CHRISTENTUM UND KIRCHE IM 10. JAHRHUNDERT (derzeit in Arbeit)

 

 

Christentum

a: Glauben

b: Ewigkeit

c: Ein Teufelspakt bei Guibert

d: Büßen

e: Gerard und die Gerechtigkeit

f: Reliquien

g: Der Gott des Krieges und des Friedens

 

Kirche des 10.Jhs.

(Arme und Kranke / Musik)

Adelige Geistlichkeit

a: Bernward von Hildesheim

b: Gandersheimer Streit

c: Welt des Thietmar von Merseburg

d. Gerbert von Aurillac

Papsttum

 

 

 

Es ist kein Zufall, dass Kapitalismus dort und nur dort entsteht, wo jene Form eines sogenannten Christentums vorherrscht, die sich als katholisch und römisch versteht. Wir erinnern uns: Dieses entstand in mehreren Etappen.

 

Macht und Reichtums, wie sie Kirche und Kloster kollektiv ansammeln, wird eine wichtige Grundlage für die Entstehung von Kapitalismus.

Besonders spannend ist dabei, dass Jesus ausdrücklich Armut von seinen Anhängern verlangt hat, die aber kaum einem Christen noch zumutbar ist, der sich mehr leisten kann. Wenigstens sollte aber der, der etwas hat, davon ein wenig mit den Habenichtsen teilen, was man weiterhin Nächstenliebe (caritas) nennt. Wer dem, dem etwas fehlt, nun nichts schenken möchte, kann es ihm leihen, aber wenigstens darf er dabei nicht mehr zurück haben wollen, als er gegeben hat. Damit ist, und das ist faszinierend für den Weg in den Kapitalismus, es zunächst verboten, etwa Geld zu verleihen und dafür Zinsen zu nehmen.

 

Das ist deswegen faszinierend, weil es die Theologie und darauf beruhendes kirchliches Recht schaffen wird, dieses Gewinnstreben, genannt Wucher, nicht nur bei den Reichen und Mächtigen zu ignorieren, sondern auch für eine aufstrebende Gruppe von Händlern und Finanziers in immer neuen Argumentationsketten nach und nach außer Kraft zu setzen. Tatsächlich wird genau dieser kuriose Vorgang Kapitalismus nicht etwa behindern, wie man meinen könnte, sondern sogar fördern. Dabei aber wird er Religion nicht nur für einige diskreditieren, sondern die Entfaltung von Kapitalismus soweit fördern, dass die Kirche spätestens im 12. Jahrhundert beginnt, in die Defensive zu geraten - um schließlich mit dem großen Industrialisierungsschub des 19. und 20. Jahrhunderts praktisch jeden Einfluss auf die Menschen dort zu verlieren, wo  Kapitalismus gesiegt hat.

 

 

Frühmittelalterliches Christentum in der Welt

 

a:  Glauben

 

 Die zum Kloster Reichenau gehörende Georgskirche in Oberzell ist eine im Kern spätkarolingische Basilika, deren Wandgemälde wohl überwiegend dem zehnten Jahrhundert angehören. Auf ihnen sind vor allem acht Wunder Jesu von der Heilung eines Besessenen bis zur Auferweckung des  Lazarus dargestellt.

 

896 gelingt es dem Abt Hatto III. von der Reichenau, vom Papst Reliquien vom "heiligen" Georg (?) zu ergattern, und um einen Teil von ihnen (einen Teil des Schädels) unterzubringen, lässt er eine Georgskirche bauen. Da sie mit die besterhaltene Kirche samt Wandmalereien aus so früher Zeit ist, soll sie hier als Beispiel für all die vielen komplett ausgemalten  (früh)romanischen Kirchen dienen, von denen so wenig die menschliche Zerstörungswut überlebt hat.

 

Das Beispiel zeigt wie anderswo ganze Zyklen aus dem Alten und Neuen Testament, dass die christliche Religion ähnlich wie die jüdische für die meisten Menschen vor allem aus Geschichten besteht, die sich quasi historisch aneinanderreihen, und die jene Anschaulichkeit haben, die der christlichen Theologie so massiv fehlt. Darüber hinaus zeigt es, was Aspekte der christlichen Predigt ausmacht: An solchen Exempla wird Glauben veranschaulicht.

 

Dabei wird thematisch nicht zwischen jüdischen und christlichen Sagen und Legenden unterschieden, denn es geht schon seit Jahrhunderten immer um denselben Gott, der in diesen Geschichten in das Leben der Menschen eingreift. So sind dann Adam und Eva, Abraham wie auf dem Quedlinburger Bildteppich, König David und andererseits Geschichten von Jesus, von Heiligen und später aus dem immer mehr ausgeschmückten Marienleben das, was auf die Leute einwirkt und sie beeindrucken kann.

 

Dabei entsteht ein bis ins 19. Jahrhundert reichender Schatz an Figuren und Erzählungen, die von anderer Art als der griechische Mythos, aber doch wie dieser einst, Gemeingut der Menschen ist. In der nun nicht mehr nur mündlich, sondern auch bildlich vermittelten Welt der Leute des 10. Jahrhunderts dürfte das Glaubensbekenntnis zu wiederholende und schwer verständliche Formel sein, das Vaterunser als Bittgebet situativ von Bedeutung, aber die Geschichten prägen sich ein und prägen den Glauben, denn in ihnen kommen letztlich eben doch Menschen vor.

 

So kann dann Bischof Burchard von Worms in seiner Dekretalensammlung kurz nach der Jahrtausendwende den wohl in seiner Wirkung wichtigsten christlichen Glaubenssatz mit Adam und Eva begründen:

Wegen der Sünde des ersten Menschen ist dem Menschengeschlecht durch göttlinge Fügung die Strafe der Knechtschaft auferlegt worden, so dass Gott denen, für die, wie er sieht, die Freiheit nicht passt, in großer Barmherzigkeit die Knechtschaft auferlegt (...) damit die Möglichkeit zu freveln durch die Macht der Herren eingeschränkt würde. (so in: Neiske, S.14)

Kein Wunder, dass die Herrschaften den Gesamt-Text damals weit verbreiten, hat er doch als heimlicher oberster Verfassungsgrundsatz bis heute für die Mächtigen und Herrlichen nichts von seinem Charme verloren.

 

 

b: Ewigkeit

 

Schon im 5. Jahrhundert hatte ein Dionysios Areopagita ausführlich einen hierarchisch gegliederten Himmel mit seinen Stufenordnungen unterschiedlicher Engelsscharen beschrieben. Diese Vorstellung verbreitet sich seit dem 9. Jahrhundert auch im lateinischen Europa. Bei Otto von Freising taucht sie als die einer himmlischen res publica wieder auf, einem um Gott aufgestellten Hofstaat aus Engeln, unter die sich die wenigen irdischen Heiligen nach ihrer Auferstehung einreihen, mit fleischlichen makellosen Körpern. Eingereiht in die Hierarchie der himmlischen Hofgesellschaft, befinden sie sich dabei Gott näher oder ferner. Alle aber jubeln aus Freude über die Herrlichkeit Gottes. Wenn wir schon irdische Könige und Kaiser in ihrer flüchtigen, vergänglichen Pracht mit Bewunderung und einer gewissen Freude sehen, von welch unvorstellbarer Freude (…) müssen dann alle durchströmt werden, die den König der Könige, den Schöpfer des Alls in seiner unvergleichlichen Pracht und Herrlichkeit sehen werden, umgeben von den himmlischen Heerscharen der Engel und Menschen. (Chronik VIII,33, S.674f).

 

Ewigkeit war Drohung und Verheißung. Denkbar war sie nur als Überwindung von Raum und Zeit. In solchen Kategorien denken konnten bis ins hohe Mittelalter nur wenige Mönche, die in antiken, insbesondere aus dem alten Griechenland stammenden Texten und ihren Übertragungen in lateinische Denkstrukturen belesen waren. Den Laien waren Paradies und Hölle ganz naive Vorstellungen von Glückseligkeit und Schmerz. Sie wurden ihnen beim regelmäßigen, weil vorgeschriebenen Kirchgang erzählt und bildlich dargeboten, zusammen mit der Erklärung, dass nur die magischen Mittel der Kirche sie vor dem ewigen Schrecken retten konnten.

 

Der Tod wird also ambivalent: Der Schrecken des Sterbens und des Verschwindens aus dieser Welt ist zugleich mit der Möglichkeit eines Wiedererwachens in einer anderen, besseren Welt verbunden. Dazu erhält, umfangreicher seit den Karolingern, die Sterbebegleitung durch den Priester elementare Bedeutung: Beichte und Bußsakrament, Waschung, Neueinkleidung, idealerweise Lagerung des Sterbenden in einer Kirche auf Asche und Stroh. Abbeten der sieben Bußpsalmen, Gesang der Allerheiligenliturgie. Es folgt die  heilige Salbung, letzte Ölung als spirituelle Wegzehrung ins Jenseits. Dazu kommen Gebete  wie das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis und Litaneien (Klagegebete und -Gesänge), die die ganz handfest vorgestellten Dämonen abwehren sollen, die im Moment des Todes die Seele in ihren Besitz bringen wollen. Schließlich die Kommunion. (vgl. LHL, S.133)

Positiv gesehen, findet so eine ausführliche Sterbebegleitung statt, die tröstlich wirken konnte und den Sterbenden nicht alleine lässt. Indem Angehörige, Freunde und Nachbarn dazu treten, wird das Sterben in das Leben, in den Alltag integriert.

 

Nach dem Tod Totenwaschung, Überführung zur Kirche, Totenmesse bei bedeutenderen Sterblichen, Geleit des Toten zum Grab und Begräbnis. Wohlhabendere werden in den Wochen nach dem Tod noch mit weiteren Totenmessen versorgt und mit jährlichen Gedächtnismessen. Audebert/Treffort zitieren ein Gebet anlässlich der Beerdigung aus dem 10. Jahrhundert:

 

Möge diese Seele niemals die Ränke der Dämonen ertragen müssen, denen sie begegnet, denn für sie hast du deinen einzigen Sohn auf die Erde geschickt. Befreie und erlöse diese Seele von den schrecklichen Abgründen der Hölle, denn du hast sie losgekauft um den Preis des Blutes deines einzigen Sohnes. Befreie und erlöse diese Seele von den brennenden Flammen der Dschehenna und rufe sie in die Süße des Paradieses. Oh du so guter Vater, mach dass sie nie spürt, , was in den Flammen brennt, was das Gesicht in den Qualen verzerrt. Sondern mach mit der siegreichen Barmherzigkeit deiner Größe, dass sie es verdient, beim Gericht den Züchtigungen zu entkommen und das Glück seligen Friedens und des ewigen Lichtes erhält. (S.141)

 

Die Beschäftigung mit ihren Toten ist besonders in jenen Familien wichtig, die ihren Status auf ihre Vorfahren zurückführen. Da das Jüngste Gericht unübersehbar noch aussteht, geht es inzwischen auch um das Heil der Seelen der Verstorbenen davor und damit um die Frage, wo diese sich befinden und wie es ihnen ergeht. Während die wahrhaft Heiligen gleich ins ewige Leben der Seligen aufsteigen, ruht der Körper des Normalsterblichen im Grab bis zur Wiederkehr Jesu, dem Tag des Gerichts und der Entscheidung, wo er, wiedervereint mit der Seele, sich bis in alle Ewigkeit aufhalten wird.

 

Eine aus dem Alten Testament entnommene und recht freundliche Vorstellung siedelt sie in „Abrahams Schoß“ an, wobei „Schoß“, der lateinische sinus, also auch Busen, einen Zustand friedvoller Geborgenheit darstellt.

Die Redewendung "sicher in Abrahams Schoß " hat ihren Ursprung in dem Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus, in dem der Arme bei seinem Tod von Engeln in Abrahams Schoß getragen wird, während der egoistische Reiche in der Hölle landet (Lk 16). Dahinter steht die jüdische Vorstellung, der Schoß sei ein Ort der Seligkeit.

Verbreitet ist auch die Vorstellung des „Schoß Abrahams“ als Ort des Wartens, bevor der Messias den Verstorbenen die Pforte zum Himmel öffnet. Anders als im Fegefeuer ist dieses Warten jedoch friedvoll.

 

Eine andere besagt, dass der vorübergehende Aufenthalt für die meisten in einer Art Interims-Hölle angesiedelt sein sollte, was für die meisten schwer erträglich war.

Im Laufe der Zeit schleichen sich in die christliche Lehre völlig fremde Vorstellungen von einem Fegefeuer ein, einem quälenden Purgatorium, die erst im Hochmittelalter von der Kirche „offiziell“ übernommen werden. Voraussetzung dafür ist, dass die körperlosen Seelen mit einem Sensorium für Schmerz ausgestattet sein müssen, damit sie leidensfähig werden. Ein frühes und sehr poetisch beeindruckendes Beispiel für diese Vorstellung ist die Vision der Perpetua von ihrem im Kinderalter verstorbenen Bruder. (siehe Anhang …). Im 12. Jahrhundert wird Otto von Freising das ablehnen: Es gibt nur ein Gericht, wie schon bei Johannes angekündigt, und danach wird gelitten oder Glückseligkeit erlebt.

 

Solche Fegefeuer-Frühformen haben zwei Folgen: Zum einen begründet das die Gebete und Messen für die Toten, die ihnen diese Qualen erleichtern und die Chancen auf das Himmelreich für die Verstorbenen vergrößern sollen. Zum anderen hilft diese Vorstellung, mit den Toten in Kontakt zu treten, und – was bedrohlicher ist – ihnen vor allem nachts recht leibhaftig wiederzubegegnen.

 

Solche Wiedergänger-Vorstellungen gab es schon bei den Germanen und in vielen Kulturen, und gemeinhin wurde alles versucht, das bedrohliche Wiederauftauchen der Verstorbenen zu verhindern. Auf Berichte (geistlicher) Autoren im Hochmittelalter von solchen Begegnungen wird später einzugehen sein.

 

Schon sehr früh gibt es die ersten Vorläufer einer Vorstellung, dass die nicht so Heiligen durch eigenes Leiden und fromme Werke der Nachkommen vor dem Gericht die Waagschale zu ihren Gunsten beschweren könnten. Wir wissen von den meisten, kaum dokumentierten Menschen nicht, was sie dabei jeweils dachten und wie sie sich dazu ihre eigenen Vorstellungen bildeten. Von der weltlichen und geistlichen Oberschicht hingegen ist überliefert, dass sie einiges dafür tat, nicht in der Hölle zu landen, die sie eigentlich als Sünder verdient hatte: Man spendete an die Kirche und das Kloster reichlich, damit diese für sie beteten, und erwartete, dass solches Gebet im Himmelreich Wirkung zeigen würde, und dass sie (für sie) Almosen an die Armen austeilen würde.

 

Und so war das Mittelalter nicht christlich, wie Jesus es vorgelebt und gefordert hatte, sondern ganz anders so, wie es die Kirche sah. Aber solche Vorstellungswelten gehörten bis ins hohe Mittelalter immer dazu, prägten die Menschen mit, jedenfalls soweit, dass im Schoße dieser Vorstellungen der Kapitalismus geboren werden konnte, der am Ende mit Religion und Kirche massiv aufräumen würde. Eine ganz irdische Warenwelt würde wichtiger werden als jede Form von Heiligkeit. Diese würde dann in eine ideologisierende Form des Politischen eingehen: Das Heil sollte von nun an von dieser Welt sein.

 

 

Bis dahin ist aber ein weiter Weg, und zu den Kuriositäten des langen Mittelalters gehört der Totenkult, den vor allem die betreiben, die eine neuartige Form von Adel entwickeln, der auf einer Art Ahnenkult beruht. Dazu gehört die allgemeine Vorstellung, dass es einen korrekten Weg gebe, den Menschen vom Sterben, wenn noch einmal die teuflischen Dämonen und die Engel um ihn kämpfen, bis zu dem Ort zu geleiten, wo er dann der Verwesung anheimgegeben ist; wobei die Reichen und Mächtigen ein Anrecht haben, dieser Verwesung in größtmöglicher Nähe zu den Reliquien der Heiligen nachgehen zu dürfen, während das gemeine Volk, also fast alle, eher billig auf Friedhöfen, wenn auch in der Nähe einer Kirche oder Kapelle, in die Erde und zu den Würmern gelangen.

 

 

c: Ein Teufelspakt bei Guibert de Nogent

 

Seitdem die Teufel etwas aus der Mode gekommen sind, ist es nicht mehr einfach, sich ihr böses Treiben auf Erden handfest vorzustellen. 1115 beschreibt Abt Guibert von Nogent einen Teufelspakt, der eine Menge schauerliche Ingredienzien in sich vereint: Einen Mönch, eine Nonne, einen Teufel, einen Juden, Pollution und Koitus. ((De vita sua, I,26)

 

Ein Mönch wird krank und kommt in Kontakt mit einem medizinisch bewanderten Juden. Neugierig über dessen Kenntnisse von malas artes, mit denen sich maleficia durchführen lassen, willigt der Jude ein, ihn mit dem Teufel zusammenzubringen. Der Teufel aber fordert vom Mönch als Voraussetzung für die Einführung in Zauberkünste ein Opfer.

 

Er fragt, was für ein Opfer? Das, welches dem Manne höchst angenehm ist. Was für eines ist das? Du spendest etwas von deinem Sperma, sagte er. Wenn du das für mich verströmt hast, wirst du davon als erster kosten, wie es sich für einen Opferer gehört.

Oh Verbrechen! Oh Schande! Und der, von dem das verlangt wurde, war ein Priester (presbyter)! (...)

Der unglückselige Mann tat das. (...) Und so löst er sich mit dem schrecklichen Spermienopfer (libamentum) von seinem Glauben.

 

Kein Zweifel des frommen und belesenen Abtes Guibert, dass das alles auch funktioniert. Die neuen Zauberkräfte belegt er mit folgender Begebenheit: Der Mönch, der eine Zelle mit einem anderen Mönch teilt, hat gelegentlich Verkehr mit einer Nonne, die ihn offenbar dann besucht, wenn der Zellengenosse abwesend ist. Eines Tages sind sie zusammen, als sie den Kollegen nahen sehen.

 

Als der neue Zauberer (incantator) die Angst seiner Gefährtin (socia) sieht, sagt er: Geh dem Mann geradewegs entgegen, der da kommt, sieh weder nach rechts noch nach links und fürchte dich nicht! Die Frau vertraute ihm und ging los. Er aber steht in der Tür und verwandelt sie mit einem Zauberspruch, den er gelernt hat, in einen riesigen Hund. Als sie sich dem zurückkehrenden Mönch näherte, sagte er: Ha, Wo kommt dieser große Hund her? In großer Angst passierte sie ihn und wusste nun durch diese Worte, in welcher Gestalt sie entkommen war.

 

Als unser sündiger Mönch dann einmal sehr krank wird, gesteht er alles und am Ende holt das Kloster den Rat des Anselm von Canterbury (damals Bec) ein, der empfiehlt, dem Mönch seine Priesterschaft zu nehmen, was dann auch geschieht.

 

 

d: Büßen

 

Da der Teufel in dieser Welt nach dem Willen Gottes und der Menschen herrscht, ist jeder ein Sünder. Die Germanen kannten keine Unterscheidung religiös oder weltlich definierter Vergehen, ihre Vorstellungswelt war tradierte Alltagskultur gewesen, eine Einheit. Die vorchristlichen Römer kannten keine Sünde, sondern nur Verstöße gegen die hergebrachten Kulte und auf der anderen Seite Rechtsverletzungen. Das Christentum ist, als sich Germanen in Franken, spanische Westgoten oder italienische Ostgoten verwandeln, von außen aufgesetzt. Die wichtigste Neuerung, die mühsam im Laufe von Jahrhunderten durchgesetzt werden muss, ist ein Bewusstsein von der eigenen (und allgemein-menschlichen) Sündhaftigkeit, der nicht einmal Päpste und allerfrömmste Kaiser entkommen. Das heißt, man kann sich weltlicher Vergehen einigermaßen enthalten, der Sünde aber eben nicht.

 

Die fränkischen Herrscher versuchen im Zuge der Christianisierung ihrer Herrschaft  die Vorstellung einer Einheit weltlicher und geistlicher Vergehen herzustellen, indem sie sich zu Herren über ihre Kirche machen. In der Praxis geht das aber nicht. Das Königsgericht und die gräflichen Gerichte verhandeln die Vergehen, die aus der Sicht der Herrschaft zu verhandeln sind. Die Kirche ist zuständig für all die Sünden, die für den weltlichen Arm keine Verbrechen sind, sondern „nur“ Sünde. Die Überschneidungen sind dabei allerdings erheblich, denn die Kirche übernimmt auch ganz weltliche Vergehen in ihren Sündenkatalog.

 

Die germanischen Volksrechte kannten als Strafe vor allem Geldzahlungen, im Verlauf fränkischer Herrschaft wird dieses Recht durch Grausamkeiten angereichtert: Todesstrafe auf immer mehr Missetaten bis hin zum Majestätsverbrechen bei Karl dem Großen, aber auch Handabhacken, Blenden etc.

 
Die Geldstrafenkataloge der Germanen finden nun eine Analogie in den Bußkatalogen für die Sünden. Vor der Busse steht die Beichte, das Bekennen der Sünde, welches ursprünglich öffentlich und persönlich und keine rein kirchliche Angelegenheit ist. Es kommt dafür in der Merowingerzeit zur Versammlung ganzer Ortschaften und zu großen Bittprozessionen. Genauso ist es in den Klöstern, in denen die Brüder sich untereinander die Beichte abnehmen. Dann wird zunächst eingeführt, dass Todsünden Priestern gebeichtet werden müssen. 

 

Im Grunde genommen wird dabei, besonders auch unter dem Einfluss Columbans, immer deutlicher die Vorstellung vertreten, dass jede Sünde eine entsprechende Buße als Äquivalent hat und darum durch Buße auch vergeben werden kann, - so wie es derzeit in Europa kurioserweise heißt, dass dem Verbrecher nach "Verbüßen" der Gefängnisstrafe kein Makel bleibt, er hat - was auch immer - abgebüßt. Dass all das nun rein gar nichts mehr mit dem evangelischen Jesus zu tun hat, ist offensichtlich, besonders auch, wenn man bedenkt, in welchem Umfang die Reue hinter der Buße zurücktritt.

 

Damit setzt sich auch die Vorstellung einer göttlichen Buchführung "droben" im Himmel fest, wo jede auch nur geringfügigste Missetat festgehalten und am Ende in einem Gerichtsverfahren mit den Bußleistungen abgewogen wird. Natürlich wird dadurch auch immer deutlicher gemacht, in welchem Maße der Mensch, insbesondere draußen "in der Welt" ein notorischer Sünder ist. Damit kommt er ohnehin, wird immer häufiger angedeutet, sowieso nicht gleich in paradiesische Zustände, sondern muss nach dem Tod nachbüßen, was dann irgendwann als "Fegefeuer" (Purgatorium) bezeichnet werden wird. Das wiederum macht außer Bußleistungen auch naheliegend, in ein Kloster zu investieren, in dem man mit Messen und Gebeten dafür sorgt, dass sich die postmortalen Bußleistungen (also Strafen) möglichst verkürzen. Wenn man sich dabei noch vorstellt, dass die Seelen solcher Verstorbener bei der Messe dann um den Altar schweben, um am wiedererstandenen Leib Christi teilzuhaben, bekommt man eine Vorstellung von Christentum latino-germanischer Art.

 

Der eklatanteste Fall öffentlicher Beichte samt Bußversprechen wird übrigens der von Karls Sohn, Kaiser Ludwig dem Frommen 833d

 

Die förmliche Verbindung von Beichte und Bußeröffnung bei Todsünden fand vor allem am „Aschermittwoch“ in der Kirche statt: „In einen Sack gekleidet, mit bloßen Füßen und niedergeschlagenen Augen, trat der Sünder vor den Bischof, der ihm Asche aufs Haupt streute, das Büßerhemd überwarf und das Strafmaß eröffnete, bevor er ihn feierlich aus der Kirche weisen ließ." (Riché, Welt der Karolinger, S.285)

 

Die jeweilige Buße für jede Sünde wird in Bußbüchern mit ihren Sündenkatalogen festgelegt. Darin gibt es das körperliche Kasteien (zum Beispiel mit Rutenschlägen), das zusätzliche Fasten, das Pilgern als Buße, das öftere Aufsagen von Gebeten oder ähnliches. Vermutlich hatte nie zuvor eine Institution mit ihren Beamten eine solch konsequente und intime Kontrolle und Machtausübung über Menschen gehabt.

 

Der große Theologe und Patriarch von Aquileia zur Zeit Karls, Paulinus, gibt genau an, wie die Buße eines Aristokraten aussieht, der seine Frau wegen des Verdachts auf Ehebruch getötet hatte:

Du darfst künftig keinen Wein und kein Bier trinken, außer an Ostern und Weihnachten darfst du auch kein Fleisch essen, du musst bei Wasser und Brot fasten. Du hast deine Zeit mit Fasten, Nachtwachen, Gebeten und Almosengeben zu verbringen. Es ist dir verboten, jemals Waffen zu tragen oder einen Kampf anzunehmen. Du darfst dich nicht wieder verheiraten, dir keine Konkubine nehmen und keine Unzucht treiben. Künftig wirst du kein Bad mehr nehmen und an keinem Gastmahl mehr teilnehmen. An der Kirche hast du dich, abgesondert von den übrigen, noch außerhalb der Vorhalle aufzuhalten. Empfiehl dich dem Gebet derer, die hinein- und hinausgehen... (In: Riché, Welt der Karolinger, S.285)

Also: Ihm war jede adelige Lebensführung verboten, stattdessen musste er leben wie ein Mönch, aber ohne den Halt, den ein Kloster dafür gab. Sich gar nicht mehr waschen zu dürfen war hier ebenfalls eine Form körperlicher Kasteiung, die über die Anforderungen diesbezüglich an Mönche hinausging. Und die öffentliche Demütigung und Erniedrigung dieses Hochadeligen Woche für Woche am Eingang der Kirche war fast schon eine Art Pranger späteren mittelalterlichen Städtewesens.

 

Was da berichtet wird, kann im 10. Jahrhundert auch in kleinerem Maßstab stattfinden und einen gnädigeren Priester finden. Ekkehard von St.Gallen erzählt  von der sündigen Zeugung des Iso, des später gelehrtesten Mönches von St.Gallen. Die zukünftigen Eltern haben zur Fastenzeit getrennte Betten, aber ausgerechnet am Karsamstag kam unter Führung des Versuchers zufällig (sic!) ihr Mann in jenes Gemach. Er trat zu ihr, und ohne dass sie sich sträubte, legte er sich an diesem heiligen Tage zu ihr. Der Frevel findet statt.

Es gibt danachTränen (...) und wieder zogen sie ihre Bußkleider an, die sie so viele Wochen hindurch getragen hatten. Und mit Asche bestreut und barfüßig fielen sie angesichts aller Bürger dem Priester des Ortes zu Füßen. Er aber billigte in gütiger Einsicht ihre Bußfertigkeit und gab ihnen Erlass, während das Volk laut für sie zu Gott rief; und da er sie aufgerichtet hatte, ließ er sie diesen Tag und diese Nacht zur Strafe vor dem Kirchenportal stehen und nicht am Abendmahl teilnehmen.  (...) Der Ostertag brach an; frühmorgens standen sie vor dem Portal, und wie das Kreuz vor der Messe herausgetragen wurde, folgten sie als die letzten. Der Priester aber führte sie unter Zustimmung des ganzen Volkes während des Kyrieleison herein und und wies ihnen zuhinterst einen Platz an. (Ekkehard, cap.30)


Analog zu dem germanischen Katalog der Geldstrafen konnte man sich allerdings von Bußhandlungen oft auch durch Geldzahlung loskaufen. Das führt bekanntlich bis zu den Exzessen, die den Zorn nicht nur Luthers hervorrufen werden.

Gerade das letzte Beispiel legt allerdings nahe, dass die Strenge gerade der sexuellen Vorschriften wie der Abstinenz in den Fastenzeiten oder vor der Messe für die Laien Heuchelei und direkte Lüge nach sich zieht.

Eine weitere Frage stellt sich, wenn wir hinzufügen, dass Ekkehard das Ehepaar als bene natus  bezeichnet, wohlgeboren, und nobilius, also wohl als edelfrei im Sinne des 10. Jahrhunderts. Die Leute in der Pfarrei als Öffentlichkeit dieses Vorgangs nennt er cives und populus. Die cives lassen sich für das 10. Jahrhundert wohl als Stadtbewohner (nicht "Bürger") bezeichnen und sind damals wohl weitgehend als "Volk" verschiedenen Stufen von Unfreiheit eingeordnet. Hätte der Priester sie ohne ihre Mitwirkung überhaupt vor einer solchen Öffentlichkeit so demütigen können? Aber Ekkehard beschreibt in seinen Anekdoten nicht unbedingt das historisch belegte, sondern das seiner Ansicht nach glaubwürdige. Und implizit dient auch diese Geschichte wie viele andere der Exemplifizierung des Vorranges der Caritas, also der Nächstenliebe, vor der Strenge des religiösen Gesetzes.

 

Wichtig ist aber vor allem, was da grundsätzlich geschieht: Die Kirche setzt ein umfassendes Erziehungsprogramm durch, welches man in Teilen auch als Umerziehungsprogramm, als innere Mission bezeichnen kann. Es ist ein Einübungsprogramm in ein "gutes", d.h. christliches Leben: Nicht stehlen, rauben, keine Gewalt gegen Schwächere, keine Aufsässigkeit gegen Obere, Reduktion der sexuellen Praxis auf die Ehe, Phasen der Enthaltsamkeit usw.

Zum Teil ist dies ein Programm der Entgermanisierung, zum Teil eines der Pazifizierung, zum Teil einfach der Integration in einen nun von oben verordneten Ordnungsrahmen und dazu gehörigen Machtapparat. Im Ergebnis werden die Menschen im Verlaufe des Mittelalters dabei nicht besser, aber anders.

Zivilisationen haben Strukturen, die keine autonomen Selbstregulierungen von Gemeinschaften mehr zulassen können. Das Mittelalter ersetzt sie durch die eng miteinander verbundenen geistlichen und weltlichen Gesetze. Mit diesen Setzungen von oben verlieren die Menschen dann aber auch die Fähigkeiten, ihre Verhältnisse selbst zu regulieren. Die doppelte Obrigkeit ist zwar eine Last, aber sie wird auch immer mehr zur unausweichlichen Notwendigkeit. Unterordnung und Untertänigkeit werden zum selbstverständlichen Normalfall, zum einzig denkbaren Ordnungsfaktor.

 

Versucht wird dabei damals, zeitgemäß verstandenes Christentum als Alltagsverhalten durchzusetzen, präzise das, was auch im Koran für den Islam formuliert wird und was Alltagspraxis rund um die Moschee wird. Es ist genau das, was in den sogenannten mosaischen seitenlangen Verordnungen erreicht werden soll und erst im Synagogen-Judentum durchgesetzt wird: Religion ist magisch begründete Lebensform, die von oben aufgezwungen wird.

Die Unterschiede diesbezüglich sind religiös nicht sehr groß, sie sind vielmehr regional verschieden, da sie auf unterschiedlichen historischen Voraussetzungen beruhen. Auch deshalb gibt es (jenseits der Kirche) im frühen Mittelalter kaum Hass der Religionen gegeneinander, sie betrachten sich vielmehr untereinander als Abweichungen, Verirrungen. Die wenigen christlichen Sätze über den Islam betrachten Mohammed als falschen Propheten, - und das ist alles.

 

Wie langsam dieses Erziehungsprogramm von Erfolg gekrönt wird, wird in dem Bußtext des Bischofs Burchard von Worms aus dem 11.Jh. deutlich, in dem im Fragenkatalog des Beichtvaters unter anderem noch folgende Fragen auftauchen:

Hasst du ein Grab geschändet? - Hast du Hexen aufgesucht? - Hast du Kircheneigentum geraubt? - Hast du solange getrunken, bis du dich erbrochen hast? - Hast du dich, wie es die Heiden am Neujahrstag tun, als Hirsch verkleidet? - Hast du Unzucht mit deiner Schwiegertochter betrieben? - Hast du Unzucht mit deiner Schwiegermutter betrieben? - Hast du Unzucht mit deiner Schwägerin begangen? - Hast du Inzest mit deiner Mutter begangen? - Hast du Inzest mit deiner Schwester begangen? - Hast du Sodomie mit Menschen oder Tieren begangen? - Hast du deinen Sohn oder deine Tochter absichtlich nach der Geburt getötet? - Hast du das Sperma deines Mannes getrunken, damit er dich dank deiner diabolischen Erregungen mehr liebt? - Hast du das gemacht, was die Frauen machen: Sie nehmen ihr Regelblut, vermischen es mit Speise oder Trank, geben es ihren Ehemännern, damit sie mehr für sie sich entflammen? (In Minois, Charlemagne, S.633ff)


Das harte Brot des Klerus ist es dabei, vor dem Erziehen ihrer Herde sich selbst erst einmal „in die Zucht“ zu nehmen. Für den, der christlich verstandene Keuschheit auf sich nimmt, wird das eigene Begehren oft zum Objekt umgewandelt, zu den Attacken eines Teufels, auf den dieses Begehren transferiert wird. Die sexuelle Phantasie wird oft durch nichts mehr beflügelt als eine unbefriedigende oder ausbleibende Triebabfuhr. In der Beichte ist der gelegentlich keusche Priester der Zeit den sexuellen Aktivitäten der Laien verbal ausgesetzt. In den Beichtkatalogen mit ihren Sünden und Strafen finden sich dann die ganzen Phantasien derjenigen wieder, die mit ihrer Keuschheit und ihren sündigen Gedanken zu kämpfen hatten. Bischof Theodulf von Orléans mahnt deshalb zur Zeit des großen Karl:

 

In den Beichtspiegeln sind viele Sünden aufgeführt, welche die Menschen besser nicht kennenlernen sollten. Auch sollte der Priester den Beichtenden nicht über alles befragen, damit dieser nicht nach der Beichte durch die Anstiftung des Teufels einem Laster verfalle, das er vorher gar nicht kannte. (deutsch in Riché, Welt der Karolinger, S. 73)

 

e: Gerard und die Gerechtigkeit

 

Die Kirche vertritt seit ihrer Entstehung die Gegensätze von arm und reich, mächtig und ohnmächtig als gottgewollt. Dass Rentiers aus der Landarbeit von Sklaven und Kolonen ihren Anteil abschöpfen, ist ebenfalls gottgewollt. Aber sie übernimmt aus der aristokratischen Grundhaltung der römischen Oberschicht auch die Verachtung für Gewerbe, Handel und Finanzgeschäfte. Dabei entwickelt sie die Vorstellung von einem gerechten Preis von Waren auf dem Markt, der nicht auf Angebot und Nachfrage gründet. Alles darüber hinaus ist Preiswucher. Zins auf Land oder andere Immobilien hingegen ist christlich, da der Zahlende Nutzen gewinnt. Kaufleute aber, die mehr als den pretium iustum verlangen, sind Wucherer, und wer Geld gegen Zinsen verleiht, ist ein ganz schlimmer Sünder, denn er nutzt die Not, den Bedarf anderer aus. Dabei bleibt die Vorstellung ganz außen vor, dass Geld als Kapital (ausschließlich) investiert wird, um es zu vermehren, - ein Manko, welches der antiken Vorstellung von Geld entspricht. (Gilomen, S.8f)

 

Die letztlich antike Vorstellung vom gerechten Preis geht eindrucksvoll in die folgende Geschichte ein, die in einer um 925 von Abt Odo von Cluny geschriebenen Vita des heiligen Grafen Gerald von Aurillac des  enthalten ist. Als Gerald auf der Rückreise von einer Pilgertour nach Rom in Pavia auf venezianische Kaufleute trifft, die ihn dazu bringen (!), Tücher und Gewürze aus dem Orient einzukaufen. Offenbar hatte er die nötigen Mittel. Stolz zeigte derselbe Heilige den Kaufleuten dann ein Pallium, welches er in Rom gekauft hatte. Als er den Preis nennt, gratulieren sie ihm zu dem überaus günstigen Kauf. Das veranlasst den frommen Mann zu dem Eindruck, er habe den Verkäufer übervorteilt, und er schickt ihm das Geld zurück, welches aus dem Ganzen einen gerechten Preis macht.

Interessant ist an der Anekdote nicht, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, wichtig für den Autor ist nur die moralische Aussage. Interessant ist vielmehr, wie sehr Heiligkeit zwar noch mit der Idee des gerechten Preises verbunden ist, der ja übrigens nichts anderes mehr als ein Marktpreis ist, aber inzwischen in keinem Widerspruch mehr zu Luxuskonsum steht, der im cluniaszensischen Kosmos durchaus seinen Platz hat. Wenn aber der gerechte Preis etwas ist, wodurch sich (nur) ein Heiliger auszeichnet, dann spricht das Bände über die kirchliche Sicht auf die christliche Welt, in der nichts seltener war und ist als Heiligkeit.

 

Gerard oder Gerald entstammt dem höheren Adel und ist Graf von Aurillac, wo er ein Kloster gründet. Schon früh sucht er nach Heiligkeit, was damals nichts anderes als ein christliches Leben in Vollendung meint, und da er nach allgemeiner Ansicht darin erfolgreich ist, nennt man ihn nach seinem Tod einen „Heiligen“. Päpstliche Approbation ist dafür noch nicht erforderlich, aber ein Bericht, in dem solche Heiligkeit beschrieben und beschreibend begründet wrd. Den verfasst der Abt Odo von Cluny kurz nach 900, damals einer der wichtigsten Kirchenführer in Europa. (in: Migne, Patrologia). Darin kommt auch folgende Episode vor:

 

Ende des 9. Jahrhunderts unternimmt Gerard mehrere Pilger-Reisen zu den heiligen Stätten Roms. Bei einer der Reisen kauft er in der Stadt einige Mäntel (pallia), besser gesagt: Überwürfe, einer davon von jener luxuriösen Sorte, wie sie in Konstantinopel/Byzantion für die feine Gesellschaft hergestellt wurden. Auf dem Rückweg nach Querung der Apeninnen macht er mit seinem Tross Station vor den Mauern des lombardischen Pavia. In der Nähe lagern venezianische Händler, die Waren aus dem Orient verkaufen, und die in den Franken aus Westfranzien Kunden wittern. Einer von ihnen kommt zu Gerards Zelt und sieht den kostbaren Mantel. Neugierig fragt er, was der denn wohl gekostet hätte, und als Gerard ihm freimütig antwortet, erklärt der Venezianer, dass so ein kostbares Stück selbst in Konstantinopel (der Zwischenstation zwischen Orient und Italien) viel teurer sei.

 

Man könnte annehmen, der Kaufmann habe das gesagt, um dem Grafen für sein gutes Geschäft zu schmeicheln (Hythe, Society and Politics, S.16), aber der hat nun den Eindruck, er habe den Verkäufer in Rom um seinen „gerechten Preis“ betrogen. Umgehend schickt er einen Dienstboten (servus) zurück, um dort die Differenz zu bezahlen.

 

Wichtig ist nicht, ob diese Geschichte sich so zugetragen hat, sondern dass sie damals für möglich gehalten wird; dass sie andererseits aber nur für einen Heiligen, also einen der wenigen frommen Christen typisch und darum bemerkenswert war. Und es ist unübersehbar, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen, die damals noch völlig verschieden sind: Das immer dichter besiedelte und verstädternde Nord- und Mittelitalien mit seiner Handelsmetropole Venedig und das noch fast ganz landwirtschaftlich geprägte gebirgige Cantal mit seinen christlich überformten Vorstellungen vom gerechten Warentausch.

 

Wichtig ist aber, dass der Weg in die Heiligkeit seit einem halben Jahrtausend nicht mehr von jesuanischer Besitzlosigkeit geprägt sein musste, sondern sich mit einem prächtigen Lebensstil und gehobenem Warenkonsum verträgt. Zudem, was in dieser Geschichte nicht extra erwähnt wird, er passt auch schon durch diese ganze Zeit mit Gewalttätigkeit zusammen, jener nämlich, ohne die ein Graf nicht auskommt, so wenig wie ein Bischof, der damals manchmal längst selbst bewaffneter Krieger zu Pferde ist, wie auch der eine oder andere Abt.

 

Durchaus nahmhafte Historiker behaupten bis heute, die Kirche habe Widerstand geleistet gegen jene Entwicklung in den Kapitalismus, von deren Wurzeln hier eine auftaucht, der Handel mit Luxuswaren. Sie habe den Zins, den Kredit auf Zins und den Gewinn beim Warentausch verurteilt. Aber der in dieser Anekdote hier vertretene gerechte (iustus) Preis meint nichts anderes als den fairen Marktpreis, meint also den freien Markt als Regulativ. Tatsächlich gab es in den folgenden Jahrhunderten bis ins hohe Mittelalter kirchliche Schriften, die das Zinsnehmen von „Gläubigen“ ähnlich wie im Islam verbieten, aber zu den großen Kreditgebern des frühen Mittelalters gehören durchaus auch viele reiche Klöster, die selbst reicher sind als die meisten weltlichen Adelsfamilien, und der Luxuskonsum, wie er sich an den gräflichen Gewändern zeigt, war in den letzten 500 Jahren genauso Sache der meisten Bischöfe gewesen.

 

Der Profit stammt von einem lateinischen Verb, proficere welches unter anderem gewinnen oder nützlich sein meint, und das Wort taucht erst nach dem Mittelalter auf. Der von Marx definierte Unterschied zwischen Profit und Gewinn wurde selbst von erklärten Marxologen oft übersehen, und wir können ihn durchaus für das allerfrüheste Mittelalter ignorieren, da beides damals – noch vor allem Kapitalismus - gleichgesetzt wird. Die Kirche sagt derweil, dass der Christ nur eines gewinnen solle, nämlich das Himmelreich, aber wo möglich schmückt sie das Inventar ihrer Kathedralen mit Gold und Silber und Edelsteinen, alles natürlich nur zum Lobe Gottes, und ebenso das Inventar der Bischofspaläste. Praktischerweise werden allerdings kostbare Geschenke nicht an die Kirche oder den Bischof, sondern an den Patron der Kirche gemacht, man schenkt also ein kunstvoll graviertes Elfenbeintäfelchen oder ein edelsteingeschmücktes Trinkgefäß dem heiligen Johannes oder der heiligen Radegunde.

 

In den nächsten über tausend Jahren wird der gerechte Preis und der gerechtfertigte Gewinn zu einem Dauerthema. Um 900 ist er nur in der lateinischen Version überliefert. In den damals sich neuerdings ansatzweise deutsch (teodisc) verstehenden Landen bedeutete „recht“ gerade und richtig (im Englischen später: right). Rechts war die rechte Hand, mit der die meisten vor allem arbeiteten. Gerecht hieß damit „richtig gemacht“. Jenseits allen meist noch wenig verankerten Christentums war der gerechte Preis dabei allerdings einer, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt. Um 900 und besonders danach bringen diejenigen Bauern in Mitteleuropa, die einen Teil ihrer Leistungen an ihren Grundherrn in Geld zu erbringen haben, diesen Teil ihrer Produkte auf den Wochenmarkt, wo sie dafür Gebühren entrichten müssen, und manchmal, in Zukunft sogar immer öfter, werden sie mit einem Höchstpreis konfrontiert, den der Stadtherr oder ein Beamter des regionalen Herren festsetzt, um die Lebensmittelkosten besonders in Mangelzeiten niedrig zu halten. Damit wird die bäuerliche Schufterei mit Zugochsen und Hakenpflug abgewertet zugunsten städtischer Interessen, was der Bauer gewiss nicht für gerecht hält, der Städter aber schon. Gerecht ist daran schon damals nur, dass das Interesse der Mächtigen (hier über die Stadt) das der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Lande überwog, denn der Stadtherr wollte Unruhen in seinem Bereich vermeiden.

 

Seitdem es einen Markt gibt, ist Gerechtigkeit eine Sache „politischer“ und wirtschaftlicher Macht. Klöster legten schon im frühen Mittelalter Speicher an, um Getreide bei guten Ernten zu horten und so den Marktpreis zu halten, und um es bei folgenden Missernten teurer auf den Markt zu bringen. Das heißt seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen Spekulation und es lässt sich natürlich blendend rechtfertigen, schließlich ist es die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit überhaupt erst herstellt, sie ist zu propagierende Ansichtssache, die zur Übereinkunft wird: Das Kloster sorgt für Notzeiten vor. Nach 1200 wird vom heiligen Thomas von Aquin der Gewinn beim Handel durch den hohen Aufwand des Transportes und des geschäftlichen Risikos gerechtfertigt, und auch das ist plausibel und darum „gerecht“.. Nur beim Geldverleih hapert es zunächst mit den Begründungen: Es ist Christenpflicht, jemandem in Not zu geben, ohne daraus einen Gewinn zu ziehen. Deshalb werden die christlichen Lombarden und die ebenso christlichen Kawerzen (aus Cahors) fast genauso verachtet wie die Juden: Diesen allen ist das Geldverleih-Geschäft schon im früheren Mittelalter erlaubt.

 

Das von oben verordnete Recht (ius) wird in den lateinischen Texten der Mächtigen als iustitia durchgesetzt, was praktizierte Gerechtigkeit meint. Für die Kirche ist es inzwischen gerecht, dass die einen (körperlich) arbeiten, die anderen beten und die dritten Krieg führen. Es ist auch gerecht, dass die, die körperlich und produktiv arbeiten, arm sind, denn solche Arbeit macht eben naturgemäß nicht reich und ist dennoch für alle notwendig. Für Handel und Kaufmannschaft ist gerecht, dass sie möglichst unbehindert auf den Märkten einen Gewinn erzielen, ihre Existenzgrundlage. Ihre iustitia aus Angebot und Nachfrage, aus Qualitätssicherung von Ware und Münzwert, aus Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit als Ideal entwickelt bürgerlichen Gerechtigkeitssinn: Durch Handel wird man reich, durch produktive Arbeit bleibt man eher arm, und wer gar nichts hat ist selber schuld, denn nur von nichts kommt nichts. Man bleibt darüber hinaus bei denselben Argumenten wie die Kirche: Es ist so, wie es ist, und Gott hat es so gewollt. Im hohen Mittelalter kommt wieder der gottlose Satz auf, jeder sei seines Glückes Schmied, und seitdem ist beides möglich. Gott/Natur/Schicksal bzw.fortuna und andererseits Eigenverantwortlichkeit, die sich diametral gegenüberstehen, können je nach Gusto und zur Not auch gleich hintereinander oder gar gleichzeitig als Argument angebracht erscheinen. Dem vulgärphilosophischen Geschwätz sind keine Grenzen mehr gesetzt.

 

Gleich sind an allen Versionen von „Gerechtigkeit“ nur die Maßeinheiten: Länge, Breite, Gewicht, Geldeinheit. Gerechtigkeit ist Angemessenheit, und diese ist unter den Bedingungen von Eigentum und Arbeitsteilung immer eine Machtfrage, ob eine naturgegebene oder eine menschlich gesetzte. Und dazu kommt: Der Faule hätte gerne etwas vom Fleißigen ab, der Dumme selten vom Klugen und der Aufrichtige manchmal vom Hinterhältigen, der den größeren Erfolg hat. Das aber führt hier zu weit vom Weg ab, nämlich am Ende direkt in die moderne Politik.

 

Der wichtigste Aspekt von Gerards Heiligkeit war aber laut Odo von Cluny nicht sein (letztlich marktorientierter) Gerechtigkeitssinn, sondern seine selbstgewählte zölibatäre Lebensweise und seine Keuschheit darüber hinaus. Darin übertraf der Laie große Teile des Klerus, die entweder verheiratet waren oder zumindest im Konkubinat mit Frauen lebten, woran sich damals kaum jemand störte. Jesu im Matthäus-Evangelium verankerte Forderung nach Besitzlosigkeit und Ehelosigkeit war schon eine Generation nach seinem Tod von Paulus für die weniger Frommen aufgehoben worden, auch wenn sie dann (zum ersten Mal) wenigstens noch eine Generation später in den Evangelien auftaucht. Sie beschränkt sich bald auf den höheren Klerus, der sich in den nachantiken Zeiten immer weniger daran hält, weswegen sie dann nur noch für die nun entstehenden klösterlichen Gemeinschaften gilt.

 

Der Jesus der Evangelien hatte ohnehin eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die keine Kirche, kein Graf oder Kaufmann hätte ertragen können: In mehreren Gleichnissen des Lukasevangeliums wie dem vom verlorenen Sohn oder den Arbeitern im Weinberg zum Beispiel macht er Belohnung bzw. deren Höhe nicht vom Verdienst, also der Leistung abhängig, sondern ganz im Gegenteil: Der Weinbergsbesitzer zum Beispiel bezahlt am Ende des Tages den, der nur eine Stunde gearbeitet hat, mit demselben Silberstück wie den, der zwölf Stunden dabei war. Der (verlorene) Sohn kehrt wieder, nachdem er sein Erbteil verprasst und verhurt hat und wird von seinem Vater besser behandelt als der andere, der weiter brav bei ihm gearbeitet und ihn unterstützt hat. Damit lässt sich kein Staat machen, nicht wirtschaften, ja kaum leben, aber Jesus war schließlich laut Evangelisten vom nahen Weltende überzeugt und der darauf folgenden Umwertung aller Werte.

 

Das Kirchenchristentum des aufkommenden Kapitalismus betrachtete solche Geschichten mit großem Interesse: Da Kapital Ausdruck eines sehr irdischen Vermehrungsbegehrens ist, einer gewiss nicht aufs Himmelreich (was immer das sein mag) gerichteten Begierde, konnte der Klerus moralischen Druck auf die Kapitaleigner ausüben, sie am Gewinn der Investitionen zu beteiligen. Spenden an die Kirche erhöhten dann die Chance, trotz unchristlichen Wirtschaftens nicht nur an der Hölle vorbeizukommen, sondern durch kirchliche Fürbitten nach dem Hinscheiden eine beschleunigte Reise in paradiesische Gefilde anzutreten.

 

Seitdem gibt es in jeder Beziehung immer mindestens zwei Gerechtigkeiten, die derer, die etwas haben und die derer, die es gerne hätten zum Beispiel. Und es ist eine Faustregel geblieben: Üblicherweise hält der Mensch das, was er meint, tut und besitzt für gerecht, es sei denn, er findet, er tue zu viel dafür, dass er zu wenig hat. Das macht Gerechtigkeit zu einer moralischen Waffe, deren Besitz jede Menge Unheil rechtfertigen kann. Für den Biographen von Gerard von Aurillac war das noch einfacher: Sein Kloster war zwar schwerreich, aber er selbst war als Person rein rechtlich gesehen besitzlos. Und als ziemlich mächtiger Adeliger war Odo in einer guten Position, Gerechtigkeit zu definieren und Heiligkeit dazu. Das auf jeden Fall muss man ihm schon lassen...

 

f: Reliquien

 

Reliquienkult taucht schon in der spätesten Antike auf und Reliquien erhalten im Laufe der Zeit magische Kraft und können Wunder bewirken. Zudem schaffen wichtige Reliquien Wallfahrtsorte mit ihren wirtschaftlichen Folgen. Klar, dass nun clevere Leute in Rom vor allem, aber auch anderswo, überall Leichenreste von Heiligen finden, von denen es Abertausende gibt, und sie verkaufen. Mit der Ausweitung des Christentums auf durch Krieg und Mission gewonnene Regionen wächst der Bedarf weiter, denn jede anständige Kirche braucht Reliquien, je mehr, desto besser.

 

Wurde jemand schon zu Lebzeiten für heilig erachtet, brechen manchmal wilde Streitereien und Schlägereien mit seinem Tod um den Besitz des Leichnams aus, den man möglichst ganz oder wenigstens zum Teil in seine Gewalt bringen möchte. Heilige Kadaver werden zudem schnell zerstückelt und Teile davon auch verschenkt.

 

Um 963 tut sich beim Italienzug Ottos I. der Hildesheimer Bischof Otwin folgendermaßen hervor:

 

„Er entwendete nämlich in Pavia den Leichnam des zweiten Stadtpatrons Epiphanius und brachte seinen Raub in der Abtei Reichenau in Sicherheit, aus deren Konvent er stammte. Trotz des erheblichen Aufsehens, das dieser Diebstahl entfachte, und trotz einer kaiserlichen Untersuchung des Vorfalls blieb der Dieb unentdeckt, der jedoch im Jahre 963 nach der Entlassung des Heeres im Triumphzug mit seiner Beute in Hildesheim einzog. Es kennzeichnet mittelalterliche Frömmigkeit wohl in besonderer Weise, dass man in Hildesheim und auch andernorts in Sachsen den Adventus des geraubten Heiligen festlich beging.“ (Althoff/Keller, S.187)

 

Von einem zweiten Reliquiendiebstahl in San Paolo fuori mura vor Rom wird ebenfalls berichtet. Dort entwendet der Bischof ungeniert einen Arm des hl. Timotheus. Von der Weihe der Krypta seines St.Michael wird von 66 dort eingebauten Reliquien berichtet, und ebensolche werden auch in die Kapitelle der Säulen der Kirche darüber eingemauert. Etwas ganz besonderes aber sind Splitter vom Kreuz Christi, die in einen kreuzförmigen Reliquienbehälter eingeschlossen werden.

 

Für das wundergläubige "Volk" wird schon die Überführung von Heiligen oder wenigstens von Teilen von ihnen zu einem öffentlichen Festakt. Einhard schreibt über eine solche Translatio: Wegen der Menschenmenge konnte man bei Ankunft der Reliquien nicht sofort in die Kirche ziehen. Daher errichtete man erst draußen, unter freiem Himmel, einen Altar, stellte dahinter die Gebeine des Heiligen aus und feierte die Messe. Erst danach folgte der Einzug in die Kirche... (in: LHL, S.130)

827 hatte Einhard seinen Notar Ratleig nach Rom geschickt, um die Körper der heiligen Marcellinus und Peter aus ihrem Grab zu stehlen. Sobald die Beute sich nördlich der Alpen befindet, wird ihr Transport ein öffentliches Spektakel. Über seine Kirche in Michelstadt gelangen sie zu der in Seligenstadt, wo sie sofort beginnen, Kranke zu heilen.

Bald stellt sich allerdings heraus, dass ein Diener des Erzkaplans Ludwigs ("des Frommen"), ein Hilduin, der selbst schon eine Weile sogenannte Heiligenüberreste in Rom stehlen ließ, dem Notar die Überreste des "heiligen" Marcellinus geklaut und dann in seinem Kloster St.Medard in Soissons untergebracht hatte. Es bedarf  nun wohl einiges Druckes, um dem rechtmäßigen Grabräuber sein Diebesgut zurück zu geben. (Wickham (3), S.405f)

 

 

Hatte sich eine Kirche oder ein Kloster in den Besitz besonders attraktiver Reliquien gebracht, so wurden sie zu einem Wallfahrtsort. Pilger erhoffen sich dort Heilung von Gebrechen und andere Wunscherfüllung. Für Kirche oder Kloster und den sich so entwickelnden Ort wird das zu einer erheblichen Einnahmequelle. Herbergswesen, Gaststätten, Tavernen, Handwerk und Handel beginnen zu florieren. Ein Musterbeispiel ist das Jakobsheiligtum von Santiago de Compostela.

 

Das Heilige, der Heilige oder wenigstens irgendetwas von ihm und das zugehörige Kirchengebäude verschmelzen zu einer Einheit, in der Wunderbares möglich wird. In dieser Einheit ist Nähe zu Gottes Allmacht, die alles kann, was er will und man sich wünscht. Und hier ist der Kern praktizierten Christentums zu sehen, welches sich damit unendlich weit von den jesuanischen Vorstellungen entfernt hat. Im katholischen Raum wird das bis ins zwanzigste Jahrhundert überleben.

 

Kirche hebelt so im Vorgriff auf das Himmelreich die „natürlichen“ Gesetze von Raum und Zeit aus, erfüllt damit eine mächtige menschliche Welt der Vorstellungen und wir können heute kaum noch die Wucht der Schläge nachvollziehen, als sie in den Reformationen, aus den Angeln gehoben wird. Dieser langwierige Vorgang wird allerdings nicht nur forciert, sondern auch abgefedert durch den Aufstieg einer nicht weniger wundersamen Warenwelt, deren Faszination immer mehr mit der des Mirakulösen mithalten kann.

 

Die erste Aufgabe von Reliquien ist aber nicht, spezifische Wunder zu vollbringen, sondern Orte erst so recht und gewissermaßen durch Übertragung zu heiligen. Sie leisten das vor allem für und zugleich in Kirchen. Deren magische Qualitäten werden möglichst schon vor der Weihung, selbst ein magischer Akt, durch das Anbringen von Reliquien in oder unter dem Altar bzw. mehreren Altären, in der Krypta oder sogar in den Säulen des Kirchenschiffes erreicht. Wichtig ist es dabei vor allem, Reliquien des Heiligen, dem die Kirche geweiht ist, unterzubringen.

 

Bei den immer mehr Kirchen der Christenheit wird der Bedarf natürlich gewaltig und führt dazu, dass gewisse heilige Körperteile, Gewänder oder gar das Kreuz Christi geradezu mehrmals dafür herhalten müssen. Ganz offenbar irritiert das die Leute aber nicht, nimmt den Gegenständen nichts von ihrer Heiligkeit.

 

Ein Beispiel für weltliche Reliquiensammelei aus der bayrischen Stauferzeit erwähnt Rösener (Erinnerungskulturen) für den Grafen von Falkenstein: „Am 8. September 1164 erfolgte die Weihe der Burgkapelle in Neuburg durch Bischof Adalbert I. von Freising zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria und des hl. Kreuzes. Unter den zahlreichen Reliquien sind besonders solche von der Kleidung Marias, vom hl.Kreuz, vom Grab Christi und von Johannes dem Täufer hervorzuheben.“ (S.41) Eine Vielfalt von wertvollsten Reliquien für eine einzige Kapelle eines adeligen Herrn zeugt von den magischen Qualitäten des Glaubens, aber vor allem auch von dessen Wohlhabendheit.

 

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Reliquien verstärken die imaginierte Macht und demonstrieren den realen Reichtum einer Stadt, einer Kirche oder eines Herrn. Ihre Wundertätigkeit dient aber auch zum Erzeugen von Einkünften, vermittelt durch Wallfahrten von Leuten, die Geld ans Ziel mitbringen. Über Wunder darf man sich staunend wundern, ein Vergnügen, dem nicht weniger Menschen heute via Massenmedien und Amüsierindustrie frönen, welche beide nicht weniger lügen als die Kirche damals und mit derselben Absicht, damit nämlich Geld zu erwirtschaften.

 

Ein Beispiel mag hier für unzählige damals stehen. Nach dem Untergang der Kommune von Laon und dem Ruin der Stadt schreibt Guibert von Nogent für 1115: Interea secundum illum qualemcunque morem ad corrogandas pecunias coeperunt feretra et sanctorum reliquiae circumferri. Das heißt, man beginnt gemäß irgendeinem vorgegebenen Brauch, mit dem man zu Geld kommen kann, Reliquien aus Laon auf einer Trage (durch diverse Gegenden) herumzutragen. 

In einem herrlichen Kästchen wird ein wunderbares Amulett (Talisman - phylacterium) herumgetragen, welches Stücke vom Hemd (camisia) der jungfräulichen Mutter und von dem Schwamm, den man an die Lippen des Heilands gereicht hat und von seinem Kreuz und - ich glaube - von dem Haar der jungfräulichen Herrn. Das Kästchen war aus Geld und Edelsteinen und auf ihm waren in Gold Verse geschrieben von den mysteria interna.

 

Obwohl sie es selbst kaum glauben, erklärt Klerus in einer Ortschaft in der Touraine gegenüber eher feindselig eingestellten Leuten: Wenn irgendein Kranker (animus infirmus) unter euch ist, dann lasst ihn zu dieser heiligen Reliquie kommen und das Wasser trinken, welches die Reliquien berührt haben, und er wird geheilt werden. (De vita sua III, 12) Das funktioniert und man ist äußerst freigiebig. Nach einem zweiten Wunder meint er: Unbeschreiblich waren die Gaben an Geld (argentum) durch die Leute und von Ringen und Ketten durch die Frauen, nachdem sie - insbesondere die Frauen - gesehen hatten, wie die jungfräuliche Mutter der Frau eine Gunst erwiesen hatte, um die sie sich nicht einmal zu bitten getraut hatte. (Guibert von Nogent, De vita sua III,12)

 

Ein wenig kommt bei der Lektüre der Verdacht auf, der brave Abt sei selbst etwas misstrauisch über so viel Wundersames, aber das spricht er natürlich nicht deutlicher aus.

 

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Reliquien dienen zudem auch immer wieder der Bekräftigung von Eiden. Zur Gründung von Freiburg zum Beispiel lässt Konrad von Zähringen die Vereinbarung mit den Bürgern von zwölf seiner höchsten Ministerialien auf Reliquien schwören, wie wohl auch die Marktgeschworenen. Damit wird der Eidbruch auch sakral-religiöser Bestrafung ausgesetzt.

 

Hin und wieder tauchen in den Quellen Hinweise dafür auf, dass nicht jeder von den magischen Qualitäten oder gar von der Authentizität solcher heiliger Überreste überzeugt ist. Als um 930 ein um Herausgabe entfremdeten Klostergutes bemühter Abt von Bobbio seine Vasallen zu einem Hoftag in Pavia zusammenruft, bringt er die knöchernen Überreste des Patrons, des hl. Columban mit, um sie mit deren magischer Kraft zu beeindrucken, was laut den 'Miracula sancti Columbani' bei einigen auch wirkt, lehnt sich einer von deren Untervasallen auf und möchte propter ossa caballina vel asinina quae huc detulistis (wegen einiger Pferde- oder Eselsknochen, die du hergebracht hast), nicht auf sein Gut verzichten (cap.22). Zu vermuten ist, dass mehr Leute so dachten, das aber oft tunlichst verschwiegen.

 

 

g: Der Gott des Krieges und des Friedens

 

Zu den vielen eher seltsamen Forderungen Jesu gehört die, die andere Wange hinzuhalten, nachdem man auf die eine geschlagen wird. Diese völlig widernatürliche und psychisch unerträgliche Unterwerfung unter die Gewalt der anderen, eine Opferbereitschaft, die als Friedfertigkeit verstanden wird, ist im historisch (wenig) dokumentierten Christentum der ersten Jahrhunderte bald fast vollständig verschwunden. Ganz im Gegenteil: Christen tauchen auch in den brutalen und grausamen Amüsierveranstaltungen der Kaiserzeit auf und es wird immer selbstverständlicher, dass sie auch Soldaten werden.

 

Mit der Legende von Konstantins Sieg über seine Gegner in entscheidender Schlacht "im Zeichen des Kreuzes" ist der jesuanische Gott dann endgültig in den jüdischen Kriegsgott, Gott des Waffen- und Schlachtenglücks, rückverwandelt, nur dass dieser inzwischen den Juden durch die Christen quasi weggenommen und aus dem Opferkult der Tempelpriester eine Priesterschaft geworden ist, die über andere magische Zaubermittel verfügt.

 

Schon zum jüdischen Kriegergott gehörten altjüdische Engel als seine Krieger, seit sie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben haben und mit Gewalt eine Rückkehr verhindern. Hier wird an der Abteikirche von Saulieu gezeigt, wie ein solcher Engel das Schwert gegen Bileam hebt (12.Jh.).

 

Volkstümlich sind auch  Erzengel in Ritterrüstung, oder heilige Ritter wie Georg, der bekanntlich u.a. den Drachen tötet, um die keusche Jungfrau zu retten. Abbildungen von ihm werden allerdings erst populärer, als die Kirche das Kriegertum in neuer Form zu christianisieren versucht, also seiner Gewalt, die der evangelische Jesus gegenüber seinem wackeren Anhänger Petrus so massiv ablehnte,  einen frommen Anschein verpasst.

 

Die Friedfertigkeit wird wie die gewollte Armut ganz auf einige wenige Heilige abgeschoben, und damit jeder Normalität enthoben. Am Dom zu Lucca ist jener  römische Soldat Martin dargestellt, der hier wie in seiner Heiligenlegende seinen Mantel mit dem Armen teilt, um kurz darauf das Militär zu verlassen und schließlich sogar Mönch und Bischof zu werden. 

 

 Als Heiliger wird er allerdings zum Ausnahmefall erklärt, nicht zum regulären Vorbild, so wie in der südlichen Toskana in der Spätzeit des frühen Mittelalter (St.) Galgano zum Heiligen wird, welcher, der Gewalttätigkeit müde, sein Schwert in einen Stein stößt, sein erstes heiligmäßiges Wunder, welches man noch heute dort bestaunen kann.

 

Der Normalfall ist aber die im Menschen natürlich angelegte und zivilisatorisch kanalisierte Gewalttätigkeit. Reichsbischöfe stehen schon bei Karl d.Gr. wie Äbte größerer Klöster an der Spitze der militärischen Vasallenkontingente, die sie dem König für Kriegszüge zuzuführen haben. Dabei haben sie in Panzer und Helm zu erscheinen (loricas vel galeas). Offiziell dürfen sie selbst keine Waffen tragen, aber in den Quellen finden sich immer wieder Passagen, wo sie dem Kampfgetümmel so nahe sind, dass man sich das gar nicht anders vorstellen kann. Wo sie als großartige Krieger gelobt werden, wird allerdings meist nicht davon geredet, dass Blut an ihren Händen klebt. 791 lobt Karl ("der Große") zum Beispiel in einem Brief an seine Gemahlin Fastrada die Bischöfe, Herzöge, Grafen und Vasallen, die sich gerade im Krieg gegen die Awaren unter Sohn Pippin wacker geschlagen hatten.

 

Tatsächlich tauchen sie dann im hohen und insbesondere späten Mittelalter nicht mehr sehr häufig in Waffen auf.

 

Ein einzigartiges Dokument entsprechender Verschmelzung germanischer und judäo-christlicher Elemente von Gewalttätigkeit stellt Widukinds Sachsengeschichte dar, die schon gleich mit der Verherrlichung germanischen Reckentums sächsischer Art beginnt, der ganz äußerlich ein christliches Gewand übergezogen ist.

König Heinrich I. als Modell ist nicht weniger durch Frömmigkeit (religiositate) als durch Tapferkeit mit den Waffen (armorum virtute) ausgezeichnet. (I,30). Nirgendwo im Text wird auch nur angedeutet, dass das beides etwa nicht zwei Seiten derselben Sache (heroisch kriegerischen Daseins) sein könnten. Deshalb kann Widukind (I,31) über Ottos I. Bruder Brun, den wir das Amt eines Erzbischofs und eines großen Herzogs zugleich bekleiden sahen, auch feststellen: Niemand soll ihn darum für strafwürdig/schuldhaft (culpabilem) ansehen, da wir vom heiligen Samuel und vielen anderen lesen, sie seien gleichermaßen Priester und Richter gewesen. Das alte Testament muss so dazu herhalten, die radikale Abkehr vom evangelischen Jesus zu begründen.

 

Wie später auch bei Thietmar von Merseburg zu lesen sein wird, sind frühmittelalterliche Lebensentwürfe und Vorstellungswelten eher eine merkwürdige Mixtur aus Altjüdischem und Germanischem als dass sie viel mit dem evangelischen Jesus zu tun hätten. Dazu gehört dann auch bei Widukind, wie ein alttestamentarischer Moses zu posieren, als Heinrich I. am Rhein dem Feind auf dem anderen Ufer gegenübersteht. Er erhob die Hände flehend zu Gott und sprach: 'Gott, Urheber und Lenker aller Dinge, schau auf dein Volk, an dessen Spitze ich mit deinem Willen stehe, auf dass es den Feinden entrissen werde und daran alle Völker erkennen, dass gegen deinen Willen kein Sterblicher etwas vermag, der du allmächtig bist und lebst und herrschst in Ewigkeit. (II,17). Immer stärker wird sich durchs Mittelalter bis hin zu den britischen Puritanern die Vorstellung durchsetzen, jeweils die unmittelbare Nachfolge der alttestamentarischen Israeliten angetreten zu haben.

 

Dazu gehört auch die infernalische Grausamkeit und Mordlust, die dem frommen Mönch nicht einfällt zu kritisieren. Heinrich I. hat eine slawische Burg eingenommen: Die in der Burg gemachte Beute übergab er seinen Kriegern, alle Erwachsenen wurden getötet, die Jungen und Mädchen für die Gefangenschaft verschont. (I,35). Sie werden vermutlich als Sklaven benutzt oder verkauft werden. Es kommt zu einer neuen Schlacht: Alle Gefangenen wurden, so hatte man ihnen verheißen, am folgenden Tage geköpft. (I,36) Und ein letztes Beispiel von vielen: ...das Morden hielt an bis tief in die Nacht. Am nächsten Morgen wurde der Kopf des Kleinkönigs auf dem Feld ausgestellt, und um diesen herum wurden siebenhundert Gefangene enthauptet; Stoinefs Berater wurden die Augen ausgestochen und die Zunge abgeschnitten, dann ließ man ihn hilflos mitten unter den Leichnamen zurück.“ Durch solche Siege ist der Kaiser (Otto I.) berühmt geworden. (III,55) Widerwärtigste Barbarei ist das Kennzeichen von Zivilisationen.

 

Mildtätig (clemens) ist Heinrich I. dagegen gegen sächsische Verbrecher: sooft er daher sah, dass ein Dieb oder Räuber ein tapferer Mann und zum Krieg geeignet sei, erließ er ihm die gebührende Strafe, versetzte ihn in die Vorstadt von Merseburg, gab ihm Äcker und Waffen, befahl ihm, die Bürger zu schonen, gegen die Barbaren aber, so viel sie sich getrauten, Raubzüge zu unternehmen. (II,3) Da Mordbrennen, Rauben und Plündern Kriegerhandwerk ist, handelt es sich um eine eigentlich naheliegende Idee für den ebenso frommen wie wackeren König, und unser Mönch findet das offenbar auch.

 

 

Zurück zur hohen Geistlichkeit: Der Bischof Ulrich von Augsburg kann heilig werden, indem er mit seinem Heereskontigent 955, das Schwert in der Hand, auf das Lechfeld und in die Schlacht gegen die Ungarn reitet. Oder heilig gesprochen werden wie Bischof Bernward von Hildesheim, der etwas später wacker mit seinen Kriegern für seinen König und Kaiser den aufsässigen Römern die Stirn bietet. Und Kaiser Otto II. erwartet 981 für seinen Feldzug gegen den sarazenischen Emir in Süditalien, dass der Abt von Murbach sich an der Spitze seiner zwanzig Panzerreiter beteiligt. 

 

Im Portal von San Zeno am Rande des hochmittelalterlichen Verona erscheint der Bischof umgeben von seinem Militär, ohne das er seine Macht nicht ausüben kann. Vom Betrachter aus rechts gepanzerte Reiter ("Ritter"), links die Infanterie der kleinen Leute. Kirche, Macht und Krieg sind miteinander verschmolzen. Der Bischof ist Teil der militia, was Amtsinhaber und Heerführer meint. Er trägt offiziell selbst keine Waffen, aber sein Amt ist durchaus auch ein kriegerisches.

 

Auch angelsächsische Bischöfe sterben gelegentlich in der Schlacht, wie 1056 ein Bischof von Hereford in einer Schlacht gegen Waliser.

Links, auf dem Teppich von Bayeux sieht man den Halbbruder Wilhelms des Eroberers, Bischof Odo von Bayeux, zu Pferde und in voller Panzerung in der Schlacht, allerdings nur mit einer Keule in der Hand, was wohl der frommen Nachbereitung des Geschehens geschuldet ist. Laut Wilhelm von Poitiers soll der Papst Alexander II. dem zukünftigen König die Petrusfahne übersandt haben. Vor der Schlacht soll Wilhelm bei einer Messe zugegen gewesen sein und sich dann Reliquien um den Hals gelegt haben. Es handelte sich demnach um ein frühes Beispiel eines besonders heiligen Krieges.

 

Im Buch der Wundergeschichten um die heilige Foy, die in Conques ihr Zuhause hatte, dem 'Liber Miraculorum Sancte Fidis', wird im 11. Jahrhundert ein Mönch Gimon beschrieben: Die männliche (virilis) Begeisterung in diesem Mann zur Zeit, als er noch in der Welt war, verließ ihn nicht, als er in die Abtei eintrat, aber er wendete sie nun gegen die Übeltäter. Am Kopfteil seines Bettes im Schlafraum hängte er seinen Harnisch auf, seinen Helm, Spieß und Schwert sowie alle anderen Kriegswerkzeuge, so dass sie immer gleich zur Verfügung standen. Außerdem, wenn es zu einem Überfall von Eindringlingen kam, übernahm er selbst die Verteidigung. Er setzte sich an die Spitze einer bewaffneten Truppe, führte sie zum Angriff, stärkte mannhaft den Mut derer, die zitterten, und versprach ihnen oder entschädigte sie mit dem Sieg oder dem Ruhm der (von Conques) Märtyrer. (in Audebert/Treffort, S.111)

 

Das ist vielleicht nicht typisch, aber es ist bezeichnend, dass es für den frommen Autor denkbar ist.

 

 

In diesem zeitgenössischen Gemälde in einer frommen Schrift wird Kaiser Heinrich II. von Gott/Christus gekrönt. Er ragt mit seinem Kopf bis fast in die Mitte jener Mandorla, in der Christus als Himmelskönig thront. Mögen die Füße auch noch auf dem Boden dieser Welt stehen, auf einer Ebene mit Heiligen, deren geringere Bedeutung durch die verminderte Körpergröße ausgedrückt wird, so ragt er doch bereits weit in die göttliche Sphäre hinein.

Seine Herrschaft beruht aber zu einem guten Teil auf militärischer Gewalt, die er nach innen durch Konsensbildung von oben wie alle sächsischen Könige und Kaiser zu ersetzen sucht.

Da der Himmel auch im Mittelalter ein Reich des Friedens ist, in extremem Gegensatz zur Gewalttätigkeit des 10./11. Jahrhunderts, wird er hier nicht als Krieger dargestellt. Aber zu den einst jüdischen himmlischen Heerscharen gehören längst auch mittelalterliche Ritter mit Waffen und Rüstung.

 

Dieses kriegerische Christentum wird seinen Kriegsgott behalten. Der Mönch Lampert von Hersfeld schreibt um 1080 in seinen Annalen für das Jahr 1056, der bald zum Bischof von Bamberg erhobene Gunther habe eine Vision gehabt: Gott saß auf dem Throne seiner Herrlichkeit, schwang mit hoch erhobenem Arm ein bloßes Schwert mit großer Wucht und sprach zu den Umstehenden: "Ich will mich rächen an meinen Feinden, und es denen, die mich hassen, vergelten." Dieser Vision folgte unmittelbar ein Sterben unter den Fürsten des Reiches. Und nachdem sich diese Vision erfüllt hatte, sah er wieder den Herrn in derselben Gestalt sitzen, doch hatte er nun das Schwert in die Scheide gesteckt und über seine Knie gelegt und sprach zu den Umstehenden: "Ein Feuer ist entzündet durch meinen Zorn und wird brennen bis in die unterste Hölle."

 

Es ist nicht verwunderlich, dass hier Gott nach den Büchern Mosis zitiert wird. Und es ist müßig, Belege dafür anzuführen, dass dieser alttestamentarische Kriegsgott den Christen erhalten bleiben wird, so wie ihn auch der Islam erbt und weiter für sich beansprucht.

 

Hundert Jahre vor dem Niederschreiben der Annalen hat aber bereits etwas neues mit den Friedensbewegungen begonnen, die das Kriegertum an ein christliches Krieger-Ethos anzubinden beginnen. Mit dem miles christianus eines heraufziehenden Rittertums beginnt die Verwandlung der Gewalttätigkeit im Christentum hin zu einer Verchristlichung von Gewalttätigkeit unter der Aufsicht der Kirche. 

Das wird aber auch nach 1122 nichts am Kriegertum der deutschen Bischöfe ändern. Und so heißt es dann in einem Lied der Carmina Burana: pro virga ferunt lanceam, / pro infula galeam, clipeum pro stola /  (…) / loricam pro alba / (…) pellem pro humerali / pro ritu seculari. Also: Lanzen statt Hirtenstab, Helm statt Bischofsmütze, Schild statt Stola, Panzer statt Albe, Pelzmantel statt Bischofsgewand. 

Durchs 12. Jahrhundert sind die Heerabteilungen deutscher Bischöfe immer noch wichtiger als die weltlicher Fürsten, von denen es allerdings auch bedeutend weniger gibt.

 

Kirche im 10. Jahrhundert

 

Im 10. Jahrhundert hat sich allenthalben ein weiteres Disziplinierungsmittel durchgesetzt: Die Beichte vor dem Priester, die weithin die vor der Gemeinde ablöst. Dort wird ein Katalog von dem abgearbeitet, was abwechselnd Sünde und Verbrechen (crimen) heißt, und der von oben so verordnet wird wie in den später entstehenden Staaten Gesetze.

 

Anfang des 10. Jahrhunderts kommt es zu einer monastischen Erneuerungsbewegung, an deren Anfang die Stiftung eines Klosters in Cluny durch einen großen weltlichen Herrn stand. Unter dem direkten Schutz des Papstes sollte hier mönchisches Leben in aller benediktinischen Strenge ohne weltliche Einflüsse praktiziert werden, was dann erst einmal in der Praxis durchgesetzt werden muss. Diese Reform strahlte über das ganze lateinische Abendland aus und wird ergänzt durch die lothringischer und anderer Reformklöster. (siehe Kap. Kloster im 10.Jh.)

 

Ihr Einfluss auf Kirche verringert sich in dem Maße, in dem Bischöfe zunehmend umfangreichere weltliche Aufgaben für ihre Stadt und ihr Umland wahrnehmen, und sie in die Reichs“politik“ integriert werden.

 

In etwa derselben Zeit beginnen Könige aus der sächsischen Familie der Liudolfinger (Ottonen) im ostfränkischen Reich damit, ihre Herrschaft noch stärker auf die Bischöfe zu stützen. Dafür intensivieren sie die sehr weltliche Ausstattung der Bistümer durch die Könige, um sie als Verbündete der Herrscher zu gewinnen und wirtschaftlich und militärisch so potent zu machen, dass sie diese mit ihrem stattlichen Hof bewirten und ihnen auf Heer- und Kriegszügen (was sich kaum klar unterscheiden lässt) folgen zu können, sowie an den königlichen Hoftagen teilnehmen. Im Laufe des 10. Jahrhunderts werden sie so zur wichtigsten Stütze königlicher Macht.

 

In einem Aufgebot von Kaiser Otto II. stellen Bischöfe drei Viertel des Reichsheeres, wichtig für die Herrscher ist auch ihre Verpflichtung zur Beherbergung und Verpflegung des umherreisenden Königs. Demensprechend werden diese hohen kirchlichen Herren mit immer neuen Privilegien versehen, die ihnen entsprechend Aspekte von Beherrschung ihrer civitas verleihen.In einem Aufgebot von Kaiser Otto II. stellen Bischöfe drei Viertel des Reichsheeres, wichtig für die Herrscher ist auch ihre Verpflichtung zur Beherbergung und Verpflegung des umherreisenden Königs. Demensprechend werden diese hohen kirchlichen Herren mit immer neuen Privilegien versehen, die ihnen entsprechend Aspekte von Beherrschung ihrer civitas verleihen.

 

Bischöfe werden welt-orientierter, ähnlich wie auch die Domherren. Am Ende nähern wir uns der Trennung in die Kirche mit ihren geistlichen Aufgaben, die die Bischöfe in ihrer zum Teil häufigen Abwesenheit ohnehin delegieren, und der Kirche als weltlicher Macht, die sich im 11. Jahrhundert als Hochstift herauskristallisieren wird. „Das neue Bischofsideal ist durch eine Hinwendung zum tätigen Leben, zur vita activa als Vorstufe eines Amtsgedankens, einer Verantwortung des Bischofs für seine Diözese gekennzeichnet.“ (Schubert in Bernward, S.101)

 

Bischöfe werden eigentlich von Klerus und Gemeinde gewählt, was im 10. Jahrhundert heißt, dass der höhere Domklerus sich (oft) für einen aus ihren Reihen entscheidet. Aber weltliches wie geistliches Machtinteresse sorgen dafür, dass Könige oder andere Fürsten beginnen, solche Leute auch in ihrer Hofkapelle heranzuziehen und dann dem Bistum auch schon mal gegen dessen erklärten Willen aufzuoktroyieren.

 

Nun gibt es ohnehin das Bewusstsein einer Einheit von weltlicher und geistlicher Macht, wie sie seit Konstantin und dann auch der ersten Reichssynode Chlodwigs demonstriert wurde. Diese gewinnt neue Qualität nicht zuletzt über die seit den Karolingern verstärkte Sakralität des Königtums, die auch danach beibehalten wird.

Mit der Entstehung neuer Reiche geht daraus dann jene Tendenz hervor, die Reichskirchen schafft, wie die west- wie ostfränkischen, wobei für das Ostreich zwischen 916 und 1056 rund 100 vom König initiierte Synoden bekannt sind. (GoetzEuropa, S.219)

Solche Landeskirchen entstehen dann durch Errichtung von Erzbistümern im entstehenden Polen, in Ungarn oder noch später Dänemark, welche sich aus der ostfränkischen Kirche lösen.

 

Aber das, worauf Kloster- und Kirchenreformen schon immer abzielten, den autonomen Raum eines konsequent (kirchlich definiert) christlichen Lebens, wird dabei grundlegend gefährdet. Neben das nicht regulär umgesetzte Zölibat in der Priesterschaft tritt dabei ein zweites Problem, der Vorwurf durchgängiger Korruption, auch wenn sie damals nicht so genannt wird.

 

Wer ein geistliches Amt will, zeigt sich beim jeweiligen weltlichen Herrn dafür erkenntlich. Je einträglicher dieses Amt ist, desto größer der Obulus, der dafür entrichtet wird. In der Reformbewegung nach der Jahrtausendwende wird das unter den Vorwurf der Simonie fallen. Zusammen mit dem erneut verweltlichenden Lebensstil von Bischöfen und Klerus baut sich so ins 11. Jahrhundert eine Art kirchlicher Reformstau auf, der Schritt für Schritt in den Konflikt zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt münden wird. Er wird dort in dem massiven Konflikt zwischen Königen und Papsttum kulminieren, wo Kirche und weltliche Zentralgewalt am machtvollsten verknüpft sind, im salischen Kaiserhaus eben.

 

Höherer Adel, wie er sich unter den Bedingungen neuer Bildung von Reichen und Fürstentümern im 10./11.Jahrhundert entwickelt, wird in der Familie vererbt wie Besitz und Rechte. Hohe geistliche Ämter sind für Mitglieder dieser Familien eine Alternative: Sie implizieren hohen Adel und entsprechende Macht als Ziel einer Karriere. Darum versuchen Familien, sich möglichst für längere Zeit des Bischofsamtes zu bemächtigen. In Limoges wird der Bischofsstuhl ab 969 sukzessive von drei Familien der Vizegrafen besetzt. Von der Mitte des 10. bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts hält eine hochadelige Familie das Amt in seiner Hand, von Onkel zu Neffe, von Bruder zu Bruder usw. Bischof und Hochadel operieren in einer Familie auf gleicher Höhe und Hand in Hand. 

Solche Bischöfe werden sich nur selten der vita communis anschließem, wie sie immer wieder vom Klerus gefordert wird.

 

Ein gutes Beispiel für hochadeliges Selbstbewusstsein jener Schicht, die die hohen Kirchenämter einnimmt, liefert Gerhards Lebensbeschreibung jenes Bischofs Ulrich von Augsburg, der eine herausragende Rolle in der Schlacht auf dem Lechfeld spielen und heiliggesprochen werden wird. Er wird von den Eltern zur Erziehung ins hochadelige Kloster Sankt Gallen gebracht und erhält dann einen Karriereposten beim Augsburger Bischof. Danach macht er eine Pilgerreise nach Rom. Als er zurückkommt, ist ein neuer Bischof im Amt: Dieser war nicht von so hohem Adel, dass Ulrich in seinen Dienst hätte treten mögen. Und weil inzwischen sein Vater gestorben war, ging er ins Elternhaus zurück und übernahm die Versorgung der Mutter (…) und verwaltete alles, so gut es in seinen Kräften stand. (in: WGoez, S.28) Erst vierzehn Jahre später wird er als naher Verwandter des Herzogs Burchard von König Heinrich I. zum Bischof ernannt und lebt dann zwischen dem, was er unter persönlicher Frömmigkeit versteht, und sehr weltlichem Königsdienst.

 

Der hohe Klerus entstammt adeligen Familien, ebenso wie Mönche, Nonnen und Bischöfe. Welche Lebensweise das trotz aller Reformversuche des 9. Jahrhunderts normalerweise nach sich zieht, lässt sich im Negativum der idealisierten Lebensweise der Hildesheimer Domherren unter Bischof Bernward in der Zusammenfassung von R. Schieffer ablesen: "So ernst sei damals dort der Dienst für Gott genommen worden, dass man sich bei der kanonikalen Lebensform einer 'mönchischen Zucht' (districtione monastica) erfreuen mochte. Unerbittlich sei bereits jede Verspätung beim Chorgebet, am gemeinsamen Esstisch oder im Schlafsaal geahndet worden, und innerhalb der Klausur habe man eher noch mehr auf Strenge gehalten als in der Schule, was das tägliche Schreibpensum sowie die auswendige Beherrschung der liturgischen Texte und Gesänge anging. Auffällige Kleidung habe man so wenig erstrebt wie reichliches Essen, die schlichte Denkungsart dem höfischen Witz vorgezogen und um des geistlichen Auftrags willen jeden Ehrgeiz in der äußeren Welt aufgegeben." (in: Bernward, S.270)

 

Solche Disziplin eröffnet höhere Karrieren, und so werden die sächsischen Könige und Kaiser aus den Reihen der Hildesheimer Kanoniker immer wieder Leute in ihre Hofkapelle ziehen und sie (dann) zu Bischöfen im Reich machen.

 

Während die von Cluny, Gorze und vielen anderen Orten ausgehenden Reformversuche das klassische benediktinische Mönchtum zu bewahren und zu retten versuchen, wird es doch in seiner Bedeutung immer weiter durch Bischofskirche und Papsttum verdrängt, mit denen sich die Könige des römisch-deutschen Reiches immer deutlicher verbünden. Auf diesem Wege wird die Belesenheit und Gelehrsamkeit ein Stück weit aus dem Monopol der Klöster entlassen und findet zunehmend eine neue Bleibe in den Domschulen, in denen die eingeübte Demut des klösterlichen Skribenten einem neuen intellektuellen Selbstbewusstsein weicht, welches sich stärker antiken (auch heidnischen) Autoren öffnet.

 

Status ist zugleich reale ökonomische und militärische Macht, die an der Person und direkt um sie herum sichtbar gemacht werden muss. Eine aristokratische Kirche braucht große Besitzungen, um nicht nur mit allem Lebensnotwendigen versorgt zu werden und den Dienst am König, das servitium regis zu leisten, sondern um zudem mit der Pracht ausgestattet zu sein, die den gehobenen Status widerspiegelt. Das alles hat mit dem evangelischen Jesus der Besitz- und Gewaltlosigkeit nichts mehr zu tun. Andererseits wäre weder den meisten antiken Römern des vierten Jahrhunderts noch den meisten Menschen der Nachfolgereiche ein evangelisches Leben in der Nachfolge Jesu zu vermitteln gewesen. 

Offiziell besitzen Adelskloster und Kirche nur als gemeinsam deklarierten Besitz, aber der macht auf dem Weg ins Mittelalter bereits einen Großteil des Landes aus. Darum gehört kirchlicher Besitz (nominell) den jeweiligen Heiligen, man beschenkt nicht so sehr den Bischof oder Abt, sondern den Heiligen Johannes oder Martin, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Größe der Kathedrale und ihre Ausstattung künden tatsächlich von Macht und Status des Bischofs und sind sein höchst persönliches Anliegen. Gold, Silber und Edelsteine, Elfenbein und Marmor dienen offiziell dem Lobe Gottes, aber es war kaum von dem des Abtes oder Bischofs zu trennen...

 

Ekkehard (IV) von Sankt Gallen berichtet von einer Italienfahrt des mächtigen Mainzer Erzbischofs Hatto im Auftrag des Königs. Man sagte aber, aus Misstrauen gegen seine Mainzer habe er alles, was er an Schätzen besaß, mit sich geführt, um es bis zu seiner Wiederkehr seinem Kumpan anzuvertrauen, und der war Salomo, Bischof von Konstanz und Abt von Sankt Gallen (Ekkehard, S.56). Vor allem Gefäße aus Gold und Edelsteine werden erwähnt. Das alles wird aus der Mitte des 11. Jahrhunderts erzählt, von der aus der Reichtum des Bischofs als sein persönlicher auftaucht. So heißt es denn auch wenig später geradezu beiläufig: Jener reiche Mann kehrte aus Italien sehr reich zurück... (cap.23). Das klingt wenigstens nach persönlicher Bereicherung.

 

 

Unter den sächsischen Königen und Kaisern wird die Kirche (und so manches Kloster) durch Privilegierung und Ausstattung in erheblichem Umfang in den weltlichen Machtapparat integriert. Umgekehrt sind Macht und Reichtum elementare Ziele von Bischöfen und Klöstern, beide in den Händen einer adeligen Herrenschicht. Entsprechend können jederzeit Konflikte zwischen Bischöfen aufbrechen, wie ganz massiv 968 anlässlich der Einrichtung des Erzbistums Magdeburg unter den Ottonen oder 1007 bei der Gründung des Bistums Bamberg. "Weder Kirchenprovinz- noch Standesbewusstsein konnten letztlich zu einem einträchtigen Handeln des hohen Klerus führen, dessen Interessen sich einerseits auf das Verhältnis zum König und andererseits auf das Wohl der eigenen Diözese erstreckten." (GoetzEuropa, S.219) Die Erzbischöfe von Trier, Mainz und Köln streiten immer wieder um ihre Vorrangstellung in deutschen Landen.

 

Konflikte gibt es aber auch zwischen ihnen über die klerikale Hoheit über Klöster, wie der Gandersheimer Streit aus der Zeit der Minderjährigkeit Ottos III. zeigt. Dort geht es um die Machtentfaltung der Hildesheimer Bischöfe und Mainzer Erzbischöfe.

 

Kirchliches Recht beruhte vor allem auf Konzilsbeschlüssen und päpstlichen Festlegungen, auf denen immer neue Bestimmungen aufbauen, was eine damals einzigartige Normierung von Machtausübung bedeutet, die immer wieder einmal auch in den weltlichen Bereich ausgreift. Sammlungen solcher Beschlüsse, Vorstellungen und Ansichten wie die des Abtes Regino von Prüm Anfang des 10. Jahrhunderts sind noch kein Gesetzbuch, aber ein erster Weg dahin, wie er für weltliche Machtausübung in diesem Jahrhundert völlig fehlt und wohl auch gar nicht vorstellbar ist. Ein solches Handbuch für (kirchliche) Amtsausübung und Verwaltung in modernerer Form stellt dann über hundert Jahre später Bischof Burchard von Worms zusammen, das 'Decretum'. Es wird sich in wenigen Jahrzehnten über die Reichsgrenzen hinaus nach Reichsitalien und Frankreich als vorbildhaft verbreiten.

 

Parallel dazu schreibt er ein 'Hofrecht' für die in seiner Grundherrschaft existierenden Laien auf. Als Stadtherren, Kirchenherren und Ausübende großer Grundherrschaft bereiten Bischöfe so Aspekten neuer Staatlichkeit den Weg, jener, die ihren Ausgangspunkt in den entstehenden neuartigen Städten hat, in denen der Keim des Kapitalismus sich ansiedelt. Dieser braucht und fördert einen Ordnungsrahmen, in dem „Wirtschaften“ als Kapitalverwertung Normen als Sicherheiten braucht, andererseits aber Freiräume zu seiner Entwicklung. Aber wenn wir damit ins 11. Jahrhundert gelangen, dann steht dort Kapitalismus immer noch in seinen ersten Anfängen. Die Rasanz der Entwicklung zeigt sich daran, dass er ein, zwei Jahrhunderte später, je nach Gegend, für die meisten Menschen solche Veränderungen zustande gebracht haben wird, dass er in ihren Augen bereits unumkehrbar geworden ist, als brillianteste und brutalste Revolution in der Menschheitsgeschichte, nach denen der Jungsteinzeit und der frühen Zivilisationen als Despotien.

 

Diese Verquickung weltlicher und geistlicher Aufgaben und Interessen macht Bischöfe oft abwesend von ihrer Diözese, und dabei gelangen immer mehr Aufgaben in die Hände der Domgeistlichkeit. Mit der Aufteilung von Bistümern in Archidiakonate gewinnen Archidiakone über die Mithilfe bei der Vermögensverwaltung und der Beaufsichtigung des Klerus bald eigene Spielräume für die Verwaltung ihres jeweiligen Bereichs samt einer eigenen Gerichtsbarkeit. (GoetzEuropa, S.223)

 

***Arme und Kranke***

 

In allen Zivilisationen bedingen sich Reichtum und Armut gegenseitig. Zwar hat der evangelische Jesus seinen Aposteln absolute Armut verordnet, aber dieses Gebot wird von der entstehenden Christenheit auf wenige Experten, Priester und Mönche, abgeschoben, wobei Mönche dann im Frankenreich nur nach kollektivem Reichtum streben, während Bischöfe, Domherren und andere höhere Geistlichkeit meist ungeniert individuellen Reichtum anstreben und auch erreichen.  

Behauptet wird längst, dass Armut wie Reichtum gottgewollt und hinzunehmen seien, so wie auch Kriege und legitimierte Gewalt. Als Alibi betreiben Kirche und Kloster ihre Vorstellung von caritas, das heißt, die am Hungertuch Nagenden werden möglichst soweit alimentiert, dass sie nicht sterben, ein Modell, an das sich noch die heutigen Staaten im ehemals lateinischen Abendland halten.

 

Das Bündnis aus Kirche und weltlicher Macht fordert im neunten und zehnten Jahrhundert, die Kirche solle sich mehr um die Armen kümmern, nachdem  Spitäler und Pilgerhospize weithin verfallen sind. 816/17 fordert eine Aachener Synode die Errichtung von Spitälern an Klöstern und Stiften und 836 wird von Bischöfen verlangt, sich stärker um die Spitäler zu kümmern. Im 10. Jahrhundert werden solche Kirchenherren als heilig verehrt, die tatsächlich "Mildtätigkeit" praktizieren. Spenden an Arme gibt es vor allem auch zu bestimmten Feierlichkeiten, die damit geschmückt werden.

Konsequentere Spenden an Arme, oft verbunden mit Totengedenken, praktiziert dann Cluny und damit verbundene Klöster. Mit Schenkungen an Kirche und Kloster wird nun zunehmend auch das Durchfüttern von Armen und Kranken verbunden.

 

***Musik***

 

Die heutigen Konsumenten kommerziell intendierter Massenbeschallung mit elektrisch-elektronisch generiertem rhythmischem Gewimmere, Geschnulze, Gewummere, Geschrei und anderem die Massen verblödendem Lärm wissen kaum noch, was Musik ist und belegen eine sehr geringe Musikalität. Damit wissen sie auch nichts von der Entstehung abendländischer Musik seit der Nachantike, ihrer Tonalität, Harmonie und ihren Klängen.

 

Neben der uns aus dieser Zeit kaum bekannten bäuerlich-ländlichen Musik und ihren Liedern und Tänzen und der bald dann geringfügig besser vertrauten höfischen Musik ist es die Entwicklung der Musik in den Kirchen, die den Weg hin zu dem Gipfelpunkt kunstvoller Musik im Barockzeitalter einleitet.

 

Musik war schon Thema griechischer Philosophen (Sphärenklänge usw.) und wird es dann wieder bei Theologen. Hrabanus Maurus verbindet Musik dann wieder mit der Mathematik als Ausdruck einer im Kern harmonischen göttlichen Schöpfung:

(...) ohne die Musik kann keine Wissenschaft vollkommen sein. Auch existiert nichts ohne sie. Denn wird  nicht gesagt, dass die Welt selbst aus einer Harmonie von Tönen zusammengesetzt ist, und dreht sich nicht auch der Himmel im Klang der Harmonien. (Hrabanus M. 'De Musica' in: Gleba, S.84)

 

Im Mittelalter tauchen dann Darstellungen himmlischer Engelschöre mit instrumentaler Begleitung auf: Irdische (Kirchen)Musik ist nur die schwache Imitation dieser musikalisch gedachten Glückseligkeit.

 

Vielleicht ging der liturgische Gesang einst vom jüdischen Lesegesang in den Synagogen aus. Jedenfalls soll Papst Gregor ("der Große") zum ersten Mal so etwas zusammengestellt haben. Im 8. Jahrhundert hält der gregorianische Choral dann in den Kirchen des Frankenreiches Einzug. Karl ("der Große") richtet dafür eine Gesangsschule ein, es werden Gesangslehrer ausgebildet, die dann von den Klöstern ausgeliehen werden. Immerhin werden die Stimmen in der Regel nicht instrumental begleitet und es gibt auch noch keine modernen Noten, sondern nur Neumen, die Rhythmus und Bewegung der Melodie angeben, nicht aber die Intervalle zwischen den Tönen.

 

 Auf den Weg zu konzertanter Musik des späteren Mittelalters führen nicht nur die Oktaven der speziellen Tonleiter mit ihren Einzelabständen und ihren Harmonien, sondern auch die Formen des Wechselgesanges, insbesondere mit derjenigen, in der der Chor auf den Vorsänger antwortet.

 

Adelige Geistlichkeit

 

Zwei relativ gut dokumentierte Beispiele solcher aristokratischen Bischöfe aus der späten Zeit sächsischer Kaiser: Bernward von Hildesheim und Thietmar von Merseburg, sollen hier folgen.

 

a: Bischof Bernward von Hildesheim

 

Der um 960 in hohen sächsischen Adel hineingeborene Bernward hat einen Bruder Tammo, der Freund und Heerführer Kaiser Ottos III. werden wird, und einen Onkel Folcmar, der einer der Hildesheimer Domherren ist. Der übergibt den Jungen der dortigen Domschule, wo ihn der Scholaster Thangmar unterrichtet, der dereinst zu seinem Biographen werden wird. Dann ist es wohl wieder Folcmar, der den jungen Mann bei Hofe, also bei Kaiser Otto II. und Theophanu einführt. Er wird dort zum Notar, also zum Hofschreiber, aulicus scriba doctus wird er sich später selbst nennen.

 

Dann steigt er zum Chef dieser Notare auf, wo er zehn Jahre lang tätig ist und dabei den Kaiser überall hin und bis durch Italien begleitet. Nachdem Erzbischof Willigis von Mainz ihn zum Priester geweiht hat, steigt er in den Kern der Hofkapelle auf und wird um 988 von der verwitweten Theophanu zum Erzieher ihres Sohnes, des noch unmündigen Otto III. berufen. Von nun an ist er dauernd bei Hof und unterstützt die Kaiserin in ihrer „Regentschaft“.

 

992 stirbt der Hildesheimer Bischof und bald darauf wird er dessen Nachfolger. Als Bischof ist er Haupt der Priesterschaft seiner Diözese, die er zu überwachen und zu verwalten hat. Er leitet die Liturgie, organisiert die hohen Kirchenfeste und zelebriert regelmäßig die Messe, wenn er denn anwesend ist. Er sammelt kirchenrechtliche Schriften, denn noch vor der weltlichen Macht sind Bischofskirchen darauf bedacht sind, ihre Rechte zu erfassen und zu fixieren.

Auf einer sächsischen Synode unter der Aufsicht des Kaisers vertritt er 1019 das Zölibat der Priester gegen die Sitte, dass Leute, die bei Antritt des Priesteramtes aus dem Hörigenstatus entlassen wurden, eine Freie heiraten und dann Kirchengut an sie abtreten. Er sorgt für Armenspeisungen. Er befestigt den immunen, ihm allein unterstehenden Dombezirk mit hohen Mauern. Für seine Stadt, zu der eine Pfarrei samt Hospital mit dazugehörigen Handwerkern und Händlern gehört, übt er das Marktrecht aus.

 

Gegen normannische Piraten und abodritische Slawen errichtet er im Nordosten der Diözese zwei Burgen, für die er vom Kaiser gräfliche Rechte bekommt. Die Domburg ist von massigen Mauern umgeben, die Wehrburgen im Norden sind durch Erdwälle geschützt, mit einer hölzernen Mauer davor und mit Holzgebäuden darin. Sie entsprechen damaligen sächsischen Adelsburgen.

Er lässt eigene Münzen mit seinem Abbild prägen, bis dato ein seltenes Unterfangen bei Bischöfen. Die militärische Gewalt im Innern seines Machtbereiches delegiert er an einen Vogt, den er sich erwählt. Auf den bischöflichen Gütern auf dem Lande lässt er zum Teil steinerne Kirchen erbauen, ein Novum in dieser Zeit, und er besteht darauf, dass Landpfarrer ihren Teil des Zehnten einbehalten dürfen und nicht an die weltlichen Herren der Kirchen abgeben müssen.

 

Über viele Jahre kämpft er darum, dass er das traditionell und wohl widerrechtlich ihm unterstellte Stift Gandersheim mitsamt seinen Abgaben in seinem Bistum bleibt und nicht dem Mainzer Erzbischof untergeordnet wird. Zu diesem Zweck reist er sogar nach Italien, wo ihn der Kaiser in seinem Anliegen unterstützt. Dort ist ohnehin ein Hildesheimer Heer unter seinem Bruder Tammo an der Seite des Kaisers. Unter Otto II. werden einmal 50 gepanzerte Reiter erwähnt, die das Bistum für den Kaiser als Verstärkung zu schicken hat.

 

Seinen persönlichen Besitz wird Bernward später ganz in seiner Stiftung St. Michael aufgehen lassen. Solange aber führt er ihn in seinem Eigentum weiter.

Seit seiner Gründung durch Ludwig den Frommen 815 hat das Bistum Grundbesitz und geldwerte Rechte geschenkt bekommen. Die dazu spärlichen Quellen erwähnen zum Beispiel Güter bei drei Moselorten, bei Boppard am Mittelrhein, in Ingelheim, Geisenheim im Rheingau, in Duisburg, bei Pavia und natürlich vor allem im sächsischen Umfeld der Kathedrale. (Bünz in Bernward, S.233f) Der Bischof und mit ihm das Bistum bekommt so ein Viertel bis Drittel des Zehnten aller, die ihn zahlen können, aber zudem die Einkünfte aus der Grundherrschaft der vielen Landgüter. Diese bestehen aus den vermarkteten Einnahmen der Herrenhöfe und den Abgaben und geldwerten Arbeitsleistungen der dort produktiv Arbeitenden.

Nicht von Bernward, sondern von anderen Bischöfen der Zeit ist überliefert, dass solche Einkünfte auch mit erheblicher Härte der geistlichen Herren gegenüber den auf ihrem Grund lebenden und arbeitenden Menschen eingetrieben wurden.

 

Modern und etwas anachronistisch gesprochen ist der Bischof in hohem Maße „Politiker“, der zwischen den unterschiedlichen und sich oft widersprechenden Interessen weltlicher und geistlicher Großer vermitteln muss, um den Frieden aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Diese Aufgabe geht weit über seinen Amtsbereich hinaus.

So organisiert er 1001 in Pavia einen Hoftag für den Kaiser: … wo die Bischöfe und Grafen von ganz Ligurien seine Ankunft erwarteten. Er richtete ihnen die Aufträge des Kaisers aus und verhandelte in einer Versammlung viel mit ihnen über die Bedürfnisse des Staates. Denn seinem Rate gehorchten alle, weil sie wussten, wie sehr er vom Kaiser geliebt wurde. Leo, der Bischof von Vercelli, ein gelehrter, redegewandter Mann, lud ihn mit höchster Ehre und Liebe in seine Stadt. Mit Mühe erlangte er seine Einwilligung, worauf er ihm vorauseilend, mit einer großen Schar der Geistlichkeit und des Volkes, die zum Lobe Gottes Psalmen sangen, ihm entgegenzog; er ließ die Glocken läuten und empfing ihn mit nicht geringerem Aufwand, als wenn der Papst selbst gekommen wäre. Zu seinem Dienst ließ er alles mit Überfluss und Pracht, wie man nur verlangen konnte, beschaffen und ehrte ihn mit auserlesenen Geschenken: auch gab er ihm Begleiter mit, die am folgenden Tag aufs reichlichste für ein Unterkommen sorgten. (Vita Bernwardi Kap. 27, deutsch in Bernward, S.103)

 

Abgesehen davon, dass der Biograph den Rang seines Bischofs vielleicht etwas arg betont, lässt sich die weltliche Seite seiner Aufgaben hier vielleicht deutlicher erkennen, als wenn man ihn nur im Zusammenhang mit seinem Panzerreiter-Kontingent in Rom sieht. Bezeichnend ist die Kombination von Beredsamkeit, Gelehrtheit und Prachtentfaltung, mit denen Leo vielleicht seinem deutschen (sächsischen) Kollegen einiges voraus hat. Deutlich wird im Zeremoniell auch, dass hier zwei Fürsten aufeinandertreffen, die wie weltliche Große die Herstellung von Freundschaft mit Geschenken besiegeln, ein Erbe früherer Stammeskulturen.

Dann trifft er sich in Burgund in diplomatischer Mission mit dem dortigen König Rudolf.

 

Bernward unterstützt zunächst gegen Heinrich II. Ekkehard von Meißen. Dafür muss er  dann für Heinrich ein Heeresaufgebot gegen Balduin von Flandern stellen. Eine Pilgerreise über St. Denis nach Tours bringt ihn in einem anderen Auftrag mit dem westfränkischen König zusammen.

 

Wir sind in vorkapitalistischen Zeiten, in denen eine kleine Schicht grundbesitzender Herren der produktiv arbeitenden und untertänigen Masse der Land-Bevölkerung gegenübersteht. Die Landwirtschaft ist immer noch nur zum kleinen Teil marktorientiert, sie dient der (minimalen) Subsistenz der Produzenten und der Versorgung der Herren (und Damen) und wird nur zum kleinen Teil versilbert. Dennoch verfügen die Bischöfe über Geld, mit dem sie Waren kaufen können. Das sind vor allem Gegenstände des häuslichen Luxus und der kirchlichen Prachtausstattung. Damit werden Handwerker von nah und fern beauftragt und darüber auch Händler, die Waren auch aus dem Orient vermitteln.

Es wird aber kaum Kapital angehäuft, das Geld dient vielmehr im wesentlichen der Schatzbildung, und da kirchliche Kathedralen traditionell Schatzkammern haben bzw. solche Schätze öffentlich ausstellen, sind sie zum Teil bis heute erhalten geblieben. Dazu gehören Reliquienbehälter, Kreuze, das Geschirr zum Zelebrieren der Messe und anderes mehr. Schätze sind aber auch in den Kirchen selbst verbaut und sind anders als in königlichen Palästen und denen der Spitzen des Hochadels erhalten geblieben.

 

Dabei fehlt der Zeit ein seit einigen Jahrhunderten geläufiger Kunstbegriff, der sich aus dem allgemeinen der artes materiales ablösen wird. Das betrifft Altäre und Taufbecken, freskierte Wände, später auch Kanzeln, dazu werden bald auch die ersten bildhaften Kirchenfenster gehören. Im engeren Sinne Schmuck als Schatzbildung stellen die Bronzetüren dar, die Bernward für seinen Dom herstellen ließ, die geschnitzte Goldene Madonna und die große bebilderte Bronzesäule für St. Michael.

 

Für die Kapitalbildung verloren ist auch alles, was der Bischof als Bauherr investiert. So lässt er eine Kapelle für eine Kreuzesreliquie errichten, die er bald zur Pfarrkirche aufwertet. 1010 lässt er dann den Grundstein für eine für damalige Verhältnisse riesige Klosterkirche legen (St.Michael), eine dreischiffige Basilika mit zwei Querhäusern und zwei Chören. Die Krypta und die Säulen des Langhauses werden reichlich mit Reliquien versehen und zudem werden Kirche und das dazu erbaute Kloster mit einem reichen Kirchenschatz ausgestattet. Zur wesentlichen Ausstattung gehörten zudem „18 große Haupthöfe (curtes) mit 416 Hufen, dreizehn Kirchen und zehn Mühlen samt allem Zubehör an Land und Leuten, Rechten und Einkünften“ (H.J.Schuffels in Bernward, S.41).

Im Kern hat sich der Bischof mit St.Michael seine höchsteigene Grabeskirche geschaffen. Er lässt sich denn auch in der Krypta beisetzen, umgeben von den Resten vieler Heiliger und wohl in dem Bewusstsein, auch gleich zu ihnen aufzusteigen. In diesem Sinne hat er sich mit seinen irdischen Leistungen, den Bauten und Ausschmückungen des Doms und manch anderem samt - wie er selbst wohl meinte - sonstigem gottgefälligem Leben einen Platz im Himmelreich erdient und verdient.

 

Bauten der Kirche und der Herrscher sind auch insofern noch für die Kapitalbildung verloren, als mit ihnen keine Baufirmen betreut werden, sondern eine Vielzahl von einzelnen Spezialisten vom Maurer und Steinmetz bis zu dem, der Pläne für das Ganze schafft. Die niedere Arbeit wird aber weitgehend mit Subsistenz-Löhnen, oft von Tag zu Tag, versehen, die zwar Geldzirkulation fördern, aber nicht für Kapitalbildung ausreichen, und die Arbeiter sind oft ohnehin die eigenen dienstverpflichteten Grundholden.

 

 b: Der Gandersheimer Streit als Beispiel bischöflicher Machtausübung

 

Nach der brutalen Eroberung Sachsens durch Karl d.Gr. begann dessen „Pazifizierung“ als dauerhafte Unterwerfung nicht zuletzt auch durch Christianisierung und Aufrichtung kirchlicher und klösterlicher Strukturen. Nach der Etablierung des Bistums Hildesheim unter einem Mainzer Erzbischof macht sich der vierte Bischof Altfrid aus sächsischem Hochadel im Einvernehmen mit König Ludwig „dem Deutschen“ daran, sächsische Große seines Bistums dazu zu ermuntern, Familienstifte einzurichten. Er überzeugt  auch seinen Vetter Liudolf samt Gemahlin Oda, ein solches Hausstift in Gandersheim zu gründen und reist darauf nach Rom, um von dort Reliquien mitzubringen, die die Stiftung heiligen würden.

 

Nun gibt es damals keine präzise Kartographie und keine Karten, die den Verlauf von Bistumsgrenzen genau festlegen. Das Kanonissenstift sollte aber verkehrsgünstig liegen und Einnahmen bringen, und es wurde so recht eigenwillig südlich des Flüsschens Gande (damals Eterna) gegründet, welches nach allgemeiner Ansicht bislang die Bistumsgrenze bildete. Indem der Bischof es dort situiert und ihm dann noch einiges Land zuordnet, ist damit eine gewisse Fläche dem Mainzer Bistum stillschweigend genommen worden.

 

Von dort also entnimmt der Hildesheimer Bischof nun auch den Zehnten und eine gewisse Kontrolle über „sein“ Kloster, obwohl die eigentlichen Gründer ihm Reichsunmittelbarkeit zugesichert und es damit bischöflicher Aufsicht entzogen hatten. Die Mainzer finden, sie seien eigentlich die rechtmäßigen Herren, die Hildesheimer aber investieren ungeniert Äbtissinnen und Kanonissen, also kanonisch lebende Jungfrauen (kleiden sie ein und weihen sie Gott.) Die einen haben also Recht und die anderen ein (fragwürdiges?) Gewohnheitsrecht.

 

Nun war das Kloster in besonderem Maße ein Zuhause für allerhöchste Tochter geworden, darunter auch für eine Tochter Kaiser Ottos II., Sophia, die dort zunächst die Stiftsschule durchlief und 987 mit 22 Jahren den Schleier nehmen soll. Nach Hildesheimer Darstellung möchte die statusbewusste Prinzessin vom höherrangigen und viel mächtigeren Mainzer Bischof Willigis und nicht vom Hildesheimer Bischof Osdag geweiht werden, vermutlich aber standen die Äbtissin und ihre hochadelige Damenschar dahinter, die den rechtlichen und fiskalischen Zugriffen/Übergriffen des Hildesheimer Bischofs entkommen wollen. Damit wäre  allerdings ein hochgestellter Hinweis darauf gegeben, zu welcher Diözese das reiche und mächtige Kloster gehört.

 

Es kommt zum Streit vor Otto III., der königlichen Mutter Theophanu und vielen Bischöfen - und zu einem Kompromiss: Willigis soll das Hochamt abhalten, mit dem Hildesheimer gemeinsam Sophia einkleiden und dem ist dann die Investitur bzw. Velation der übrigen Jungfrauen überlassen. (so jedenfalls nach Thangmar, Vita Bernwardi). Damit überwiegen wohl insgesamt die Hildesheimer Anteile.

 

Danach herrscht kurz Ruhe, bis Sophia etwas eigenmächtig 994 bis 997 das Kloster verlässt und sich am kaiserlichen Hof aufhält. Der inzwischen auf der Hildesheimer cathedra thronende Hildesheimer Bischof Bernward schafft es dann, ihren Einfluss und den von Erzbischof und Kanzler Willigis bei Hofe zurückzudrängen, und die junge Frau muss wieder ins Kloster zurück. Der Konflikt zwischen Kanonissen und Hildesheim über das Leisten der Abgaben aber bleibt.

 

Im Jahre 1000 ist die inzwischen abgebrannte Stiftskirche wieder aufgebaut und muss neu geweiht werden. Die ältliche Abtissin überträgt die Organisation für die großangelegte Feier auf ihre vermutliche Nachfolgerin, Sophia, die nun die Weihung durch Willigis erbittet. Bischof Bernward ist ebenfalls eingeladen. Im letzten Moment muss der Mainzer seine Ankunft und damit die Feier um eine Woche verschieben. Bernward erscheint aber schon zum ursprünglichen Termin und beginnt mit der Messe ohne seinen Kollegen. Die frommen Frauen, über soviel Hinterlist empört, behindern nun den Fortgang der heiligen Handlung, indem sie dem hohen Priester die Weihegeschenke vor die Füße werfen, ein unerhörter Vorgang.

 

Als dann Willigis erscheint, hat Bernward das Weite gesucht, und dafür den Bischof von Schleswig und seine Domherren dagelassen. Als Willigis nun das Hochamt abgehalten und dem Kloster den Besitz seines Zehnten bestätigt hat, wird er von der Partei des Hildesheimers an der Kirchenweihe (offenbar mit Gewalt) gehindert.

 

Zur Klärung der Frage kündigt Willigis eine regionale Synode an, was Bernward veranlasst, nach Rom zu reisen, um bei Kaiser und Papst sein vermeintliches Recht bestätigt zu bekommen, was auch geschieht. Aber eine letzte Entscheidung soll dann auf einer Synode in der sächsischen Pfalz Pöhlde fallen.

 

Nun wiederum verhindert Willigis das Auftreten der päpstlichen Gesandten und die Verlesung des römischen Begleitschreibens durch die Inszenierung eines Tumultes seiner Gefolgschaft in der Kirche und seine heimliche Abreise. Die Legaten sprechen darauf gegen ihn die Suspendierung vom Amt aus, was er wie sein Anhang ignorieren.

 

Als nächstes wird der zurückgekehrte Hildesheimer Bischof daran gehindert, auf Mainzer Boden ein Kirchenfest in einem ihm gehörenden Stift zu feiern, und als er auf dem Rückweg nach Gandersheim will, überfallen ihn Mainzer und Gandersheimer Krieger. Das Gerangel geht nun von einer weiteren ergebnislosen Synode bis zu einem Konzil von Todi in Umbrien, unter Freundschaftsbekundungen des Kaisers Ottos III. für seinen Hildesheimer Freund und ehemaligen Erzieher und Lehrer. Der Kaiser stirbt aber 1002 und Bernward verliert damit seinen wichtigsten Verbündeten, während die Kanonissen weiter ohne geweihte Kirche leben müssen.

 

Eine Synode unter Kaiser Heinrich II. schließlich entscheidet 1007 für Hildesheim bei Gegenleistungen des Bischofs. Die Weihe läuft dann endlich so ab, dass die Kirche selbst von beiden Bischöfen geweiht wird, Bernward aber die Weihe der einzelnen Altäre unter Bischöfe seiner Wahl aufteilt, wonach Willigis in feierlicher Rede auf seine Ansprüche verzichtet, um dann als Erzbischof das Hochamt abzuhalten.

 

Ein Nachfolger von Willigis versucht noch einmal Einfluss auf einen Nachfolger von Bernward zu nehmen, was scheiterte, und König Konrad II. bestimmt schließlich und zum Abschluss der Querelen 1028 die Hoheit Hildesheims und die Abtrennung einiger Gandersheimer Grundherrschaften zugunsten von Mainz.

 

Bischöfe sind also geistliche Herren, die Messen abhalten und Kanonissen den Schleier überreichen, aber sie sind auch weltliche Herren mit einem kriegerischen Gefolge („Vasallen“), die vor Gewalttaten auch gegeneinander nicht zurückschrecken. Als solche sind sie Grundherren, die auch über die auf ihrem Grund arbeitenden Menschen verfügen und Herren über Grundherren. Als Erste im Reich zusammen mit fürstlichem Hochadel kämpfen sie um Macht, wobei diese (natürlich) nur dem geistlichen Wohl ihrer Gläubigen dienen soll.

 

Das Papsttum wiederum kann ihnen bislang wenig anhaben, denn es kann seine Macht in der Ferne im Konfliktfall kaum durchsetzen. Und selbst Könige und Kaiser haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, Streitfälle zu lösen, wenn sie dabei die Autonomie der Bischofskirche gefährden. Das alles wird sich erst dadurch ändern, dass Päpste bald versuchen werden, die päpstliche Zentralgewalt zu stärken, und zwar sowohl gegenüber der ihnen dann untergebenen Kirche wie auch gegenüber einer weltlichen Gewalt, die sich in kirchliche Belange einmischt.

 

c: Die Welt des Thietmar von Merseburg (975-1018)

 

Anders als Bernward hat sich Thietmar sein Denkmal weniger mit Bauten und Kunstwerken gesetzt als mit seinem Text, der zunächst wohl dem Andenken an sein Seelenheil und den Interessen seines Bistums dienen sollte und sich dann doch zu einem breiter angelegten Geschichtswerk ausgedehnt hat.

 

Er stammt aus dem vornehmen Haus der Grafen von Walbeck im heutigen Sachsen-Anhalt. Der erste Graf Liuthar stirbt 929 im Kampf gegen Slawen. Sohn Liuthar II. ist in eine Verschwörung gegen Otto I. verstrickt , weshalb er sein Land erst einmal verliert und dann nur gegen erhebliche Zahlungen überwiegend zurück bekommt. Zur Sühne lässt er in Walbeck eine Kirche bauen.

Nach seinem Tod bekommt Sohn Siegfried die Grafschaft, und Sohn Liuthar III. wird Markgraf der Nordmark. Er wird mächtiger Unterstützer von Heinrich II.

auch gegen den Markgrafen von Meißen, der die Verlobung von Liuthars Sohn Werner mit seiner Tohter Liudgard hintertrieben hat. Dafür entführt der sie nun mit ihrem Einverständnis und heiratet sie nach dem Tod ihres Vaters. Kurz darauf erbt er die Nordmark. 1009 ermordet er einen gegen ihn intrigierenden Grafen am Hof des Königs und verliert die Mark und Benefizien, was ihn mit dem polnischen König konspirieren lässt. Am Ende bekommt er alles nur gegen eine hohe Strafzahlung zurück. Nach dem Tod von Liudgard entführt er eine weitere Frau, und zwar gegen ihren Willen. In diesem Zusammenhang stirbt er dann.

 

Auf Bruder Siegfried folgt in der Grafschaft Walbeck sein Sohn Heinrich, und dessen Bruder ist unser Thietmar hier. Mehrere Brüder werden Äbte und Bischöfe. Er selbst wird im Stift Quedlinburg und dann im Domstift von Magdeburg erzogen und erhält eine gute Ausbildung. Um 1000 wird er dort Mitglied. Er kauft sich in das Probstamt ein. 1004 wird er vom Erzbischof von Magdeburg in Gegenwart Kaiser Heinrichs II. zum Priester geweiht, was bereits seine Nähe zur Macht zeigt. 1009 dann macht ihn der Kaiser zum Bischof von Merseburg, dem er dafür aber einen Teil seines Erbes abgeben muss.

Das Bistum ist relativ klein und vergleichsweise schlecht ausgestattet, was Thietmar immer wieder beklagen wird. Auf diese Ausstattung und ihre Vermehrung scheint er ganz besonders sein Augenmerk gerichtet zu haben. Abgesehen von der Kenntnis einiger („heidnischer“) römischer Klassiker wie Vergil und Ovid erscheint sein „Christentum“ wie das seiner Zeitgenossen stark geprägt von seiner Überformung durch alttestamentarische und germanische Vorstellungen. Der Jesus der Evangelien und der Kirchenväter steht dagegen bis auf wenige Aspekte deutlich zurück.

 

Thietmar stellt sich selbst eher als aristokratischer Kriegerbischof denn als Seelenhirte dar, wozu alttestamentarische Vorstellungen besser passen. So stirbt seiner Ansicht nach Bischof Hildeward als verus Israelita, was als ein großes Lob gemeint ist (IV,26) Otto I. beweint denn auch nach den Tod von Sohn Liudolf wie David den Absalom (II,12) und eine Verwandte ist mild wie Sarepta und keusch wie Judith (VII,3) Solche Vergleiche fehlen weithin aus dem Neuen Testament, welches eigentlich Christentum begründet.

 

Wir sehen den Autor, wie er dem Schreiber einen Text diktiert, der wohl in der ersten Version vor allem an seinen Nachfolger gerichtet war, um sein Angedenken aufrecht zu erhalten, denn „bei Christus leben alle Seligen durch ihre Tugenden, in dieser Welt aber durch ihre Schriften.“ (VI,64). Sein Hauptanliegen schien aber schon von Anfang an weniger mit irdischer gloria (aber eben auch!) als dem Zugang zum Himmelreich zu tun zu haben, denn der Leser soll nach Lektüre „mit Tränen und Bitten das schreckliche Antlitz meines künftigen Richters versöhnen (examinatoris horridam faciem).“ Hier gibt er als Beispiel für seine Sünden an, er habe die Probstei von Walbeck durch Simonie erlangt, denn er hätte sie sonst nicht bekommen. (VI,43)

 

Einen klar abgesetzten Sündenbegriff entwickelt er aber ganz im Sinne des frühen Mitttelalters nicht, denn das inzwischen an sich christliche peccatum wird oft mit dem sehr weltlichen crimen (Verbrechen), der facinus (II,7), der schweren Untat oder dem delictus (IV,20) vertauscht. Gleich am Anfang schreibt er: crimina multa peregi (I Einleitung), ich habe viele Verbrechen begangen. Der Leser soll ihn darum (nach seinem Tod) „dem gierigen Rachen des Wolfes“ entreißen, der ihn „zerfleischt“ (VIII,12). Er benutzt dabei ein gängiges naives Höllenbild der Zeit.

 

Das Christentum hat sich einer Welt aristokratischen Kriegertums anverwandelt, und deren Wertvorstellungen in „christliche“ hinein idealisiert. Das funktioniert natürlich in der Wirklichkeit nur als inneres Gespaltensein. Otto III. gab sich nach außen stets heiter; aber heimlich seufzte sein Gewissen wegen zahlreicher Vergehen, die er in stiller Nacht mit Wachen, intensiven Gebeten und Tränenströmen abzuwaschen versuchte. Oft fastete er die ganze Woche außer dem Donnerstag, und tat sich mit großen Almosen hervor.(IV,48) Entsprechend schreibt er, dass er selbst nach außen „gut“ erschien, aber sein Inneres beschädigte er mit pessimis cogitationibus (schlimmsten Gedanken) wie ein Schwein. (I,20)

 

Nun ist es die Tugend eines Christen, sich seiner Sündhaftigkeit bewusst zu sein, aber Thietmar stilisiert sie sogar zu eigenen Charakterfehlern hoch. Damit entlässt er sich aus einem christlichen Menschenbild, welches keinen „Charakter“ kennt, sondern eine der Besserung zugängliche Person: Aber ich bin nichtswürdig (miser), sehr jähzornig, und nicht zur Besserung zu bringen, gierig, spöttisch obwohl zu verspotten. Ich verschone niemanden, wie ich sollte. Ich bin ein Schlemmer, und Heuchler, Geizhals und Verleumder und (…) peior sum, quam possit dici (schlimmer, als man ausdrücken kann). Und er leitet die ganze Tirade schon ein mit dem, was sein Leser tun soll, so wie er es getan habe: Habe ich auch in diesem Leben wenig Gutes getan, tamen defunctorum semper memor sum. (so habe ich doch der Toten immer gedacht. IV,75) Der Toten gedenken aber heißt, die himmlischen Mächte für sie um Gnade, Begnadigung anzuflehen.

 

Der von Gott auf Erden eingesetzte oberste Richter ist fraglos der König/Kaiser, und nach seinem Bild ist es dort oben der himmlische dominus in seiner maiestas (Kap.1 Einleitung), also in machtvoller Vollkommenheit. Gott ist sol iustitiae (die Sonne der Gerechtigkeit), ist Richtergott, belohnt und bestraft, ist erster und oberster König (VI Einleitung). Die himmlische Welt ist die irdische in Perfektion.

 

Thietmar gibt eigene Verfehlungen an, und es handelt sich um Verstöße gegen Kirchenrecht oder weltliche Rechtstraditionen. Die auf das nahe Weltenende ausgerichteten ethischen Forderungen des evangelischen Jesu sind durch eine biedere Moral ersetzt, die sich eine bürgerliche Oberschicht in den Städten demnächst anverwandeln wird, indem sie sie auf ihr Wirtschaften und ihre Lebensformen hin zuschneidet. Frühmittelalterlich sieht das so aus: Ein vom Teufel getriebener König kopuliert gegen ihren Widerstand in der Passionszeit mit seiner Frau. Das Kind ist an sich dem Teufel sicher, aber vielleicht kann man das Böse ein wenig mit Taufwasser abwaschen. Auch die legitime Ehe hat eben die Festtage einzuhalten, an denen man sich der Unreinheit zu enthalten hat. (I, 24/25)

 

Der germanischen Oberschicht war der Christengott als Gott des Krieges und des Schlachtenglücks nahegebracht worden, den Leuten darunter wurde mit ihm Angst gemacht und diese dann mit Hoffnung versüßt: Was weltliche Macht auf Erden nicht richtet, führt Gott im Himmel dem Schwert der Gerechtigkeit zu. Andererseits greift er aber schon auf Erden ein: Er errichtet seine weltlichen Machtstrukturen, überreicht den (christlichen) Herren die Erde und greift im Ernstfall schon auch hier ein, besonders in geschichtsträchtigen Situationen. Der Einfall der Ungarn ist der Wille Gottes als Strafe für Sünden. Er schickt sie den Sündern an den Hals. Darauf müssen die Herren Buße tun und Gutes, damit sie diese Teufel in Menschengestalt besiegen können. (I,24)

 

Das do ut des einer heidnischen Antike ist voll ins „Christentum“ integriert. Gott ist gnädig genug, Sünder irgendwann zu seiner Rechten sitzen zu lassen, aber dafür muss man einiges tun, ähnlich wie man nur durch Leistung in die Nähe des königlichen Throns auf Erden gelangt. Und der König und die Kirche sagen, was zu tun ist. Gott genehme Opfer (Exequien) lösen zum Beispiel die Fesseln eines totgeglaubten Gefangenen in der Ferne.

 

Die resurrectio mortuorum, die Auferstehung von den Toten, ist allerdings besonders für den noch recht stark in germanischen Vorstellungen verwurzelten Sachsenbischof ein Thema, welches er nicht mit letzter Konsequenz behandeln kann. Es ist dabei sowohl Verheißung wie Drohung.

 

Einerseits meint er im Sinne gebildeter Kirchenväter, die Körper lebten nicht weiter, denn supersunt animae (die Seelen bleiben) und sind beata aeternitate gaudentes (erfreuen sich einer glückseligen Ewigkeit II,44). Andererseits ist er noch voll in der germanischen Angst vor Wiedergängern befangen, die er nun in den Beweis für eine Auferstehung des Leibes verwandelt: Ein Priester von Walsleben trifft auf dem Friedhof die Verstorbenen der letzten Zeit und redet mit ihnen (I,11). Dasselbe findet auf dem Friedhof der aecclesia mercatorum (Kirche der Kaufleute) in Magdeburg statt (St.Johannes I,12). Entsprechendes erfährt Bischof Balderich von Utrecht von seinem Priester. Ut dies vivis, sic nox est concessa defunctis, so wie der Tag den Lebenden gehört, so die Nacht den Toten. Und: Non oportet plus sapere mortalem, quam, ut sanctus ammonet Paulus, ad sobrietatem (mehr sollte man, wie Paulus ermahnt, davon nicht wissen). Er selbst hat nachts Tote reden und Holz fällen gehört. Für die Bekehrung der heidnischen Slawen, die, wie er meint, an kein Leben nach dem Tode glauben, ist das alles seiner Ansicht nach sehr anschauliches Material (I,14).

 

Wenn das aber so ist, werden sich die Menschen am Jüngsten Tag wieder begegnen: in die ultimo iterum sociari (VI,88), und das verstärkt natürlich die Vorstellung, dass sie das in einer Gestalt tun werden, die sie gegenseitig sich wiedererkennen lässt. In welchem Maße es allerdings nicht nur Verheißung, sondern zugleich bedrohlich ist, vor den strengen und „rächenden“ Richtergott zu treten, kann man aus einem Trostwort Thietmars entnehmen: Der Tag des Gerichts steht noch nicht bevor, wie Paulus sagt, denn zuvor muss erst der Antichrist erscheinen. (VIII,6) Es hat also noch Zeit bis zum Schreckenstermin.

 

Das hindert ihn (und seine Kirche) aber nicht, Heiligen und besonders geachteten Königen den ganz schnellen Durchgang zu Gott zuzuschreiben. Und dann sind nicht nur ihre Überreste wundertätig, sondern sie selbst – von oben herab. Fast beiläufig erklärt Thietmar, Heinrich II. sei durch Eingreifen (intercessio) des heiligen Lambert in Lüttich von einer Kolik befreit worden. (V,28).

 

Die Kirche hatte sich schon lange die Macht des kirchlichen Sündenerlasses angemaßt, der gerne auf der Grundlage eifrigen Spendens an sie erteilt und insbesondere natürlich den Ihren zuteil wird.

So erteilen die Bischöfe einem sterbenden Bischof Walthard von Magdeburg die indulgentia (VI,71), das höchste Gnadenmittel, welches sie in ihrer Verfügung haben. Aber der hatte schon zu Lebzeiten vorgesorgt: Die Schwachheit unseres Fleisches sühnte er durch viele bittere Tränen und unsäglich reiche Almosen (elemosinarum largitate VI,75). Nicht erwähnt wird, dass er die von den Abgaben der Gemeinde und dem Kirchengut finanziert. Mit „Schwäche“ (fragilitas) ist nicht nur die Sterblichkeit, sondern auch die damit verbundene Sündhaftigkeit gemeint. Dass er viel haben muss, um viel geben zu können, ist selbstverständlich. Die Masse der Bevölkerung seiner Diözese kommt in Thietmars Text ohnehin kaum vor, scheint nicht erwähnenswert – im Unterschied zu Bernward von Hildesheims Schalten und Walten.

 

Mit Büßen und Almosen ist Thietmars Kollege also schon zu Lebzeiten fast in den Stand der Heiligkeit eingetreten. So erscheint er ihm denn auch leibhaftig in früher Morgenstunde und erklärt ihm, er habe seine Strafe schon verbüßt (also in kürzester Frist). Später erfährt Thietmar, Walthard sei an Allerheiligen vor Gott erschienen. (VI,79).

 

Man muss also etwas leisten auf Erden für eine beschleunigte Himmelfahrt. Bernward von Hildesheim baut die Kathedrale aus und stiftet St. Michael. Damit hat er nicht nur vor den Menschen durch - für damalige Verhältnisse - Monumentalbauten Eindruck gemacht, sondern nach eigener Ansicht seinen Weg zu Gott beschleunigt. Das ist dem nicht so wohlhabenden und wohl auch wenig kunstsinnigen Thietmar allerdings nicht gegeben.

 

Aber die absolutio (Erlösung) am dies iudicii (Tag des Gerichts, II,45) wird, wie schon erwähnt, auch ohne Bauten und allzu viele Almosen durch das Totengedenken (memoriae indiget salutari II,18) erreicht. Dafür stiften die mächtigeren Herren Kirchen und Klöster. Dessen bedarf der Bischof an sich nicht, hat er doch schon seine Kathedrale. Die Schrift lehrt, meint er, das Gebet für die Toten und die Wirksamkeit der Almosen für ihre absolutio (I,21). Das ist zwar eine gewagte Interpretation einer Textstelle des Alten Testamentes und hat mit dem evangelischen und paulinischen Jesus nichts zu tun, aber das macht nichts, wenn man nur dran glaubt.

 

Beispiele edler Damen für das Erlösungswerk an ihren Gatten gibt es denn auch zur Genüge: Judith versucht durch Almosen die Sünden ihres verstorbenen Mannes und Bayernherzogs zu sühnen (emendare II,40). Kaiserin Adelheid tut als Witwe alles, um die Seele ihres Gemahls Kaiser Ottos I. zu befreien (liberatio animae II,44) Nun hat Thietmar kein angetrautes Weib, welches ihn überlebt, aber dafür seinen Nachfolger im hohen Kirchenamt, dem er seinen Text vor allem hinterlässt.

 

Römische Verkirchlichung und darauf folgende Germanisierung des Christentums lassen eben vom evangelischen Jesus nur wenig übrig. Immerhin hatte der Almosen im Sinne seiner Forderung nach Besitzlosigkeit geboten, allerdings nicht so sehr als Eintrittspreis für das Himmelreich. Zudem war er mit der Macht eines Gottes wundertätig. Inzwischen sind aber längst auch die Heiligen im Himmel wundertätig auf Erden und entlasten damit den Heiland, der irgendwie inaktiv geworden ist. Ein Mönch mit Kopfschmerzen sitzt auf der cloaca, und da kommen Dämonen aus dem Lokus heraus und bedrohen ihn, was schon einmal bei gewissen Verdauungsbeschwerden geschehen kann. Aber vor denen schützt ihn dann prompt der heilige Veit (IV,72). Eine fromme Äbtissin vermehrt durch ein Wunder den ausgetrunkenen Wein für Gäste und wiederholt so das Weinwunder von Kana. (IV,33) Die dazu gehörige heilige Kanne Jesu ist inzwischen vielerorts in den Kirchenschätzen zu bewundern.

 

Dazu kommen heilige Objekte mit Zauberkraft: Eine Frau wird von einem üblen Gespenst (monstrum) bedroht, welches problemlos mit Heiligenreliquien und Weihwasser von einem Priester vertrieben wird. (VII,68) Ähnliche Wunderdinge vollbringt die Kirche mancherorts bis heute - aber zurück zu damals: Der Bischof von Kolberg missioniert heidnische Slawen: Er zerstörte und verbrannte heidnische Heiligtümer; er reinigte das von Dämonen bewohnte Meer, indem er vier mit heiligem Öl gesalbte Steine hineinwarf und Weihwasser aussprengte. (VII,72)

 

Wer solches glaubt, dem kündigen auch Kometen Seuchen und andere Plagen an (IV,10 und anderswo), waltet doch am Himmel eine göttliche Ordnung. Aber man muss sich bei solcher Deutung göttlicher „Zeichen“ deutlich von den Heiden abgrenzen, die ähnliches treiben: Die signa des Himmels kommen nämlich nicht vom Besprechen durch Hexen oder ähnlichem; es liegt vielmehr am Mond, wie Macrobius und andere Gelehrte bezeugen. (IV, 15)

 

Nun gibt es für Thietmar (und seine Untertanen) aber nicht nur heiligen Zauber, sondern auch böse Magie, und wenn ihm einmal der Kragen platzt über jemanden, dann kann auch er (sogar) eine Gräfin verwünschen: Mögen alle Verwünschungen (maledicio), die der selige Hiob gegen sich aussprach, dieses Weib treffen; sie hat es verdient. So viel Leid (tantum mali) soll sie auf dieser Welt erfahren, dass sie wenigstens in der Zukunft auf Vergebung hoffen darf. (VII,49 ) Nun hatte Hiob sich über sich selbst beklagt und niemand „verwünscht“. Das wiederum war eigentlich Sache der oben erwähnten Hexen, aber vielleicht doch genauso wirksam wie bei ihnen.

 

Man sieht, die Ausbildung an heidnisch-antiken Klassikern hat hier wenig gefruchtet bei der Herstellung gedanklicher Klarheit. Das ist sicher bei Leo von Vercelli oder Gerbert von Aurillac anders, und auch der Bischof von Halberstadt überragend laut Thietmar in scientia, sowohl spiritualia vel etiam carnalia (den geistlichen und auch weltlichen Wissenschaften) die meisten (I,6). Aber generell kann man von einer durch und durch magischen Weltsicht ausgehen, in der Naturgesetzlichkeiten und übersinnliche Phänomene ineinander verschränkt sind, ohne sich zu widersprechen. Das ist sicherlich bei den vielen, die nicht durch eine Kloster- oder Domschule gegangen sind, noch viel stärker so.

 

So etwas wird man bei den ersten Anfängen des Kapitalismus beachten müssen, denn er entsteht auch aus solchen Wurzeln. Anders gesagt, das zweckrationale Denken bei der wundersamen Kapitalvermehrung wird zum Beispiel die Kosten, die mit der Investition einher gehen, so unterschlagen, als gäbe es sie gar nicht. Alltag und Kirche werden immer deutlicher getrennt. Die Trennung in das rationale Machtdenken des aristokratischen Bischofs und seinen magischen Glauben wird so etwas vorwegnehmen.

 

Nirgendwo ist dieser Wunderglaube aber stärker als in dem Glauben an die magische Kraft der heiligen Reliquien, und er scheint durch alle Schichten zu gehen. Otto I. lässt multa sanctorum corpora (viele Körper von Heiligen) von Italien nach Magdeburg bringen, damit dies Bollwerk nach Osten kraftvoll wird (II,16). Ein Krieger zieht mit mächtigen Reliquien in den Kampf und ist „unbesiegbar“ dadurch, denn die Reliquien sind unbesiegbar (I, 23). Und kaum ist der inzwischen heilige Adalbert gestorben, schon wirkt er Wunder (mirabilia IV,44)

 

Die weltliche potestas, Macht, ist von Gott eingesetzt (ab eo constitutis) (VI,38, genauso VI,48). Das funktioniert deshalb, weil der Himmel zwar ein Reich des Friedens ist, aber der Herr dort oben für da unten wie ein Gott des Kriegeradels wirkt. Otto I. erscheint ein Engel evaginato gladio (mit gezücktem Schwert), um ihm etwas aufzutragen (II,24). Engel haben nicht nur Flügel, sondern tragen, insbesondere die Erzengel (besonders Georg und Michael), bei Bedarf auch Waffen und werden auch so dargestellt. Es sind himmlische Ritter. Auch einige Heilige lassen sich derart verwenden: Der hl. Mauritius ist ein unbesiegbarer (invictissimus) dux (Kriegsführer II,30) Als Christi miles soll er im Krieg gegen Boleslaw helfen (VII,16)

 

Der Bischof einer Herrenschicht von Kriegern behauptet sogar, Heinrich biete alle seine ihm und Christus getreuen Vasallen auf. (VI,9) Irdische und himmlische Gefolgschaft gleichen sich aufs Haar. Der Krieg erweist sich denn auch als ein Aspekt des bischöflichen Amtes. Deshalb kann ein Ansfried als Knabe von seinem gräflichen Oheim an Erzbischof Brun von Köln zur Ausbildung als Krieger (ad res militares) übergeben werden (IV,31), oder besser gesagt, Thietmar kann das so schreiben. Brun wird vielleicht einen Experten für das Kriegshandwerk abstellen. Eigentlich darf der Klerus und insbesondere ein Bischof keine Waffen tragen, aber wenn er seinem militärischen Kontingent voran reitet, ist es besser, er hält sich nicht daran. Ein Bischof steht so in der Erzählung Thietmars im Kampf gegen die Ungarn. Er verliert ein Ohr, wird an weiteren Körperteilen verletzt und bleibt unter den Getöteten wie tot liegen. Dann aber kann er doch nach schwerem Kampf seinen Gegner töten (necare). Da erfüllte seine Herde und alle Christen Freude. Excipitur ab omnibus miles bonus in clero. Der ganze Klerus sieht in ihm einen guten Krieger (II,27)

 

Über zwei Bischöfe zumindest schreibt Thietmar aber auch etwas anderes: Sein Zeitgenosse Bischof Eid versucht ein Leben in der imitatio der vita apostolica zu führen, was etwas Besonderes zu sein scheint (VII,25), und Bischof Wolfgang von Regensburg sogar sequitur dominum Christum (folgt dem Herrn Christus, V Einleitung). Nun bekennt Thietmar von vorneherein, nicht nach der Nachfolge Jesu gestrebt zu haben. Aber mit solchen Äußerungen wie zuvor wird doch deutlich, dass ihm in einem Winkel seines Bewusstseins klar ist, dass Christentum eigentlich etwas anderes wäre, als was er so treibt. Und das belegt er dann auch mit Geschichten von einem Leben frommer Frauen oder gar geradezu schon zu Lebzeiten heiliger Eremiten.

 

Aber die Welt Thietmars ist nicht von diesen Leuten geprägt, sondern von Kriegen, Fehden und Meuchelmord. Für ihn (und wohl nicht nur für ihn) scheint das Normalität zu sein, und darum spielt in seiner Chronik auch nicht sich aus der Welt absetzende Heiligkeit, sondern aristokratisches Kriegertum die Hauptrolle und wird von ihm unumwunden gefeiert, wie man schon sehen konnte. Germanisches Kämpferethos scheint überall durch, nur mühsam gebändigt durch eine hierarchische Ordnung persönlicher Beziehungen. Kritiklos wird es vom Bischof bei seinen Verbündeten und Oberen bewundert.

 

König Heinrich I. kann alle Feinde callide viriliterque superare (mit Klugheit bzw. List und mannhaft, also tapfer besiegen. I,9). Er glänzt mit herrlichen Taten. (II. Einleitung). Von einem christianisierten bzw. zivilisierten Kriegerideal, wie es sich im 11./12. Jahrhundert entfalten wird, kann noch nicht die Rede sein. Otto I. zieht gegen Regensburg, eadem regione depopulata atque combusta rediit. Der von Thietmar gefeierte König entvölkert also die ganze Gegend mit ihren Christen und brennt sie nieder. (I,6) Der von ihm vorgezogene Königskandidat Ekkehard von Meißen optimus erat miles, war also ein unübertrefflicher Krieger (V,5), was ein hohes bischöfliches Lob darstellt. Dieser Ekkihardus ist im folgenden Abschnitt, vir domi miliciaeque laudabilis, ein in Frieden und Krieg ruhmreicher Mann, wie Trillmich übersetzt. Nur deshalb ist es eher schmählich als unchristlich, wenn es nach seiner Ermordung heißt: Man schnitt seinen Kopf ab und plünderte die Leiche aus. (V,6).

 

Überhaupt fehlt weitgehend jede Kritik an der landläufigen Grausamkeit der Krieger. Der böse Feind wird geblendet (IV,21 / IV,67), Papst Johannes verliert Zunge, Augen und Nase. Crescentius wird enthauptet und an den Beinen aufgehängt. (IV,30), und das sind zwar auch Christen, aber eben aufsässig gegenüber dem von Gott eingesetzten Kaiser. Der Bischof scheint von lakonischer Mitleidslosigkeit. Da wird jemand beim Raub am Kirchenschatz erwischt. Die gerechte Strafe ist, dass er mit gebrochenen Gliedern ans Rad gebunden wird (IV,67). Man kann geradezu die Genugtuung des Kirchenfürsten heraushören. Es genügt nicht, ihn zu töten, er muss vorher hinreichend gequält werden. Man muss damals schon ein heiliger Eremit wie der Nilus von Rossano sein, um solche Greuel zu beklagen.

 

Brutale Gewalt liegt überall (im Text und wohl auch in der Wirklichkeit) in der Luft, und was Beruf und Berufung des Kriegeradels ist, lastet als steter latenter Schrecken auf den gemeinen Leuten, die nur zwischen den Zeilen überhaupt vorkommen: Breisach ist von den Bischöfen von Straßburg und Basel besetzt, und täglich ritten ihre Krieger (milites) aus, um Pferdefutter zu beschaffen. (V,21) Es braucht wenig Phantasie, sich vorzustellen, wie das vonstatten geht. Überhaupt sind Burgen und befestigte Ortschaften schwer einzunehmen, also verheert, plündert, entvölkert und brandschatzt man das Land, wie Thietmar selbst die Taten seiner edlen Recken beschreibt. König Heinrich II. tut das mit dem Schwaben des Herzogs Hermann, der sich ihm nicht unterwerfen will, und dessen Mannen plündern wiederum den Straßburger Dom, rauben den Schatz (thesaurus) und stecken die Kirche an. (V,12) Doch weil es sich um einen edlen Herzog und eine heilige Kirche handelt, fügt unser Merseburger Bischof hinzu, dieser habe von der Schandtat nichts gewusst.

 

Die bösen Pavesen wiederum haben Heinrich II. bei seinem imperialen Italienzug aus ihrer Stadt geworfen, und der lässt sie zurückerobern. Ritter Wolfram rächte ihn (Giselbert), indem er ohne Schaden zu nehmen mitten in den feindlichen Haufen eindrang und einen von ihnen durch den Helm hindurch bis zur Kehle spaltete. (VI,8) Thietmars Gott sagt zwar, sein sei die Rache, aber der bischöfliche Gott wünscht sie sich auch von seinen Streitern. Hier wird der edle Wettstreit übrigens ausnahmsweise einmal anschaulich (bis zur Kehle gespalten), aber nachdem der fromme König die Truppen plündern lässt, was Kriegsrecht ist, zeigt er „Erbarmen“ (misericordia), indem er befiehlt, diejenigen Überlebenden, die sich ihm unterwerfen, nicht auch noch zu töten.

 

Der Krieg gehört nicht nur zum Christentum, sondern das Christentum ist längst vornehmlich Krieg. Da siegen Christen über Sarazenen 1016 bei La Spezia: … Gott machte den Sieg so vollständig, dass (…) die Sieger die Menge der Erschlagenen und der erbeuteten Waffen nicht zu zählen vermochten. Dabei wurde auch ihre Königin gefangen und wegen der Freveltaten ihres Gemahls enthauptet. Ihren goldenen, ringsum mit Edelsteinen verzierten Kopfschmuck nahm der Papst vor allen anderen an sich und sandte ihn später dem Kaiser als seinen Anteil, den man auf tausend Pfunde schätzte. Nach Verteilung der Beute kehrte das siegreiche Heer froh in die Heimat zurück und sang Loblieder zu Ehren des Siegers Christus (Christus triumphans VII,45)

 

Was bedeutete Adel bei diesen Kriegern? Der Begriff ist noch nicht klar definiert. Da ist einmal jene Freiheit, die sie zu Herren über die unfreie, da vielfältig von ihnen abhängige produktive Bevölkerung macht. Zudem sind die Noblen im Unterschied zu den noch verbliebenen wenigen freien Bauern „edel“, was sich durch ihren Besitz, ihr kriegerisches Dasein und überhaupt ihre Lebensform darstellt, Otto II. beispielsweise lebt nobiliter (III,1). Dazu gehören die entsprechenden mores, denn nobilitas wird durch moribus geschmückt (II,4)

 

Der Kriegeradel, zu dem auch Thietmar gehört, hat dabei virtus, was eigentlich Mannhaftigkeit heißt, aber hauptsächlich zur Tapferkeit geworden ist (V, Einleitung), während es bei den Damen zuallererst seit der christlichen Antike die Jungfräulichkeit meinte, aber längst auch die keusche Ehefrau, wobei Keuschheit nun (dies sehr antik römisch) die Treue und Unterwerfung unter die männliche Dominanz samt der unter die kirchlichen Sexualregeln meint.

 

Man ist aber dabei nur illustris, was ausgesprochen edel meint (II,19), wenn man eine ausgesprochen gute Ahnentafel hat. Der schon erwähnte Erzbischof Walthard von Magdeburg, den der König im ersten Anlauf, obwohl von den Domherren gewählt, am Bischofsamt gehindert hatte, wird von Thietmar so gelobt: Er stammte von edelsten Ahnen, machte seinem ererbten Adel nie Unehre... (VI,75) Da kommt dann der Ruhm des „Hauses“, des Stammbaums dazu. Die kaiserliche Schwester Mathilde hat innata sibi a parentibus summis gloria, ist also in die Glorie ihrer allerhöchsten Verwandtschaft hineingeboren.(IV,60)

 

Dass solche Herrenmenschen auch schon mal, wie einige sächsische, Christen an Heiden verkaufen, was Heinrich II. auf einer Synode verbieten lässt (VI,28), oder, wie von Markgraf Gunzelin verlautet, er Abhängige in den familiae an Juden verkauft haben soll, die sie dann vermutlich an Heiden weiterverkauften (VI,54), ist wohl unerfreulich, gehört verboten, nimmt ihnen aber offenbar wenig von ihrem (christlichen) Adel.

 

Die Bischöfe und der Domklerus sind ganz selbstverständlich in aller Regel Teil dieser nobilitas. Sie wurden von ihren Eltern als Kinder in klösterliche und nun immer häufiger kirchliche Schulen geschickt, um in der Kirche Karriere zu machen und Macht und Einfluss ihrer Familie dort zu stärken. Sie bleiben eng mit dem Kriegeradel verbunden, und so kann Thietmar über Erzbischof Tagino lobend schreiben: Er liebte Männer von edler Herkunft und Lebensart (nobiles), ignobiles verachtete er nicht, hatte sie aber nicht in seiner Nähe. (VI,65).

 

Die Könige und Kaiser setzen sich darüber nur hinweg, wenn es ihrer Machtentfaltung einmal zuträglich ist. Thietmar erwähnt eine solche Ausnahme: Otto II. macht Kanzler Willigis zum Mainzer Erzbischof, obwohl viele wegen seiner niedrigen Herkunft dagegen waren. Seine Mutter war eine paupercula, aber wenigstens bona, und Gott macht ihr Kind wenigstens später den Edlen gleich. (III,5).

 

Bei solchen Vorstellungen ist es vielleicht nicht völlig verwunderlich, dass das geistliche Amt eines Bischofs in Thietmars Text kaum vorkommt. So heißt es vom schon erwähnten „hochwürdigen“ Bischof Wolfgang von Regensburg, er sei ein pius pastor, ein frommer Hirte (V,42), aber das war es auch schon. Eine Ausnahme gibt es ihm ganzen Text: Ein Erzbischof reist durch seine Diözese Merseburg, suos docendo et confirmando (unterweisend und firmend, übersetzt Trillmich). Nachts kontrollierte er die „Brüder“, ob sie weiterschliefen oder zur Matutin gingen. (III,11)

 

Breiten Raum nehmen stattdessen die kirchlichen Machtfragen ein. Ganz oben in der Hierarchie steht da das Verhältnis Kaiser-Papst im Raum, wobei Thietmar bereits ins Zweifeln gerät. So setzt Otto I. den in/iuste angeklagten Papst Benedikt ab, der doch direkt unter Christus steht und über den nur Gott richten darf (II,28) Andererseits maßt sich der stadtrömische Große Crescentius kaiserliche Rechte an, als er den Johannes zum Papst macht. (IV,30) Darf der Kaiser also, wie er das auch tut, Päpste einsetzen, aber nicht absetzen?

 

Eine Etage drunter greifen sächsische Könige und Kaiser massiv in kirchliche Strukturen ein und verändern sie eigenmächtig. Otto III. richtet zum Beispiel ein Erzbistum in Gnesen ein, ohne die Zustimmung davon Betroffener einzuholen. Thietmar schreibt: ut spero legitime (IV,45), er hofft, dass das legitim sei, was impliziert, dass es völlig illegitim ist, was man seinem Kaiser aber nicht offen aufs Tablett legt.

 

Die Sachsenkönige schaffen sich eine stärkere Machtbasis unter den Reichsbischöfen und setzen ihre Kandidaten für die wichtigeren Bistümer gegen das Wahlrecht des örtlichen Klerus durch. Thietmars Haltung ist zwiespältig wie in so manchen anderen Fragen. So erwähnt er für die Zeit König Heinrichs I., dass aufgrund von dessen Schwäche Herzog Arnulf von Baiern alle Bistümer selbst vergeben kann. Aber das Recht stehe eigentlich nur Königen und Kaisern zu, denn sie stehen zu Recht über den pastoribus, da Christus sie eingesetzt hat. (I,26)

 

Andererseits ist Kritik an königlicher Handlungsweise implizit in der Erwähnung derselben enthalten, wenn es dabei zum Konflikt kommt. So sendet Heinrich II. seinen Kaplan Wigbert nach Magdeburg voraus, um den einstimmigen Willen der Brüder zu erreichen. (für die Wahl Taginos) Der Propst Walthart aber versucht das altgebräuchliche Wahlrecht der Domherren durchzusetzen, und sie wählen darauf ihn. Doch Heinrich setzt mit Druck seinen Kandidaten durch und in cathedram expiscopalem ipse constituit. (setzt ihn selbst auf den bischöflichen Thron. V,40/41) Noch deutlicher in der Ausdrucksweise ist folgende Passage: Auf Geheiß des Königs (iussu regis) inthronisiert (inthronizavit) Bischof Arnulf den Erzbischof Walthard nach dem Tod seines Vorgängers. Er war der einst von ihm abgelehnte Kandidat des Klerus gewesen, deshalb muss jetzt die königliche Rolle sehr deutlich hervorgehoben werden. (VI,68)

 

Nur einmal wird Thietmar in seiner Kritik an königlicher Willkür sehr deutlich. Als nämlich der Erzbischof von Trier starb, wählte man gemeinsam seinen Kaplan Adalbero, den Bruder der Königin und immaturus iuvenis, mehr aus Furcht vor dem König als aus Liebe zur Religion (quam amore religionis).“ (VI,35) Über die Trierer Querelen um den Bischofsstuhl wird es zum Krieg kommen.

 

Wiewohl sich Thietmar einmal selbst der Simonie, also des Ämterkaufes bzw. der Bestechung bezichtigt, oder vielleicht auch deswegen, beschuldigt er damit bei Gelegenheit solche, die nicht seine volle Sympathie genießen. Bischof Ohtrich besticht mit pecunia alle Großen und insbesondere die Römer, denen immer alles käuflich (venalia) ist, um Bischof zu werden.(III,13) Der Metzer Bischof wird mit 1000 Pfund Gold und Silber bestochen (III,16), und der Erzbischof von Magdeburg verhindert seinen Abgang aus Magdeburg durch große Geldzahlungen (magna pecunia) an Mittelsleute. (IV,46)

 

Geld spielt um die erste Jahrtausendwende bereits eine große Rolle. Es befindet sich als gemünztes und ungemünztes Gold und Silber im wesentlichen in den Händen weltlicher und geistlicher Großer und im Klosterschatz. Es ist Teil von Kriegsbeute und erstrebenswerter Besitz, es wandert in Form von Geschenken von Hand zu Hand und es finanziert vorwiegend Luxus. Wie gerade erwähnt, kann man sich davon auch Ämter erkaufen. Die Kirche steckt damit allerdings inmitten jener Gier nach Besitz und Macht, die der evangelische Jesus und der paulinische Christus als Ablenkung vom Weg zu Gott benannt hatten.

 

Das dritte Begehren, welches von der Nachfolge Jesu abhält, gewinnt im Text Thietmars kaum Raum. Vielleicht sind seine oben erwähnten ebenso geheimen wie schlimmen Gedanken damit befasst. Dass der Geschlechtstrieb gerade für den Klerus eigentlich ein gewichtiges Thema wäre, kommt nur an einer Stelle durch, als er erwähnt, dass der Erzbischof Friedrich von Mainz ein vir abstemius, also enthaltsam sei. (II,35) Das sagt er wohl einmal, weil dieser fromme Mann im Konflikt mit dem König gestanden hatte, wie um ihn zu verteidigen. Andererseits ist aber bezeichnend, dass man das bei einem Bischof überhaupt erwähnenswert findet.

 

Ansonsten taucht Sexualität nur noch dreimal auf, wenn man von den Passagen über die Schlechtigkeit der „Moderne“ einmal absieht, auf die weiter unten kurz eingegangen wird. In allen drei Fällen, und das ist bemerkenswert, sind sexuelles Begehren und Besitzgier ganz eng miteinander verschränkt: Heinrich I. iuvenili exarsit amore, entbrennt also in jugendlicher Liebe zu Hatheburg, und zwar ob huius pulchritudinem et hereditatis divitiarumque utilitatem, wegen ihrer Schönheit und der Brauchbarkeit ihres reichlichen Erbes, und das, obwohl sie als Witwe den Schleier genommen hat (scriret velatam 1,5), also eigentlich für ihn unantastbar sein müsste. Später brennt er heimlich und lichterloh wegen der Schönheit und des Besitzes jener Jungfrau, mit Namen Mathilde (ob pulchritudinem et rem cuiusdam virginis, nomine Mathildis, secreto flagravit1,9)

 

Als nächster dann gewinnt Otto I. vermittels Geschenken (donis) Ethelheidam (Adelheid)und gewinnt mir ihr dann auch noch Pavia (II,5). Offizielle adelige Verbindungen sind solche von Besitzungen und Machtstrukturen. Wenn eine solche durch Verliebtheit und sexuelles Begehren gestiftet wird, ist das nicht nur die Ausnahme, sondern sicher damals bedenklich. Beruhigend ist dann die Erwähnung des Reichtums der Begehrten, weil sie als stabilisierendes, einer Ordnung verpflichtetes Element anzusehen ist. Und im Fall des großen Otto und seiner Adelheid werden Feuer und Flamme gar nicht erwähnt, sondern es wird darauf verwiesen, dass er mit ihrer Hand das italienische Königreich der Langobarden gewinnt.

Die parallele Stelle bei Widukind, auf die Thietmar sich bezieht, ist noch etwas deutlicher, denn hier versuchte er mit Geschenken aus Gold die Liebe der Königin zu ihm als vorteilhaft erscheinen zu lassen, wie Rotter/Schneidmüller so schön übersetzen: amorem reginae super se probare temptavit. (III,9)

 

Weltliche Große, Könige insbesondere, befriedigen ihren Geschlechtstrieb oft auch mit Geliebten oder flüchtigen Begegnungen, was so selbstverständlich ist, dass es bei Thietmar keine Erwähnung findet. Überhaupt ist das ein heikles Thema für einen Kleriker, nicht zuletzt auch, weil ein Teil des Klerus illegitim verheiratet ist oder Konkubinen bzw. Geliebte hat. Umso ungenierter kann er von jenem Begehren schreiben, welches mit ganz materiellem Besitz zu tun hat.

 

Für ihn und andere scheint der Erwerb von Grundherrschaften, ganz weltlichen Rechten und Besitztümer eine hohe Aufgabe von Bischöfen zu sein (und nicht nur des weltlichen Adels). Da es mit anderem etwas hapert, konzentriert sich Thietmar auf das, was im weitesten Sinne sein bzw. der Kirche Schatz ist. So heißt es über Heinrich II: Er schenkte uns ein mit Gold und einer Elfenbeintafel geschmücktes Evangelium, einen edelsteinverzierten goldenen Kelch mit einer Patene und einem Röhrchen, 2 Kreuze, silberne Lampen und einen großen Kelch aus gleichem Material mit Patene und Röhrchen. (VI,102)

 

Dann schon gegen Ende seines langen Textes ermahnt er seinen diesen lesenden Nachfolger in der Übersetzung von Trillmich: Mit milder Hand hat der Kaiser unserer Kirche folgendes geschenkt: ein Stück vom siegreichen hl.Kreuz samt anderen Heiligenreliquien; einen goldenen, prächtig mit Edelsteinen verzierten Altar; eine mit kostbaren Steinen geschmückte Goldbüchse; ein sowohl auf seine wie unsere Kosten verziertes Vermögensverzeichnis samt zwei Weihrauchbehältern und einen Silberbecher. Das müssen wir nicht nur bewahren, sondern auch mehren. (VIII,14) Zwischen den Zeilen schwebt die Tatsache, dass Bischof Thietmar sich deutlich mehr vom König erwartet hatte.

 

Besitz wird nicht kapitalisiert, er ist noch Selbstzweck und schieres Mittel zu altmodischer Machtausübung. Die Geschenkelisten oben deuten auf noch etwas: Pracht, Prunk und Protz sind nötig, um den Status zu zeigen und zu symbolisieren. Otto I. lässt Marmor, Gold und Edelsteine (gemmisque) aus Italien nach Magdeburg schaffen (II,17). Königlich heißt prunkvoll, wer unterstellt sich schon einem Machthaber, der seine Macht nicht auch so darbieten kann. Hochaltäre wie der des Doms von Magdeburg sind golden, mit Edelsteinen und Bernstein geschmückt oder sonstigen Kostbarkeiten, ein Schatz für sich neben dem eigentlichen Domschatz (thesaurus, IV,65) Und inmitten all dieser Schätze in der Kirche tritt der Bischof in besonders hervorragendem, reichem Bischofsornat auf, wie es Erzbischof Tagino zum Beispiel beschaffte (VI,65).

 

Von Bischof Bernward von Hildesheim haben wir schon gehört, dass er sich mit zwei monumentalen Kirchen quasi hoch in den Himmel baut. Bischöfe versuchen, wo sie nur konnten, durch große Neubauten oder Umbauten ihre Bedeutung zu vergrößern, die Kirche von Verden zeichnet sich darum durch magnitudo und qualitas aus (II,32 Größe und Pracht) und die neue Domkirche von Bamberg ist so prachtvoll, wie es dem König gebührt (ut summo decuit regi, in ominibus hanc ornatam vidi. VI,60) Bevor die also eine Bischofskirche oder ein Haus Gottes ist, ist sie ein Kaiserdom.

 

Soviel Prunk und Protz ist nicht nur unmittelbarer Bewunderung anheimgegeben, sondern dient auch der Inszenierung weltlicher und geistlicher Macht in bewegten Bildern. Otto I. lässt sich an Festtagen dreimal in prächtiger Prozession von Bischöfen und anderen Priestern mit Kreuzen, Heiligenreliquien und Rauchfässern zur Kirche geleiten (II,30) Man trägt auch draußen herum, was drinnen an Schätzen versammelt und so sonst den Augen der gemeinen Menge zum Teil entzogen ist. Bei eigentlich kirchlichen Festivitäten, die Reichtum zur Schau stellen, vermischt sich Religiöses und säkulares Spektakel in aller Öffentlichkeit und oft auch zum Vergnügen des gemeinen Volkes. Die Weihe des Halberstadter Domes findet „zur Freude aller“ in divinis laudibus et in negotiis secularibus statt, also mit dem Lob Gottes und sehr weltlichen Vergnügungen (IV,18). Die Könige feiern mit großem Gefolge und Spektakel all diese vielen Kirchenfeste. Ein solches Fest der Passionszeit in Ingelheim magis honorifice ac potestative numquam fuit. (VII,54 es machte mit seiner Pracht alle Ehren und gab mit seinem Glanz die königliche Macht wieder). Bei der Aufnahme von Thietmar in St.Mauritius, ins Domstift, gibt es wenigstens ein zweitägiges Festmahl, welches immerhin acceptabile ist (IV,16), also wohl allen gefallen hat.

 

Klöster sind zwar ein wichtiger Teil der Welt der Herren des frühen Mittelalters, aber sie kommen bei Thietmar auch fast nur im Zusammenhang von Verwicklungen der Macht und der Mächtigen vor. Entsprechend steht der sächsische Bischof den Reformbewegungen der Zeit verständnislos und ablehnend gegenüber. So berichtet er dann zum Beispiel, dass die meisten Mönche weinend ihr Kloster verlassen, weil ein Reformabt von außen eingesetzt wird, (VII,13) und bringt ihnen wohl Verständnis entgegen. Über Bischof Gebhard von Regensburg klagen die Mönche von St.Emmeran: Beste alte Gewohnheiten (culta) hebt er auf, um Neues ist er sehr bemüht. Er verlässt die patria (Trillmich übersetzt: Heimat) mit den ihm Anvertrauten, und Fremdes, mag es auch noch so fern sein, pflegt er mit überflüssigem Aufwand (VI,41).

 

Zum Lebensumfeld gehören auch Verortung und ethnisches Selbstverständnis. Während Vorgänger Widukind von Corvey noch ganz Sachse ist, öffnet sich bei Thietmar ganz zaghaft ein deutscher Horizont, der Westfranken, Italiener, Ungarn, Slawen und Skandinavier ausgrenzt. Es fehlt aber noch eine entsprechende Begrifflichkeit. Wenn bei ihm die Ungarn („Awaren“) die Waffen „gegen uns“ (adversum nos) erheben (II,9), bleibt schon mal in der Schwebe, ob damit nur die Sachsen oder schon die werdenden Deutschen gemeint sind. Aber dies „uns“ bezieht sich doch oft noch auf Sachsen. Einmal taucht aber schon das Wort 'deutsch' auf, bezeichnenderweise, als der „italienische“ Arduin contra Theutonicos kämpft (V,26).

 

Ein Begriff im Übergang ist die lateinische patria. Wenn Kaiser Otto I. zur defensio communis patriae in Magdeburg ein Erzbistum gründet (II,20), dann könnte mit dem Vaterland auch nur Sachsen gemeint sein mit seinen Konflikten mit den Elbslawen, ebenso wenn er Magdeburg unterstützt zum salus patriae communis, dem Heil des gemeinsamen Vaterlandes (II,3). Das ist aber nicht mehr so eindeutig, wenn er sagt, dass die Vorfahren ihren Herren immer treu gewesen seien und wacker gegen fremde Völker (extraneas nationes) und nicht gegeneinander gekämpft hätten (VI,48), denn das muss sich nicht mehr nur auf die Sachsen beziehen, sondern kann für alle deutschen „Stämme“ gelten, die natürlich auch als nationes und regna bezeichnet werden.

 

Extraneus heißt außerhalb befindlich oder fremd, fremdländisch. Und damit gemeint sind eben die außerhalb des deutschen Sprachraumes existierenden Völker. Die Griechen zum Beispiel „fallen solita callidate“, mit gewohnter Hinterhältigkeit über Gesandte Ottos I. her (II.15). Sie sind eben anders als „wir“, genau wie die Römer, die „falsch“ sind (IV,48). Überhaupt: Im Römer- und Langobardenland herrscht „viel Hinterlist“ (insidia VII,2).

 

Die Abgrenzung von den Italienern ist natürlich eine Antwort auf die imperialen Phantasien sächsischer Kaiser, die einerseits beeindrucken, denen aber viele dennoch wenig abgewinnen können. Die von den Griechen ist vielleicht eine Reaktion auf die Annäherungsversuche der Westkaiser an die des Ostens.

 

Die Abgrenzung von Skandinaviern und Slaven als kriegerische Nachbarn der kriegerischen Sachsen macht dieses gleich wieder zur wesentlichen patria. Seine eigene Verwandtschaft geriet durch wikingische Piraten zwecks Lösegelderpressung in Gefangenschaft und er selbst in eine bedrohliche Lage. Heinrich zwingt ihnen zurecht Tribut (censum) auf. Zudem werden Dänen et Northmannos dazu gebracht Christi iugum portare, Christi Joch zu tragen. Aber wer seiner Kenntnis nach alle neun Jahre Menschen- und Tieropfer darbringt, hat es nicht anders verdient (I,16).

 

Schwieriger ist es mit den Slawen, ebenfalls Heiden und ein Teil der Bevölkerung seiner Diözese. Da ist die nie ausgesprochene Ähnlichkeit der Bedrohung slawischer Kultur durch die Sachsen mit der Zerstörung der sächsischen durch die Franken, die gerade einmal zweihundert Jahre her ist.

 

Dass Liutizen ihre Götter mit Opfern gnädig stimmen (IV,13), klingt recht vertraut. Und wenn er schreibt, dass die Slawen alles mit suorum auxilio deorum verheerten, (III,19) also mit der Hilfe ihrer Götter, dann machen das die Christen mit der ihres dreieinigen Gottes auch. Am deutlichsten wird die Äußerung, man zwinge die frei geborenen Milzener unter das Joch der Knechtschaft (servitutis iugo, V,7). Besser wäre es wohl, sie durch ständiges Predigen und Taufen zu bekehren und nicht so vorzugehen wie der Vorgänger von Thietmar: ...den heiligen Hain Schteitbar, der bei den Anwohnern immer in göttlichem Ansehen gestanden hatte, und der seit Urzeiten niemals verletzt worden war, ließ er völlig vernichten. (VI,37)

 

Überhaupt scheint er sich für seine slawischen Untertanen und Nachbarn interessiert zu haben und auch ihre Sprache zu beherrschen. So schreibt er zum Beispiel über den heiligen und befestigten Ort Riedegost im Deutsch von Trillmich: In der Burg befindet sich nur ein kunstfertig errichtetes, hölzernes Heiligtum, das auf einem Fundament aus Hörnern verschiedenartiger Tiere besteht. Außen schmücken seine Wände, soviel man sehen kann, verschiedene, prächtig geschnitzte Bilder von Göttern und Göttinnen. Innen aber stehen von Menschenhand gemachte Götter, jeder mit eingeschnitztem Namen; furcherregend sind sie mit Helmen und Panzern bekleidet (…) Für das Heiligtum gibt es besondere Priester. Man versammelt sich zum Opfer für die Götzen oder zur Sühnung ihres Zorns (iram placare) (...) Jede Region dieses Landes hat ihren Tempel und ihr besonderes, von den Ungläubigen verehrtes Götzenbild. (...) Ihr unsagbarer Zorn aber wird durch Menschen- und Tierblut besänftigt. (…) Über allen, die zusammen Liutizen heißen, steht kein besonderer Herrscher. Wenn sie in ihrer Volksversammlung (consilium) Fragen erörtern, müssen alle einmütig der Ausführung eines Unternehmens zustimmen. (VI,23ff)

 

Insgesamt ist der älter werdende Bischof fest in seiner Zeit und ihren Vorstellungen verwurzelt. Nur zwei Dinge scheinen ihn zu irritieren. Einmal berichtet er folgendes: Auf einem Zug gegen die Dänen werde malae irrisionis in clericos exclamatio laut, die a malis hominibus noch heute zu hören sei (III,6) Auch andernorts im Text dringt schon mal durch, dass Kirche und Christentum trotz oder wegen Christianisierung nicht überall rundherum beliebt sind.

 

Das andere wird zweimal angesprochen. Da ist von einer Gräfin Christina die Rede: Sie, die ihre guten Taten heimlich vollbrachte, war ganz anders als die Frauen, die zu den modernen (modernos) gehörten. Ein großer Teil von ihnen bekleidet seinen Leib unziemlich, und zeigen allen Liebhabern (amatoribus) offen, quod venale habet in se, was Trillmich mit: was sie feilzubieten haben übersetzt, (…) absque omni pudore coram procedit speculum tocius populi. Also: Ohne alle Scham lassen sie sich vom Volk beschauen. IV,63) Der bitterböse Ton gipfelt in der Parallelisierung von guter Tat und heimlich einerseits und Schamlosigkeit und offen andererseits.

 

Vier Kapitel später wird das wieder aufgenommen: Heute aber (apud modernos) herrscht mehr als recht und üblich Freiheit zur Sünde (libertas peccandi), und so treiben nicht nur viele verführte Mädchen (ancillae), sondern auch ein Teil der Ehefrauen noch zu Lebzeiten ihres Gatten Ehebruch, von fleischlicher Begierde zu schädlicher Lust getrieben. Sie stiften ihre Liebhaber an, ihre Ehemänner umzubringen, um mit ihnen dann zusammenzuleben. Heute gibt es keine harte Strafe mehr (poena gravis) dafür, und so wird die neue Gewohnheit (consuetudo), wie ich befürchte, immer mehr gepflegt. (VIII,3)

 

Man könnte auf den ersten Blick meinen, man wäre plötzlich tausend Jahre weiter gesprungen, wenn man vom Gattenmord einmal absieht. Oder aber man befände sich wenigstens in einer Stadt der Gotik, in der das Schneiderhandwerk die Erotisierung der Frauenleiber durch neue Mode betreibt. Wer also sind die „Modernen“ der ersten Jahrtausendwende, die Männer mit ihrer Kleidung sexuell aufreizen und wie tun sie das mit den damaligen Möglichkeiten? Durchbricht tatsächlich mitten im frühen Mittelalter das Bedürfnis nach sexueller Lust die Schranken von Ehe und Familie? Thietmar meint sicherlich dabei Mitglieder der adeligen Kriegerschicht, denn um das Leben des gemeinen Volkes in seinem Erfahrungsraum kümmert er sich wohl weniger und hat ihnen gegenüber auch kaum sonderliche Erwartungen. Die ancillae (Mägde) der zweiten Passage könnten vielleicht Huren sein, aber wäre das für Sachsen jetzt erst etwas Neues? Vermutlich kannten die vorzivilisatorischen Sachsen so etwas noch nicht, aber das lag zweihundert Jahre zurück.

 

Das alles wird noch näher zu untersuchen sein, denn in solchen Passagen kommen wir den damaligen Menschen vielleicht etwas näher als im übrigen Text.

 

Gerbert von Aurillac (um 950-1002)

 

Mit etwa dreizehn Jahren tritt er, aus einfachen Verhältnissen kommend, dem örtlichen Kloster bei, wird dort erzogen und dann Mönch. Mit etwa siebzehn Jahren lernt ein katalanischer Adeliger namens Borrell ihn kennen und nimmt ihn nach Barcelona mit. Unter dem dortigen Bischof wird er unter anderem in Mathematik und Astronomie unterrichtet. Er verbringt dann drei Jahre im Kloster der Hl.Maria von Ripoll. 969 reist er mit seinem adeligen Freund Borrell nach Rom und lernt dort Papst Johannes XIII. und Kaiser Otto I. kennen. Der macht ihn zum Erzieher/Lehrer seines Sohnes Otto (II.)

 

972 reist er nach Reims, studiert dort weiter, offenbar mit dem besonderen Schwerpunkt Arithmetik, und wird dort dann Lehrer, vom hochadeligen Erzbischof Adalbero als Privatsekretär angestellt. 982 wird er durch Otto II. als Abt im KLoster Bobbio eingesetzt. Da die Mönche des verarmten Klosters ihn ablehnen, muss er beim Tod des Kaisers zurück nach Reims fliehen.

Wiederum eine Art erzbischöftlicher Sekretär und Leiter der Domschule, vertritt er dessen machtpolitische Interessen wie auch die des noch kindlichen Otto III. und seiner Mutter Theophanu in Ostfranzien. Daneben unterstützt er den Dux Hugo Capet in Westfranzien gegen König Lothar, den Adalbero 987 zum König krönt.

 

Nach dem Tod Adalberos 989 macht Hugo nicht ihn, sondern Lothars unehelichen Sohn Arnulf zum Erzbischof, um Lothars Bruder Karl von Niederlothringen zu schaden, der Konkurrent um den Thron ist. Der lädt Karl aber schnell nach Reims ein. 990 nimmt Hugo beide gefangen. Gerbert organisiert nun eine Synode, die Arnulf absetzt. Gerbert wird dann 991 Erzbischof von Reims, wogegen sich aber nach und nach Opposition aufbaut, auch deshalb, weil Papst Johannes XV. den ganzen Vorgang seiner "Wahl" für nicht rechtmäßig einstuft.

 

Als der Druck auf Gerbert zunimmt, und Hugo Capet dann 996 stirbt, verlässt er Reims und geht an den Hof Ottos III. 997 wird er der Erzieher des jugendlichen Königs, der ihn 998 zum Erzbischof von Ravenna macht und im folgenden Jahr zum Papst. Der Papstname Silvester (II.) erinnert wohl an jenen Papst, der eng mit Kaiser Konstantin zusammengearbeitet haben soll. 1003 stirbt er.

 

Einige Dinge sind außergewöhnlich an Gerbert: Einmal seine grandiose Karriere aus einfachen Verhältnissen, die von immer höherstehenden Kreisen gefördert wird, und die vermutlich auch seiner intellektuellen Begabung geschuldet ist. Damit zusammenhängend lässt er sich vermutlich als der bedeutendste Intellektuelle seiner Zeit beschreiben. Dazu wiederum gehört, dass seine weithin geistliche Karriere nicht von religiösen, sondern von mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien begleitet wird. Er soll sich mit der Herstellung eines Himmelsglobus und neuartiger mechanischer Uhren beschäftigt haben, sowie einen Abakus und ein Astrolabium benutzt haben.

 

Nicht ungewöhnlich ist, dass er als Unterstützer eines Erzbischofs und dann als solcher selbst in die Machtkonflikte seiner Zeit sehr aktiv verwickelt ist, aber schon, dass er machtrational handelt und das dabei nicht moralisierend begleitet.

 

Papsttum

 

Bald nach Papst Nikolaus versinkt das Papsttum im Strudel der Machtkämpfe des stadtrömischen Adels. Als Wilhelm von Aquitanien 910 seine Stiftung Cluny unter den Schutz des Papstes stellte, wird das Papsttum mit Personen wie gerade Sergius III. aus dem stadtrömischen Adel heraus besetzt. Viele seiner Nachfolger werden eingekerkert oder ermordet. Die Gebiete des Kirchenstaates verselbständigen sich immer mehr und geraten in die Hände einheimischer Fürsten.

 

Dabei wird das Papstamt, wie zumindest Liutprand von Cremona beschreibt, zum Machtinteresse vor allem zweier adeliger Damen, Theodora und ihrer Tochter Marozia, deren Zeit ein Historiker boshaft als "Pornokratie" bezeichnet hat.

Theodora macht Johannes X. zum Papst, der wird aber von Marozia gestürzt und eingekerkert. Darauf setzt sie Päpste durch, am Ende 931 mit Johannes XI. offenbar ihren eigenen Sohn von Papst Sergius III. Marozia selbst heiratet zunächst den Markgrafen Alberich von Spoleto, dann dessen Kollegen von Tuszien und 932 König Hugo von Burgund/Italien. Diesen will Alberich nicht dulden, der ihn verjagt und Marozia in den Kerker steckt. Darauf herrscht er 22 Jahre unangefochten als Fürst und Senator der Römer. 936 setzt er Papst Leo VII. ein, der sich dafür bedankt, indem er mit Hilfe von Abt Odo von Cluny das Ehebündnis von Alberich ("Fürst und Senator aller Römer")  mit Hugo von Italien einfädelt und sich zudem als Judenverfolger auszeichnet. 939 setzt er Stephan VIII, auf den "heiligen Stuhl" und lässt ihn Politik zugunsten Ludwigs IV. von Westfranzien machen.

Das hindert Alberich allerdings nicht daran, Abt Odo mit der Reform aller Klöster in Rom zu betrauen und mit der Aufsicht über eine eigene Klosterstiftung, Sta Maria auf dem Aventin.

 

Die Schwäche des römischen Bischofs zeigt der Streit um die Besetzung des Erzbistums Reims zwischen 925 und 948, bei dem Päpste nacheinander untereinander verfeindete Kandidaten ebenso verfeindeter weltlicher Fürsten unterstützen, ohne sich aber tatsächlich durchsetzen zu können.

 

Unter den sächsischen Kaisern werden Päpste mit der Kaiserkrönung Ottos I. zwar zu Juniorpartnern der weltlichen Macht, aber dies eben nicht aus eigener Kraft. Der Kaiser verpflichtet sie dabei zu einem Treueversprechen. Bedeutenderen eigenen Einfluss üben sie dann „in der Planung, der Finanzierung und Führung von Kriegen“ aus, „wie Johannes X. gegen die Sarazenen und Benedikt VIII. gegen byzantinische Angriffe.“ (s.o.)

Noch Johannes XIII. (965-72), von Otto d.Gr. unterstützt, eng verbunden mit seinem Sohn, ist ein Verwandter Alberichs II. Stadtrömischer hoher Adel gewinnt also immer wieder Einfluss auf das Amt.

 

Papsttum und höherer Klerus sind unter den Sachsenkaisern von den Reformpositionen des 11. Jahrhunderts weit entfernt. 991 wird, es geht mal wieder um Reims, auf der Synode von Saint-Basle-de-Vercy, Bischof Arnulf abgesetzt und Gerbert von Aurillac eingesetzt. In einer Rede lobt der Bischof von Orléans die großen Päpste der Vergangenheit und wendet sich scharf gegen die skandalösen Päpste der Gegenwart, deren einer Gerbert nun ablehnt. Auf einer weiteren Versammlung in Chelles 994 wird die Autorität der Vergangenheit über Neuerungen gestellt, die Päpste willkürlich einführten. Das Ganze allerdings ist weniger ein zukunftsweisender Grundsatzstreit als vielmehr ein Machtkampf, in den ebenso auch weltliche Große verwickelt sind.

 

*****

 

Was haben das Christentum und die Kirche mit der Entstehung des Kapitalismus zu tun? Auf den ersten Blick in dieser Zeit noch nichts. Aber jenseits der sich andeutenden Konflikte über das Primat spiritueller und weltlicher Gewalt (Macht) ist die Kirche fest in den weltlichen Bereich eingewoben: Sie finanziert sich nicht nur über den Zehnten und weitere derartige Abgaben, über deren Zwangscharakter sie übrigens keinen Zweifel aufkommen lässt, sondern genauso wie die weltlichen Herren wesentlich über Großgrundbesitz, was wie selbstverständlich wirkt, kommen die Herren der Kirche doch aus der weltlichen Oberschicht.. Ein nicht zu unterschätzendes Vorrecht ist die Befreiung von Abgaben an Herren, was in den Städten viele Jahrhunderte später zu Konflikten mit dem Bürgertum führen wird, welches ihr darum unlauteren Wettbewerb vorwerfen wird.

 

Die Grundherrschaft mit ihrer angestrebten Selbstgenügsamkeit, Autarkie und einer im wesentlichen auf Selbstversorgung angelegten Wirtschaftsweise entspricht der offiziellen kirchlichen Doktrin, dass das Erdenleben möglichst ausschließlich der Vorbereitung auf das kommende Reich Gottes dienen soll, und dass jedes Wirtschaften sich auf den Lebenserhalt für dieses Ziel zu beschränken habe, - wobei der Prunk der kirchlichen Oberen nur Gottes Glorie dient, die sie auf Erden vertreten.

Wenn jemand nach Reichtum strebt, macht er sich eigentlich der Sünde des Geizes schuldig – er enthält seine Reichtümer nämlich denen vor, die davon dringender brauchen. Das funktioniert natürlich nicht mehr, seitdem Reiche im späten römischen Imperium die Spitzen der Kirche bilden und Reichtum nun gottgewollt ist wie Armut. Stattdessen sollten die, die in Not geraten, eben auch wie es die Kirche tut, Almosen erhalten, und wenn nicht das, dann wenigstens Leihgaben, auf denen kein Zins lasten darf. Ansonsten handelt es sich um Wucher (usuria), um das wirtschaftliche Ausnutzen der Not anderer. Indirekt vergibt man Almosen am besten durch Gaben an die Kirche.

 

Kirche und Klöster häufen also Reichtümer an, die sie als Kredite vergeben und mit denen sie investieren können, was mehr oder weniger Kapitalisierung bedeutet. Mit ihren Reichtümern befeuern sie die Nachfrage auf Märkten, sowohl nach Luxusgütern wie nach täglichem Bedarf, den die eigene Grundherrschaft nicht deckt. Und mit der Förderung der Städtebildung an Kathedrale und Kloster und der Förderung von Handwerk, Handel und Marktwirtschaft dort schaffen sie Fundamente für einen sich entfaltenden Kapitalismus, den damals allerdings niemand so sieht.

 

 

Darüber hinaus ist das Christentum vorrangig eine städtische Religion, sind die Bistumszentren doch die ehemaligen und neuen civitates. Zusammen mit Klöstern in Missionsgebieten, an die sich damals oft städtische Siedlungskerne anlehnen, findet von ihnen aus die Christianisierung statt, die in stattlichen Teilen Europas noch aussteht. Solche Städte wiederum versorgen durch Handwerk und Handel die geistlichen und weltlichen Herren mit Konsumgütern vor allem. Kirche wird mit den Städten den Aufstieg des Bürgertums fördern und deren Teilhabe am Stadtregiment nach und nach dulden und zum Teil begrüßen.

 

Schließlich ist die Kirche ein weltweit einzigartiges Gebilde. Im Bündnis mit der weltlichen Macht, zugleich aber organisatorisch von ihr getrennt, wird sie im Verein mit den fränkischen Machthabern vor allem immer zentralistischer, hierarchischer, diktatorischer, auch wenn diese Strukturen in den nächsten Jahrhunderten erst zu hoher Effizienz ausgebaut werden. In Verwaltungsapparat, Schriftlichkeit, Verrechtlichung und manchem anderen nimmt sie nach und nach immer mehr „moderne“ Staatlichkeit vorweg. Dabei ist ihr auf Großgrundbesitz begründeter Reichtum oft größer als der weltlicher Herren, und kann weder durch Erbteilungen, Mitgift oder ähnliches geschmälert werden.

 

Wahrscheinlich am wichtigsten ist aber wohl, dass die Kirche ein Christentum für ihre Untertanen vertritt, welches fast diametral von der Botschaft der Evangelien abweicht. Nur darauf beruht ihre Macht, aber es bedeutet auch ihre Schwäche. Mit der Erfindung der Gottessohnschaft Jesu, die ihn zum Christus macht, erfindet sie auch im Unterschied zu Judentum und Islam notgedrungen eine Theologie, deren Merkwürdigkeiten nicht nur zu diskursiver Betrachtung einladen, sondern deren Anschluss an antikes Philosophieren auch zu einem Vernunftgebrauch einlädt, der sich später zunehmend mit dem verbindet, der den Vorgängen der Kapitalverwertung inhärent ist.

 

Schließlich: Die ganze Religion wandelt sich bis in die ersten Anfänge eines entstehenden Kapitalismus in eine, die einem elementaren Marktmechanismus gehorcht, der das erweitert, was wohl in Menschen ein Stück weit schon von Natur aus angelegt ist. Es handelt sich dabei um Leistung und Gegenleistung wie beim Warentausch. Dazu drei Beispiele:

- Da der Mensch nach christlicher Lehre von vorneherein ein Sünder ist, muss er immer wieder Sühne leisten für seine Sünden, also "Buße tun". Unter iroschottischem und angelsächsischem Einfluss entstehen dabei Bußbücher für die Hand der Priester, in denen für die jeweiligen Sündentaten festgelegte Bußen geleistet werden müssen. Damit "zahlt" man quasi seine Schuld ab, das heißt, man geht mit Gott einen Handel ein.

- Damit eng verbunden ist ein zweiter Handel: Da der gewöhnliche Sünder nach seinem Tod eine lange Zeit auf seine "Erlösung" warten muss, kann seine überlebende Verwandtschaft selbst für sein Seelenheil beten und damit etwas vor Gott erreichen. Klöster beten in memoria ihrer Stifter und Wohltäter für diese und Mönche für ihre verstorbenen Mitbrüder.

"In Attigny verpflichteten sich im Jahre 762 unter der Führung des bedeutenden Bischofs Chrodegang von Metz 44 fränkische Bischöfe und Äbte dazu, im Todesfall eines Verbrüderten je 100 Messen zu lesen oder 100 Psalmen zu singen, und ähnliche >Vorsorgen< unter Bischöfen durchziehen noch den gesamten Zeitraum." (GoetzEuropa, S.246)

- Ein drittes Beispiel enthält der Heiligenkult, bei dem die Menschen den Heiligen entweder durch Bitten und Beten quasi für ihre Wünsche unter Druck setzen, oder indem sie für ihn spenden. Heilige wiederum müssen "da oben" nicht auf Erlösung warten, sondern können sich gleich in die Nähe ihres Gottes begeben, der offenbar die Erhebung eines Menschen durch Menschen in die Heiligkeit mit einem erstaunlichen Automatismus akzeptiert. Der Heilige kann also durch die Gebetsleistung des Menschen dazu gebracht werden zu intervenieren.

Nebenbei trägt das Pilgern zu Heiligen zum Wohlstand des Pilgerortes und vor allem seiner Geistlichkeit bei, ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Propaganda dafür leisten die Heiligengeschichten (Hagiographien) nicht zuletzt mit ihrem Phantasiereichtum an Wundergeschichten, die die Wunscherfüllungskraft des Heiligen herausstellen.