederum wurde Maria Magdalena mit Maria des Kleophas, Martha von Bethanien und Lazarus von Juden auf einem segellosen Schiff ausgesetzt, landet in dem französischen Fischerdorf Saintes-Maries-de-la-Mer bei Marseille und missioniert dann in der Provence. Verehrt wird dort auch eine Dienerin, die mit den drei Marien gekommen sein soll, die schwarze Sarah, eine Patronin der Roma und Sinti.

Die letzten 30 Jahre ihres Lebens soll Maria Magdalena als Einsiedlerin in einer Höhle im Massif de la Sainte-Baume verbracht haben.

 

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Die Muttergottes-Maria ist eine ganz andere Sache. Abgesehen davon, dass es biologischer Unfug ist, von einer Jungfrau zu sprechen, die ein Kind gebärt, gibt es auch kaum evangelische Hinweise auf eine jungfräuliche Gottesgebärerin, ein ziemliches Unikum im abendländischen Raum. Aber im zweiten Jahrhundert drängen bereits kirchliche Kreise darauf, die Virginität dieser Maria festzuschreiben. Wie denn auch soll ein von zwei Menschen im Koitus hergestellter Mensch ein Sohn Gottes sein. Andererseits ist aber Insemination durch ein geschlechtsloses Geistwesen eigentlich auch nicht möglich. Die Antwort kann nur in der behaupteten Allmacht Gottes bestehen.

 

Wie diese merkwürdige Vorstellung bis ins frühe Mittelalter aufgenommen wurde, lässt sich kaum noch feststellen. In diesem tauchen dann aber vermehrt Muttergottes- Statuen auf, neben dem gekreuzigten Jesus noch seltene Freiplastiken. Sitzende derbe, kräftig-gedrungen gebaute und wohl in der Regel bemalte Frauengestalten halten dabei ein Jesuskind auf dem Schoß.  Oft sind sie das einzige oder wenigstens zentrale Kultbild in der Kirche, manche gelten als wundertätig und ziehen Pilger an.

 

Wieviel Gefühlsausdruck die Anbetenden in den Statuen entdecken können, bleibt unklar, fehlen den Bildhauern und -Schnitzern dafür doch noch die technischen Mittel, aber was jeder sehen kann, ist verehrenswürdige Mutterschaft, die an sich immer mit Sexualität zu verbinden wäre. Das klobig Majestätische der Figuren drückt allerdings auch Macht und Herrschaft aus.

 

Vermutlich sind diese Figuren insbesondere für Frauen wichtiger als der noch nicht darstellbare Herrgott und der in dieser Zeit noch am Kreuz triumphierende Jesus, eine seltsame Gestalt, und der ohnhin nur als Taube symbolisiert dargestellte heilige Geist. Wie Frauen damals damit umgehen, dass das Kind angeblich zwar ohne Zeugungsakt/wirkliche Empfängnis und ohne sexuelle Lustentfaltung, aber mit den Belastungen der Schwangerschaft und des Gebärens ans Licht der Welt kam, muss offenbleiben. Ein die höheren, insbesondere auch höheren kirchlichen Kreisen erfassender Marienkult wird sich erst im 11. Jahrhundert verbreiten, etwa zeitgleich mit dem Aufkommen von mehr Kapital in den Städten, aber nicht leicht damit in Bezug zu setzen.

 

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Das erotische Element antiker Zivilisation scheint in den germanisch dominierten Reichen danach zu verschwinden, zumindest erfahren wir davon auch noch durch das frühe Mittelalter kaum mehr etwas. Es fehlen auch Überbleibsel, die Näheres über das Verhältnis zum eigenen Körper belegen, völlig für die Masse der Menschen, und indirekt nur über den Schmuck, der Kleidung insbesondere der Oberschicht-Frauen begleitet. Texte, von Geistlichen geschrieben, belegen hingegen die Propagierung einer christlich verstandenen Körperfeindlichkeit. Das Ideal, die Heiligkeit, wird weiter mit bewusster Vernachlässigung des eigenen Körpers verbunden, denn er ist das Gefäß der Sünde, welches den Zugang zur christlich definierten "Seele" und Vergeistigung verhindert. Dabei bleibt das alles widersprüchlich, wenn hohe Geistlichkeit am Hofe Karls d.Gr., des Kahlen oder der Sachsenkaiser auch ganz irdischer Prächtigkeit nicht abgeneigt sind. Die Oberschicht kommt insgesamt nicht dauerhaft mit sich ins Reine, was die Verbindung gewalttätigen Kriegertums und Zusammenraffens von Reichtum mit christlicher Botschaft betrifft. In einem langen Weg wird erst der Kapitalismus alles dem Kapitalinteresse unterwerfen und dabei Religion gänzlich verdrängen, ein Weg, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgeschlossen werden wird. Im frühen Mittelalter wird mehr und intensiver als zuvor das genaue Gegenteil propagiert.

 

Letztlich fehlt der Weltabgewandtheit des evangelischen Jesus der Synoptiker noch der Zug zur Vergeistigung, den dann das Evangelium des Johannes hineinbringt. Dieses Element gelangt dann stärker in die Kirche durch die Verwicklung mit antiker Philosophie in etwas popularisierterer Form. Klar ist aber, dass die meisten Menschen damit höchstens konfrontiert werden, um in ihnen Schuldbewusstsein und Untertanenmentalität, "Sklavenseelen" zu erzeugen.

 

 

Angst, Schrecken und Grausamkeit

 

Die Angst ist etymologisch aus der Enge ableitbar, der lateinischen angustia. Sie unterscheidet sich von der Furcht durch die größere Unbestimmtheit des Auslösers, die es schwerer macht, mit ihr umzugehen. Angst besteht vor dem Übermächtigen, Furcht vor dem Mächtigen. Die Enge in der Angst ist die innere Beklemmung mit Atemnot und/oder Unruhe, die wehrlos machen, während die Furcht eher bewusste Reaktionen hervorruft, Maßnahmen der Abwehr von Bedrohung oder der Unterwerfung.

Dass die Angst als Wort eher ein deutsches Phänomen ist, nimmt ihr nichts von ihrer universalen Anwesenheit. Worte und Wirklichkeit stimmen eh nie ganz überein, auch wo Wirklichkeit wahrgenommen wird, und Sprachen sind alle sozusagen unterschiedlich defizitär bzw. ausdrucksstark.

 

Das (deutsche) Schrecken ist ursprünglich ein (Auf)Springen, und die übertragene spätere Bedeutung betont das Plötzliche, Unvorhergesehene. Die körperliche Seite besteht im kurzen Stillstehen des Herzens und des Atems. Scham, Angst und Schrecken entsprechen so unterschiedlichen spürbaren bis sichtbaren körperlichen Vorgängen. Die Scham ist u.a. bezogen auf das Verbotene, der Schrecken u.a. auf das nicht weglachbare Obszöne, überhaupt alles, was unvorbereitet auftaucht, die Furcht wiederum auf die definitive Gefahr, nur die Angst scheint beziehungslos zu sein, sie ist latent und bricht bei ganz unterschiedlichen Anlässen aus.

 

Ich wage einmal die vorläufige Behauptung, dass die Angst im Kern bezogen ist auf die vom Willen unabhängigen Triebregungen, auf das Getriebensein des Menschen, oder besser gesagt auf das unterschwellig lauernde Bewusstsein davon. Sie entspräche dann jener menschlichen Wahrnehmung von sich selbst als dessen, der nicht unbeschränkter Herr im eigenen Haus ist. Das mittelhochdeutsche Gegenwort wäre dann der Mut, der ursprünglich die Tätigkeit des Strebens, nach etwas Trachtens, Verlangens benennt. Bewusstes Begehren ist noch im hohen Mittelalter muoten, das, was der Lehnsmann betreiben muss, wenn er nach dem Tod des Lehnsherrn von dessen Erben sein Lehen erneut begehrt.  Während sich dann gegen Ende des Mittelalters die Angst auf die Feigheit zuspitzt, bewegt sich der Mut hin zur Tapferkeit.

 

Auf diese Weise wäre die Angst das Gefühl des passiven Ausgeliefertseins und der Mut das Gefühl aktiver Bewältigung. Im Mut ist dann der Mensch Herr seiner Gefühle und in der Angst verengt sich die Physis und schnürt die Gefühle ab.

 

Menschen können sich nicht nur bewusst mit ihrer Triebhaftigkeit auseinandersetzen (und dabei zum Beispiel Angst abbauen), sie wissen auch darum, dass sie schlussendlich zu nichts anderem getrieben werden als dem Tod, einem absehbaren Ende, dem durch Fortpflanzung die Spitze genommen werden soll. Angst hat also zwei Seiten zumindest: Eine existenzielle, die die latente wie permanente Bedrohung durch den Tod auslöst, und eine psychische, die in der latenten wie permanenten Bedrohung durch die eigene Triebhaftigkeit besteht, die niemals ganz beherrschbar wird, auch wenn zum Beispiel extreme christliche Asketen wie hinduistische Yogis oder Fakire bezeugen, wie weit man doch Herr im Hause werden kann. Um den Preis, den die ersteren dafür manchmal zahlen bzw. von anderen einfordern, wird es hier noch gehen.

 

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Die Angst ist ein existentielles Phänomen, in Zivilisationen darüber hinaus ein strukturbildendes. In ihr etabliert sich dann mit Gewaltandrohung versehene menschliche Machtausübung, die nicht mehr bloß situativ, sondern dauerhaft verankert ist. Diese Form der Furcht vor den Herren, durch Einübung in internalisierte Angst transformiert, gerät dann beim jeweils Untertanen in die Latenz und wird bis in die Körper eingeschrieben. Akut wird sie in Unterwerfungsgesten gebändigt, in geduckter Haltung ausgedrückt. Aufrecht geht nur der (Angst)Freie, eine Rolle, die vor allem das Kriegertum des Mittelalters einnimmt, soweit es nicht selbst vor einem Mächtigeren duckt.

 

Davon erfahren wir für das frühe Mittelalter wenig, eher ein kleines bisschen mehr über die Furcht, die als Gottesfurcht eingebleut wird und vor allem die Furcht der Knechte vor den Herrn meint, unmittelbar eben den geistlichen Herren. Sie erzeugt zusammen mit dem Gefühl der Ausweglosigkeit die Unterwerfung, wie sie für alle Zivilisationen nötig ist, und sie betrifft die nicht unbeträchtliche Zahl der Sklaven des frühen Mittelalters genauso wie die vielen an Grundherren gebundenen und mehr oder weniger leibeigenen Bauern, also besonders nördlich der Alpen, in West- und Ostfranzien vor allem, fast alle Menschen.

 

Eine andere Form konkreter Furcht ist für den Norden überliefert. Abgeschnitten von einem Verhältnis zur Natur, welches über die Interessen der Herren hinausgeht, mit denen sich der Alltag der Knechte zu beschäftigen hat, wird jene vorzivilisatorische Vorstellung von einer über die wirklichen Lebewesen hinaus belebten "Natur" zunehmend zu einem Glauben an angstmachende und furchterregende Geister, Dämonen, Feen, Kobolde, Wiedergänger und von vielem mehr. Den konstruktiven Umgang damit verbietet die Kirche und die Unterwerfung unter Herreninteressen. Dabei sind hier in einer gewissen Heimlichkeit Objekte für Angst und Furcht leichter lokalisierbar als in der Ausweglosigkeit der Untertänigkeit. Einiges von solchem Geisterglauben besteht auch neben den magischen Zaubereien der Kirche selbst bei hohen ostfränkischen Kirchenherren insbesondere östlich des Rheins dann fort. 

 

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Das griechische Wort trauma meint Verwundung, Verletzung. Im modernen psychologischen Jargon sind damit massive seelische Verletzungen gemeint, die für die große Mehrheit der Menschen lang anhaltende Folgewirkungen haben. Dazu gehören als direkte, nur zum Beispiel, massive Angststörungen. Vermeidungsstrategien sind die Verdrängung, die oft die Verlagerung der Reaktionen auf andere, manchmal vermeindlich harmlosere Objekte mit sich bringen kann, oder die Abspaltung, Dissoziation bis hin zu gespaltenen Persönlichkeiten - die von einer Haltung in eine andere kippen können.

 

Der Grad der Traumatisierung hängt immer auch an der Sensibilität der Person, ihrer Empfänglichkeit für traumatisierende Impulse. Was für eine Frau eine traumatisierende Vergewaltigung ist, ist für eine diesbezüglich abgestumpfte Prostituierte eher vereinbarter Gelderwerb, oder aber durch eingeübte Dissoziation eher gefühlsmäßig belangloser Vorgang. Für "professionelle" mittelalterliche Krieger ist physische Gewalt ein Lebenszweck, während die Amateure in den Heeren beider Weltkriege durch das, was dort geschieht, oft genug traumatisiert wurden, was sich häufig im Schweigen über das Erlebte (neben vielem anderem) niederschlägt.

 

Ohne statistische Wahrheiten bieten zu können, sind potentiell traumatisierende Ereignisse aus dem Leben der meisten Menschen des nun sich entfaltenden "Mittelalters" nicht wegzudenken. Kaum eine Generation wo auch immer, die nicht kriegerische Gewalt auf das entsetzlichste erleben muss, wenigstens einmal, oft aber mehrmals im Leben. Dazu kommt die sexuelle Gewalt, im wesentlichen Missbrauch von Kindern und Frauen, die erstere fast völlig totgeschwiegen und die zweite von den Frauen aus Scham und um des Rufes wegen auch zumeist nicht erwähnt, wie denn auch bis in die Gegenwart hinein. Schließlich führen Naturkatastrophen zu Hungersnöten bis hin zu verbreitetem Sterben - wie auch Seuchen, die kaum jemals eine Generation auslassen.

 

Das Leben ist für die meisten hart, wozu für sie auch das Arbeitsleben gehört, und um es zu ertragen, müssen die Menschen (psychisch) stärker und härter sein. Sind die Menschen dadurch weniger gefühlvoll bzw. sensibel und darum weniger traumatisiert? Halten sie also (einfach) mehr aus als heutige Wohlstands-Mitteleuropäer des zweiten Millenniums?

Die Frage ist sicher wichtiger als das Ergebnis mancher Schlacht und der Inhalt einzelner Verträge, aber nicht leicht anzugehen.

 

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Wenn Althoff, Keller und andere darauf abheben, dass die ottonischen Herrscher (notgedrungen) mehr als der große Karl auf Verhandlung und Konsensbildung als Herrschaftsinstrument abheben, so geben die Quellen doch – auf einer Ebene darunter – eher her, dass das Moment der Grausamkeit bleibt oder sogar Zuwachs erfährt. Die Vermutung sei schon einmal in den Raum gestellt, dass sie, je mehr sie auf oberster Ebene nachlässt, desto mehr „nach unten“ auf dem Weg durch das Mittelalter und in die Neuzeit hinein zunimmt.

 

Bekannt sind die Vorgänge in Rom im 10. Jahrhundert. Als den gegen den Kaiser aufständischen Römern unter Johannes XII. 964 der Kardinaldiakon Johannes in die Hände fällt, die der Papst zur Einladung Ottos geschickt hatte, schneiden sie ihm die Zunge, die Nase und zwei Finger der rechten Hand ab. (Holtzmann, S.204) Kurz darauf übergibt Otto I. Papst Johannes XIII. den von Papst und Kaiser abgefallenen römischen Stadtpräfekten Petrus, der ihm den Bart abschneiden lässt und am Kopfhaar an der Reiterstatue des Marc Aurel öffentlich aufhängt. Dann wird er nackt und verkehrt herum auf einen Esel gesetzt, der eine Glocke am Hals hat, und durch die Stadt geführt wird. Der derart Bestrafte muss das Gesicht zum Schwanz des Esels wenden, die Hände unter denselben halten (!) wobei er am Kopf und an beiden Hüften einen „gefiederten Schlauch“ hat, und er erhalt dabei Geißelhiebe. (Holtzmann, S.212)

 

Wie Kaiser Otto III. 998 in Rom mit Gegenpapst und dessen oberstem Parteigänger verfahren lässt, sieht in den Worten von Althoff so aus: „Sie blendeten ihn (Johannes XVI) und verstümmelten seine Nase und Zunge, ehe er nach Rom zu Kaiser und Papst Gregor V. gebracht wurde. Letzterer ließ den Verstümmeltenvon einer Synode noch förmlich devestieren, indem man ihn der päpstlichen Kleider beraubte und ihn dann, rückwärts auf einem Esel reitend und dessen Schwanz als Zügel benutzend, durch Rom trieb. Noch brutaler verfuhr Otto III. selbst mit Crescentius, als man diesen unter ungeklärten Umständen bei der Belagerung der Engelsburg gefangen nehmen konnte. Er wurde zunächst enthauptet, dann von den Zinnen der Engelsburg herabgestürzt und schließlich mit zwölf Gefährten auf dem Monte Mario an den Beinen aufgehängt und so öffentlich zur Schau gestellt.“ (S.181f)

 

 

Exkurs: Beherrschung und Kultur (Sigmund Freud gewidmet)

 

Herr ist man immer über etwas oder jemand, und sei es nur ein wenig über sich selbst. Letzteres erreicht man vor allem über die Internalisierung der Ansprüche mächtiger Anderer. Das betrifft sowohl Männer wie Frauen, auch wenn der "Herr" männlichen Geschlechts ist. Da der Vorläufer des deutschen "Herrn", was mit "hehr", mit "geachtet, würdig sein" zu tun hat (was der senior der römischen Antike war, der zum seigneur wie signore wird) aus demselben Stamm wie das Wort "Frau" herkommt, war diese sinngemäß die Herrin, wie sie denn auch in der frühen Neuzeit tatsächlich genannt wird, als die frouwe langsam ihre moderne Bedeutung erhält (sie löst das wîp ab, welches nun weiter abgewertet wird).

 

Im romanischen Raum des Mittelalters wird der senior durch die seniora ergänzt, und der volkssprachlich bis auf den "Don" verschwindende dominus durch die domina, die zur italienischen donna (okzitanisch dompna) und zur französischen (ma)dame mutiert.

 

Insofern kann man getrost die (Selbst)Beherrschung auf Männer wie Frauen beziehen. Sie ist zunächst der Verzicht auf das Ausleben von Triebregungen, dann die Beschränkung der eigenen Emotionalität und am Ende in extremo die Auferlegung von Restriktionen auf das Gefühlsleben.

 

Sigmund Freud beschreibt die Zusammenhänge des Vorgangs der Triebbefriedigung als „Lustprinzip“, als den steten Wechsel von Lust, Mangel als Unlust, Triebbefriedigung als erneuten Moment der Lust. Für den Menschen sieht das so aus:

 

"Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt , mit dem Makrokosmos ebenso wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch „glücklich“ sei, ist im Plan der „Schöpfung“ nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig." ('Das Unbehagen in der Kultur', II)

 

Da Leben nur möglich ist, indem es sich selbst hervorbringt, lässt sich erahnen, dass der Fortpflanzungstrieb überhaupt das Lebendigste, Intensivste ist, was wir von uns kennen. Tatsache ist nun, dass dieser Sexualtrieb – was sich bei Primaten schon erahnen lässt – beim Menschen übermächtig wird: Abgesehen von den Besonderheiten von Kindheit und Alter unterliegt er beim Menschen keiner (saisonalen) Periodizität mehr als der des Wechsels zwischen Aufbau und Abbau jener triebhaften Spannung, die nach Befriedigung drängt. Tiere haben eine kürzere oder längere Fortpflanzungssaison, bei den kleinsten Affen ein Tag, bei Hirschen bis zu anderthalb Monate, die wohl am Geburtendatum hängt, welches durch Klima, Vegetation bzw. Verfügbarkeit von Beutetieren gebunden ist.

 

"Vermutlich hing die Gründung der Familie damit zusammen, dass das Bedürfnis genitaler Befriedigung nicht mehr wie ein Gast auftrat, der plötzlich bei einem erscheint und nach seiner Abreise lange nichts mehr von sich hören lässt, sondern sich als Dauermieter beim einzelnen niederließ. Damit bekam das Männchen ein Motiv, das Weib oder allgemeiner: die Sexualobjekte bei sich zu behalten; die Weibchen, die sich von ihren hilflosen Jungen nicht trennen wollten, mussten auch in deren Interesse beim stärkeren Männchen bleiben." ('Unbehagen', IV)

 

Auch hier versucht Freud eine Analogie zwischen dem heranwachsenden Einzelnen und dem Prozess der Kulturbildung, der Menschwerdung im Allgemeinen herzustellen. Dabei zerstört er die kindliche Unschuldsvermutung, wie sie das Christentum formulierte, und erklärt den Menschen von Anbeginn zu einem Geschlechtswesen. Die noch nicht genital fixierte kindliche Sexualität ist erst einmal ungerichtet und übt sich dann daran, beliebige und notwendige Objekte des Begehrens zu finden. Die des erwachsenen Menschen ist im Kern nicht mehr ausschließlich auf die Fortpflanzung ausgerichtet, sondern vermittelt sich primär als spannungslösende Befriedigung in der kurzen Phase der Lust. Im Fetischismus erinnern sich Erwachsene an die kindliche Fähigkeit beliebiger Besetzung von Gegenständen mit ihrem nun genital zentrierten Begehren. In der Fetischisierung von Waren werden diese jenseits unmittelbarer Nützlichkeit zu Objekten des Begehrens.

 

Es sei kurz angemerkt, dass die Erklärungsmuster Freuds wie die der unkritischen positiven Wissenschaften auf einer Welt aus Ursachen und Absichten beruhen. Dabei hat der Mensch sich nie absichtsvoll entwickelt, sondern jenseits aller seiner Absichten - die Evolution ruht in sich selbst. Daraus wird zu erklären sein, dass kausale Erklärungsmuster, die aus intentionalen entstanden sind, die Dinge unserem Verstand anpassen und damit eine Welt konstruieren, die unsere Psyche beruhigen soll, deren bewusster Teil sich an Absichten und Ursachen orientiert. In kausalen Strukturen ist der Weg von der Erklärung zur Rechtfertigung nicht weit. Absicht und Ursache zerren dabei auseinander, was zusammengehört und was vor der Neuzeit einmal vor allem in zeitlichen Relationen erlebt wurde.

 

Die vitalen Triebe treten im Lebewesen nicht nur aggressiv fordernd auf, sondern sie werden zunächst auch aggressiv ausgelebt. Höher entwickelte Lebewesen ernähren sich von Lebewesen, vorwiegend solchen anderer Arten: Sie töten, lösen die Nahrung auf, verdauen sie und scheiden alles Unbrauchbare aus. Was natürlich ist, wird für den heutigen "zivilisierten" Menschen gerade mit seinem christlichen Hintergrund egoistisch und grausam. Leben ist darauf aus, zur Befriedigung des eigenen Interesses Leben zielgerichtet zu vernichten. Das hindert Menschen nicht am Appetit und der Nahrungsaufnahme, aber in Kulturen führt es zu Schuldgefühlen, die kultisch abgearbeitet werden. Der Ursprung dieser Schuldgefühle kann natürlich nicht in der menschlichen Grausamkeit liegen, sondern er muss dort liegen, wo die Wahrnehmung dieser Grausamkeit als einer solchen ermöglicht wird.

 

In Kulturen und mehr noch in fortgeschrittenen Zivilisationen führt es zudem zum Ekel. Die menschlichen Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane und alles Ausgeschiedene selbst werden für den Gesichtssinn wie insbesondere für den Geruchssinn unleidlich. Wir stehen in einer besonderen Linie von Primaten, deren Geruchsorgane sich seit Jahrmillionen zugunsten einer besonderen Art des Sehens zurückgebildet haben. Das Riechen ist das stärker der Willkür entzogene Sinnesorgan, im Unterschied zum Sehen lässt es sich kaum vermeiden.

 

Mit dem Ekel verbindet sich die Scham. An diesem Punkt beschreibt Freud, was er „organische Verdrängung“ nennt, (...) „die den Weg zur Kultur gebahnt hat“, - etwas versteckt in eine Anmerkung:

 

"Es wäre auch unverständlich, dass der Mensch den Namen seines treuesten Freundes in der Tierwelt als Schimpfwort verwendet, wenn der Hund nicht durch zwei Eigenschaften die Verachtung des Menschen auf sich zöge, dass er ein Geruchtstier ist, das sich vor Exkrementen nicht scheut, und dass er sich seiner sexuellen Funktionen nicht schämt." ('Unbehagen', IV, Anmerkung)

 

In einer weiteren Anmerkung zum selben Kapitel kommen wir gleich zum zweiten vitalen Antrieb allen Lebens: An der Tatsache des "Inter urinas et faeces nascimur" (wir werden zwischen Urin und Faeces geboren) nehmen fast alle Neurotiker und viele außer ihnen Anstoß.

 

Die spezifische menschliche Sexualität war wohl derjenige Moment organischer Entwicklung, in dem der Mensch "zum Menschen wurde". Im Umgang mit ihr wurde er zum Kulturwesen. Dazu bedurfte es der sozialen Bindungen, aus denen Familie entsteht. Diese sind aber nur möglich unter Einhalten von Verboten, die ein sich Versagen von Formen der Triebbefriedigung beinhalten, bzw. ein Hemmen des Sexualtriebes, wobei es Freud darum geht, was dabei im Menschen bzw. beim Menschen geschieht. Voraussetzung für das Verständnis ist, dass Triebe dort nicht weniger werden oder gar verschwinden, wo sie nicht ausgelebt werden, also Befriedigung finden, sondern an Kraft eher zunehmen:

 

"Man darf sagen, die Aufgabe der Bewältigung einer so mächtigen Regung wie des Sexualtriebes anders als auf dem Wege der Befriedigung ist eine, die alle Kräfte eines Menschen in Anspruch nehmen kann. Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziele weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft.

(...) Denn der psychische Wert der Sexualbefriedigung erhöht sich mit ihrer Versagung

(...) Das sexuelle Verhalten eines Menschen ist oft vorbildlich für seine ganze sonstige Reaktionsweise in der Welt." ('Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität')

 

Während der altsteinzeitliche Jäger und Sammler möglicherweise keine Bedenken hatte, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu ernähren und soweit im Tierreich verbleiben konnte, steht ihm im sexuellen Bereich kein bedenkenloses Triebleben mehr zu.

 

Dazu kommt, dass Menschen gegenseitig offensichtlich eine höhere Neigung zu aggressivem Verhalten bis in die Zerstörung des anderen entwickelten, als sie ohnehin ansonsten im Tierreich vorhanden ist. Das mag mit der gehemmten Triebabfuhr zusammenhängen, mag aber in vorzivilisatorischen Kulturen auch mit dem Bedarf an größeren Lebensräumen bei zunehmenden Populationen zusammenhängen. Diese gesteigerte Aggression durch die Kulturbildung wird in ihr kanalisiert, d.h. kulturell ausgerichtet.

 

In Zivilisationen mit ihren höheren Bevölkerungszahlen ist die Gewalt verrechtlicht und wird zum Monopol des Staates. Kriegerische Gewalt wird nun nicht mehr kulturell vermittelt, sondern von den Mächtigen im Staat angeordnet und in ihrem Interesse durchgeführt.

 

Zurück zu den Kulturen:

 

"Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, dass sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der einzelne keine solche Schranke kannte." ('Unbehagen' III)

 

Als Erben eines abendländischen Bewusstseins können wir formulieren, der Mensch wird vom Naturwesen zum Kulturwesen, oder besser, er entwickelt die Kultur in der Natur. Dabei verwandelt er Unmittelbarkeit in kulturelle Vermitteltheit, solche, die nur solange erfolgreich ist, wie Erfahrung sie nicht bricht und nur solange, wie sie tagtäglich eingeübt wird.

 

Der Geschlechtstrieb ist genauso aggressiv wie der nach Nahrungsaufnahme trachtende, er wird genauso aggressiv empfunden und geht genauso aggressiv vor. Das gilt bis hin zum aggressiven Eindringen des erregten Mannes in die zu befruchtende Frau. Unter Menschenaffen gibt es eine ganze Palette offen aggressiven Verhaltens von Männchen gegenüber Weibchen. Die Erotisierung des Sexuellen verändert das Verhalten und die Vorstellungen, nicht aber den Trieb selbst.

 

Im Moment der Bindung des Mannes an die Frau als Mutter seiner Kinder muss das aggressive Moment des Geschlechtstriebes in ein konstruktiv-produktives umgeformt werden. Es ist davon auszugehen, dass die fehlende notwendige Übereinstimmung der Aspekte von Lust und Fortpflanzung in der Sexualität, die, wie Freud sagt, den ganzen Körper zur "erogenen Zone" machen können, und die sexuelle Interaktion damit ein Stück weit von dem Fortpflanzungsziel trennen, dabei helfen, den Sexus erotisch zu transformieren, so dass die konstruktiv-produktiven die aggressiven Anteile übertreffen.

 

Da die ausbleibende Befriedigung von Hunger und Durst zum Tod führt, wird sie als erste Notwendigkeit erlebt und der Geschlechtstrieb gilt als sekundär. Zudem bewirkt der Umgang mit ihm beim Menschen Vorgänge, die aus der Verhaltensveränderung Veränderungen in ihm bewirken, die wiederum auf sein Verhalten einwirken. Das alles auf einer Stufe der Entwicklung des Nahrungserwerbs.

 

Kultur ist so ein Vorgang der Bezähmung der eigenen Triebhaftigkeit, einer der Domestikation. Triebhaftigkeit und Aggression gehören dabei zusammen als zwei Betrachtungsweisen einer Sache.

 

"Welcher Mittel bedient sich die Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten? ... Wir können (das) an der Entwicklungsgeschichte des einzelnen studieren. Was geht mit ihm vor, um seine Aggressionslust unschädlich zu machen? Etwas sehr Merkwürdiges, das wir nicht erraten hätten und das doch so naheliegt. Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als „Gewissen“ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt." ('Unbehagen' VII)

 

Ich möchte lieber schreiben, dass Kultur die innere Kolonisierung des Menschen durch den Menschen zur Schaffung überschaubarer menschlicher Gemeinschaften ist, so wie Zivilisierung den Menschen zunächst zusätzlich einer äußer(lich)en Form von Staatsgewalt unterwirft. Womit wir bei zwei Wörtern angelangt sind, die es in sich haben. (Vgl. Natur und Kultur in ...

 

Freud schreibt auch da von Kultur, wo Franzosen eher von civilisation reden würden, wobei er den technischen Fortschritt, die Künste und die Ausformung von Machtverhältnissen alle einbezieht. Tatsächlich beginnt bei ihm Kultur mit der Menschwerdung des Menschen, seiner Sonderentwicklung im Tierreich.

 

Eine Möglichkeit dahin nennt Freud Verdrängung des Triebes oder eher eines Teiles, Abdrängung in Form einer Umwandlung: "Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Anteile in Schuldgefühl umgesetzt." ('Unbehagen', VIII)

 

Unübersehbar sind das weithin unbewusste, wenn auch nachvollziehbare Vorgänge, in denen Menschen mehr oder weniger neurotisch werden, wie Freud das nennt. Wesentlich bewusster und raffinierter ist die Verfeinerung des Triebhaften in seiner Verwandlung. In diesem Vorgang bringt Freud die Künste unter. Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung... ('Unbehagen' III)

 

"Über alle diese Vorgänge wacht das Über-Ich als Gewissen und Zensor, in dem Forderungen, die von außen gestellt werden, als eigene wahrgenommen werden. Wir haben es also mit der Internalisierung jener Anforderungen zu tun, die Menschen ein gemeinschaftliches Leben ermöglichen: Man darf ... annehmen, dass aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte, nur äußerer Zwang war." ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I)

 

Die produktiven Ziele der Kultur müssen mit den zerstörerischen Komponenten der Aggression umgehen, was Freud als Erziehungsprozess bezeichnet. Unter dem Eindruck der Bezähmung des Aggressiven findet auch eine Erotisierung von Aspekten des Sexuellen statt: "Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten darf." Und: "Durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt." Etwas später: "Die Kultureinflüsse leiten dazu an, dass immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden." ('Zeitgemäßes', I)

 

Wenn man genau hinschaut (und man möge mich korrigieren), dann entwickelt sich der Mensch einmal in der Entwicklung von Bewusstsein - das sich in Sprache darstellt - einem formulierenden (Welt schaffenden) Ich, welches nur ermöglicht wird, indem es große Teile des im Hirn verankerten Eigenen ins Unbewusste, Freuds ES, abtrennt, um Kultur zu ermöglichen, und gleichzeitig in einer von Freud ÜBER-ICH genannten regierenden Instanz, die die verinnerlichten, ursprünglich äußerlichen Anforderungen der Kultur als quasi eigene speichert, damit Gemeinschaft entsteht als alltägliche Routine, über die nicht ständig neu entschieden werden muss.

 

Im unmittelbaren Zusammenhang dazu steht der zweite, sozusagen gleichzeitige Weg, in dem die Bezähmung aggressiver Impulse soziale Einstellungen und Haltungen hervorbringt, wobei der Geschlechtstrieb oder Aspekte von ihm erotisiert werden.

 

"Eros und Ananke sind ... die Eltern der menschlichen Kultur geworden. Der erste Kulturerfolg war, dass nun auch eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten.(...) Diese Personen machen sich von der Zustimmung des Objekts unabhängig, indem sie den Hauptwert vom Geliebtwerden auf das eigene Lieben verschieben, sie schützen sich gegen dessen Verlust, indem sie ihre Liebe nicht auf einzelne Objekte, sondern in gleichem Maße auf alle Menschen richten, und sie vermeiden die Schwankungen der genitalen Liebe dadurch, dass sie von deren Sexualziel ablenken, den Trieb in eine zielgehemmte Regung verwandeln." ('Unbehagen' IV)

 

Dies klingt fast so erfreulich oder zumindest beruhigend wie der in den Schulklassen und von der Politik gepredigte Fortschrittsglaube. Aber der Schein trügt und der Vorgang ist in Schmerzhaftes und Bedrohliches eingebettet. Noch einmal:

"Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Anteile in Schuldgefühl umgesetzt." ('Unbehagen', VIII)

 

Ausgehend davon, dass das Über-Ich Auslöser von Schuldgefühlen ist, die auf der Verdrängung und Umformung aggressiver Triebregungen beruhen, kommt es zur Verdopplung des triebhaften Strebens in ein bewusstes partielles oder vollständiges Nein bei gleichzeitigem Weiterbestehen des ins Unbewusste abgedrängten Triebanteils. Freud spricht dabei von Ambivalenz, die als Ambivalenz im Gefühlsleben erlebbar ist. Je stärker die Gefühle, desto stärker auch ihr ins Unbewusste verdrängter Konterpart. Nirgendwo wird das so deutlich, wie wenn Liebe in Hass umschlägt, oder, wäre hinzuzufügen, wenn aggressive Wut in sexuelles Begehren umschlägt und umgekehrt. Die Erotisierung des Sexus gibt ihm eine sadomasochistische Qualität, deren eklatanten Ausbruch allerdings erst die Zivilisationen markiert.

 

"...das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions – oder Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird." ('Unbehagen', VII) Und wenige Zeilen später: "Ist die Kultur der notwendige Entwicklungsgang von der Familie zur Menschheit, so ist unablösbar mit ihr verbunden, als Folge des mitgeborenen Ambivalenzkonflikts, als Folge des ewigen Haderns zwischen Liebe und Todesstreben, die Steigerung des Schuldgefühls vielleicht bis zu Höhen, die der einzelne schwer erträglich findet."

 

Im Schuldgefühl findet sich der Ursprung der „Religionen“, besser, des kultischen Umgangs mit der Natur, was Freud indirekt andeutet: "Die Religionen wenigstens haben die Rolle des Schuldgefühls in der Kultur nie verkannt." ('Unbehagen', VIII)

 

Hier wird es notwendig werden, die Kulte von den Religionen abzusetzen, für das Abendland insbesondere von Judentum, Christentum und Islam. Es ist nicht sinnvoll, in Europa von Religion zu sprechen vor Durchsetzung eines Christentums, für das überhaupt erst der Begriff „Religion“ entwickelt wurde.

 

Nietzsches 'Jenseits von Gut und Böse' entwickelte vor Freud in einer Art tastender Selbstanalyse, dass die abendländische christlich geprägte "Moral" ein böses Instrument im Spiel von Macht und Ohnmacht ist, und entdeckte im Ressentiment wie in der Heuchelei Auswüchse dieser Moral. Der Arzt Freud verbindet Selbstanalyse mit der des unmittelbaren Gegenübers und entwickelt dabei eine analytisch-therapeutische Distanz, die ihn athletischer Anspruchs- und Anforderungsthesen enthebt. Er schreibt am Eingang zu obigem Kapitel des 'Unbehagens' entgegen aller Konstruktionen von Religion und philosophierender Ethik:

 

"Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse darf man ablehnen. Das Böse ist oft gar nicht das dem Ich Schädliche oder Gefährliche, im Gegenteil auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen bereitet. ('Unbehagen' VII) Und an anderer Stelle heißt es bei ihm zur Erklärung: Die Untersuchung zeigt ... dass das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse." ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I)

 

Polemisch formuliert und in ein Bonmot verwandelt ist das Böse jenes Gute, welches im Prozess der Menschwerdung den Verboten der Kultur zum Opfer fällt. "Es war ihm vor allem versagt, sich der außerordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wettkampfe mit den Nebenmenschen schafft." ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I).

 

Lüge und Betrug gegenüber dem anderen entspricht die Illusion von einem selbst. "Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, dass sie irgend einmal mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen." ('Zeitgemäßes', I) Mit der Illusion betrügen wir uns um die eigene Beunruhigung.

 

Die Menschwerdung als kultureller Prozess wird bei Freud im Umgang mit der sozial bedingten Hemmung seiner Triebe beschrieben. Er setzt dabei den Vorgang des Heranwachsens des Einzelnen mit dem Hineinwachsen der Menschheit in die Kultur analog, wenn nicht gar gleich:

 

"Diese primitiven Regungen (Aggression und Geschlechtstrieb) legen einen langen Entwicklungsweg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus - Altruismus, aus Grausamkeit - Mitleid geworden wäre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, dass manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges ... Verhältnis, das man die "Gefühlsambivalenz" benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu bewältigen ist die Tatsache, dass starkes Lieben und starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, dass die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche Person zum Objekt nehmen." ('Zeitgemäßes',I)

 

Was am individuellen Menschen betrachtet wird, geschieht in der Interaktion zwischen Individuen. Kulturbildung ist Gemeinschaftsbildung. Die Entstehung von Kultur ist die Entstehung der Familie. Darüber hinaus kann die Archäologie und die Ethnologie für steinzeitliche Kulturen die Ausbildung von kleinen Gruppen aus mehreren Familien vermutbar machen, die Gemeinschaft bilden in einer gemeinsamen Lebensweise.

 

"Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, dass er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. ... Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden..." ('Unbehagen', V)

 

Hier taucht eine Schwierigkeit auf, an deren Rand sich Freud nur selten begibt: Der archäologisch erschließbare "Kulturkreis", in dem dem Anschein nach eine gemeinsame "Kultur" vorliegt, kann große Regionen umfassen. während Kultur als primär Gemeinschaft hervorbringender Prozess nur kleine, für jeden einzelnen überschaubare Gemeinschaften hervorbringt, hervorbringen soll.

 

Dabei setzt ein über wirkliche Gemeinschaft hinausgehendes Bewusstsein von Gemeinsamkeit ein, welches tatsächlich nicht mehr auf Gemeinschaft, wesentlich eine Erfahrung, sondern auf einer Vorstellung von Ähnlichkeit beruht. In der abendländischen Völkerwanderungszeit lässt sich vage erschließen, wie wirkliche, überschaubare Gemeinschaften sich über kulturelle Ähnlichkeiten soweit in ihrer Vorstellung miteinander verbinden, dass man später von Stämmen reden kann, ideellen Abstammungsgemeinschaften, die auf dem gemeinsamen Kult und dann auch dem gemeinsamen Mythos beruhen.

 

Die ideale Voraussetzung für diesen Vorgang ist der Krieg, das heißt die Erfindung des gemeinsamen Feindes, das noch heute weithin funktionierende Instrument zur Beseitigung wirklicher Gemeinschaft durch vorgestellte Gemeinsamkeit und zudem der Vater aller zivilisatorischen Anstrengungen und damit des Staates.

 

Warum steht meine Auswahl von Freuds psychoanalytischen Ansichten zur Kultur im Kapitel über Körperlichkeit? Die Antwort liegt auf der Hand: Körperlichkeit benennt in diesem Wortgebrauch die kulturelle Ausformung des beseelten Körpers.

 

Warum nun setze ich diese Freudschen Ansichten hintenan? Die Antwort ist genauso offensichtlich: Freud begründet meine eigenen Ansichten nicht, seine Texte liegen ihnen auch nicht zugrunde, aber ich könnte dasselbe nicht in dieser Klarheit, Präzision und Konsistenz formulieren. Und das liegt daran, dass seine Ansichten zwar meine nicht begründen, sie aber in nicht geringem Maße beeinflusst haben. Und das ist etwas anderes...

 

Ehe, Familie, Verwandtschaft

 

Es lassen sich sinnvollerweise zwei Formen von Vergesellschaftung erkennen und so auch definieren: eine sexuell vermittelte und eine von solcher Vermittlung freie. Auf der Schwelle zum Kapitalismus gehört die erstere einerseits für die meisten Menschen in den privaten Raum, wird aber andererseits von ihren Herren beaufsichtigt und von der Kirche definiert.

 

Das Wort Ehe wird seine noch heutige Bedeutung erst im hohen Mittelalter bekommen, das Wort Verwandtschaft erst auf dem Weg in die sogenannte Neuzeit. Familie wiederum als lateinische familia behält durch das Mittelalter in etwa seine antik-römische Bedeutung.

Da die meisten Menschen einen Herren haben, unterliegt ihre Eheschließung in unterschiedlicher Weise der Genehmigung durch den Herren, insbesondere, wenn einer der beiden einem anderen Herrn untersteht. Dabei sind mehr oder weniger auch Abgaben fällig. Die Eheschließung selbst ist dann ein privater Akt zwischen zwei Familien, an dem die Kirche, die das Ausleben von Sexualität auch in der Ehe zu einem (notwendigen) Übel erklärt hat, nicht beteiligt ist. Gelegentlich lässt man sich aber bei der Heirat den Segen eines Geistlichen geben. Immerhin sind es nun immer weniger Jungfrauen, sondern zunehmend Ehefrauen, die als weibliche Heilige angesehen werden.

 

Mit der Eheschließung und dem Nachwuchs bildet sich Verwandtschaft, die aber noch nicht in dieser Abstraktion, sondern als anschaulich-konkretes Beziehungsgeflecht gesehen und benannt wird. Dieses ist im Vergleich zu heute ausgesprochen stabil, sobald Ehescheidung nicht mehr vorgesehen ist.

 

Wie komplex sich das Zusammentreffen von Christentum und Germanen auswirkte, lässt sich an Vorstellungen erkennen, wie sie das Gesetzeswerk des Liutprand für langobardische Frauen festlegt. In seinem Kapitel 204 findet sich einerseits die Bestimmung, dass die Frau ihr Leben lang im mundium, der germanischen munt des Mannes verbleibt, also des Vaters, des Ehemannes, danach des Sohnes. Das heißt, sie ist frei über ihren freien Vater und Mann. Sie ist aber immer unter seiner rechtlichen Vormundschaft.

 

Andererseits muss der zukünftige Ehemann ihr vor der Hochzeitsnacht Geschenke machen, und auf die Hochzeitsnacht folgt die „Morgengabe“ von einem Viertel seines Eigentums. Die rechtliche Ohnmacht wird also durch erhebliche wirtschaftliche Macht kompensiert. Diese quarta wird im Süden Italiens bis in die Neuzeit hinein erhalten bleiben als germanisches Element einer Stärkung der weiblichen Situation. (Jean-Pierre Martin, Les Lombards, derniers barbares du monde romain. www.clio.fr./BIBLIOTEQUE/les-lombards-derniers-barbares-du-monde-romain.asp.)

 

Definierte Weiblichkeit verbindet sexuelle Momente mit ökonomischen und rechtlichen. Die rechtliche Bindung an den Mann als Unterordnung hat wenigstens einen doppelten Aspekt: Damit kontrolliert er einmal die Fortpflanzung als seine eigene und die Verfügbarkeit (s)eines Objektes des Begehrens. Zum anderen steht die Frau als Eigentümerin eines beachtlichen Teils des Familienbesitzes unter seiner Aufsicht. Die ansonsten noch erhebliche Eigentumsfähigkeit der Frau zeichnet sie als „Freie“ im germanischen Sinn aus und als aus einem solchen Haushalt kommend.

 

Die religiöse Abwertung der Frau und ihre rechtliche Minderstellung besagt wenig über ihre tatsächliche Situation im Alltag. Königinnen regieren mit und manchmal alleine, und im bäuerlichen und bürgerlichen Haushalt erledigen sie eigenverantwortlich wesentliche Teile der Arbeit. Die Vorstellung von einem Emanzipationsdefizit wird erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert formuliert und zwar im Zusammenhang jener "bürgerlichen" Haushalte, in denen die Damen des Hauses dank Dienerschaft nach neuartiger Beschäftigung suchen und diese ideologisierend in Konkurrenz zu Männern finden.

 

In den germanischen Rechtsvorstellungen war die Eheschließung eine "Privatsache" der betroffenen Familien, die sich in der Verehelichung ihrer Kinder miteinander verbanden. Diese Verbindung betraf Eigentum, Machterweiterung, Ansehen, gegenseitige Hilfeleistung und andere praktische Erwägungen. Darum tendierten Eheschließungen zu einer gewissen Endogamie, die Kinder sollten im engeren oder weiteren Verwandtschaftskreis verheiratet werden, damit der Besitz in möglichst engem Rahmen zusammengehalten wurde. Ausgehandelt wurden Ehen von den Eltern, insbesondere den Vätern, deren Kinder unter ihrer Munt standen, latinisiert dem mundium.

 

Ausgehandelt wurden dabei sowohl erhebliche Gaben von seiten der Familie des Bräutigams vor und nach dem ersten "Beilager" (letztere die Morgengabe oder das osculum, also die Gabe nach dem Hochzeitskuss). Andererseits gab es oft auch eine geringere Gabe des Brautvaters. Nach germanischem Recht bleibt die Verfügung über das ihr mit der Hochzeit Gegebene bei der Braut, nun Ehefrau.

 

Die Entwicklung von Ehe und Familie hat einen "weltlich"-pragmatischen Aspekt und einen kirchlichen. Die kirchliche Seite ist von dem Widerspruch geprägt, dass sie einerseits die Fleischeslust scharf ablehnt, andererseits aber die Fortpflanzung bejaht, was praktisch den lustlosen Koitus erzwingen soll. 829 formuliert ein fränkisches Konzil, was bis ins nächste Jahrtausend gültig bleiben wird:

Laien sollen wissen, dass die Ehe von Gott eingerichtet ist, und dass sie nicht zur Befriedigung der Lust, sondern vielmehr der Nachkommenschaft wegen eingegangen werden soll (...) Die fleischliche Verbindung mit Frauen muss um der Nachkommenschaft und nicht um des Vergnügens willen aufgenommen werden und ein Mann soll sich des Geschlechtsverkehrs mit seiner schwangeren Frau enthalten. (MGH LL,1)

Da es tatsächlich der Geschlechtstrieb ist, der zum Kopulieren führt, und nichts anderes, wird eine lange und nicht sehr konsistente Entwicklung dazu führen, dass aus dem gerade so Hingenommenen im 12./13. Jahrhundert das Sakrament der Ehe wird, was die Sünde des Auslebens des Geschlechtstriebes zwar nicht beseitigt, aber in der Ehe doch sehr in den Hintergrund drängt. Aber es wird noch zu untersuchen sein, wie die Inkonsistenz der katholischen Sexuallehre in Zusammenhängen von Widersprüchen mit dazu beiträgt, dass Kapitalismus entsteht.

 

Im Verlauf des frühen Mittelalters schwindet die öffentliche Akzeptanz für die Friedelehe, eine feste Liebesbeziehung, die anstelle oder neben der regulär werdenden (monogamen) Ehe öffentlich nachvollziehbar eingegangen wird. Die Friedel (Geliebte) sinkt dabei auf den Stand des Konkubinats und verliert alle ihr nicht individuell geschenkten Rechte. Schließlich gibt es noch das Kebs-Verhältnis mit einer unfreien Frau. In solchen ziemlich patriarchalen Strukturen wird der Frau aber nur ein Mann zugestanden.

 

Mit der Aufwertung der Ehe durch die Kirche und der Forderung nach Monogamie wird in unserer Zeit die Ehescheidung immer mehr erschwert, und das geht bis dahin, dass als Scheidungsgründe nur noch die gelten, die eine Eheschließung ungültig machen, besonders zu enge Verwandtschaft.

Wieweit die Kirche damit bereits in königliche Familien hineinregiert, zeigt der frühe Fall von König Lothar II., der mit der hochadeligen Thietberga verheiratet ist, die kinderlos bleibt, während er gleichzeitig ein Verhältnis zu seiner Friedel Waldrada hat, von der er einem Sohn bekommt. Nach Jahren gelingt es ihm 862, seine Ehe auf einer Synode zu Aachen für ungültig erklären zu lassen, da er die Ehefrau der Blutschande bezichtigt. Thietberga appeliert an den Papst, der 865 den König zwingt, Thietberga wieder als Gemahlin anzunehmen und Waldrada exkommuniziert. Die Scheidung wird dann hingenommen unter der Bedingung, dass beide Partner fürderhin ehelos leben. 870 wird sein Mittelreich zwischen Karl ("dem Kahlen") und Ludwig ("dem Deutschen") geteilt.

 

In dem Verband aus Eheleuten und Kindern ist der Mann und Vater die durch seine Verantwortung für alle ausgezeichnete dominante Person so wie auch in der weiter gefassten familia. Väterliche Gewalt heißt, dass er für Frau und Kinder haftet, die unter seinem Schutz (munt) steht und dass er in letzter Instanz über Besitz, Einkünfte und Ausgaben verfügt, extra beschlossenes Sondervermögen der Frau ausgenommen. Tatsächlich besitzen die meisten Menschen im frühen Mittelalter allerdings kaum nennenswertes Eigentum.

 

Anders als später spielt der weibliche Teil in dem Aufbau von Familie und Verwandtschaft bei grundsätzlicher Patrilinearität noch eine größere Rolle, wie für die Francia überliefert ist. In Rom zum Beispiel werden noch im zehnten Jahrhundert ein Drittel der überlieferten (Oberschicht-)Leute matronym benannt, wie Crescencius de Theodora, Stephan de Imiza, Gregorius filius Maroze senatrix. Das mag allerdings auch etwas damit zu tun haben, dass es sich dabei um besonders machtvolle Frauen handelt.

Aber diese weibliche Rolle geht wohl schon im Verlauf des 10. Jahrhunderts zurück. Männlich bezogene Zunamen nehmen dabei zu. Zwar entspricht der weibliche Erbteil zunächst noch in etwa dem männlichen, aber in großen Teilen Italiens des 11. Jahrhunderts geht er bereits zurück, im 12. Jahrhundert noch stärker. Dabei werden die Mädchen auf die Mitgift und die Gabe des Bräutigams (dos) als Hälfte der Mitgift zurückgeworfen. Die Verfügung über Land gelangt immer mehr in männliche Hände. Damit wird im Laufe der Zeit auch das öffentliche Auftreten von Frauen geringer werden.

 

Liebe

 

Die spätkapitalistisch forcierte sexuelle Verwahrlosung großer Teile der Bevölkerung in Europa, inzwischen als politisch korrekt propagiert, macht es längst unmöglich, über "Liebe" zu sprechen, ohne vorher zu erklären, was man damit meint. Wer sich heute ins Nachtleben stürzt, um "Liebe zu machen", wie es im Denglischen heißt, oder um Triebabfuhr im Bordell zu suchen, der verwechselt aus extremer Prüderie den Geschlechtsverkehr mit Liebe. Tatsächlich aber ist das aber wohl bereits früh das Problem (kulturloser) Zivilisationen wie der städtischen des antiken Mittelmeerraumes, die ohnehin dieses Wort nicht kennen, sondern die Ambivalenzen von amor und eros pflegen.

 

Die germanischen Wurzeln von Liebe sind mit Konnotationen von Freundschaft und Zuneigung verbunden. Damit finden sie Platz im Raum von Ehe und Familie, den kleinsten Einheiten vergesellschafteter Menschen, zugleich den elementaren wirtschaftlichen Einheiten, dem "Haus" des deutschsprachigen "Mittelalters".

 

Problematisch werden sie über das Bindeglied der Produktion von Nachwuchs, also ausgelebte Geschlechtlichkeit - und damit über den Geschlechtstrieb, dessen Ausleben originär massiven Egoismus bedeutet, von der Natur alles Lebendigen so angetrieben. So wie Liebe im ursprünglichen Sinne, und in der noch funktionierenden Familie, Geben meint, so tendiert der Geschlechtstrieb zum fordernden Nehmen. Geglücktes Leben von Ehe und Familie versucht immer wieder neu das schwer Zusammenzubringende miteinander zu verbinden.

 

Auch Historiker der letzten Jahrhunderte tendieren dazu, Liebe und Verliebtheit zu verwechseln, eine Unterscheidung, die insbesondere den antiken Römern fehlt. Gemeinhin wird der hormonelle Überschwang, diese Verwirrung von Egoismus und Altruismus, als Liebe bezeichnet, obwohl nur kurzzeitige Verliebtheit mit ihrem offensichtlichen Begehren gemeint ist. Aus diesem Grunde gab es im zwanzigsten Jahrhundert nicht wenige, die den Menschen vor dem sogenannten hohen Mittelalter absprachen, zu lieben, und davon ausgingen, dass erst die Troubadoure und Minnesänger "die Liebe erfunden" hätten, ein extremer Unsinn, da sie nur die Verliebtheit, also das sehr überschaubare sexuelle Begehren, in Leid wie Freud propagierten.

 

Die wenigen Quellen für die Nachantike und bis ins frühere Mitttelalter hinein schweigen zu dem Thema, nicht zuletzt auch, weil sie fast alle auf Latein verfasst sind. Dort ist dann auch nicht von Liebe und nicht von amor die Rede, soweit nicht von Liebe zu Gott und den Heiligen die Rede ist. Wir sind also auf wenige quasi anekdotisch zu fassende Ausnahmen angewiesen, und die berichten nicht von den Mächtigen, bei denen Liebe in dynastischen Ehen eher die Ausnahme ist und verliebtes Begehren whol oft auf Konkubinen und kurze außereheliche Ausfüge beschränkt wird.

 

Eine solche Geschichte unter kleinen Leuten vermittelt Gregor von Tours, der sie zugleich dafür benutzt, den dort vorkommenden reichen und mächtigen Herrn abzuwerten:

Er habe unter seinem Gesinde (famulis) damals einen Mann und ein Mädchen gehabt, die, wie es oft geschieht, sich ineinander verliebt hatten (mutuo se amore dilixisse). Solche Beziehungen bedurften aber der Genehmigung durch den Herrn. Und als sich ihre Liebesbeziehung schon zwei Jahre oder noch länger hingezogen hatte, verbanden sie sich (coniuncti) und flüchteten beide in eine Kirche. (Gregor V,3) Siehe oben für die ganze Geschichte, die an der Grausamkeit des Herrn schlimm endet.

 

In anderen Fällen äußert sich Liebe daran, dass sie rechtliche Restriktionen überwindet:

In oder bei Piacenza hat ein (freier) landbesitzender Bauer namens Authari eine junge Tochter namens Anstruda, die sich offensichtlich in einen (unfreien) servus verliebt, der zwei Brüdern gehört. Sie verkauft ihre Freiheit für drei solidi an die beiden, um ihn heiraten zu können. Dabei macht sie mit den beiden Herren aus, dass ihre möglichen Söhne in Unfreiheit bleiben sollten, die Töchter aber das Recht hätten, sich für die selbe Summe freizukaufen. (Wickham(3), S.203 mit Quellenangabe)

 

 

Weniger gebändigte Geschlechtlichkeit

 

Je mehr Macht Menschen haben, desto weniger müssen sie sich um die Vorschriften der Mächtigen in der Kirche kümmern, mit denen sie eine Interessengemeinschaft pflegen. Für sie ist bis ins 11. Jahrhundert weder die monogame Ehe, noch vor allem eheliche Treue verbindlich. Henry I. von England (1069-1135) soll wenigstens sechs Konkubinen gehabt haben und unter den Kindern von ihnen sind mehr als zwanzig bekannt, von denen er einen guten Teil während seiner Ehe mit Mathilda bekommt, von der er wohl ebenfalls zwei oder drei hat.

Das hindert den Mönch William aus dem Kloster von Malmesbury nicht, über ihn im ersten Band seiner 'Gesta Regum Anglorum' zu schreiben. dass:

er sein ganzes Leben frei von fleischlichen Gelüsten geblieben sei und sich - wie ich von denen gehört habe, die es wissen müssen - - lediglich den Umarmungen des weiblichen Geschlechtes aus Liebe gebeugt habe, um Kinder zu bekommen und nicht, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Denn er hielt es für unter seiner Würde, sich anderen Vergnügungen hinzugeben, solange der königliche Samen seine königliche Bestimmung erfüllen konnte. (in diesem Deutsch in: Mazo Karras, S.263) Auch für belesene Historiker ist es manchmal opportun, so zu lügen, dass die Balken sich biegen.

 

 

Was all das angeht, was doch so wichtige Dinge im Leben der Menschen sind, können wir über die mehr als 90% der (arbeitenden) Bevölkerung noch viel weniger Aussagen machen. Hier geht es auch im Verhältnis der Geschlechter um die Not Wendendes, Ehe, Familie und Verwandtschaft sind lebensnotwendig und auf das wenige Wichtige konzentriert.

 

Zwischen Mägden und ihren wohlhabender Herren dürften sexuelle Übergriffe, darunter wohl auch eher Einvernehmlicheres, häufiger gewesen sein, und selbst rohe Vergewaltigungen sind wohl nicht selten. So etwas wird damals in aller Regel nicht geahndet, es gehört wohl bis ins späte Mittelalter zumindest dazu und diese Situation soll sich ja auch bis ins 19. Jahrhundert kaum ändern: Handelt es sich nicht um den Arbeitgeber selbst, dann eben um seine Söhne.

 

Die französischen Pastorellen des 12. Jahrhunderts handeln von der Verführung von Schäferinnen, und etwa jede vierte davon trifft auf Widerstand und endet mit einer Vergewaltigung. In einer von ihnen heißt es aus der Herrenperspektive:

Als ich sah, dass sie weder durch mein Bitten, noch durch meine Versprechungen, noch durch Schmuck oder was ich mir ausdachte, Gefallen an mir finden mochte, warf ich sie einfach ins Gras. Sie konnte sich anfangs gar nicht vorstellen, dass sie so großes Vergnügen dabei empfinden werde, und seufzte, schluf mit den Fäusten, raufte sich die Haare und versuchte zu entwischen. (in: Mazo Karras, S.265)

 

Vergewaltigungen alleinstehender Frauen werden ohnehin geringfügig oder gar nicht geahndet, und bekanntlich wird das bis zu einem gewissen Grad bis ins 20 Jahrhundert so gelten.

 

***Tracht und Kleidung, Macht und Geschlechtlichkeit***

 

Durch das Mittelalter und oft noch darüber hinaus ist es Sache einer kleinen Oberschicht, sich fertige Bekleidung zu kaufen oder von abhängigen Arbeiterinnen selbst herstellen zu lassen. In den meisten Haushalten werden Stoffe aus Wolle und Leinen und dann Bekleidungsstücke selbst hergestellt. Das ist Sache der Frauen, die damals noch nicht einen Beruf, sondern viele Fertigkeiten haben und die Bekleidung im Haus herstellen können, während der Mann draußen bei den Schafen für die Wolle und auf den Feldern für das Leinen beim Flachsanbau zuständig ist. Später werden Rohstoffe auch eingekauft und von den Frauen über viele Arbeitsgänge in Tuche verwandelt.

 

Das mittelalterliche Wort im deutschen Sprachraum war „Tracht“, das, was man trägt, erst gegen Ende des Mittelalters wird es in der Stadt und in vornehmeren Kreisen durch das Wort „Kleidung“ abgelöst. Kleid meinte zuvor „Tuch“, und die „Kleidung“ löst sich von der „Tracht“ in dem Maße, in dem sie von schnelleren Moden abgelöst wird.

 

Tracht gibt es auf dem Dorf noch bis in die Industrialisierung der Landwirtschaft hinein, bis das Dorf also nur noch eine Größeneinheit von Siedlung ist. Heute ist Tracht kommerzialisierte Folklore, noch eine weitere Modenarretei, nostalgisches Feierabendvergnügen.

 

Nach diesen Vorbemerkungen, die den Blick etwas schärfen sollen, nun zu dem, worum es vor allem gehen soll: das Verhältnis von Körperlichkeit zu Bekleidung, die in der Nachantike bereits zu einem Spiel mit (noch geringer) partieller Entblößung wird, zu einem vor allem weiblichen Machtspiel. Ich bleibe dabei in unserer Gegend, in Mitteleuropa.

Bei heidnischen Germanen und dann ins christliche Mittelalter hinein bedeckt, "bekleidet" das Tuch den ganzen Körper und in der Regel auch Arme und Beine. Zudem ist bei Frauen Kopfbedeckung üblich, Mädchen tragen das Haar offen, (verheiratete) Frauen zumeist geflochten und hochgesteckt.

 

Männer und Frauen bedecken Hintern und Scham, die Bereiche von Fortpflanzung und Ausscheidung, so, dass sie nicht prominent hervortreten, also mit fallendem Tuch, was immer sie darunter tragen. Man kann sich Kleidung noch gar nicht so auf den Leib schneidern, wie das im hohen Mittelalter möglich und üblich wird. Indem Germanen dann die römische Mode übernehmen, den Gürtel nicht mehr unter einem überhängenden Stück Stoff zu verbergen, beginnt eine erste Form der Körpermodellierung, die zunächst die Taille zeigt. Frauen in einigen Gegenden beginnen dann relativ früh, den Gürtel unter der Brust zu tragen, wodurch sich die weibliche Oberweite besser abzeichnet.

 

Das, was dann passiert, ist ein Spezifikum des christlichen Abendlandes und ein Korrelat der christlichen Versuche, den Geschlechtstrieb einzudämmen. Das kirchliche Gebot der Keuschheit produziert nämlich eine entsprechende Gegenreaktion. Frauen der Oberschicht beginnen mit der Entblößung des Areals unter dem Hals (frz: col, woraus das décolleté entstehen wird), um den männlichen Blick wie den der weiblichen Konkurrenz in Richtung ihrer Brüste zu lenken. Das betrifft zunächst vor allem Frauen, die von körperlicher Arbeit befreit sind – bis auf die nicht unerhebliche des Kinderkriegens und die auch nicht unerhebliche, den Männern bei der Befriedigung ihres Geschlechtstriebes gefällig zu sein.

 

Diese bescheidenen Ansätze zur Modellierung und Zurschaustellung des Körpers werden ihren entscheidenden Schub durch das Erlernen des Schnitts im Hochmittelalter bekommen, also des Zurechtscheidens und Vernähens des Stoffes so, dass er nicht ungefähr die Umfänge abbildet, sondern genau die Körperlinien.

 

Damit beginnt in großem Umfang das erotische Machtspiel der gekonnten Erregung des Begehrens, des triumphalen Auftritts des machtvollen Körpers und einer Intensivierung weiblicher Konkurrenz.

 

Noch einmal zurück: Mann und Frau gehen im Frankenreich unter romanischem Einfluss zur Tunika über, beim Krieger kürzer und bei der möglichst Schönen länger. Römisch ist auch das sichtbare Tragen des Gürtels, der bei den Franken früher unter einer Gewandfalte versteckt war. Unrömisch sind die (männlichen) Hosen und und die Hosenbänder, mit denen sie bis zum Knie geschnürt werden. Die Schuhe sind aus einem Stück Leder, das oben zusammengebunden wird – zum Bundschuh. (Die Unterwäsche besteht wohl aus ebenso langer Hose und ähnlich geformtem Unterhemd, soweit man das noch rekonstruieren kann).

 

Fränkische Frauen hatten, bevor sie zur römischen Mode übergehen, ein Kleidungsstück aus einem Stück gewebten Stoff, welches zusammengehalten werden muss, oben zuerst an der Schulter. Zu diesem Zweck gibt es eine Art Sicherheitsnadel, die unter einer runden, tierförmigen oder bügelartigen Fibel versteckt wurde. Solche Fibeln werden mit der römischen Mode überflüssig zum Zusammenhalten des Textils, werden aber sehr lange weitergetragen, und zwar einmal als Schmuckstücke, aus denen sich dann später die Broschen entwickeln, und zum anderen als Applikationen am Gürtel oder in der Nähe des Gürtels. Männer und Frauen tragen keine Handtaschen, sondern haben die Taschen an einem „Gehänge“ befestigt, welches meist aus mehreren Schnüren besteht. Außer Taschen werden bei Frauen daran auch Amulette befestigt, Behälter für Heilkräuter und diverser Schmuck.

 

Jede Frau, die "etwas auf sich hält", trug zwei solche Gehänge, woran man noch eine schmucke Fibel befestigen kann, um es zu halten. Das zweite sitzt in der Mitte auf dem Bauch und baumelt so zwischen den Beinen. Ordentliche Römer, und das sind bald nur noch die Oströmer, finden das alles skurril und lächerlich, wie zu lesen ist.

 

Dazu leisten sich Frauen auch noch einen Überwurf als Mantelart über der Tunika, und dieser Überwurf wird ebenfalls mit einer Fibel befestigt, in der Spätzeit der Franken ist das bei Wohlhabenden eine große runde Fibel, ein Prachtstück sozusagen.

 

Eine Frau trägt also (vielleicht nicht bei der Arbeit und nur, wenn sie wohlhabend ist) zwei Bügelfibeln und zwei Rundfibeln, möglichst versilbert oder vergoldet und mit Halbedelsteinen besetzt. Darüber hinaus Schmuck am sogenannten „Gehänge“. Dazu Ketten aus bunten Glasperlen, wenn sie nicht ganz so reich ist.

 

Auf die Dauer, noch unter den Karolingern, wird es zwei parallele Gründe geben, solche enormen Werte an Schmuck  nicht mehr in der Erde zu vergraben: Offiziell heißt es, dass Christen ohnehin nichts ins Himmelreich oder die Hölle mitnehmen können. Tatsächlich dauert es lange, bis die Leute das glauben. Sie produzieren also nun wertlosere Kopien ihrer Tracht samt Schmuck und Waffen und nehmen die dann doch unter die Erde mit.

 

Inoffiziell geht das Begehren nach Macht und die Eitelkeit natürlich weiter, aber nun gilt es als Verschwendung, die Marktwerte zu vergraben. Stattdessen spendet man an Kirchen und Klöster, um sich so das Himmelreich ein wenig zu erkaufen. Damit verlagert sich immer mehr Hortbildung in die Kathedralkirchen und Klöster.

 

 

***Schmuck und Zier***

 

Bislang wurde für das frühe Mittelalter von zwei Aspekten gesprochen: Der Diabolisierung und Unterdrückung des Geschlechtstriebes durch die Kirche und dem Kern einer zukünftigen Erotisierung des weiblichen Körpers durch Marienvorstellungen. Tatsächlich sollte man den Einfluss des Christentums auf Bauern, die wenigen Städter und die kleine weltliche Herrenschicht auch in dieser Hinsicht nicht überbewerten.

 

Dort, wo sich das nachvollziehen lässt, nämlichucei der Oberschicht, schmücken sich die Menschen zwar noch nicht mit dem Schnitt, aber mit der Qualität der Bekleidung, also der der Stoffe. Dazu kommen Spangen, die die Kleidung zusammenhalten und eben zu diesem Zweck kunstvoll gearbeitete Gürtel. Und es gibt, insbesondere für Frauen, zusätzliche Schmcukstücke.

Karl der Große trägt zu bestimmten Festtagen ein kostbares Königsgewand, während er alltäglich in gewöhnlicher fränkischer Tracht herumgelaufen sein soll. In Einhards Karls-Vita heißt es :

Bei festlichen Gelegenheiten schritt er in einem mit Gold durchwirkten Kleide und mit Edelsteinen besetzten Schuhen einher, den Mantel durch eine Spange zusammengehalten, auf dem Haupte ein aus Gold und Edelsteinen verfertigtes Diadem

 

Bild

 

Die Abbildung zeigt den Karolinger Lothar I. um 840. "Der goldene Mantel ist mit einer vermutlich kostbaren Fibel verschlossen. Darüber eine ebenfalls goldfarbene Tunika, beides mit Edelsteinen übersät, wie auch die Krone. Langstab (noch kein Szepter) und Zeremonialschwert sehen ebenfalls goldfarben aus und zahlreiche Edelsteine sind appliziert. Selbst die Schuhe sehen goldfarben aus und das Kissen auf dem Faltstuhl hat goldene Flecken, während selbst der kleine Teppich zu Füßen des Herrschers nicht nur goldfarben ist, sondern ebenfalls von Edelsteinen geziert." (Laudage in LHL S.93)  

Bei allem bisher gesagten ist Ausdruck ästhetischer Vorstellungen mit Bedeutung aufgeladen, und in gewissem Sinne wird das auch so bleiben.

Das alles drückt jenen erfolgreich agierenden Willen zur Macht aus, der sich nicht nur in Gewalttätigkeit und Repression, sondern auch in dem Ausdruck hochwohlgeborener Attraktivität äußert.

 

Schon bevor Waren ästhetische Qualitäten erhielten, schmückten sich Menschen, wie wir das heute formulieren würden. Als erstes deformierten sie dabei - und schon in Steinzeitkulturen - gelegentlich den Kopf, die Lippen des Mundes, den Hals, später manchmal die Füße von Frauen. Sie bemalten Gesicht und Körper, tätowierten sich und behängten sich mit Ketten. Die erste Etappe der Globalisierung begann auch mit dem Handel mit Bernsteinen, Edelsteinen und anderem Glitzerkram.

In frühen Zivilisationen kommen besondere Bekleidungen für bestimmte Ämter und Ränge, besondere Frisuren und anderer Kopfschmuck dazu.

 

Die Ästhetisierung von Körpern mithilfe von Produkten menschlicher Arbeit beginnt ganz früh, dort, wo Menschen sie sich leisten können. Das Wort schön bezeichnet ursprünglich im Germanischen und Althochdeutschen das, was man als rein, sauber, glänzend ansehen konnte, wozu auch gehörte, dass es „glatt“ war und so schimmern konnte. Das Wort „Schmuck“ fehlte in dieser Zeit noch, ebenso wie das Wort „Pracht“ in seiner neuhochdeutschen Bedeutung. Aber gerade diese beiden heutigen Wörter benennen etwas, was vor allem Kapitalismus ästhetisch wichtig ist. Dafür gab es die „Zier“, aus dem Adjektiv „zier“ abgeleitet, welches wiederum laut Herkunftsduden „glänzend, prächtig, herrlich“ im heutigen Wortsinn bedeutete.

 

 

Dort, wo die Darstellung der Macht und insbesondere derer, die mit religiösem Prunk und Protz verbunden ist, zurücktreten, entfaltet sich ein ganz außergewöhnlicher Schönheitssinn im frühen Mittelalter. Diese Fibel von der Jahrtausendwende hat die Aufgabe, das Gewand zusammenzuhalten und zugleich den ästhetischen Sinn des (reichen und mächtigen) Trägers zu demonstrieren. Der Adler als Herrschaftssymbol, als gewalttätiger Raubvogel, ist in ein aufrecht stolzes Tier verwandelt, dessen Brutalität nur noch im abgewendeten Schnabel angedeutet ist. Ganz weltlicher Schmuck ungenierter Diesseitigkeit ist nicht nur Symbol für Macht, sondern Verstärker der Macht ästhetisch-erotischer Ausstrahlung, vor allem bei Frauen. Diese hat noch nicht die Möglichkeit der zunehmenden Entblößung, wie seit dem hohen Mittelalter, und des neuen Kleiderschnittes mit seinem Abzeichnen des Körpers, aber eben schon seit Jahrtausenden die des Schmuckes.

Dem Volksmund gilt das "Mittelalter" als dunkel, wahrhaft dunkel wird aber erst die sogenannte "Neuzeit" zwischen systematischer Hexenverbrennung und den Schrecken der französischen Revolution, des Bolschewismus und des Nationalsozialismus.

 

Das sogenannte Heinrichskreuz von vielleicht 1020 im Fritzlarer Domschatz zeigt, wie licht und farbenfroh das frühe Mittelalter sein konnte. 346 Edelsteine und Perlen um einen Bergkristall, in dem sich zwei Splitter des hl.Kreuzes befinden sollen. Kein Zeugnis von der Armut Jesu, sondern von der Freude an Pracht bei den Mächtigen.

Die Auffassung vom Schönen verbindet eine schöne Form mit Buntheit und dem Marktwert, der potentiell in einem Schatz enthalten ist. Gott wird gelobt, indem man ihm einen guten Teil seines Reichtums darbietet, und zugleich seine Macht demonstriert, die nicht nur als Waffengewalt immer wieder verdeutlicht werden muss, sondern auch in der Herstellung des Friedens durch Unterwerfung sichtbar gemacht werden soll. Frieden aber entsteht aus dem Bündnis des Herrschers mit einem Gott, der sowohl als Kriegsgott wie als Verkünder des Friedens dient.