KONSTRUKTION EINES MENSCHEN- UND WELTBILDES IM FRÜHEN CHRISTLICH-LATEINISCHEN ABENDLAND (Bis etwa November in Arbeit)

 

Zivilisation als Gewalt

 

Die Welt als christliches Konstrukt

1. Zwei Welten (Gott)

2. Leib - Seele - Geist

3.. Erlösung in die Ewigkeit

4. Hölle und Teufel

5. Sünde

6. Über- und unterirdische Machtkämpfe

7. Re-Judaisierung: Der Gott des Krieges und des irdischen Erfolgs

 

Die Praxis

1. Glauben

2. Taufe

3. Buße

4. Eucharistie

5.. Heiligkeit

6. Reliquien

7. Dialektik: Die Vernunft in der Unvernüftigkeit

 

Welt als Alltag

 

 

 

Zivilisation als Gewalt

 

Zu Beginn jener Zwischenzeit zwischen Antike und Mittelalter, die hier Nachantike heißen soll, wird Nahrung längst kaum noch erjagt und eingesammelt, sondern produziert. Das ist effizienter und bedeutet tendenziell Bevölkerungswachstum. Mehr Menschen verdrängen mehr übrig gebliebene lebendige Natur. Gartenbau und insbesondere Ackerbau und Viehzucht sind wesentlich aggressiver gegenüber den anderen Lebewesen als Jagen und Sammeln.

 

Im Mittelmeerraum und nördlich bis an den Ärmelkanal und eine Weile lang bis nach dem späteren England werden schon sehr lange mehr Lebensmittel produziert, als zum Überleben der Menschen nötig ist. Davon können nicht nur Handwerker und Händler bezahlt werden, sondern auch eine größere Zahl an privilegierten Bediensteten für Kulte und - mit ihnen verbündet - von Herrenmenschen, die sich größere Landstücke angeeignet haben, auf denen sie andere für sich arbeiten lassen, um auf der Grundlage ihres Reichtums über alle anderen dann auch Macht auszuüben.

 

Am Ende des weströmischen Reiches ist das Land dort verteilt und wenige haben viel davon, viele wenig und nicht wenige gar nichts.Wer viel hat, kann auch die Bodenschätze mit Sklaven oder bezahlter Arbeit ausplündern und auf einem Markt verkaufen.

Als germanische Heerführer mit ihren Truppen die Herrschaft übernehmen, ändert sich daran wenig. Ein Teil der Herrenmenschen wird mit ihrem Besitz ausgetauscht und zu noch existenten freien Bauern kommen neue hinzu. Eine städtisch dominierte Welt wird zu einer immer mehr ländlich geprägten und wer noch nicht "Christ" ist, wird jetzt unter die Macht der Kirche gezwungen.

 

Die meisten sind arm an Land und Geld und die anderen sind reicher oder schwerreich. Etwa entsprechend sind Macht und Ohnmacht verteilt. Die Macht hatte bislang das Recht gesetzt, um besser herrschen zu können, welches längst als römisches (kaiserliches) Recht aufgeschrieben ist, und die neuen Herren bringen tradierte Volksrechte mit, die nun von den Machthabern in ihrem Interesse etwas verändert und dann auch aufgeschrieben werden. In den nun nebeneinander bestehenden Rechtsvorstellungen sind die Menschen ganz archaisch ganz anders aufgeteilt, nämlich in Freie und Unfreie. Unfreie sind fast ganz rechtlos und Freie haben wiederum zwar grundsätzlich, aber nicht tatsächlich gleiche Rechte.

 

Neben Besitz, Macht und Recht teilt sich die Bevölkerung im weströmischen wie in den entstehenden neuen Reichen auch in Produzenten und Konsumenten auf: Das Konsumnivau der Produzenten ist extrem niedrig; die Konsumenten wiederum finden es unter ihrer Würde, produktiv zu arbeiten, und haben das aufgrund der Besitz- und Machtverhältnisse auch nicht nötig. Für sie vor allem wird in den neuen Reichen Handel betrieben, mit dem ihnen jener Luxus zukommt, der auch ihren Status demonstriert, während für die Produzenten kaum mehr abfällt, als sie für das Überleben benötigen, abgesehen von Trostmitteln wie Drogen, vor allem Alkohol, ein zunächst euphorisierendes Betäubungsmittel, und einem mehr oder weniger großen und in der Nachantike eher sporadischen Amüsierangebot, welches die Kirche inzwischen dem Verdacht der Sündigkeit aussetzt.

 

All diese großen Unterschiede werden einmal dadurch stabilisiert, dass sie von der Kirche als gottgewollt propagiert, also quasi heiliggesprochen werden, viel handfester aber durch das Erbrecht: Frankische Könige und viele ihrer Nachfolger vererben ihren Status und ihre Macht an die Söhne. Die Rechtssituation eines Freien oder Unfreien vererbt sich ebenfalls auf die Kinder und noch wichtiger wohl, Eigentum vererbt sich auf die (vor allem männlichen) Nachkommen und bleibt so, modern gesprochen, in der Familie.

Diese Versuche von Stabilisierung werden aber massiv eingeschränkt. Bei mehreren Königssöhnen werden diese bis mindestens ins 10. Jahrhundert um die gesamte Macht konkurrieren, und das oft bürgerkriegsartig und mit brutalster Gewalt. Dasselbe ist hin und wieder auf niedrigerer Stufe auch zwischen Erben des Familien-Eigentums zu beobachten. Darüber hinaus werden Mord und Totschlag, Diebstahl und Raub die Eigentumsverhältnisse destabilisieren und in diese Richtung wirken auch die so vielen Kriege nach außen, und selbst die Macht- und Besitz-Situationen verändernden Heiraten von Mächtigen.

 

Das Aggressionspotential der Menschen findet also in den Strukturen der neuen Reiche breiten Raum über das Alltägliche hinaus. Insbesondere dient aber als wichtigste Veränderung dafür, dass die neuen Reiche von hierarchisch gegliederten Kriegerscharen von Freien eingerichtet werden, welche sich gegen professionelles Soldatentum durchgesetzt haben. Den Freien der neuen Reiche ist also gemein, dass sie ganz legitim Waffen besitzen und oft auch einige bei sich tragen; es handelt sich um besonders kriegerische und zudem auch beutegierige Zivilisationen, denn Beute ist neben Ruhm der Lohn des Kriegers.

 

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Viel vom alltäglichen Agressionspotential wird also im öffentlichen Raum kanalisiert, anderes lebt sich gegen Recht und Ordnung aus und entkommt oft auch beidem, - wird aber nicht selten auch bestraft bzw. gerächt, womit Aggression auf Aggression trifft.

Die hierarchisch gestaffelte Kontrolle, welche die Unteren im Interesse der Oberen mit Gewaltandrohung disziplinieren ("befrieden") möchte, flankiert durch die Propaganda der Kirche, wird ergänzt durch das, was wir heute etwas missverständlich als "soziale Kontrolle" bezeichnen. Diese setzt sich aus Ohnmachtserfahrung gegenüber den Mächtigeren zusammen, also aus der Erfahrung, dass Auflehnung gegen Mächtigere in der Regel erfolglos ist, und aus Erfahrungen mit den Möglichkeiten eines gedeihlichen Zusammenlebens, wie sie, ohne von institutionalisierter Macht beirrt, schon deutlicher frühe Kulturen machten.

 

Aber was für den einen Untertanen befriedigende Einsicht sein mag, für den anderen Unterwerfung unter Druck, erzeugt doch häufig das, was man modern als Frustrationen bezeichnet. Wir alle kennen die daraus erwachsenden Konflikte und Körperregungen, welche bei Kindern die Erziehung zu (modern gesprochen) Frustrationstoleranz auslösen. Das gilt grundsätzlich auch für Erwachsene: Das Ducken macht mit den sich duckenden bzw. geduckten Menschen etwas.

 

Ein klassisches Beispiel bietet das frustrierte Ausleben des Geschlechtstriebes. Ähnlich wie Hunger und Durst vergeht er nur vorübergehend durch sein Ausleben, ist aber etwas leichter zu unterdrücken, was für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen miteinander immer wieder nötig ist. Die Triebenergie, ihr aggressives Potential kann durch anderweitige körperliche Betätigung etwas abgeleitet werden, sie kann sublimiert, also verfeinert werden, was Freud für das originäre Feld der Kunst hält, wobei aber wohl nur eine Kunstvorstellung gemeint sein kann, wie sie im wesentlichen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert ihre Zeit hatte. Sie kann in die Ehe als Befriedigung einer Notdurft kanalisiert und dabei manchmal mit Liebe garniert werden. Es ist aber auch möglich und wohl nicht einmal selten, dass das aggressive Potential ins Unbewusste aufgehoben wird, um in Form von anderen Aggressionen wieder zum Vorschein zu kommen. Zum Beispiel kann der von oben Getretene bei Gelegenheit nach unten oder zur Seite weiter treten. Schließlich kann sexuelle Energie auch im erotischen Traum oder Tagtraum transformiert auftauchen und sich gegebenfalls entladen, wovon die Eremiten und selten auch Mönche berichten, wenn denn der Mensch nicht zwecks Triebabfuhr bei sich selbst Hand anlegt.

 

Die Ernährung als Akt der Aggression gegen andere Lebewesen, der Durst, dort wo er zum Kampf um Trinkwasser führt, der Hunger als Konkurrenz um Land und der Fortpflanzungstrieb bedeuten naturgegebene Aggression, wobei bei letzterer die Frau in einem invasiven Akt befruchtet und zur Schwangerschaft und meist auch Mutterschaft gezwungen wird, Voraussetzung für ein Weiterleben in der Nachkommenschaft.

Anders ist es dort, wo der Mächtigere den Ohnmächtigeren zu etwas zwingt oder ihm etwas verbietet. Dafür hält die natürliche Ausstattung dem Menschen (und nicht nur ihm) die Wut als Reaktion vor, oder wo die Machtverhältnisse das (meist) verbieten, die Bitterkeit. Diese wird als Frustration der Wut oft psychosomatisch abgeleitet, und das lässt sich psychisch und physisch beschreiben.

 

Dafür wiederum haben Menschen Vermeidungsstrategien entwickelt, die in letzter Instanz das Funktionieren aller Zivilisationen erklären. Dazu entsteht die Gläubigkeit als Unterwerfung unter die Weltkonstrukte der Propagandisten der Macht, die Verwandlung von Gehorsam in die Kardinaltugend des Untertanen, also in die (manchmal nur temporäre) Unterwerfung als scheinbar eigene Errungenschaft, und die Identifikation mit den Reichen und Mächtigen. Alle drei treffen auf menschliche Bequemlichkeit bzw. eine natürliche Neigung zum Weg des geringsten Widerstandes, aber sie wirken nur, solange die Macht sich glaubhaft und bewundernswürdig demonstriert und den Menschen, wie schon Freud das formuliert, dafür hinreichende Gratifikationen bietet.

 

Wichtigste Gratifikation für das Ducken unter die Macht ist deren Versprechen, ihre Ernährung zu sichern und den Geduckten Schutz zu bieten, also einen gewissen inneren Frieden zu sichern. Den Untertanen wird so angenehm bequem ein Teil ihrer Verantwortung für sich selbst abgenommen. Geschieht das nicht mehr, wird schon mal gegen die Mächtigen aufbegehrt. Dazu ist allerdings anzumerken, dass Zivilisationen dabei erst die Probleme schaffen, die sie zu lösen vorgeben. Das aber ist den meisten Menschen nicht bewusst, sie wollen es auch wiederum aus Bequemlichkeit bzw. Feigheit nicht wissen.

 

Neben die Indoktrination durch die Kirche tritt die zunehmende Unfähigkeit der immer illiterateren Bevölkerung, komplexer gewordene Machtstrukturen noch zu durchschauen. Auf der kognitiven Ebene landen die Menschen dadurch bei einem massiven Informationsdefizit, auch weil die Träger übergeordneter Entscheidungen ihre Kenntnisse nur Interesse-gefiltert und in sehr geringem Umfang nach unten weitergeben. Dabei ist die Menge der Kenntnisse der Menschen insgesamt kaum geringer als heute, nur sammeln Menschen inzwischen zum großen Teil einem Unterhaltungsbedürfnis geschuldete und zudem für sie oft unüberprüfbare Inhalte an. Damals sind die Kenntnisse dagegen wesentlich selbst gewonnen bzw. unmittelbar tradiert und beschränken sich so auf das eigene Lebensumfeld, auf unmittelbare Erfahrung also.

 

Herrschaft begründet sich darum für sie nicht nur aus der Macht institutionalisierter Gewalt, sondern auch aus solchem Wissensvorsprung der Herren, die ihn vorwiegend für ihre Machtausübung nutzen. Dabei kann als Gratifikation wiederum die ausbleibende Mühe des Erwerbs von Kenntnissen über den eigenen engen Lebensraum hinaus erlebt werden. Wissen mag manchmal Macht bedeuten, aber relative Kenntnislosigkeit von Problematiken, fehlendes Wissen überhaupt stellt leichter ein Gefühl von bequemer Zufriedenheit her. Das lässt sich allerdings eher für zivilisatorische Strukturen ermitteln und nicht so sehr für jene Kulturen, die bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert überlebt haben, bevor sie zerstört wurden, und in denen fast alle vorhandenen Kenntnisse noch Gemeingut waren.

 

Wie eine Gratifikation für Untertänigkeit sehen Menschen in den Zivilisationen auch die Möglichkeit der Identifikation mit den Mächtigen an, ja - die Möglichkeit ihrer Bewunderung und Verehrung. Als Faustregel dafür kann durch die Geschichte (fast?) aller Zivilisationen gelten, dass die Identifikation mit Mächtigen umso größer ist, je despotischer  sie herrschen. Auch deshalb sind heutige Demokratien wenig beliebt und sehr instabil.

 

Auch um Bewunderung zu erzeugen, statten Machthaber sich mit offen zur Schau getragenen Statussymbolen aus, demonstrieren ihre Macht mit ebenso zur Schau getragenem Reichtum und vor allem auch damit, dass sie sich selbst vieles von dem erlauben, was den Untertanen verboten ist. So leben sie zum Beispiel ihren Geschlechtstrieb auch jenseits der den Untertanen gesetzten Grenzen aus, oder sie morden und lassen morden. Leute wie Stalin oder Mao-tse-ung, die den Tod von zig-Millionen Menschen verursacht haben, sind auch jenseits der Angst vor ihnen nach ihrem Tod noch Heldengestalten bei Russen und Chinesen, und Hitler wäre es als erfolgreicher Kriegsherr wohl auch geworden. Warum sonst haben Alexander oder Karl den Beinamen "der Große". In der Identifikation mit der Macht kann der Untertan affirmativ und durchaus phantasievoll nachvollziehen, was ihm in Richtung menschlicher Omnipotenz eben nur in der Identifikation gegeben ist, und als aggressives Lebewesen fällt es ihm leicht, die immer wiederkehrende Frustration seines Aggressionspotentials mit der viel ungenierter ausgelebten Aggressivität seiner Chefs zu kompensieren.

 

Da alles das hier aufgeführte selten ganz genügt, um die Untertanen dauerhaft ruhig zu stellen, verlangt es sie nach Ablenkung wie nach Amüsierveranstaltungen, nach inszenierter "Unterhaltung", wie sie auch die Kirche und die an sie angelehnten Feste damals bieten, und dazu eben auch die euphorisierende und am Ende betäubende Wirkung von Drogen, von denen auch in unserer Zeit damals der Alkohol am verbreitetsten ist.

 

 

Die Welt als christliches Konstrukt

 

Der Mensch als von Natur aus aggressives Wesen wird vom nachantiken Christentum nur soweit zur Friedfertigkeit angehalten, wie er als Untertan funktionieren soll. Ansonsten ist die Nachantike eine strukturell von Gewalttätigkeit durchzogene Welt, was sie nicht hindert, sich als christlich zu verstehen.

Dieses auch durch das Mittelalter anhaltende (römisch-katholische) Christentum ist seit dem 18. Jahrhundert immer mehr zurückgegangen, seit den Reformationen den Protestanten zunehmend und heute den meisten Menschen im deutschsprachigen Raum unbekannt. Grundzüge des nachantiken Christentums sind aber eine Voraussetzung zum Verständnis dieser Zeit und sollen darum hier summarisch zusammengefasst werden.

 

Wenn wir der Apostelgeschichte, Paulus und den Evangelien folgen, dann wollte Jesus weder eine Religion noch eine Kirche begründen. Diese begründet sich vielmehr daraus, dass er nicht wie versprochen wieder zurück kommt, um die Gläubigen in ein Paradies einzusammeln, und ersetzt mit ihren angeblich von Jesus/Gott verliehenen Heilsmitteln den abwesenden Erlöser.

 

Christen werden Menschen in der Antike zum Teil damals sicherlich, weil Formen von Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben sie hinein in Gemeinden bringt, manche wohl auch, weil die Kirche ihnen befriedigendere Erklärungsmuster für ihr Leben und das Verständnis von Welt bietet; dazu kommen manche Frauen, weil sie so männlicher Sexualität oder einer patriarchalen Ehe in geheiligte Jungfräulichkeit entkommen wollen.

 

Das ändert sich massiv, als Christentum zur Staatsreligion im römischen Reich wird und die Verfolgung und Zerstörung der antiken Kulte einsetzt. Nun wird es opportun und schließlich, spätestens unter den Nachfolgereichen, überlebens-notwendig, zumindest als Mitläufer aufzutreten. Ausgenommen sind die Juden, aus deren Reihen die neue Religion hervorgegangen ist.

 

Ein lateinischer fanaticus ist ein sich vom Göttlichen inspiriert fühlender Mensch, und solche religiösen Eiferer, in neuerem Deutsch Fanatiker, entwickeln damals manchmal eine Mission, nämlich die, andere zu ihren angeblichen Wahrheiten zu (ver)führen. Ein Missionar ist wörtlich ein Gesandter, entweder von der Kirche ausgesandt oder aber sich selbst berufen fühlend. Ihm sind Andersgläubige unerträglich. Das Missionieren wird aber für wenigstens anderthalb Jahrtausende nirgendwo so intensiv betrieben werden wie im Christentum.

 

Da christliche Machthaber in den neuen Reichen, insbesondere im Frankenreich, von ihren Untertanen Zugehörigkeit zur Kirche, dem Partner ihres Machtapparats verlangen, unterstützen sie Mission, welche erst die eigenen Untertanen und dann anzivilisierte Nachbarvölker in Vorstellungen und Strukturen unterrichtet, welche ihrer Machtausübung nützen. In kriegerischen Eroberungen gehen nun Unterwerfung und Missionierung Hand in Hand.  Wer sich gegen Christianisierung wehrt, wird mit Gewalt zum Glauben gebracht oder stirbt.

 

1. Zwei Welten

 

Sowohl frühe Kulturen wie die meisten antiken Zivilisationen konstruierten nur eine Welt. In Kulturen ist das wenig Erklärliche nicht "übernatürlich", sondern Teil ihrer erfahrbaren Wirklichkeit, mit der sie in Kulten kommunizieren.

In der antiken Welt leben die Götter oft auf Bergen, manchmal abgeschieden von den Menschen, begeben sich aber immer wieder auch zu ihnen herunter, kopulieren bei Griechen und Römern auch schon mal mit attraktiven Menschen und sind in ihren Abbildern in Kultstätten mehr oder weniger anwesend.

 

Als Erben der Kulturen, aus denen sie hervorgegangen sind, bilden Götter, die sich von Menschen vor allem durch ihre Unsterblichkeit auszeichnen, erlebbare Kräfte der Natur wie der unbelebten Welt ab. Das ändert sich im Judentum und dem daraus hervorgegangenen und sich bald in manchem immer mehr diesem wieder annähernden Christentum (und später auch in dem aus beiden hervorgegangenen Islam).

Der Gott der Juden und insbesondere auch der Christen existiert außerhalb der von ihm geschaffenen Welt, bei den Christen laut kirchlicher Doktrin in einer letztlich immateriellen Sphäre, die ermöglicht, dass er (eigentlich geschlechtslos wie die ersten Menschen vor dem Sündenfall) nicht nur unsterblich, also ewig ist, sondern auch, so er möchte, überall, zudem allwissend und allmächtig.

 

Bei beiden, Juden wie Christen (und später dem Islam), ist er nur zuständig für die, die an ihn glauben, er ist mit ihnen ein Bündnis eingegangen, in dem er die Gläubigen unterstützt und die Ungläubigen bestraft, und zudem sowohl Juden wie Christen eine schlussendliche "Erlösung" von Ungemach und Leid verspricht, die bei Juden eher eine irdische Komponente enthält, während sie bei Christen mit dem Ende der bekannten Welt die Gläubigen in sein Reich erlöst und sie damit so unsterblich macht, wie er selbst ist.

 

Solche Religion beschäftigt sich mit dem, was es in keiner Wirklichkeit gibt und wovon man ernstlich keine Kenntnis haben kann. Sie schließt die Lücken des Nichtwissens durch Erfindungen, von denen man hofft, dass sie eine gewisse Plausibilität haben deshalb, weil sie auf Fragen zumindest einzelner Menschen eine Antwort geben. Sowohl das Judentum der Priester, das Christentum der Kirche wie der Islam des Koran beruhen auf der Behauptung, dass sich am Anfang ein Gott Einzelnen geoffenbart habe, die das dann aufschrieben. Wer allerdings nicht imstande ist, die Existenz eines Gottes vorauszusetzen, muss das für eine Lüge halten. Dies ist aber durch die Geschichte gefährlich, da auf solchen Lügen sich ganze Zivilisationen aufbauen, die aus dem Bündnis von Propagandisten von Glaubenssätzen und Inhabern von Macht und Reichtum bestehen.

 

Solche Religionen behaupten, dass es eine Welt jenseits der Wirklichen gäbe, beherrscht von einem Gott, insbesondere bei Christentum und Islam auch von einem etwas irdischeren Teufel, und von allen möglichen Dämonen und Geistern, die immerhin man auch sinnlich wahrnehmen könne. Beide haben also imaginierte bipolare Welten, die volkstümlich im Deutschen als Himmel und Erde/Hölle bezeichnet werden. 

In diesem Konstrukt wird Wirklichkeit als stark vom Bösen beherrschte Natur definiert, weswegen die imaginierten Welten gerne als übernatürlich bezeichnet werden. Wir bleiben allerdings bei der sprachlich gegebenen Definition von Natur als Bereich des Lebendigen, also eines Ausschnittes aus Wirklichkeit, in die das Lebendige als Ausnahmefall auf unserem Planeten eingebettet ist, - Differenzieren erst schafft Erkenntnis.

 

Für diesen Abschnitt übernehmen wir allerdings kurz einmal den Begriff des Übernatürlichen im religiösen Sinn, da das Christentum im wesentlichen das Reich des Lebendigen, und insbesondere die Menschen als durch die Sünde ins Unheil gestoßen der kirchlich vermittelten Erlösung zuführen will, das heißt, aus der irdischen Wirklichkeit erlösen möchte in eine Welt jenseits aller "Natur".

 

Wir werden auch gelegentlich die Aufteilung der Nachantike und des langen Mittelalters übernehmen, die zwischen Welt als saeculum und den himmlischen Sphären so unterscheidet, wie es Hrabanus Maurus in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Anschluss an Augustinus und Papst Gregor ("den Großen") macht:

In der Kirche gibt es drei Stände, den Stand der in der Welt Lebenden; d.h. der Laien, den der Mönche und den der Kleriker. (...) Dieser Stand nimmt in der Kirche die erste Stelle ein, weil es sein Vorrecht ist, heilige Dienste zu verrichten. (De institutione clericorum, I,2) Diese Unterscheidung trennt ordines voneinander, die keine Stände im späteren (deutschen) Sinne sind, wie es später auch die états der Franzosen werden. Damit werden vielmehreine "weltliche" und eine "geistliche" Sphäre der priesterlichen  Magier voneinander unterschieden.

 

***Gott***

 

Die Christen erben zunächst den jüdischen Gott, der sich bei Juden durch seine Strenge und Härte auszeichnet, und nur mit ihnen überhaupt verbündet ist. In den Evangelien bezeichnet Jesus ihn als seinen Vater und macht ihn so zu einem entsprechend väterlichen Gott, allerdings nur für seine, Jesu Anhänger. Im Vaterunser-Gebet ist es in zwei evangelischen Versionen überliefert.

 

Mit der frühchristlichen Annahme einer wie auch immer wortwörtlichen Sohnschaft Jesu teilt sich die christliche Gottesvorstellung in zwei Personen auf, was insofern bereits Probleme aufwirft, als das mit dem vorgegebenen Monotheismus mühsam in Übereinstimmung gebracht werden muss. Dazu kommt dann noch der Heilige Geist (pneuma hagion), der rund hundert Mal in den Evangelien auftaucht, und den die Kirche dann ebenfalls qua Inspiration personalisiert. Dieser aber ist für die Kirche deshalb wichtig, weil er die heiligen Texte erst sakrosankt macht und dann deren Oberen zu weiteren religiösen Überzeugungen inspiriert.

 

Dieser spiritus sanctus der Westkirche wird die Kirche schon alleine deshalb entzweien, weil Uneinigkeit darüber bestehen wird, ob er nur von Gottvater oder aber auch von Gottsohn ausgeht. Schwieriger wird durch die gesamte Nachantike die Frage bleiben, was die Sohnschaft eines Gottes eigentlich bedeuten könnte, ist er doch auf Erden ganz Mensch, aber zugleich auch (irgendwie) Gott selbst. Das beginnt ganz früh mit Erklärungsversuchen, wie ein Gott in einer sehr irdischen Frau einen Sohn zeugen kann, wiewohl das antik-griechischem und antik-römischem Vorstellungsgut durchaus nahe kommt.

 

Dann wird weiter das Problem der zwei "Naturen", eher Wesenheiten Jesu als Christus in der Debatte bleiben, die sich dann mit dem Problem der Dreifaltigkeit des Einen verbindet. Dabei bekämpfen sich frühe Cheftheoretiker der Christenheit so erbittert bis gewalttätig, dass schon Kaiser Konstantin als Herr von Konzilien, also Versammlungen der vornehmen Kirchenoberen eingreifen und durchgreifen muss, und noch Karl ("der Große") Machtworte sprechen wird. Erst im 10./11. Jahrhundert setzt sich dann die Ansicht durch, dass solche Sachen Angelegenheit alleine der Kirchen sei.

 

Der christliche Gott ist ewig und allmächtig, und als Allmächtiger hat er nicht nur die Kirche eingesetzt und die Menschheit in wenige Herren und viele Knechte eingeteilt, sondern auch in wenige Reiche und gar viele Arme. Bischof Eligius von Noyon predigt im 7. Jahrhundert folgendermaßen:

Gott hätte alle Menschen reich machen könne; aber er wollte, dass es in dieser Welt Arme gebe, damit die Reichen die Möglichkeit haben, sich von ihren Sünden loszukaufen. (in: Neiske, S.23)

Gemeint ist, dass "die Reichen" Spenden (Almosen) an Kirche, Kloster oder seltener direkt an Arme geben, die als Bußleitung für ihre Sünden dienen. Dass das Zitat doppelt widersinnig ist, stört ihn nicht, bedingen sich einmal doch Armut und Reichtum notwendig gegenseitig, und heißt es zum anderen doch, dass Arme sich nicht loskaufen können und darum länger in der Hölle schmoren müssen.

 

 

Was die allermeisten nunmehr zwangsweise Gläubigen von alledem halten, bleibt unbekannt. Zu vermuten ist, dass sie das Problem einfach von sich fernhalten, wird es ihnen ohnehin als solches nicht nahegebracht und mit jener Aura der Selbstverständlichkeit umgeben wir, die der Schutzschirm jeder Form von Gläubigkeit ist. Im Laufe der Nachantike, meist als Frühmittelalter bezeichnet, werden sie sich ohnehin den Kriterien der Anschaulichkeit und emotionaler Nähe zuwenden, und zunächst apostolischen und darauf folgenden Heiligen zuwenden, die man sich gut als Menschen vorstellen kann, und dann im (eigentlichen) Mittelalter zunehmend der immer menschlicheren Muttergottes und dann später dem sehr menschlichen leidenden Jesus zuwenden. Wenn dann im Zeitalter der späten Gotik Maria als ihr (Jesus)Kind säugende Mutter in spätgotischem Gewand dargestellt wird, hat die menschliche Seite erst einmal gewonnen, um dann im Barock neuen Entrückungen zu weichen.

 

2. Leib - Seele - Geist

 

Die Wörter Materie und Substanz repräsentieren den Wunsch der Menschen, die wirkliche Bewegung in Raum und Zeit in feststehende "Realität" zu verwandeln und somit alltagstauglich zu machen, sozusagen "handgreiflich". Nur mit diesem Denkmodell kann als Gegensatz auch "Immaterielles" gedacht werden, welches dann im Denken genauso beständig wird. Wer aber in griechischen Philosophenschulen wusste, wie fragwürdig jeder Materiebegriff ist, konnte eine - erfreulich unüberprüfbare - Ebene des wirklich Handfesten im Immateriellen suchen, dem Eigentlichen alles Materiellen. Das taten zum Beispiel Plato und die Neoplatoniker, und ihr Einfluss auf die Entstehung des Christentums ist unübersehbar. Daraus entsteht schließlich (sehr grob ausgedrückt) eine Theologie, die nur das Göttliche für wirklich hält, und das, was unser Text als wirklich bezeichnet, nur für einen üblen Abklatsch.

 

Die Trennung in Materielles (Irdisches) und Immaterielles (geoffenbartes Geistiges), an sich als reiner Denkvorgang zu erkennen, macht das Christentum aus und zudem abendländische Philossophie bis zu ihrem gemeinsamen Untergang im 18./19. Jahrhundert. Heiligen lässt sich dabei nur der "Geist", wiewohl (tatsächlich) immer den Köpfen von Menschen entsprungen, und zwar als der, mit dem "Gott" Menschen "inspiriert", denen er ihn also wörtlich "einhaucht". Als Ort dieses "Inspirierens" dient (verständlicherweise) nicht der Verstand, sondern eine schwer lokalisierbare Instanz im Menschen, welche von Christen als Seele bezeichnet wird. Dieser immaterielle, spirituelle Ort muss möglichst "rein"  (von Sünde bzw. Begierde) gehalten werden, da er im Idealfall ins ebenfalls immaterielle Himmelreich eingehen soll.

 

1115 schreibt der Mönch Guibert (Wibert) von Nogent in seinem 'De vita sua': Ubi enim carni jam nullatenus spiritus reluctatur, et infelicis animae substantia voluptatum dispendio profligatur. Also: Wenn der Geist nicht mehr gegen das Fleisch kämpft, wird die Substanz der Seele durch die Gelüste zerstört. (I,1)

 

Carne - spiritus - anima (Fleisch-Geist-Seele) bedeutet hier eine sehr christliche Aufspaltung des Menschen in drei Teile, von denen nach theologischer Ansicht die Seele unsterblich sein soll. Mit Fleisch ist wie schon im frühen Christentum der Körper/Leib gemeint, und zwar in lebendiger, also belebter Form. Das belebende Element war bei den Hellenen die psyché gewesen, während bei den Lateinern der Leib "animiert" wird. Anima ( wie Psyche) ist darum nur sehr notdürftig neuhochdeutsch in "Seele" zu übertragen.

 

Die antik-lateinische Vorstellung einer Trennung von anima und spiritus ist dem antiken Griechisch so nicht gegeben. Im Latein der römischen Antike wird ein Verständnis auch nicht gerade erleichtert, wenn man weiß, dass spirare sowohl atmen wie hauchen und ähnliches bedeutet: Daraus entsteht die Vorstellung, dass das Leben und womöglich die Seele dem Körper ein- und ausgehaucht wird.

Unser Mönch hier benutzt spiritus jedenfalls als Bezeichnung jenes merkwürdigen Phänomens, welches im Verlauf des Mittelalters in der deutschen Sprache zu "Geist" wird, und zwar weg von jener altdeutschen Bezeichnung, von der noch etwas im englischen ghost im Sinne von Gespenst erhalten ist. Guibert meint ganz offensichtlich hier jenen Geist, der in unserem Text eher Verstandestätigkeit, Denken etc. meinen soll.

 

Nun soll im christlichen Sinne der Geist gegen die Übermacht des belebten Körpers kämpfen, hier gegen das, was ihn besonders intensiv belebt, nämlich seine voluptas. Diese meint in der Antike die Lust und das daraus resultierende Wohlbefinden und wird unter christlichem Einfluss immer mehr in Richtung sexuelle Lust/Begehren eingeengt.

Diese exemplarische Formulierung des Mönches Anfang des 12. Jahrhunderts engt also bereits ein, was den Kulturbegriff aller unserer Untersuchungen hier ausmacht: Die Zähmung menschlicher Triebhaftigkeit bedeutet offiziell für Christen vor allem die grundsätzliche Abwendung von Formen sehr irdischer Lust. Dass das nur von sehr wenigen überhaupt so praktiziert wird, ist offensichtlich.

Dass dabei eine frühe Kulturleistung der Bezähmung von Triebhaftigkeit und impulsiver Aggressivität, die in Zivilisationen krisenhaft wird, ins Extrem verkehrt ist, ist unübersehbar.

 

Der Geist ist aber nicht nur germanisch, sondern auch christlich-lateinisch eine ausgesprochen unheimliche Größe, wenn er nicht (sehr menschliche) Verstandestätigkeit benennt, sondern als heiliger Geist (spiritus sanctus) auch von Gottvater ausgeht und so Teil einer göttlichen Dreifaltigkeit ist. Da er die erlauchten Häupter der christkatholischen Kirche unentwegt inspiriert, also ihnen korrekte Glaubensinhalte einhaucht (spirare), muss er magische Qualitäten haben, was es möglich machen wird, ihn auch von dem abzulösen, was vorchristliche Menschen der Antike schlicht und einfach als "Denken" erschließen können.

Besonders im Deutschen führt das dann zu merkwürdigsten Konstrukten: Spiritualisierung heißt dann plötzlich das tendenzielle Abschalten des Verstandes und das Aufkommen nebelhafter Pseudo-Begrifflichkeit. Wer dabei behauptet, eigene Meinungen seien nicht gedacht. sondern einer höheren Instanz entsprungen, macht jeden Diskurs unmöglich. Das gilt dann auch bis heute für die heilig gesprochenen Ideen politischer Ideologen, und zwar aller - und ist ein großartiges Machtinstrument.

 

Was im Mittelalter Substanz bedeutet, ein Gegenstand philosophischen Nachdenkens, lassen wir hier außen vor, auch wenn Guibert meint, dass das Nachgeben gegenüber der voluptas die Substanz der Anima zerstört. Diese anima als das belebende Moment des Menschen wird von der Christenlehre völlig verändert in eine merkwürdige und nirgendwo im Menschen lokalisierbare Instanz, die aber kurioserweise das Eigentliche des Menschen ausmachen soll, seine Seele.

 

Wie in manchen anderen Bereichen führt die Christianisierung germanischer Begriffe ins Deutsche in besonderes Unheil, da sie (siehe am Beispiel: Geist) sehr Lebendiges über den Umweg des Lateinischen in starre Konzepte verwandelt. Sehr genau weiß man nicht, was ursprünglich unter der germanischen sela verstanden wurde, und die romanischen Sprachen sind hier insofern raffinierter, als sie klug unüberlegt beim Lateinischen bleiben, der âme der Franzosen oder der alma der Spanier - und damit frohgemut wieder die antike Bedeutungsbreite eines reichen Gefühlshorizontes einholen können, während der Deutsche glückselig nur sein kann, wenn er das vom germanischen salig ableitet, was im Deutschen dann etwas mit Glück zu tun hat und nichts mit irgendeiner Seele.

 

Wenn man notdürftig den Geist als Funktion des Verstandes verstehen kann, ist die christliche Seele als anima eine Erfindung der Kirche, die derzeit auch mit ihr untergeht und ersetzt wird durch jene, die schon im alten Hellas als psyché existierte, also Lebendigkeit als ein bewusster wie unbewusster (hirngesteuerter) Innenraum des Menschen - unter der Maßgabe, dass der Mensch eine Einheit bildet, die nur gedanklich für bestimmte Zwecke aufgespalten werden sollte.

 

Die unheilvolle christliche Zergliederung des Menschen besagt also, dass der unsterbliche eigentliche Mensch aus seiner "Seele"/anima besteht, deren Fähigkeit, in irgendeinem Himmel nach dem Tode weiter zu "existieren", wie auch immer, korrumpiert wird, wenn er nicht mit der Willenskraft seiner christlichen Einsicht irdisches Begehren seines Körpers (carne - Fleisch) möglichst niederkämpft. Was bei Guibert in  diesem Satz fehlt, ist die Konsequenz der Korruption der Seele durch das Fleisch, nämlich die Perspektive ewiger (!) Höllenqualen, die allerdings ganz eigentlich einen Körper voraussetzen.

 

Was wohl fast alle kirchengläubige Laien zumindest darunter verstanden, war nicht das unattraktive Weiter-Existieren einer körperlosen "Seele", sondern ein angenehmes leibhaftiges Weiterleben in irgendeinem Himmelreich in der Nähe Gottes und seiner Engelsscharen. (siehe weiter unten) Guibert selbst schreibt über seine verstorbene Mutter: (...) magis Deo praesens non negligit. (Wo sie sich schon vorher so gut um mich kümmerte), umso mehr kümmert sie sich um mich, seit sie in der Gegenwart Gottes ist. (I,3) In diese ist sie jenseits aller Theologie also ganz schnell gelangt...

 

 

Das "Fleisch" bzw. den Leib niederkämpfen ist Aufgabe nicht nur christlicher Askese, aus dem griechischen askesis für Übung abgeleitet. Das leisten schon frühe Eremiten in der ägyptischen Wüste, die möglichst wenig essen, sich minimal bekleiden, es an Hygiene im heutigen Wortsinn mangeln lassen und ihren Körper als Ort der Gelüste, insbesondere der geschlechtlichen, geißeln. Ihre Erben werden jene Mönche, die sich in klösterlichen Gemeinschaften von der "Welt" abschließen. Paralell dazu sollen Priester zwar in der Welt und für sie da sein, aber andererseits ebenfalls sexuell enthaltsam und möglichst in ähnlichen Gemeinschaften wie Mönche leben.

 

Ein wenig Askese sollen aber auch die Menschen "in der Welt" leisten, durch Fasten samt sexueller Enthaltsamkeit zum Teil über mehrere Wochen und vor dem Einnehmen der Kommunion. Überhaupt sollen sie ihre Begierden zügeln, was aber vor allem für die gilt, die ganz unten von einem Herrn abhängig sind. Guiberts Mutter war keine Asketin, was sie in der Nachantike unter Umständen zur veritablen Heiligen gemacht hätte. Ein solcher ist der Eremit Hospitius gegen 600, von dem Gregor von Tours schreibt:

Er wand sich eiserne Ketten um den bloßen Leib und trug sein härenes Kleid darüber und er aß nichts als trockenes Brot und wenige Datteln. In der Fastenzeit nährte er sich von den Wurzeln ägyptischer Kräuter, wie sie dort die Einsiedler genießen; Kaufleute brachten sie ihm mit. Zuerst trank er die Brühe, worin sie gekocht waren, nachher genoss er sie selbst. (Historien, IV,6)

 

Man sieht, dass Einsiedler in der Regel nahe bei Siedlungen lebten, aus denen sie versorgt und von deren Einwohnern sie bewundert werden können. Unübersehbar ist auch eine gewisse Eitelkeit in der Selbststilisierung, wenn denn Gregors Darstellung so stimmt. Daneben lässt sich die Lust am eigenen Leiden auch als (sexuelle?) Perversion verstehen, deren sexuelle Komponente in so mancher weiblichen Heiligenlegende dann auch deutlicher wird (wobei an dieser Abartigkeit dann die männlichen Autoren offensichtlich teilhaben).

 

 

3. Erlösung in die Ewigkeit

 

Was Göttern zur Zeit der Evangelisten gemeinsam ist und sie vor den Menschen auszeichnet, ist ihre Unsterblichkeit. Darüber hinaus sind der jüdische und der ihm langsam wieder ähnlicher werdende christliche Gott allwissend, allmächtig, gerecht und eben vor allem – ewig.

 

Der Tod aber ist neben dem Schmerz der Urquell aller menschlichen Angst. Seine Endgültigkeit irgendwie zu leugnen ist wohl schon ein frühes Unterfangen der Menschheit gewesen. Frühe Kulturen haben zum Beispiel ihre Toten mumifiziert und in der Nähe aufbewahrt – auf irgendeine Weise waren sie dann noch da. Andere hatten Vorstellungen von einem Jenseits (dieser Welt), welches viel mit den Wert-und Wunschvorstellungen der Menschen zu tun hatte. Germanen und viele andere gaben ihren Toten lebensnotwendige Sachen, Nahrung, Kleidung, Waffen usw. mit, auch damit ihnen der Übergang in dieses Jenseits ermöglicht oder erleichtert wird.

 

Juden verbrannten ihre Toten nicht, weil sie glaubten, wenn der Tag der Erlösung käme, und zwar nur für sie, würde der Messias sie aufwecken und sie würden dann in einem exklusiven Paradies für Juden wieder irgendwie leibhaftig zum Leben erwachen.

Der evangelische Jesus erklärte nicht wortwörtlich, er sei dieser Messias, aber seine Anhänger hielten ihn irgendwann dafür. Nur war er nicht mehr für jeden Juden zuständig, sondern nur noch für die, die so lebten wie er, nachdem er dank des Täufers seine Mission entdeckt hatte. Und sein Vater (nicht Joseph, sondern der da oben) würde, so sagt der Jesus der Jerusalemer Passion, dafür sorgen, dass sein Tod mit einem gewaltigen Donnerschlag diese Welt für seine Jünger ganz schnell in das paradiesische Jenseits verwandeln würde.

 

Das geschah nicht und er kam auch nicht wieder, wie seine Anhänger zunächst dachten, um dies sein Werk zu vollenden. So blieb nichts anderes, als auf Erden lebenslang auszuharren, so zu leben, wie Jesus das wollte, und das ewige Leben auf die Zeit nach dem Tod zu verlegen, von der niemand zurückkommt und erzählen könnte, dass es sich um eine vergebliche Hoffnung handelte.

 

 

Der Gott der Evangelisten war bereits im Ansatz ein Richtergott. Er würde wissen, wer so wie die Apostel, die Anhänger Jesu also, für sein Himmelreich tauglich wäre, und er würde alle anderen Leute seinem kontrapunktischen Kollegen, dem Teufel überlassen. Zu diesem Gerichtstag kommt es aber erst mit dem vom christlichen Gott inszenierten Weltuntergang, denn Voraussetzung für das Jenseits war das Ende des Diesseits. Wann das sein würde, wurde zwar immer mal wieder vermutet, aber Genaues wusste man nicht, auch wenn Gelehrte versuchten, ein genaues Datum zu berechnen.

 

Schon die Mittelmeer-Antike und der Nahe Osten kannten eine mythische Abfolge von Zeitaltern, beginnend mit einem goldenen und dann absteigend mit der Bezeichnung durch jeweils weniger edle Metalle. Christliche Gelehrte führte das zur Benennung einer Reihe von Reichen in eher aufsteigender Linie, deren letztes das römische sei, welches dann auf die Nachfolgereiche übertragen wird. Am Ende steht immer noch das Weltengericht, welches in Zusammenhang gebracht wird mit der als Prophetie verstandenen sogenannten Apokalypse (Offenbarung) des Johannes.

 

 

Immerhin kommt man selbst auf höherer Ebene schon früh zu der erfreulichen Annahme, dass besonders Fromme es schon früher schaffen könnten, sozusagen vorgezogen würden, weil Gott sie besonders liebe so wie Jesus seinen Jünger Johannes. Heilige wandern nun ohne Umwege zu Gott, über Papst Stephan schreibt Lampert von Hersfeld um 1078, er starb in Florenz und wanderte sicherlich, wie wir hoffen, aus diesem Tal der Tränen hinüber zu den Wonnen der Engel. Dafür zeugen die Zeichen und Wunder, durch die sein Grab in derselben Stadt bis zum heutigen Tag durch Gottes Fügung ausgezeichnet sind. (Annales zu 1058)

 

Um es noch einmal deutlich zu machen, der evangelische Jesus hatte zwar, selbst auferstanden, wie da nach seinem Tod behauptet wird, nicht von der Auferstehung der Menschen geredet, sondern von seiner Rückkehr in Kürze, mit der für die, die ihm bis dahin gefolgt waren, das Reich Gottes anbrechen würde, wohl ganz in jüdischem Sinne in dieser Welt und keiner anderen. Die Rede von der menschlichen Auferstehung von den Toten konnte erst einsetzen, als er nicht wiederkam. Nur darum entsteht die Kirche mit ihren magischen Mitteln und all das, was sich daraus ergeben wird. 

 

 

Die Trennlinie zwischen Attraktion und Schrecken der Sünde setzen der Tod und das (irgendwann) folgende Gericht, bei dem nach mittelalterlicher Vorstellung eine richtige Gerichtsverhandlung stattfindet, in der die Qualifizierung für das ewige Leben untersucht und bald durch heilige Anwälte auf Seiten des Sünders zu dessen Gunsten beeinflusst werden kann. Noch im 'Muspilli' des bayrischen 9. Jahrhunderts heißt es: In diesem Gericht ist kein Mensch so schlau, dass er sich freilügen könnte (dar ni ist eo so listic man der dar iouuiht arliugan megi). Sich in den Himmel Tricksen geht also nicht, und das verstärkt die Angst.

 

Für die Missionierung wird die Erwartung des allgemeinen Welten-Gerichtes als Weltuntergang tendenziell ersetzt durch die bald nach dem individuellen Tod einsetzende Gerichtsbarkeit für den jeweiligen Verstorbenen, was dem Drohcharakter der christlichen Botschaft auf den Einzelnen erheblichen Nachdruck verleiht. Noch das althochdeutsche und noch recht germanisch angehauchte 'Muspilli' beginnt in neuhochdeutscher Übersetzung folgendermaßen:

 

Und dann kommt für den Menschen der Tag, an dem er sterben muss. Wenn sich dann die Seele (sela) auf den Weg macht und die Leibeshülle zurücklässt, kommt eine Schar von den Sternen des Himmels, eine andere aus dem Feuer der Hölle (fona pehhe), diese werden um die Seele kämpfen. In Sorge muss die Seele dann ausharren, bis entschieden ist, welcher der beiden Scharen sie zufällt. Denn wenn das Volk des Satans sie erringt, dann führt er sie unverzüglich dorthin, wo nur Leid auf sie wartet: in Feuer und Finsternis. Das ist in der Tat ein grauenvolles Urteil. Wenn aber die, die vom Himmel her kommen, die Seele holen und wenn sie den Engeln zuteil wird, dann geleiten diese sie schnell empor ins Reich des Himmels (in himilo rihhi). Dort ist Leben ohne Tod und Licht ohne Finsternis, eine Wohnung ohne Sorgen, dort leidet niemand an einer Krankheit. Wenn der Mensch im Paradies eine Wohnung, im Himmel ein Haus erhält, wird ihm Hilfe in Fülle zuteil

 

Anhand dieses Textes mag man ahnen, wie germanische Völker missioniert wurden bis hin zum anschaulichen hus in himile, welches ihnen versprochen wird. Fast zweihundert Jahre vorher, wird in der Vita des Friesenmissionars Wulfram berichtet, fehlt in dem Bekehrungsversuch an Friesenfürst Radbod die Hölle ganz, aber dafür ist die christliche nun von der germanischen Version von Walhal/Himmel kaum verschieden:

Als der erwähnte Fürst Radbod zum Taufempfang ermuntert wurde, fragte er den heiligen Wulfram, ihn unter Eid verpflichtend, wo die größere Zahl der Könige, Fürsten und Adeligen des Friesenvolkes sei: In jenem Himmelsaufenthalt, den er, Wulfram, ihm, wenn er glaube und sich taufen lasse, in Aussicht stelle, oder an jenem Ort, den er die höllische Verdammung nenne? Darauf der heilige Wulfram: Du sollst nicht im Irrtum bleiben, hoher Fürst! Für Gott ist die Zahl seiner Erwählten eindeutig. Deine Vorgänger, die Fürsten des Friesenvolkes, die ohne Taufsakrament verschieden sind, haben - das ist gewiss - ihr Verdammungsurteil erfahren; wer aber von jetzt an glaubt und sich taufen lässt, wird auf ewig in der Freude mit Christus sein. Als dies, so wird berichtet, der ungläubige Fürst vernahm, da zog er - er war schon zum Taufbecken geshritten - den Fuß vom Taufbecken wieder zurück und sagte, er könne nicht auf die Gemeinschaft mit seinen Vorgängern, den Friedensfürsten verzichten (...) er (...) bleibe lieber bei dem, was er allezeit mit dem Friesenvolk eingehalten habe. (in: Neiske, S.87f)

 

Wir ahnen, wie wenig "Glauben" man offenbar als Fürst in die Taufe einzubringen hat, deren handfestes Ziel die entsprechende Bekehrung des Volkes mit ihren politischen (Er)Folgen insbesondere für die Frankenherrscher gewesen wäre. Die Bekehrung der Friesen und Sachsen ist erst die Folge langer und blutiger Kriege dieser Herrscher.

 

 

Den schon über Generationen bekehrten Christen wird durch die Heilsmittel der Kirche die Perspektive gewährt, nach Ableistung der Sündenstrafen an der Ewigkeit Gottes teilhaben zu können. Auf höchstem theologischen Niveau ist dafür allerdings nur die Seele geeignet, denn Gott dort ist eine Art Geistwesen und nicht der physisch vorstellbare ältere Herr des Volksglaubens. Entsprechend ist der körperliche Mensch der Verwesung anheimgegeben und je frömmer der Christ, desto mehr soll er ihm Verachtung entgegenbringen und als Mann vor allem sich nicht von weiblichen Reizen täuschen lassen. Das bewegt die heiligsten Herren der Kirche schon mit Augustinus, der mit Ekel darauf verweist, dass der Mensch direkt zwischen Urin und Fäkalien geboren wird, was den naturgemäßen Sehnsuchtsort des männlichen Gliedes wenig attraktiv erscheinen lässt, was er im Zustand fehlender Geilheit wohl auch ist.

 

Und so kann Abt Odo von Cluny, der frömmsten und mächtigsten einer im 10. Jahrhundert, denn auch formulieren:

Die Schönheit des Körpers besteht allein in der Haut. Denn wenn die Menschen sähen, was unter der Haut ist, (...) würden sie sich vor dem Anblick der Frauen ekeln. Ihre Anmut besteht aus Schleim und Blut, aus Feuchtigkeit und Galle. Wenn jemand überdenkt, was in den Nasenlöchern, was in der Kehle und was im Bauch alles verborgen ist, dann wird er stets Unrat finden. Und wenn wir nicht einmal mit den Fingerspitzen Schleim oder Dreck anrühren können, wie können wir dann begehren, den Dreckbeutel selbst zu umarmen. (So in: Huizinga, S.194)

Die Erkenntnis, dass Menschen aufgrund ihrer Ausstattung mit Verstand und Gefühl sich selbst nur ertragen können, indem sie sich Illusionen machen, wird allerdings bei diesen Christen gepaart mit der Illusion, sich dereinst als Geistwesen vom Körper befreien und dann als Gottes Auserwählte ewig "leben" zu können.

 

Für die meisten Menschen ist allerdings das Angebot ewigen Lebens als körperloser Seele wenig attraktiv, und so duldet die Kirche und fördert dann auch, dass der Volksglaube die Vorstellung einer Auferstehung des Leibes wie beim Gottessohn vorzieht, und zwar im optimalen Zustand jugendlicher Kraft und Schönheit.

 

Natürlich wissen die antiken und nachantiken Menschen, dass auch Christen in ihrem Grab verwesen. Auch wenn sie nicht vom Schwert zerstückelt, von der Lepra zerfressen oder vom hohen Alter gebeugt waren, blieb eigentlich à la longue nicht viel von ihnen übrig. Aber der evangelische Jesus hatte, behauptet die Kirche schließlich, die Auferstehung des Leibes versprochen und auch selbst vorgemacht. Den Laien, also fast allen, konnte  man nun kein ewiges Leben als Kranker, Zerstückelter oder gebrechlicher Greis als Angebot für den Glaubenswechsel und die Unterwerfung unter Kirche und weltliche Macht machen.

 

Neben diese Vorstellung von einer leiblichen Auferstehung trat nach und nach, wie schon das 'Muspilli' zeigt, die von einer Unsterblichkeit dessen, was die Griechen psyche nannten, die Römer anima, und was dann in germanischen Sprachen als Seele übersetzt wurde. Diese entweicht danach mit dem Tod aus dem Körper und landet entweder bei Gott oder allen Teufeln. Der Körper ist dann als toter „entseelt“, ein Ausdruck, der sich gehalten hat. Die Seele wird für immateriell gehalten (quasi) wie der Atemhauch, ist aber zugleich durchaus glücks-und leidensfähig. Aber der Gedanke von der Unsterblichkeit der Seele war weder vorstellbar noch darstellbar und darum eher ungeeignet bei der Propagierung des Christentums.

 

Die Vita des Erzbischofs Brun, des Bruders von Kaiser Otto d.Gr., berichtet davon, er habe sich auf dem Sterbebett "neugierig auf die Bekanntschaft mit vielen berühmten Männern gefreut, die er im Paradies machen werde." (WGoez, S. 79) Kaum vorstellbar, dass er damit immaterielle glückselige Seelen gemeint haben könnte.

 

Die Dualität von Leib und Seele/Geist wird konstitutiv für das Christentum der Gebildeten, während sie für germanische Völkerschaften zunächst nicht einmal sprachlich darstellbar war. Zudem sind die Höllenqualen, mit denen der neue Gott beim Auslaufen der Antike zunehmend droht, für die zu Missionierenden als körperliche Torturen wesentlich überzeugender als irgendeine Seelenpein.

Noch bei Otto von Freising taucht die Vorstellung einer doppelten Auferstehung auf, duas esse resurrectiones animae videlicet  et corporis. (Chronik VIII,10, S.604)

 

Zwischen Papst Gregor ("dem Großen") und dem ersten Millennium wird von zahlreichen "Visionen" berichtet, die das Jenseits beschreiben. In wieweit solche Texte durch Predigten unter das Volk kommen, bleibt unklar.

Dazu gehört die von Walahfrid Strabo 824 in Gedichtform gefasste 'Visio Wettini', in der dieser auf dem Sterbebett durch die Unterwelt/Hölle wandert. Neben vielen anderen Prominenten sieht er dort auch Karl ("denGroßen"), der als Lüstling von einem Tier, welches die Teile der Scham ihm zerfleischte, gequält wird. Diese Qual muss er leiden, weil er durch schändliche Wollust die guten Taten besudelt und geglaubt hat, es tilge die Menge des Guten die Lüste. Deshalb gedachte er so in gewohnter Sünde zu leben bis an sein Ende. (in: Neiske, S.69)

 

 

Gott und sein Reich sind jenseits von Zeit und Raum und damit menschlichem Vorstellungsvermögen eigentlich nicht zugänglich. Im Grunde gilt das auch für die Hölle, die aber nach der Antike an Format und Anschaulichkeit immer mehr zunimmt, da sehr alltägliche Folterqualen nicht nur die Phantasie beschäftigen. Ewige Seligkeit hingegen ist nicht vorstellbar. Sie ist auf Erden nicht zu haben, und wenn man sich dann aus dem irdischen Leben dafür das herauspickt, was einem besonders gefällt, nimmt die Kirche das hin, die Gebildeten in ihr wissen aber, dass der unaufhörliche Gesang der Engel, die Abwesenheit materieller Not und ähnliches Hilfskrücken für die schlichten Gemüter und die zur Dummheit Geborenen und Erzogenen sind.

 

Was für (ein wenig) philosophisch geschulte Theologen eine jenseitige Welt der Vergeistigung und der unirdischen Abstraktionen ist, was immer das sein mag, stellt die Kirche der Masse der Christen relativ bald als paradiesische Zustände in einem einladend paradiesisch ausgestalteten Himmel vor, also das absolut gesetzte Gegenteil der irdischen Welt, die für die meisten damals nicht zuletzt Mühsal und Arbeit, Kummer und Leid bedeutet. Damit sie das alles so recht genießen können, stellen sie sich den "Himmel" gerne als Ort vor, wohin sie vom Tode wieder leibhaftig "auferstehen" werden, wie das von ihrem zum Christus gewandelten Jesus (angeblich) als erstem Modellfall vorgemacht wurde. Damit das dann noch erfreulicher wird,  wird dahingehend noch weiter phantasiert, dass man nicht als gebrechlicher alter Mensch, sondern in jugendlicher Blüte aufersteht, was später in der Kirche dann auch deutlich später teilweise aufgenommen und dargestellt wird.

In der vom Anfang des 9. Jahrhunderts stammenden Trierer bebilderten Handschrift der Apokalypse, also der Offenbarung des Johannes, thront Christus als richtender Gott, assistiert von einigen Engeln, und unter ihm werden die gerade Auferstandenen als recht jung, gesund und munter abgebildet, natürlich nackt wie im ersten Paradies.

 

Darunter, neben dem Engel, der die für das Himmelreich Untauglichen dem bzw. einem Teufel übergibt, wird gezeigt, wie einfach der Zustand der gerade Auferstandenen aufzupolieren ist: Ein Engel befiehlt einem kopflosen und auch sonst in schlechtem Zustand befindlichen Auferstandenen, sich in die angemessene körperliche Verfassung derer über ihm zu begeben, in der alleine man vor Gott zu treten hat.

 

In seiner 'Vita sua' beschäftigt das Anfang des 12. Jahrhunderts Gilbert (Guibert) von Nogent im Zusammenhang mit Betrachtungen über die körperliche Schönheit seiner Mutter:

Man sagt auch, dass unsere Körper, einmal unter die Auserwählten eingereiht, nach der Pracht des Körpers Christi gestaltet werden, und zwar so, dass die Hässlichkeit, durch einen Unfall oder durch natürliche Verwesung zugezogen, verbessert wird, wenn wir übereinstimmen mit dem auf dem Berge transfigurierten Sohn Gottes. (Ad hoc etiam nostra electorum corpora corporis claritati Christi configuranda dicuntur, ut foeditas, quae casu seu naturali corruptione contrahitur, ad regulam transfigurati in monte Dei Filii corrigitur. (Guibert, S.14)

 

Ähnlich äußert sich mehr als eine Generation später Otto von Freising zur Auferstehung der vera corpora in vera carnis substantia (Chronik VIII,27): Alle werden laut Augustinus auferstehen in jugendlicher Frische, und wer missgestaltet war, wird von Gott dafür geschönt werden. Frauen werden wie Männer auferstehen, aber die weiblichen Glieder  (membra feminea) werden nicht dem früheren Zweck angepasst sein, sondern der neuen Schönheit. (Chronik VIII,12, S.608) Es soll die Geschlechter weiter geben, aber nun wieder im paradiesischen Zustand fehlender Triebhaftigkeit.

 

Das ist die großartige Einladung der Kirche: Der Tod ist nun nur noch der Übergang in eine zweite Welt phantastischer Wunscherfüllung und nicht mehr das Ende, - eher der eigentliche Anfang. All das ist zwar widersprüchlich und inkonsistent, unter anderem weil man  eigentlich für all diese Annehmlichkeiten auf die Wiederkunft Jesu warten muss, der der erfahrbaren Welt ein Ende macht, mit dem auch alle nicht für ein himmlisches Leben vorgesehenen Menschen in irgendeinem Orkus verschwinden. Und dann ist da noch ein zweites Problem, denn es gibt ein doppeltes Jenseits neben dem einen erfahrbaren irdischen: Zum Himmel gesellt sich die Hölle und laut Paulus und den Evangelien ist letztere für die meisten da.

 

4. Hölle und Teufel

 

In der antiken Welt der Römer verschwindet für Gläubige das, was vom Menschen nach dem Tod übrigbleibt, in der Schattenwelt des infernus, wörtlich der Unterwelt. Im germanischen Raum ist das hel oder hella,  in späterem Deutsch Hölle oder italienisch inferno zum Beispiel.

 

Tatsächlich entsteht die Hölle aus dem Hades/Tartarus der römischen bzw. griechischen Antike und hat mit dem evangelischen Jesus und seinen jüdischen Vorgaben nichts zu tun. Christlich gewendet wird daraus im 6./7. Jahrhundert der (wohl riesige) unterirdische Folterkeller, in den alle die Toten gelangen, die entweder zu viel gesündigt oder aber nicht genügend die von Gott der Kirche verliehenen Heilsmittel genutzt haben. Damit werden aus den zwei Welten dann eben doch drei.

 

Chef im (christlichen) Höllenreich ist der Teufel. Als Satanas ist er bei Juden der „Widersacher“ Gottes gewesen, sein Gegenspieler, und bei den zu bekehrenden Griechen wird diese Vorstellung recht wörtlich in den diabolos übersetzt und in seinen Verballhornungen wird dieses Wort dann für die Germanenmission übernommen.

Einen Teufel kannten die Griechen, Römer und Germanen wohl nicht, wie auch keinen Sündenbegriff. Dafür kannten sie wie alle Indoeuropäer eine Zwischenwelt zwischen Menschen und Göttern, gute und böse Phantasie-Wesen, Feen, Dämonen usw. Dieser Volksglaube wird durchs Mittelalter anhalten, aber die Kirche wird danach streben, dem (sehr eingeschränkten) Monotheismus und der geistlichen wie weltlichen Monarchie auch einen solistischen Bösewicht zuzugesellen, einen "Mono-Satanismus" sozusagen einzurichten, was Christen aber nicht hindert, überall tausend Teufel am Werk zu sehen, ist die Welt des evangelischen Jesus wie seiner jüdischen Zeitgenossen doch schon von teuflischen Dämonen durchsetzt, die niemand so wie er austreiben kann.

 

Abgeleitet wird die christliche Teufelsvorstellung aus der jüdischen Paradiesgeschichte, in der (der jüdische) Gott mit Adam und Eva zwei Menschen "nach seinem Ebenbild" schafft, was immer das bedeuten mag. Jedenfalls sind sie zugleich Mann und Frau und doch ohne Geschlechtstrieb, da noch unsterblich. Der böse Widersacher Gottes, später auch als aus dem Himmel gefallener Engel des göttlichen Hofstaates beschrieben, verdirbt die Unschuld der Menschen, indem er Eva dazu verführt, Adam zu verführen, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu pflücken,  mit der das Böse selbst in die Welt kommt.

Die Paradiesgeschichte als bildhafte Vorstellung des Austritts des Menschen aus der paradiesisch vorgestellten Natur und Eintritt in die Mühen der Kultur bestimmt diesen Punkt als den des Beginns eines sich selbst reflektierenden Denkens, also den der Textproduktion.

Die dazugehörige sexuelle Komponente besagt, dass in/mit dem Bösen ein Begehren in die Welt kommt, welches sich praktisch dazu fügt, dass die Menschen als Strafe Gottes ihre Unsterblichkeit verlieren und nun zur Fortpflanzung gezwungen sind, welche bekanntlich nun durch Lustgefühle motiviert wird.

Der Koitus ist für die jüdischen Priester-Redakteure dieser Geschichte noch keine Sünde, da ihrer Ansicht nach das (jüdische) Volk Gottes sich (in dessen Auftrag) fleißig zu vermehren hat; ihr Augenmerk liegt auf der Erkenntnis als Unterscheidung zwischen gut und böse, die sich Menschen unbefugt angeeignet haben, obwohl sie jüdisches Priestermonopol sein soll.

 

Die Verbindung von Geschlechtstrieb, sexueller Lust und Sünde entwickeln erst frühe Kirchenlehrer. Die von Jesus angebotene Rückkehr ins Paradies und nun eher in den "Himmel" bedeutet erneute Unsterblichkeit und damit das Ende sexuellen Begehrens. Die Vorbereitung darauf auf Erden gelingt um so besser, je mehr man dies Begehren unterdrückt und wenigstens nicht auslebt.

Dabei geht es um die menschliche Besonderheit, dass die Fortpflanzung mit einem besonders ausgeprägten Lustempfinden gekoppelt ist, welches schon das Begehren zu einem von ausgiebiger Schmerz-Lust-Erfahrung machen kann, von der kirchlich geforderten Hinwendung zu Gott ablenkt, indem sie die Menschen auf sehr Irdisches konzentriert.

 

Als erste und zentrale Sünde setzt sich also bald die sexuelle Unzucht (fornicatio) durch, wobei man das deutsche Wort auch mit Disziplinlosigkeit umschreiben könnte. Damit wird der Teufel in hohem Maße zum Vertreter des sexuellen Begehrens, was sich volkstümlich in seinem animalischen Pferdefuß und seinen ebenso animalischen Ausdünstungen niederschlägt.

 
Hier verbinden sich nun Eva als Verführerin des Mannes und der Teufel, der sich ihrer bedient. Am männlichen Begehren ist die Frau schuld, „weil“ sie es im Mann entzündet. Die Frau, die das forciert, ist mit dem Teufel im Bunde. Damit wird das Teufelsbild aber im Laufe der Zeit zunehmend schwanken zwischen dem abstoßend hässlichen Bösen und dem attraktiv-charmanten Bösen. Nur in letzterer Rolle taugt der Teufel ja als Verführer insbesondere der Frau, die dann den Mann verführt. Damit wird ein jüdisches Frauenbild zu einem christlichen.

 

Aber der Teufel, meist in der Mehrzahl, ist nicht erst für die Hölle zuständig, sondern bereits auf Erden ähnlich allgegenwärtig wie Gott, ist doch die Erde sein eigentliches Reich, so wie das Paradies das Reich Gottes ist. Nur so ist verständlich, warum der evangelische Jesus versprochen hatte, seine Wiederkehr mit der Zerstörung der irdischen Teufelswelt zu verbinden.

 

Das das "Böse" mit dem Teufel und dann immer mehr Teufeln personifiziert wird, hat sicher mit dem Ende der antiken Theologie und der Mission in den germanisch angeführten Nachfolgestaaten zu tun, damit eben auch mit dem Niedergang der Städte und der zunehmenden Illiteratheit der Menschen. Sehr präsent werden die Teufel in den (von Kirchenleuten verfassten) Texten aber erst mit dem langsamen Einstieg ins Mittelalter im 9./10. Jahrhundert.

Seitdem ist der Teufel überall, was daran liegt, dass er zwar wie Gott nur einer ist, aber zugleich nicht nur in dreierlei Gestalt, sondern in unzähligen Exemplaren auftritt. Bei Guibert von Nogent wird berichtet von Horden von Teufels, die sich nächstens auf dem Friedhof eines Klosters tummeln. (De vita sua, I,25).

 


Die Vorstellung vom Regiment des Teufels und den Höllenqualen setzt sich, wenn man allem, was überliefert ist, glauben kann, langsam immer mehr durch und wird von Königen und Bauern gleichermaßen „geglaubt“. Wenn dann auf höchster Ebene Papst Gregor VII. im Streit mit Heinrich IV. die Welt auffordert: Versucht ihn in jeder Weise der Hand des Teufels (de manu diaboli) zu entreißen, wo doch die Möglichkeit besteht, dass er es lieber dem Teufel als Christus zu folgen vorzieht (in Laudage/Schrör, S.129), so wird deutlich, dass an dem Teufel auch in höchsten Kreisen kein Zweifel besteht. Und wenn das den König wenig beeindruckt, dann nicht, weil er nicht an das göttliche Gericht und die Höllenqualen glaubt, sondern eher den Papst für vom Teufel besessen hält.

 

 

Der Teufel des Mittelalters ist eine Doppelgestalt: Einmal ist er auf Erden der Verführer, der Anbieter zahlloser Verlockungen. Andererseits ist er aber auch in der Hölle der grausame Folterer und Sadist. Hier ist der Vorgang der einsichtsvollen und so tradierten Verzichtsleistungen im Prozess der Kultivierung des Menschen institutionalisiert durch die erweiterten und neuen Verzichtsleistungen im Prozess der Zivilisierung.

 

Dabei verkörpert das Böse als Teufel oder ganzes Reich von Dämonen das Verdrängte und Verleugnete des Menschen, das unterirdisch Gewordene, was gleichwohl beziehungsweise gerade darum mit besonderer Macht ständig nach oben strebt.

Das Augenmerk richtet die Kirche auf das Medium, durch das der Teufel vor allem Zugang zu den irdischen Menschen gewinnt, das sexuelle Begehren als Begehren von Lust, das größte Laster des Menschen, der Urquell seiner Sündhaftigkeit. Der Auftrag aber, jede Art von Fleischeslust möglichst weitgehend abzutöten, und überhaupt alle Lasterhaftigkeit abzudrängen, schafft eine Unterwelt, in der sie aufgehoben bleibt. Dies ist eine Welt, die in bizarrsten Bildern und Geschichten in mehr oder minder pervertierter Form immer wieder nach oben drängt.

 

Die Hölle, die sich Menschen in den christianisierten Machtstrukturen tatsächlich schaffen, wird so transponiert in eine Hölle, in eine Welt sadistisch quällustiger Teufel, denen keine Folter und keine Form der Peinigung fremd ist, und kaum versteckt tauchen da immer Anteile sexueller Aggression oder masochistischer Sehnsucht auf. (Siehe das spätere Kapitel über romanische Kleinplastiken)

 

Den besten Weg an der Hölle vorbei direkt ins Himmelreich demonstrieren jene mittelalterlich ausgeformten antiken Märtyrerheiligen, fromme Glaubenszeugen, die diese Qualen bereits auf Erden hinter sich bringen: Von Pfeilen durchbohrt, verbrannt, zerschnitten, mit abgezogener Haut, abgeschnittenen Brüsten oder was immer sonst eine durch Verdrängung unbewältigte Sexualität an Phantasien und realen Praktiken zustande bringt. Die Alternative der nicht in die Hölle Verfolgten wird Selbstkasteiung, jener Teil der Askese, der nichts anderes als selbst zugefügte Qual ist, die in eine Lust verwandelt werden soll.

 

 

Jeder Prozess der Kultur, dem Menschen aufgezwungen, da er auf andere angewiesen ist, ist mit Leiden, Unterdrückung und Verdrängung verbunden. Der Vorgang der Zivilisierung, nun vor allem auch Aufgabe der Kirche, setzt darüber eine zweite Ebene, die von Institutionen, ein ambivalenter Vorgang, da die Kirche und die mit ihr verbundene weltliche Gewalt zwar genauso Internalisierung verlangen wie jede Kultur, andererseits das ins wenig bewusste Internalisierte extern aber auch in Gestalt der Machthaber und Amtspersonen auftritt und damit der vernünftigen Auseinandersetzung zugänglich wird. Dies wird ein zentrales Thema, sobald es Menschen im Hochmittelalter geben wird, die das Selbst-Denken in altneuer Form zu praktizieren anfangen.

 

5. Sünde

 

Vorläufer einer christlichen Sündenvorstellung ist die jüdische vom Verstoß gegen die lange mosaische Gebots- und Verbotsliste. Im Christentum taucht dann davon nur noch ein Teil wieder auf. Es gibt spezifisch religiöse Sünden wie Gotteslästerung oder "unkeusche Gedanken", aber andererseits ist auch alles Sünde, was jenseits davon als Verbrechen gilt. Damit werden Missetaten, die sich gegen Elementaria des Zusammenlebens richten, wie sie alle Kulturen definieren, oder solche, die von Machthabern aus Eigeninteresse definiert werden, einer rationalen Auseinander-Setzung entzogen, denn sie sind nun Gottes Gebote, und weder mehr einfach Sitte und Brauch, noch einfach nur von Mächtigen durchgesetzt.

 

Der christliche Katalog der Laster bzw. in der kirchlichen Version, der Sünden, wird zugleich zu einem wunderbarer menschlicher Gelüste: Neben der sexuellen Lust gehört dazu jene Begierde, die als Völlerei abqualifiziert werden kann (Jesus hat wohl frugal geschmaust), als Besitzgier (Jesus hat Armut gepredigt), als Eitelkeit (Jesus wählt einen Esel statt eines Pferdes zum Ritt nach Jerusalem), als Stolz (dem Jesus als Gegenstück die Demut und Bescheidenheit vorlebte) usw.

 

Diese Laster bzw. Sünden im Katalog der Kirche sind die Mittel, mit denen der Teufel die Menschen im Irdischen gefangen halten und von der irdischen Pilgerschaft zu Gott abhalten möchte. Für die christliche Priesterschaft sind sie das Fundament ihrer Existenzberechtigung: Nachdem die Kindstaufe den Säugling formell und mit höchst magischen Mitteln dem Teufel entreißt und der Kirche zuführt, ermöglicht sie den Willigen mit Predigt und Zauberkräften den Weg zu Gott. Da dieser mit ständigen höchst natürlichen und zutiefst menschlichen Versuchungen gepflastert ist, bedarf es lebenslang stetig weiterer magischer Mittel der dafür Beamteten, um den Zugriff des Teufels abzuwehren.

 

 

Erschwerend kommt zu alledem dazu, dass die Kirche längst den Geschlechtstrieb zum Urheber menschlicher Sündhaftigkeit erklärt hat. Deshalb wird ernstliches Streben nach Heiligkeit nur den Mönchen und Nonnen zugesprochen, während der gewöhnliche Sterbliche nur zu gelegentlicher Enthaltsamkeit aufgefordert ist, schließlich soll das Leben ja weitergehen. Schon alleine deshalb sollen die Menschen regelmäßig die von ihrem Gott verliehenen Gnadenmittel der Kirche in Anspruch nehmen.

 

Die Menschen leben stärker als je zuvor im inneren Zwiespalt, müssen den aber für die Bewältigung ihres mühsamen Alltages immer neu wieder aufheben. Bis ins hohe Mittelalter werden sie lernen, zwischen dem, was sie sollen, und dem, was sie tun, einmal zu trennen, und zum anderen diese Spaltung möglichst zu ignorieren. Sie werden das in der Regel wohl kaum als Lüge betrachten, sondern als einzig praktikablen Weg ihrer Lebensführung. Dazu kommen dann die vielen Mittel, die zusätzlich zu den auf die Kirche beschränkten dazu verhelfen, Ausgleich zu schaffen für die unumgänglichen Sünden. Dabei wird in vielfältigen Formen ein Handel mit Gott eingegangen: Do ut des, ich gebe dir etwas, damit du mir dafür Erlösung von meiner Schuld anbietest. Das kann eine Spende des Reichen für den Armen sein, eine Schenkung an die Kirche, oder die Reue im Angesicht des Todes. Da geht dann das Kamel doch - nach Maßgabe seines Reichtums - durch das Nadelör, ganz entgegengesetzt dem, was der evangelische Jesus verkündet haben soll.

Fast alle sind allerdings sowieso inzwischen fast durchgehend von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt, also ihr Überleben und den Luxus der Herren durch Bearbeitung des Landes und durch Viehzucht zu sichern. Vor allem daran hat sich weiterhin ihre religiöse Vorstellungswelt zu orientieren.

 

6. Über- und unterirdische Machtkämpfe

 

Der christlich konstruierte Gott der Kirche hat die Welt geschaffen, die Menschen ob ihres Sündenfalls gestraft und taucht dann in Gestalt seines "Sohnes" kurz einmal wieder auf, um diesen zu opfern und damit die Menschen einzuladen, im Glauben an ihn und in seiner Nachfolge bzw. in der Unterwerfung unter seine Kirche nach Erlösung aus dem irdischen Jammertal zu streben.

Im Kern überlässt er die Ungläubigen ihrem Unheil und muss sich um die wahrhaft Gläubigen keine Sorgen mehr machen. Aber im Laufe der ersten kirchlichen Jahrhunderte beginnt er dann doch, immer wieder einmal auf Seiten seiner Anhänger auf Erden zu intervenieren - gerade so, wie schon der jüdische Gott.

 

Aber das Eingreifen Gottes, welches Menschen der Nachantike und des Mittelalters immer wieder herbeibitten, als Hilfe gegen Dürre oder Überschwemmung, gegen Heuschrecken und Krankheiten, dürfte tatsächlich eine zwiespältige Angelegenheit geblieben sein, und wird in dem Wort "Wunder" auch als Ausnahmephänomen gesehen.

Mit dem göttlichen Reich des Übernatürlichen wird nicht nur in Kirchenräumen kommuniziert und dabei Magie der Priester zelebriert, die Menschen insbesondere auf dem Lande scheinen alltäglich mit ihm in Kontakt zu stehen, wobei es auch Experten jenseits der Kirche zu geben scheint. Beide, Kirche und Volk, vereinigen sich in Prozessionen, die um gutes Wetter für die Ernten, Rettung vor Heuschreckenplagen oder Sieg in Schlachten und Kriegen bitten. Ablehnend ist die Kirche, wenn es um Vernichtung der Nebenbuhlerin oder des bösen Nachbarn, um Fruchtbarkeit der Frauen auf unkirchlichen Wegen oder die Verehrung guter Feen geht. Sie sind aber auch zusammen bei wundertätigen Reliquien und Heiligen, in der Verwandlung von Wein in Blut oder Wasser in Weihwasser im Kirchenraum, in der Austreibung von Teufeln und in der Weihung von Kirchen und zunehmend der Weihung von Königen.

 

 

Letztlich beherrscht der Teufel mit seinen höllischen Heerscharen die irdische Welt, die deswegen am Ende auch dem Untergang geweiht ist, und es bedarf der Kirche, um von heiligen, magisch geweihten Orten aus gegen ihn anzukämpfen. Schon die Legenden der Evangelien berichten von einem Jesus, der Dämonen ver- und austreibt und mit Wundern eine vernünftig konstruierte Welt außer Kraft setzt. Zudem ist sein "Vater" im Himmel jemand, bei dem alle Gesetze der Erfahrung und der Vernunft ohnehin aufgehoben sind.

 

Mit alledem kann sich die Kirche wie auch der sich daneben entwickelnde und langsam von ihr stärker beeinflusste Volksglaube in Vorgegebenes einbetten. Dabei verzahnen sich zwei Bereiche miteinander: Der Vernunftglaube antiker Philosophien und der Geister- und Wunderglaube der übrigen Menschen.

In Nachantike und (langem) Mittelalter ist für Bischöfe wie Priestern, für Reiche und Mächtige wie für Arme und Ohnmächtige die erfahrbare Wirklichkeit durchsetzt mit Geistern und Dämonen, besonders dabei mit Auftritten des Teufels, der offenbar viele Teufel unter sich hat, und zudem mit immer neuen Eingriffen Gottes in das Geschehen auf Erden. Mit alledem wird aus Unerklärlichem erklärbare Welt.

 

Wir haben also die auf menschlicher Triebhaftigkeit und Aggressivität beruhenden Macht-Kämpfe an der Oberfläche des menschlichen Lebens und die zwischen den göttlichen Mächten, in den Priestern handfest dargestellt, und den teuflischen, die die Menschen immer wieder befallen. Jenseits der Konfrontation mit der Kirche wird sich im Laufe der Zeit dabei eine bei den Menschen nur sporadisch auftretende Instanz in den Menschen herausbilden, die viel später im Deutschen Gewissen heißen wird. In ihm ist der Sündenkatalog internalisiert, und dort findet bei den Frömmeren der Kampf zwischen Begehren und Verbot statt, verstärkt durch das, was dem Ohnmächtigeren durch die Mächtigeren auferlegt wird. 

 

7. Re-Judaisierung: Der Gott des Krieges und des irdischen Erfolges

 

Der Gott des evangelischen Jesus ist (stillschweigend) der der Juden, den dieser Wanderprediger massiv uminterpretiert und damit der Tempel-Priesterschaft entzieht, wie er ja auch ganz offensichtlich ohne deren Opferkult auskommt: Die Evangelisten bzw. ihre Redakteure halten am Ende seinen Tod für das einzige wirksame Opfer, wobei inzwischen das mosaische "Gesetz" der Juden weitgehend außer Kraft gesetzt ist.

 

Wie schon Paulus-Briefe bezeugen, sind die christlichen Gemeinden, die sich vor allem im östlichen Teil des Reiches bilden, auf dem Weg in den griechischen und dann auch den lateinischen Alltag: Ein kirchengesteuertes Christentum muss alltagstauglich werden, sich also in die Machtstrukturen, Arbeits- und Lebensgewohnheiten integrieren, wenn auch nicht ganz so wie das vorausgehende Judentum, aber eben doch recht ähnlich.

Als erstes wird, da die Kirche weiterleben möchte, die Fortpflanzung zwar als grundsätzlich sündhafter Akt betrachtet, aber als notwendig anerkannt, und damit das Ausleben des Geschlechtstriebes im Rahmen der vorhandenen Gesetze bejaht. Insbesondere Mädchen, die jungfräulich bleiben wollen, aber auch Witwen, die ihre generative Pflicht abgeleistet haben, gelten dabei als heilig, da sie sich sehr konsequent Gott weihen. Entsprechendes gilt auch für die, die nun als Eremiten und dann in die neu entstehenden Klöster gehen.

 

Zu den vielen eher seltsamen Forderungen Jesu gehört die, die andere Wange hinzuhalten, nachdem man auf die eine geschlagen wird. Diese völlig widernatürliche und psychisch unerträgliche Unterwerfung unter die Gewalt der anderen, eine Opferbereitschaft, die als Friedfertigkeit verstanden wird, ist im historisch (wenig) dokumentierten Christentum der ersten Jahrhunderte bald fast vollständig verschwunden. Ganz im Gegenteil: Christen tauchen auch in den brutalen und grausamen Amüsierveranstaltungen der Kaiserzeit auf und es wird immer selbstverständlicher, dass sie auch Soldaten werden.

 

Mit der Legende von Konstantins Sieg über seine Gegner in entscheidender Schlacht "im Zeichen des Kreuzes" ist der jesuanische Gott dann endgültig in den jüdischen Kriegsgott, den Gott des Waffen- und Schlachtenglücks, rückverwandelt, nur dass dieser inzwischen den Juden durch die Christen quasi weggenommen und aus dem Opferkult der Tempelpriester eine Priesterschaft geworden ist, die über andere magische Zaubermittel verfügt.

 

Schon zum jüdischen Kriegergott gehörten altjüdische Engel als seine Krieger, seit sie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben haben und mit Gewalt eine Rückkehr verhindern. Die Militarisierung des Christentums, die bis in die Gegenwart anhält, formuliert in aller Deutlichkeit Karls ("des Großen") Alkuin in einem Brief an den Papst:

Unsere Aufgabe ist es, mit dem Beistand der göttlichen Gnade die heilige Kirche Christi überall gegen das Eindringen der Heiden und die Zerstörungen durch Ungläubige nach außen mit Waffen zu verteidigen und nach innen mit Kenntnis des katholischen Glaubens zu festigen. Euch obliegt es, heiliger Vater, mit zu Gott erhobenen Händen wie Moses uns im Kampf zu unterstützen, damit durch Euer Eintreten, von Gott geführt und gefördert, das christliche Volk über die Feinde seines heiligen Namens überall und immer siege und der Name unseres Herrn Jesus Christus in der ganzen Welt verherrlicht werden. (Brief 93 in: Neiske, S.16)

 

Die Rückkehr des jüdischen Kriegsgottes in die christliche Sphäre, die selbst den Feindesliebe predigenden Jesus als triumphierenden Christus zu einem Erzkrieger macht und den Papst mit Moses gleichsetzt, spricht Bände über das, was mit dem armen Jesus in den Händen der Kirche geschehen ist.

 

 

Das teuflische Begehren einerseits und die Unterwerfung unter die himmlisch eingesetzten Vorgesetzten auf der anderen Seite findet seinen größten Widerspruch im christlich eingefärbten kriegerischen Adel, in dem Stolz und christliche Demut nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Durch das ganze Mittelalter hindurch werden nicht nur überzählige Kinder adeliger Familien ins Kloster gesteckt, ohne sie zu fragen, sondern es gibt immer wieder auch einige, die den Anforderungen aristokratischer Lebensführung aus eigenen Stücken entfliehen, das Schwert wortwörtlich begraben wie der Heilige Galgano, oder früher Kapitalverwertung entkommen wie der Francesco von Assisi. Dazu kommen dann ältere Semester, die der eitlen Mühen dieser Welt überdrüssig werden und gegen eine Schenkung um Eintritt in ein Kloster bitten. Der berühmteste von ihnen wird wohl Kaiser Karl V. werden.

 

Und so wird das Mittelalter zwischen Aktivität, der vita activa, und kontemplativer Ruhe schwanken, aber geprägt wird es von Gewaltätigkeit, die legal ist als Fehde und Krieg, und illegal dort, wo sie die Machthaber verbieten, nämlich bei den jeweils untertanen. Durch die Nachantike bis in die Schwellenzeit des 10. Jahrhunderts und oft auch noch darüber hinaus werden Äbte und Bischöfe für die Aufstellung von Heereskontingenten zuständig sein, die schließlich unter den Ottonen mehr als die Hälfte des gesamten Reichsheeres ausmachen. Sie ziehen nicht selten selbst mit Rüstung und Waffen in den Kampf und kommen gelegentlich auch darin um. Begründet wird das gerne wie im Judentum und Islam religiös und am Ende als heiliger Krieg, wie er dann in die Kreuzzüge gegen diverse Ungläubige münden wird.

 

Was nun für den Sieg in der Schlacht gilt, gilt auch für alle übrigen sehr irdischen Wünsche. Dazu gehören Machtvermehrung, Reichtum, die gute Ernte samt entsprechender Witterung, die Fruchtbarkeit der Frau und die Potenz des Mannes, eben alles, was gerade als legitimer Wunsch angesehen wird. Wer bis tief ins Mittelalter da "heidnischen" Kräften mehr zutraut, wendet sich an sie, und weil das nicht selten so ist, versucht die Kirche, dagegen zu halten, indem sie selbst solche Wunscherfüllung anbietet.

Dazu wird gebetet und es werden Prozessionen angeboten, in denen Regen angefleht oder ein Ende des Regens erbeten wird, es gibt Reliquien, deren Nähe Fruchtbarkeit oder die Heilung von Krankheit versprechen, es gibt Messen, in denen die Hilfe Gottes für diese oder jene Angelegenheit herbei zelebriert werden soll. Wenn sich der Wunsch dann nicht erfüllt, wird darüber beschämt Stillschweigen gewahrt, klappt es aber, wird das entsprechende Wunder gerne in einen frommen Text gefasst, der Gottes Wunderbarkeit feiert.

 

Von der evangelischen Feindesliebe, ohne nicht lebbar, bleibt also nichts übrig, aber auch ansonsten bleibt natürlicherweise von der Nächstenliebe nicht viel erhalten. Sie wird zur caritas, die auf das Almosen-Geben für Arme und Kranke reduziert wird, immerhin eine Neuerung gegenüber einer eher erbarmungslosen Antike. In der Nachantike wird daraus einmal eine eher schon eigennützige Bußleistung derer, die entsprechende Einkünfte oder Vermögen haben, und die Kirche fördert dann, dass sie solche Almosen empfängt, um sie dann weiter zu verteilen.

 

Die Praxis

 

1. Glauben

 

Vor allen Zivilisationen ist Glauben der gefühlten Unerträglichkeit des Nichtwissens wie der dessen geschuldet, was man wissen kann und nicht wissen möchte. Menschen stopfen die Lücken ihres Wissens und erleichtern das schwer erträgliche Gewusste mittels Spekulierens und Fabulierens, und da das Geglaubte per se keine Substanz in der Wirklichkeit hat, muss es umso intensiver immer wieder eingeprägt und aufrechterhalten werden. In Zivilisationen wiederum wird tradierter Glaubensinhalt im Sinne der Machthaber umgeformt und von ihnen als Teil ihrer Machtausübung aufoktoyiert.

 

Die mittelalterlichen Zivilisationen beruhen wie alle auf Kombinationen von Gewalt und Gläubigkeit, wobei letztere dazu dient, erstere in die Latenz zu bringen, also idealiter in eine schiere und möglichst im Hintergrund lauernde Drohgebärde zu verwandeln. Neben vielem anderem, was der eine oder andere mal hier und mal da glaubt, ist er mit Ausnahme der Juden und ihrem Sonderstatus dazu verpflichtet, ja gezwungen, zumindest so zu tun, als ob er an ein wie auch immer geartetes Christentum glaubt. Und ähnlich wie heute alle auf die jeweilige Verfassung verpflichtet werden und sie dabei kaum kennen und verstehen und das auch gar nicht erwartet wird, so ist den meisten frühmittelalterlichen Christen durch alle Schichten ihre heilige Schrift nicht durch Lektüre vertraut und der Kern der evangelisch-jesuanischen Botschaft wird ihnen auch weitgehend vorenthalten. Zudem sind ihnen die theologischen Spekulationen seit der Spätantike ohnehin unverständlich, wie übrigens auch vermutlich fast der gesamten niederen Geistlichkeit. Kurz gesagt: Was zu glauben ist, wird von oben verordnet und so formuliert, dass es den jeweils herrschenden Machtstrukturen dienlich ist und den Menschen einigermaßen eingängig erscheint, ganz so, wie das heute politische Ersatzreligionen tun.

 

So eingerichtet, hat Glauben immerhin den angenehmen Vorteil, einmal mühsames Selbstdenken zu ersparen und sich mehr oder weniger gemütlich im Vorgegebenen einrichten zu können, andererseits aber auch den, sich Diffamierung, Verfolgung und auf dem Weg ins "hohe Mittelalter" dann auch Folter und Tod zu ersparen. In diesem Sinne ist das Mittelalter christlich, auch wenn vieles von dem, was da gelehrt und zelebriert wird, für den Ungläubigen absurd wirkt und klingt. Wir wissen, dass es zumindest nach der ersten Jahrtausendwende solche Ungläubige gibt, und das vermutlich viel häufiger als dokumentiert wird, denn es wird immer naheliegender, seinen Unglauben für sich zu behalten und höchstens bei Vertrauten zu äußern, - gerade so, wie politische Ungläubigkeit seit dem 18. Jahrhundert besser verheimlicht wird, will man nicht diffamiert oder schlimmer verfolgt werden.

 

Frühere Kulturen und selbst noch alte Zivilisationen kannten das, was wir heute Kulte nennen, etwas anderes als Religion. Diese Kulte und selbst frühe Götterwelten sind von ihren Ursprüngen her an Naturgewalten gebunden und haben so eine gewisse, quasi nachvollziehbare Plausibilität. Diese verschwindet ganz grundlegend schon im römischen Christentum: Jesus bricht sein Versprechen und kehrt nicht wieder, wofür die Christen mit Formen von Wundern und Magie entschädigt werden, die dem common sense von Menschen, so vorhanden, flagrant widersprechen, oder anders ausgedrückt, aller seiner Erfahrung. Im 10. Jahrhundert beginnt das völlig Unwahrscheinliche immer größeren Raum einzunehmen, um dann ab dem 11. Jahrhundert immer mehr in Dogmen gefasst zu werden, wofür die Transsubstantiation als Musterbeispiel herhalten kann, also die magische Verwandlung schieren Weines in das Blut des Erlösers und von Brot in sein Fleisch, die der Gläubige sich dann beide einzuverleiben hat.

 

Historiker schreiben bis heute von einer "Christianisierung" im nunmehr "christlichen Abendland" eines Mittelalters, ohne etwas anders dabei belegen zu können als eine Zwangsmitgliedschaft in einer kirchlichen Organisation und braves oder auch nur notgedrungenes Nachplappern geforderter Minimalbekenntnisse.

Was die Laien und insbesondere die produktiv tätigen Menschen tatsächlich glaubten, lässt sich nur vermuten, obwohl es für die Entstehungszeit des Kapitalismus mindestens so wichtig ist wie das, was sie glauben sollten. Zudem ist bis zur Jahrtausendwende kein sonderliches Interesse der Mächtigen daran erkennbar, was ihre Untergebenen glauben, solange sie die Macht der Kirche durch Beteiligung an ihren Ritualen, Zeremonien und durch Abgaben anerkennen und keine Konkurrenz unterstützen.

 

Die Kirche unterhalb der Adelsschicht dürfte nach den wenigen erhaltenen Hinweisen theologisch ungebildet, ja weithin illiterat gewesen sein und ähnlich wie die Laien, denen sie vorgesetzt ist, Elemente vorchristlicher Kulte und Bräuche mit christlichen vermischt haben. Fasziniert sind die Leute wohl eher von den magischen Aspekten des frühmittelalterlichen Christentums, die immer weiter ausgebaut werden, als vom evangelischen Jesus, von dem sie vermutlich nicht viel mehr erfahren, als dass sein Ende ein triumphaler Tod war, der ihn längst bis an ferne Ende der Welt den Menschen entrückte.

Gott, Kirche, Könige, Fürsten, und adelige Grundherren bilden eine Welt, unter die es sich zu ducken gilt und die religiös begründet wird: Die Macht kommt von Gott wie die Ohnmacht, und es gilt zu gehorchen. Inwieweit sich Leute dabei über einzelne "christliche" Vorstellungen wundern, kann vor den dokumentierten Häresien des 11. Jahrhunderts nur vermutet werden.

 

Christen sind dazu angehalten, andauernd das schier Unglaubliche zu glauben, zum Beispiel auch, dass eine Jungfrau einen (Gottes)Sohn gebären kann, das dreierlei Verschiedenes in einer "Person" ein einheitliches Eines sein kann, dass manchmal Blinde wieder sehen können, wenn sie sich in die Nähe eines Gefäßes mit besonderen Knochen begeben, dass das Eintauchen in vom Priester magisch verzaubertes Wasser einen Menschen irgendwelchen Teufeln entreißen kann, dass das Spenden von Gold und Silber an eine Kirche oder ein Kloster einen beschleunigten Weg zu einem Gott ermöglichen kann, der seinen Sohn geschickt hatte, um Armut als irdisches Ideal vorzuleben. Ja, man kann die Anwesenheit eines Teufels daran erkennen, dass man ihn wie einen Hund bellen oder wie ein Schwein grunzen hört. Vertreiben kann man ihn dann, indem man das Areal mit Weihwasser besprengt. Und vieles mehr...

 

In der Spätantike soll es einen Missionsbischof Dionysius gegeben haben, von dem als erster Gregor von Tours berichtet. Auf dem Mons Mercurii bei Lutetia (Paris) erleidet er mit zwei Gefährten das Martyrium, so dass dieser Hügel dann zum Mons Martyrum wird (Montmartre). Schon im frühen Mittelalter beginnt er den fränkischen Hauptheiligen Martin (von Tours) abzulösen. Das, was von seinem Martyrium zu glauben ist, fasst 1264 die 'Legenda Aurea' so zusammen:

 

 

Darauf wird er in einen Backofen geworfen, aber das Feuer verlischt und er bleibt unverletzt. Er wird an ein Kreuz geheftet und längere Zeit dort gequält. Von dort abgenommen, wird er mit seinen Gefährten und vielen anderen Gläubigen in einen Kerker gesperrt. Als er dort die Messe feierte und dem Volk die Kommunion reichte, erschien ihm Jesus der Herr in strahlendem Licht, nahm das Brot und sagte zu ihm: Empfange dies, mein Teurer, denn bei mir ist dein übergroßer Lohn. Danach dem Richter vorgeführt, werden sie wieder mit neuen Strafen gepeinigt, und beim Götzenbild des Merkur werden die Köpfe der Drei mit Axthieben abgeschlagen zum Bekenntnis der Dreifaltigkeit. Und sofort richtete sich der Körper des heiligen Dionysius auf und trug seinen Kopf in den Armen, geführt von einem Engel und von himmlischem Licht geleitet, zwei Meilen weit von dem Ort, der Märtyrerberg heißt, bis zu der Stelle, wo er nun nach eigener Wahl und Gottes Vorsehung ruht.

 

Wenn ein französischer Künstler um 1460 den heiligen Dionysius so darstellt, wird deutlich, dass man damals immer noch erwartet, dass eine solche Geschichte geglaubt wird.

Es geht nicht um Menschen, die anders als wir heute dumm genug waren, sich derart betrügen zu lassen. Sie waren genauso intelligent und klug bzw. dumm wie Menschen heute, wie zum Beispiel solche, die an Hitler, den Bolschewismus oder die Demokratie "glauben"; und in der Regel wird man davon ausgehen können, dass selbst lesekundige Priester nicht meinten, dass sie ihre Herde betrogen, wenn sie solchen Unfug erzählten.

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Das ist wichtig, denn der Glaube an das Unglaubliche formt die Welt mit, die sich im 10./11. Jahrhundert dahin aufmacht, Kapitalismus entstehen zu lassen.

Um das noch einmal anders deutlich zu machen: Die heiligen Schriften der Juden, allesamt sehr sagenhaft, sind mit ihrem Stammes-Chauvinismus wesentlich plausibler, lassen alles wunderbare als Verwunderliches bis auf wenige Ausnahmen aus und verlangen dem Juden eher Abgaben an den Tempel und relativ wenig aufwendige Regeln ab als Wunderglauben. Der Islam enthält im Kern nur eine Absonderlichkeit, dass nämlich ein dem Judentum entnommener Erzengel Mohammed den Koran eingeflüstert haben soll. Das sehr kleine Regelwerk, welches dem Muslim auferlegt ist, verlangt geringeren  Wunderglauben, auch wenn der dann nach dem Tod Mohammeds langsam als Ethno-Folklore doch noch Einzug hält.

Wenn philosophisch (aristotelisch) geschulte Leute im 17. Jahrhundert credo quia absurdum schreiben werden, also: ich glaube gerade deshalb, weil es unvernünftig ist, ist das ein Gedankengang, der den frühmittelalterlichen Christen weithin überhaupt nicht zugänglich ist. Vielmehr lernen sie, dass das, was sie zu glauben haben, eben höchste Gewissheit sei. Und wenn Gelehrte und Belesene im 11. Jahrhundert beginnen werden, zu versuchen, das Geglaubte auch noch mit der Vernunft nachzuvollziehen, so wird das der großen Mehrheit der mittelalterlichen Menschen unzugänglich bleiben.

 

Was Glauben ist, wird nirgendwo so deutlich wie daran, das "mittelalterliche" Bischöfe, Äbte und Päpste immer wieder Experten mit massiven Urkundenfälschungen betreuen, deren Zweck die Bereicherung und die Machterweiterung ist. Inwieweit sie diese Lügengebilde von anderer religiöser Propaganda unterscheiden, das heißt, inwieweit sie an das "glauben", was sie propagieren, ist schon bei ihnen nicht zu unterscheiden, da sich natürlich keiner von ihnen dazu äußert. Dass religiöse Behauptungen grundsätzlich auf vielleicht geglaubten Lügen basieren, wird aber für Untertanen irrelevant, für die es bequem ist, an das Vorgegebene zu glauben, und oft lebensgefährlich, sich anders zu äußern. Das aber hat die Kirche damals mit den totalitären Regimen der Moderne gemeinsam, und deren Polit-Propaganda ist schließlich genauso verlogen und bequem zu glauben.

 

Was mittelalterliche Menschen tatsächlich glauben, hängt einmal von ihrem Zugang zu Kirche ab, der erst im Verlauf des Mittelalters nach und nach die Menschen auf dem Lande erreicht. Verlangt wird von ihnen im Kern nur der Glaube an die magischen Kräfte der Kirche und das zunächst wenige, was gerade vor Ort ein Geistlicher imstande ist, ihnen als Glauben vorzusetzen. Danach sind alle Menschen außer den Heiligen Sünder, und das Maß ihrer Unterwerfung unter die Kirche bestimmt auch das Maß ihrer Höllenstrafen nach dem Tode. Die entsprechende Angstmache der Kirche wird dann erst im spätesten Mittelalter in den Städten etwas nachlassen.

Was nicht erwartet wird, ist Einsicht in die merkwürdige Theologie, die sich entwickelt, so wie dann auch Philosophen nicht erwarten, dass die meisten Menschen Zugang zu ihren komplizierten Sprachgebilden bekommen. Letztlich bleibt das meiste am Kirchenchristentum für die meisten Menschen geheimnisvoll und wohl auch uninteressant.

 

Wichtig für die Menschen damals ist sicherlich das magische Moment, welches sie vor ihrer Bekehrung im jeweiligen "Heidentum" schon kannten und welches in den evangelischen Wundertexten nicht wenig Raum einnimmt. Für Kelten und Germanen gehörten dazu Beten und Opfern an Hainen, an Bäumen, Quellen und Steinen, und die Kirche behauptet ja oft nicht, dass das unwirksam sei, sondern nur, dass es nicht korrekt sei. Aber von der Sternengläubigkeit bis zur Spökenkiekerei bleibt jede Menge "heidnische" Gläubigkeit ja bis heute erhalten. 

 

Die freieren Geister der Antike sind uns nur als Intellektuelle überliefert, und solche sind in den neuen Reichen bis ins 11. Jahrhundert nur im Rahmen der Kirche möglich, die der geistigen Freiheit immer engere Grenzen setzt. Wie intensiv und in wieweit die produzierende und unterworfene Unterschicht irgendetwas Christliches glaubte, bleibt uns heute unbekannt, überhaupt ist Glaube als Haltung jenseits aller Erfahrung das eben, was Religion im Unterschied zu vorreligiösen Kulten ausmacht, nur in den daraus erwachsenden Handlungen wahrnehmbar, und nicht im (in der Regel) erzwungenen Bekenntnis.

 

 Wer meint, sich über diese Menschen damals lustig machen zu sollen, muss daran erinnert werden, dass der Wunsch der Vater des Glaubens ist, und dass Menschen üblicherweise und heute so wie früher in Welten leben, von denen sie wenig wissen und selbst, was sie wissen könnten, nicht zur Kenntnis nehmen wollen, und die im wesentlichen aus dem besteht, was ihnen vorgestellt wird, ergänzt durch das, was sie sich selbst darunter vorstellen. Darauf zu verzichten kommt fast allen auch heute unerträglich vor. Und ein drastisches Beispiel des letzten Jahrhunderts: Im Namen jenes Paradieses, welches Kommunismus genannt wurde, sind alleine in relativ kurzer Zeit mehr Menschen umgebracht worden als in dem ersten christlichen Jahrtausend für ihr Heidentum sterben mussten.

 

2. Taufe

 

Wer sich mit dem Teufel in dieser Zeit und seiner Macht und Allgegenwart beschäftigt, kommt nicht um die gleichzeitige Ausdeutung der Taufe herum, die in dieser Form in der römischen Kirche Bestand haben wird: Es handelt sich um den rituellen Vorgang, in dem durch den Priester mithilfe des Taufpaten das Kind dem Teufel entrissen und in die Hand der allein rettenden Kirche gegeben wird.

Eines der frühesten althochdeutschen Zeugnisse, ein Taufgelöbnis, dokumentiert das. Erst wird dreimal dem Teufel widersagt und dann wird in einzelnen Erklärungen das Glaubensbekenntnis aufgesagt. Die ersten Sätze lauten in heutigem Deutsch:

 

Widersagst du dem Teufel? (Forsahhistu unholdun?) - Ich widersage. / Widersagst du den Werken und allen Wünschen des Teufels? - Ich widersage. / Widersagst du allen Blutopfern, die von den Heiden dargebracht werden, und allen Abgöttern und Götzenbildern, die sie als Gottheiten verehren? - Ich widersage. (E. von Steinmeyer (Hrsg), Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, Berlin 1971 (1916), S.23ff)

 

Wehe dem Kind, das vor der Taufe oder Nottaufe stirbt. Es kann nicht auf dem Kirchhof beerdigt werden, da dort nur die mit einer gewissen Aussicht auf die Himmelfahrt Platz bekommen, also nicht die Ungetauften und auch keine schweren Sünder.

 
Die klassische Teufelsaustreibung ist die Taufe, aber Exorzismus ist das Mittel, mit dem jedem auch in späterem Alter der Teufel ausgetrieben werden kann, so er von einem Besitz ergriffen hat. Da das öfter passiert, ist die Zahl der Exorzisten, damals meist Teil der niederen Geistlichkeit, entsprechend groß.

 

Zunächst ist in der antiken Kirche für die Taufe eine mehrjährige Katechumenzeit notwendig, aber diese schrumpft dann immer weiter zusammen. Den extremen Verzicht darauf bilden nachantike Zwangstaufen, die ohne jede religiöse Vorbereitung vollzogen werden.

 

3. Buße

 

Da der Teufel in dieser Welt nach dem Willen Gottes und der Menschen herrscht, ist jeder ein Sünder. Die Germanen kannten keine Unterscheidung religiös oder weltlich definierter Vergehen, ihre Vorstellungswelt war tradierte Alltagskultur gewesen, eine Einheit. Die vorchristlichen Römer kannten keine Sünde, sondern nur Verstöße gegen die hergebrachten Kulte und auf der anderen Seite Rechtsverletzungen. Das Christentum ist von außen aufgesetzt. Die wichtigste Neuerung, die mühsam im Laufe von Jahrhunderten durchgesetzt werden muss, ist ein Bewusstsein von der eigenen (und allgemein-menschlichen) Sündhaftigkeit, der nicht einmal Päpste und allerfrömmste Kaiser entkommen, von denen immerhin einige auf mittelalterlichen Gemälden in der Hölle landen. Das heißt, man kann sich weltlicher Vergehen einigermaßen enthalten, der Sünde aber eben nicht.

 

Die fränkischen Herrscher versuchen im Zuge der Christianisierung ihrer Herrschaft  die Vorstellung einer Einheit weltlicher und geistlicher Vergehen herzustellen, indem sie sich zu Herren über ihre Kirche machen. In der Praxis geht das aber nicht. Das Königsgericht und die gräflichen Gerichte verhandeln die Vergehen, die aus der Sicht der Herrschaft zu verhandeln sind. Die Kirche ist zuständig für all die Sünden, die für den weltlichen Arm keine Verbrechen sind, sondern „nur“ Sünde. Die Überschneidungen sind dabei allerdings erheblich, denn die Kirche übernimmt auch ganz weltliche Vergehen in ihren Sündenkatalog.

 

Die germanischen Volksrechte kannten als Strafe vor allem Geldzahlungen, im Verlauf fränkischer Herrschaft wird dieses Recht durch Grausamkeiten angereichtert: Todesstrafe auf immer mehr Missetaten bis hin zum Majestätsverbrechen bei Karl dem Großen, aber auch Handabhacken, Blenden etc.

Die Geldstrafenkataloge der Germanen finden nun bald eine Analogie in den Bußkatalogen für die Sünden. Vor der Busse steht die Beichte, das Bekennen der Sünde, welches ursprünglich öffentlich und persönlich und keine rein kirchliche Angelegenheit ist. Es kommt dafür in der Merowingerzeit zur Versammlung ganzer Ortschaften und zu großen Bittprozessionen. Genauso ist es in den Klöstern, in denen die Brüder sich untereinander die Beichte abnehmen. Dann wird zunächst eingeführt, dass Todsünden Priestern gebeichtet werden müssen.

 

Seit der Spätantike ist es üblich, dass Menschen, denen eine Kirchenbuße auferlegt wird, zu Anfang der Fastenzeit ein Bußgewand anziehen und mit Asche bestreut werden. In der Kirche Galliens werden sie wie Adam und Eva aus dem Paradies aus der Kirche vertrieben. Am Gründonnerstag dann dürfen sie wieder die Kommunion empfangen. Während dieser Brauch um das Ende des 10. Jahrhunderts verlorengeht, setzt sich die Aschenbestreuung aller Gläubigen durch, nachdem zunächst einzelne sie aus Solidarität mit den Büßern auf sich genommen hatten.

 

4. Eucharistie

 

Nach der Taufe ist die Eucharistie (seit dem zweiten Jahrhundert griechisch für: Danksagung) das zweite zunehmend mit magischen Vorstellungen besetzte Sakrament, also die zweite "heilige" Kulthandlung. In ihrem Kern steht ursprünglich ein Gedächtnismahl, welches an das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern vor seinem Tod erinnern soll, als Jesus Brot und Wein als Erinnerungszeichen an ihn benennt. Daraus entwickelt sich in den ersten Jahrhunderten ein besonderer Gottesdienst aus Lesung, Predigt, Fürbittengebet, Friedenskuss und Mahl, der dann im 5. Jahrhundert als missa bezeichnet wird.

 

Dabei eignet sich nun der Priester die von der Gemeinde gespendeten ("geopferten") Brote und den Wein an, vergibt diese in der Kommunion an die Gläubigen und behält den Rest für die Armen.

 

Zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert setzt sich die Vorstellung durch, das Brot und Wein für das Blut und den Leib Jesu stehen. Augustinus schreibt in seinem Sermo 272

Die Eucharistie, Brot und Wein heißen deshalb Sakramente, weil man an ihnen etwas anderes sieht, etwas anderes dagegen erkennt. Was man sieht, hat eine leibliche Gestalt, was man erkennt, hat einen geistigen Gehalt. Die Eucharistie (…) ist nicht nur eines unter vielen Zeichen, sondern sie zählt zu den signa sacra, da Brot und Wein erst gewandelt werden zu einem ‚sichtbaren Wort‘.

 

Diese "Transsubstantiatum" macht dann auf dem Weg ins Mittelalter jene Wandlung durch, mit der dann der Priester, wie es heißt, tatsächlich Brot und Wein in Leib und Blut Jesu verwandelt, welche der Christ sich dann einverleibt und so in communio (Gemeinschaft) mit Jesus tritt, ein Prozess, der im 11. Jahrhundert zu heftigem Streit zwischen philosophisch angehauchten Theologen und der kirchlichen Orthodoxie führen wird.

 

 

5. Heiligkeit

 

Das Wort heilig bzw. sanctus spielt für den in griechischer Sprache propagierten Jesus der Evangelien keine Rolle: Ihm zu folgen heiligt nicht, sondern rettet. Heiligkeit gerät ins Christentum erst, als der Retter nicht wie versprochen wiederkommt, und zwar in der zunehmenden Übernahme von Aspekten antiker Kulte.

 

Da ist zum einen die Selbstheiligung durch ein Jesus in Armut und Reduzierung allen Begehrens imitierendes Leben, welches Eremiten zum Beispiel als "heilig" erscheinen lässt, und da sind auch die nach Bedürfnislosigkeit strebenden Jungfrauen. Den Schein der Heiligkeit gewinnen als nächstes die Märtyrer, also die in den Tod gehenden Glaubenszeugen der Antike.Das beginnt Mitte des zweiten Jahrhunderts mit Versammlungen an den Gräbern am Todestag der Glaubenszeugen. Seit dem vierten Jahrhundert entstehen dann über Mäyrtrergräbern große Basiliken. Ende dieses Jahrhunderts beginnen dann mit Ambrosius von Mailand die Translationen, Übertragungen der Heiligen aus den außerstädtischen Gräbern in innerstädtische Kirchen.

 

Mit Martin von Tours und dann auch besonders angesehenen Päpsten muss man nicht mehr den Märtyrertod sterben, um heilig zu erscheinen. Es genügt, bei entsprechend frommem Lebenswandel der Kirche besonders förderlich bzw. besonders populär zu sein. Nun beweist sich Heiligkeit zunehmend an den Wundern, die Heilige veranstalten, und die dann auch von ihren Überresten ausgehen.

 

Eine besondere Rolle spielen Mönche und Nonnen, die weggesperrt von der "Welt". dem saeculum, kollektiv nach Heiligkeit streben, ohne dass jeder von ihnen gleich in den wachsenden Katalog von Heiligen aufgenommen wird. Aber gemeinsam wird all denen, die nach allgemeiner Meinung besondere Heiligkeit betreiben, dass sie sofort in den Himmel, also die ewige Seligkeit gelangen und nicht wie alle anderen bis zum Tag des Jüngsten Gerichtes warten müssen. In der Nähe Gottes und engelsähnlich haben sie entweder direkten Kontakt zu Gott oder aber zu dessen Entourage, den Erzengeln und Aposteln. Damit kann man sie als seine Fürsprecher in allerlei Not anrufen und sich ihrer Wunderkraft mit Hilfe ihrer Reliquien bedienen. Man macht sie zu Paten bzw. Patronen von Kirchen, die so nach ihnen benannt werden, was damit legitimiert wird, dass man Reliquien, Überreste von ihnen in den Altar oder unter ihn in die Krypta einbaut. Die Macht der Kirche ist eine ihrer Verfügung über magische Mittel, über "Wunder", Mirakel.

 

Heilig wird jemand lange nicht durch Verordnung, wie seit dem hohen Mittelalter durch "Kanonisierung", sondern durch das hohe Ansehen, welches durch Propaganda hergestellt wird bzw. sich einfach durch Verehrung einstellt. Seit den Kirchenvätern wird Heiligkeit als Ausnahmefall propagiert, "indem jede Kirche einem oder mehreren Heiligen geweiht wurde und die Reliquien wundertätiger Heiliger >sammelte<." (GoetzEuropa, S.242) Dazu passt, dass dann sehr lange die meisten Heiligen, die nicht mehr Märtyrer sind, aus dem Kreis der kirchlichen Amtsträger stammt, wozu wieder passt, dass nur rund 15% weiblich sind.

 

Propaganda heißt vor allem Legendenbildung und die darauf folgende Aufzeichnung der Wunderbarkeit des bzw. der Heiligen. Heiligkeit ist so zunächst eine Konvention. Das wird im Laufe der Zeit immer mehr ein Problem für die Kirche dort, wo heiligendes Leben offensichtlich nicht mehr der magischen Heilmittel der Kirche bedarf, wie bei auf Messfeier, Beichte und ähnliches verzichtenden Eremiten. Deshalb wird Heiligkeit immer mehr als ein Ausnahmephänomen propagiert, welches sich dem Regelwerk braver Normalchristen ausnahmsweise entziehen darf. Und daneben konzentriert sich Heiligkeit immer mehr auf Kirchenleute und besondere Koryphäen des kirchlich anerkannten monastischen Lebens, und die Kirche versucht, immer stärkeren Einfluss darauf zu bekommen, wer als heilig zu gelten hat.

 

Dieser Ausnahmecharakter von Heiligkeit hat viele Funktionen. Durch Heilige erhält die Kirche magische Wundermittel in die Hand, die die Besonderheit dieser Leute betont. Die Ausnahme darf die Regel bestätigen, dass Christen große Sünder sind und sein dürfen und dennoch mit kirchlicher Hilfe, aber auch nur durch sie, die ewigen Seligkeit erlangen und der Hölle damit entrinnen.

 

Für den Normal-Christen sind Heilige, die einmal Menschen wie sie waren, mehr Ansprechpartner als der trinitarische und für sie fast unnahbare Gott. Dazu gehören in geringerem Umfang auch die Apostel und Maria, die erst später zur Himmelskönigin gekrönt wird, aber sie sind in ihrer Nähe zu Gott doch schon weiter entfernt. In der frommen Praxis frühmittelalterlicher Christen rückt dann Heiligenverehrung mehr noch als die Dreifaltigkeit in die Nähe von Vielgötterei: Mit ihren verschiedenen Zuständigkeiten erinnern Heilige "im Himmel" immer mehr an die der antiken Götter, die für Naturphänomene, Handel, Krieg und Frieden oder das Glück einer Stadt zuständig waren und entsprechende Kulte hatten.

 

6. Reliquien

 

Im Unterschied zu Judentum und Islam gewinnt das magische Moment im römischen Christentum immer mehr an Bedeutung, was sich dann noch einmal im Prozess der Germanisierung verstärkt. Sakralisierung der Kirche, Einführung von Sakramenten und magischen Handlungen bestimmen immer mehr den kirchlichen Raum und gehen bei der Laienschar dann Verbindungen mit Elementen früherer Naturkulte ein.

 

Die göttliche Dreifaltigkeit ist schwer erfassbar außer in sehr weltlichen Analogien, wie der von Gott/Christus als kaiserlichem Triumphator und  gestrengem Patriarchen. Der heilige Geist wird wenigstens in seiner Bewegung als Taube flugtauglich. Maria und die Apostel immerhin, allen voran der angebliche Kirchengründer Petrus, sind in Menschengestalt fassbar, wenn auch etwas entrückt. Mit den Heiligen, zunächst jenen Märtyrern, die kaiserlicher Macht getrotzt hatten und dafür starben, bekommt das Heilige, inzwischen zwar weitgehend in den Himmel entschwebt, schließlich fast ganz und gar menschliche Gestalt.

 

386 lässt der Mailänder Bischof Ambrosius die Gebeine der Märtyrer Gervasius und Protasius ausgraben und in seine neue Basilika bringen, also vom Friedhof in die städtische Kirche. Mit dieser Translation beginnt der Heiligenkult in Gestalt ihrer Überreste (Reliquien) und dann auch eine Zunahme des Wunderglaubens. Der Bischof selbst wird ebenfalls zum Heiligen wie so mancher nach ihm.

 

Heiliges gewinnt magische Kraft, und die Heiligen, über deren mutmaßlichen Überresten, lateinisch reliquiae, Kirchen gebaut werden, die so an der zu Knochen zerfallenen Heiligkeit Anteil bekommen, werden nicht nur Namenspatrone der Kirchen, sondern sie sind Vermittler zu Gott selbst. Man kann sich so direkt an sie wenden, und der Volksglauben spricht ihnen spezielle Ressorts zu, in denen sie in Anspruch genommen werden können.

 

Während der von antiken Philosophen beeindruckte Augustinus noch vom Tod des Leibes und der Auferstehung der Seele sprach, sprechen sich volkstümliche Wunschvorstellung und sich damit verbunden fühlende Lehrmeinung bald für die Auferstehung des Leibes aus. Heilige sind so einmal leibhaftig im Himmel beim leibhaftigen Gott Christus, und die Kraft, die sie dort entfalten, findet sich bald auch in ihren Überresten wieder.

 

Ein dazu gehörender Aspekt ist die spezifische christliche Wundergläubigkeit, die an die Wundertaten Jesu anknüpfen kann. Die Fähigkeit Wunder zu vollbringen, spektakuläre Magie, wird nun auf alles Heilige, insbesondere aber die Überreste der Heiligen selbst übertragen. Im Umkehrschluss ist eine Reliquie dann echt, wenn sie Wunder vollbringt. Natürlich ist es theologisch gesehen Gott, der das bewirkt, aber das gilt nicht für die Anschauung der meisten Menschen.

 

Dabei gibt es bald sogar magische Übertragung der Wunderkraft durch Kontakt des Heiligen mit dem Gegenstand, wodurch Splitter des „heiligen“ Kreuzes, oder Reste vom Gewand des Gottessohnes oder gar seine Windeln aus Säuglingstagen magische Kraft bekommen. Ein Teil der Letzteren gelangt irgendwann nach dem 5. Jahrhundert nach Aachen, wo sie etwa seit der Zeit des "großen" Karl verehrt werden und zu Wallfahrten Anlass geben.

 

Hatte sich eine Kirche oder ein Kloster in den Besitz besonders attraktiver Reliquien gebracht, so wurden sie zu einem Wallfahrtsort. Pilger erhoffen sich dort Heilung von Gebrechen und andere Wunscherfüllung. Für Kirche oder Kloster und den sich so entwickelnden Ort wird das zu einer erheblichen Einnahmequelle. Herbergswesen, Gaststätten, Tavernen, Handwerk und Handel beginnen zu florieren. Ein Musterbeispiel wird mit dem beginnenden Mittelalter das Jakobsheiligtum von Santiago de Compostela.

 

Das Heilige, der Heilige oder wenigstens irgend etwas von ihm und das zugehörige Kirchengebäude verschmelzen zu einer Einheit, in der Wunderbares möglich wird. In dieser Einheit ist Nähe zu Gottes Allmacht, die alles kann, was er will und man sich wünscht. Und hier ist der Kern praktizierten Christentums zu sehen, welches sich damit unendlich weit von den jesuanischen Vorstellungen entfernt hat. Im katholischen Raum wird das bis ins zwanzigste Jahrhundert überleben.

 

Kirche hebelt so im Vorgriff auf das Himmelreich die „natürlichen“ Gesetze von Raum und Zeit aus, erfüllt damit eine mächtige menschliche Welt der Vorstellungen und wir können heute kaum noch die Wucht der Schläge nachvollziehen, als sie in den Reformationen, aus den Angeln gehoben wird. Dieser langwierige Vorgang wird allerdings nicht nur forciert, sondern auch abgefedert durch den Aufstieg einer nicht weniger wundersamen Warenwelt, deren Faszination immer mehr mit der des Mirakulösen mithalten kann.

 

Die erste Aufgabe von Reliquien ist aber nicht, spezifische Wunder zu vollbringen, sondern Orte erst so recht und gewissermaßen durch Übertragung zu heiligen. Sie leisten das vor allem für und zugleich in Kirchen. Deren magische Qualitäten werden möglichst schon vor der Weihung, selbst ein magischer Akt, durch das Anbringen von Reliquien in oder unter dem Altar bzw. mehreren Altären, in der Krypta oder sogar in den Säulen des Kirchenschiffes erreicht. Wichtig ist es dabei vor allem, Reliquien des Heiligen, dem die Kirche geweiht ist, unterzubringen.

 

 

Dialektik: Die Vernunft in der Unvernunft

 

Das Christentum der gelehrteren Kreise hat spätestens seit den Kirchenvätern das Erbe der antiken Philosophen angetreten, insbesondere das der (Neo)Platoniker. Zwar schwindet in der Nachantike jedes Schulwesen jenseits von Klostern, welches dann in der Schwelle zum Mittelalter auf Kathedralschulen übergeht, aber die antike Schul-Vorstellung von den sieben freien Künsten, artes liberales, mit Grammatik, Rhetorik und Dialektik als Grundlagen überlebt in kleinsten Kreisen.

Ursprünglich als Kunst der Unterredung, insbesondere von Rede und Gegenrede gedacht, wird es zu einer Diskurslehre, in der auch der nicht unmittelbar diskursive Text unter anderem auf (grammatisch richtigen) überzeugenden (logischen) Schlussfolgerungen zu beruhen hat.

Das Kirchen-Christentum übernimmt nun das dialektische Instrumentarium, um dessen Sinn allerdings dem Unsinn christlicher Überzeugungen überzustülpen. Anders gesagt: Auf dem Fundament unabänderlichen Glaubenswahrheiten wird dann doch mit Vernunftgründen aufgebaut. So kann Hrabanus Maurus schreiben: Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferstanden. Christus ist aber auferstanden, also gibt es eine Auferstehung der Toten. (De clericorum institutione III,20)

 

Diese nur im gelehrten Christentum so vorhandene bzw. erlaubte Neigung zum Argumentierungen in der Religion kann gelegentlich außerhalb von dieser auch ohne religiösen Unfug überleben. In dem, was später als Scholastik auftreten wird, als geschultes Denken, wird das die Grundlagen dafür liefern, dass dann abendländisches Philosophieren bis dahin gelangen wird, der Religion den Garaus zu machen und dabei selbst unterzugehen. Allerdings sind Philosophen des 18. Jahrhunderts nur die Begleitmusik für den Übergang von christlicher Religiosität in polit-ideologische.

 

Das Überleben von logisch argumentierendem Denken in der Religion hat aber als Voraussetzung die Trennung zwischen einer weltlichen und einer "geistlichen" Machtsphäre, die selbst bei Karl ("dem Großen") respektiert wird , auch wenn er sich in manchem bald als eine Art Kirchenherr aufführt. Anders als im theokratischen Byzanz und im Islam, der die Nachkommen Mohammeds als Kalifen anerkennt, kann so im früheren 12. Jahrhundert ein Abaelard Einfluss ausüben, soweit er nicht die Macht der Kirche bedroht, und werden dann ganze theologische Großgebilde von Vernunftgründen durchsetzt, wie bei Thomas von Aquin.

 

In dieser in geistliche und weltliche Sphäre geteilten Welt, wiewohl auch die weltliche sich (kirchen)christlich gibt, in der vernünftiges Argumentieren also einen Platz hat, kann sich aus zweckrationalem Handeln von Händlern und Handwerkern jener bürgerliche Freiraum Stadt entwickeln, der das lateinische Abendland so stark bestimmen wird und der erst mit den großen Industriestädten des 19. Jahrhunderts und dann dem Konsumismus der Globalisierung des 20./21. Jahrhunderts untergehen wird. Kein Wunder, dass in dieser Endzeit des Abendlandes Marx/Engels und selbsternannte Marxisten Missbrauch mit dem Wort Dialektik treiben werden, in dem sie erneut Glaubenssätze zum Fundament ihrer "Lehre" machen. Aber viele derzeitige "Demokraten" in den absterbenden "westlichen Demokratien" gehen inzwischen noch viel rabiater vor, indem sie neben der Vernunft auch jegliche Erfahrung aus ihrer demagogischen Verhetzung der Menschen streichen.

 

 

Welt als Alltag

 

Mit der Nachantike verschwinden gewisse Annehmlichkeiten, die die Reichen und Mächtigen den Ärmeren und Ohnmächtigeren in den Städten boten. Die Wasserversorgung reduziert sich auf Brunnen, die öffentlichen Latrinen verschwinden zugunsten individueller Kloaken, die Versorgung der Armen wird den Bischöfen überlassen, die großen Amüsiereinrichtungen verfallen. Steinbauten können sich nur noch wenige leisten, meist wird konstruktiv ganz einfach mit Holz gebaut, was Gebäude extrem vergänglich macht. Heizung wird zunehmend durch möglichst warme Kleidung ersetzt. Die Qualität der Straßen nimmt ab, auch wenn man sie grundsätzlich zu erhalten versucht.

 

Das Leben und Arbeiten der meisten findet von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang statt und besteht im wesentlichen aus produktiver Arbeit, die das (Über)Leben sichern muss. Produktion für einen Markt nimmt erheblich ab und wohl auch insgesamt die Produktivität. Selbstversorgung ist für die meisten das Gebot der Stunde, und am besten geht es denen, die dafür möglichst viele Fertigkeiten entwickeln.

Gearbeitet wird sechs Tage die Woche und aus Not wird vor allem auf dem Lande, wo nun fast alle leben, auch schon mal das Gebot der Sonntagsruhe samt Kirchenbesuch gebrochen. Feste wiederum sind an das Kirchenjahr gebunden. Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben verschwindet im Laufe der Zeit bei fast allen Menschen, Mitteilungen sind nun bis auf wenige Ausnahmen mündlicher Natur. Was sich die meisten Menschen dabei erzählen, kann man heute nur noch vage erahnen.

 

Von der Welt um ihren engen Erfahrungsraum herum erfahren sie vielleicht sporadisch von Pilgern und reisenden Händlern. Über tradiertes "Wissen" setzt sich die Propagierung von Religion und Herrschaft durch Priester, die aber erst langsam im Verlauf der Nachantike über Pfarrkirchen überhaupt Zugang zur Landbevölkerung bekommen. Über die Geschichten, die sich Leute untereinander erzählen, wölbt sich dann ein Horizont biblischer Geschichten, soweit Priester von solchen überhaupt Kenntnis haben. Dabei wird kaum zwischen jüdischen und christlichen Sagen und Legenden unterschieden.

 

Welt darüber hinaus erleben Freie als Krieger bei oft weit ausgreifenden Kriegszügen, bei denen sie Herrscher aus der Gegend von Paris bis nach Thüringen, Friesland oder Alemannien bringen. Wir erfahren kaum, was sie dann daheim von ihren grausigen Heldentaten erzählen. In den stark geschrumpften Städten erfährt man vermutlich mehr von solcher "großen, weiten, Welt", aber auch davon wissen wir heute kaum etwas.

 

 

Die Häuser fast aller Menschen sind aus Holz und vergehen manchmal schon in einer Generation, vor allem, wo sie nicht auf einem soliden Steinfundament aufsitzen. Dann können sie in den Städten aber auch schon mal abgebaut und anderswo wieder aufgebaut werden.

Die Menschen ernähren sich nördlich des Mittelmeerraums in den neuen Reichen vor allem von Viehzucht, Gartenbau und Waldbewirtschaftung, bis dann in der späten Nachantike der von Historikern so genannte Vorgang der "Vergetreidung" einsetzt, in dem nach Dinkel nun Roggen und Weizen einen Teil des Fleisches ersetzen und die Bedeutung des Ackerbaus für die Herstellung von Getreidebrei und Brot zunimmt. Hungersnöte werden regelmäßig durch Naturkatastrophen oder marodierendes Militär hervorgerufen.

Getrunken wird Wasser und Met, der dann oft selbst gebrautem Bier weicht und in manchen Gegenden weiter auch Wein.

 

 

Was wir erahnen können ist, dass die meisten Menschen damals zumindest auf dem Lande viel mehr Individuen sind und als solche wahrgenommen werden, als das heute im von Massenmedien gesteuerten Konsumismus der Fall ist. Zwar sind sie keine heutigen "Individualisten" in der Konsumwahl, aber sie sind in ihrem Alltag viel mehr allein gelassen und sich selbst überlassen.

Zwar sind sie regelmäßiger kirchlicher Propaganda ausgesetzt, aber was sie damit jenseits öffentlicher Rituale anfangen, bleibt ihnen bis in unsere Schwellenzeit in etwa des 10. Jahrhunderts weitgehend selbst überlassen, was sich auch darin ausdrückt, dass kaum etwas davon überliefert wird.

Ähnlich selbst überlassen sind sie auch in ihrer Arbeit, deren wesentliche Regulierung bei den abhängig Beschäftigten in gelegentlichen Diensten und Abgaben besteht, Jenseits davon organisieren sie ihre (mühevolle) Arbeit wohl selbst.

Man muss sich vorstellen, dass es keine tägliche Beeinflussung durch Schulen, durch in der Regel minderwertige Lektüre oder gar die heute alltäglichen elektronischen Medien gibt, die einer formierten Idiotie extrem rezeptiver Massen dienen. Das heißt, dass die Menschen viel mehr auf ihre Verwandten, Freunde und Nachbarn angewiesen sind, was Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung im eigentlichen Wortsinn fördert. Aus solchen Bindungen bis hin zu gegenseitiger Hilfe (ohne das angesichts vermutbarer Konflikte idealisieren zu wollen) entstehen gemeinschaftliche Traditionen, die fast wie in frühen Kulturen wirken, auch wenn der Machtapparat all das Mögliche tut, um sie in seinem Sinne zu überformen.   

 

ff