Körper 2: KÖRPERLICHKEIT, SEXUS, EROS UND LIEBE IM 11.JH. (muss umgearbeitet werden)

 

Der hässliche Leib der Begierde

Ekel

Scham

Das Obszöne

Noch einmal Sexualisierung der Romanik

Marien

Die wirklichen Körper der Menschen

Versuchung

Hilarius und Eva

 

Während wir in Teilen Italiens die Einnistung von Kapital an einzelnen Beispielen erkennen können, sind diese nördlich der Alpen noch viel seltener sichtbar. Wir befinden uns in einer bis auf wenige vor allem italienische Seehandelsstädte noch durchweg vorkapitalistischen Zeit, weiterhin geprägt von Landbewirtschaftung vorwiegend durch von Herren abhängige Bauern bei Wachstum der Städte, der städtischen Produktion und des Handels.

 

Wenn es um Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit geht, eröffnet sich uns jetzt ein weites Feld an Überresten in der Bildhauerei einerseits und der Wand- und Buchmalerei andererseits, und was wichtiger ist, die ersten beiden sind nun einem öffentlicheren Raum zugeordnet, auch wenn dieser wie der letztere in der Hand der Kirche ist.

Immer mehr steinerne Kirchen und Klöster werden gebaut und mit Skulpturen und Gemälden geschmückt. Es beginnt jene Zeit, die bis tief ins 18. Jahrhundert reicht, die auch von dem geprägt ist, was viel später als Kunststile bezeichnet wird, eine Abfolge von Moden, deren Träger die Herren dieser Welt sind, Adel, Fürsten und Kirche.

Während die Zeit bis ins 11. Jahrhundert etwas grob als Verfallszeit römischer Baukunst in Stein gelten kann, kommt es nun über "technische" Experimente zu größeren Gebäuden, und die Leistung ist ars, Handwerkskunst, das Wesen aller Künste bis ins 18. Jahrhundert. Die Stilbezeichnungen, die wir heute kennen, sind nachträgliche und oft abwertende Kommentare, die sich sozusagen eingebürgert haben. Für unsere Zeit wurde nachträglich der Name "Romanik" erfunden, und sie wird bis ins 12. Jahrhundert andauern.

 

Für unsere Zwecke interessant ist vor allem die Skulptur, die sich auf den Weg  vom Relief in die freiere Plastik macht, aber zur Gänze an das kirchliche oder klösterliche Gebäude gebunden bleibt. Sie fällt vor allem im breiten Streifen von England über Westfranzien und dann das Baskenland bis Richtung Asturien in zwei extrem verschiedene Thematiken auseinander: Da sind die der zunehmenden Majestät romanischer Kirchen angemessenen Großplastiken mit ihren vor allem biblischen Themen und späteren Heiligendarstellungen, und da sind die thematisch und "stilistisch" so anderen, oft für uns heute grotesken oder obszönen Kleinplastiken, von denen zum Glück ein Teil die gotische und spätere Bilderstürmerei überstanden haben. 

Beide so unterschiedlichen Bildprogramme existieren vor allem nebeneinander, aber nicht unabhängig von einander. Wenn an der Fassade und in der Klosterkirche heilig-affirmative Großplastiken vorherrschen, sind die Kapitelle im Kreuzgang mit sexuell aufgeladenen Siren, mit ihre äußeren Geschlechtsorgane darbietenden Tieren und Menschen, mit Gauklern, Tänzerinnen und allem geschmückt, was Sünde repräsentiert.

Noch näher beieinander können diese so verschiedenen, aber sich ergänzenden Sphären rücken, wenn sie in eine Fassade integriert sind wie bei San Michele in Foro in Lucca, wo, stark abgesetzt von den Großfiguren des Erzengels und der Muttergottes-Maria auch eine ihren Schwanz spreizende Sirene und ein Kentaur auftauchen. Noch näher rücken die beiden Themenkreise dort, wo im Jüngsten Gericht wie dem der Fassade von Conques gut und böse nebeneinander im selben Großbild auftauchen und wo zumindest sexuelle und sexualaggressive Momente grotesk bis obszön in die Darstellung der Verdammten eingehen.

 

Der Tympanon von Conques

 

 

Wer in der Auvergne vom Tal des Lot in ein einsames Bachtal nach Süden abbog, um zur Kirche von Conques zu pilgern, landete unweigerlich vor diesem grandiosen Portal mit dem Tympanon von etwa 1130 und seiner Darstellung des Jüngsten Gerichts... und unweigerlich trifft dabei noch heute auf das Problem, dass es schwerfällt, darstellerisch dem Zustand der Seligkeit bei Gott, wie er vom Betrachter aus links dargestellt ist, jene Attraktivität abzugewinnen, die das Höllengewimmel rechts auszeichnet.

Tatsächlich hat die mittelalterliche Kirche viel mehr mit den ewigen Höllenqualen gedroht als den Leuten das Paradies schmackhaft zu machen, in dem die Leute links einfach nur herumstehen. War das Himmelreich letztlich unvorstellbar, so war schließlich die Hölle schon auf Erden zu haben, und zwar die, die Menschen Menschen immer wieder bescherten. Vorbereitet war das Ganze zudem durch die frühen Märtyrer-Heiligen, für die man sich seit dem frühen Mittelalter immer neue Folterqualen ausdachte, durch die hindurch sie ihren Glauben bekannten. Frauen wurden die Brüste abgeschnitten, sie wurden aufs Rad gespannt, Männer wurden mit einer Unzahl Pfeilen bei lebendigem Leibe durchbohrt und was Menschen sich sonst so alles ausdenken können. Seit dem hohen Mittelalter wurden alle Gläubigen in den Kirchen mit Abbildungen dieser Folterqualen konfrontiert, einem Schreckenskabinett, in dem nicht nur die bösen heidnischen Täter diabolisiert, sondern Opfer zu Helden werden.

 

Die Hölle, das ist das zivilisierte Raubtier Mensch, welches Aggressionen verdrängen und ins Sadistische verformen muss, von wo sie im Unbewussten danach drängen,wieder an die Oberfläche zu gelangen. Und aus der unsäglichen Bewunderung gefolterter Menschen ließ sich jene Lust am Schrecken, am wirklichen Schrecken, so er nicht eigene Pein war, ganz fromm ausleben. 

 

Ganz wie im richtigen Leben schaut ein Oberteufel genüsslich zu, wie seine genauso teuflischen Gehilfen mit Menschen all das machen, was die wahrhaft diabolische Phantasie der Menschen sich jemals ausgedacht hat. Auch der Teufel thront als gekrönter Herrscher in seinem Reich.

Wie in der Trierer Apokalypse tragen die Verdammten Teilbekleidung, was ihre Nacktheit von der im Paradies deutlich unterscheidet, denn diese hier ist Obszönität und nicht Unschuld. Bösartige Schlangen ringeln sich und erinnern auch an die Verworfenheit Evas, die die sexuelle Gier in die Welt brachte.

Wir sind immer noch am Portal von Conques. Solche Höllendarstellungen wurden in der Regel mit dem Weltengericht verbunden und die Menschen begegneten ihnen an Kirchenportalen, später auch in den Kirchen selbst, dort aber meist als Wandmalereien. Dann werden sie eher wie am Friedhofsgebäude von Pisa dorthin verbannt, wo die Toten "ruhen". Wie schon einmal in der Antike kehrt dann die Verheißung stärker wieder an die Stelle der Drohung.

 

Der hässliche Leib der Begierde

 

Bis in die Anfänge des gotischen Stils hinein wird in Kirchen und Kreuzgängen nicht nur die heilige Reinheit gefeiert, sondern oft sehr ausführlich auch ihr Gegenteil dargestellt. Dabei wird deutlich, dass der Reinheitsgedanke (siehe Kap. Körper 1) nichts mit Prüderie zutun hatte, wie sie dann seit dem Spätmittelalter und insbesondere in der Neuzeit in offizielle Doktrin eingekleidet wird. Vielmehr lässt sich an romanischen Kirchen oft ein geradezu unbefangener Umgang mit dem ablesen, was danach und bis ins zwanzigste Jahrhundert als das Obszöne angesehen wurde und manchmal noch trotz Pornographisierung des Alltags im Kapitalinteresse so angesehen wird.

Um letzteres verständlich zu machen, sei hier schon einmal angemerkt, dass Pornographie in meinen Studien mit kommerzialisiertem Sexus gleichgesetzt wird, auch mit einem neuzeitlichen männlichen Machtblick auf weibliche Sexualität und deren Reduzierung auf Funktionen von Spielarten männlicher Triebabfuhr. Insofern wäre Pornographie von der Spätantike bis ins hohe Mittelalter als obszön angesehen worden, während danach der eher unbefangenere Blick auf den Sexus den Makel der Obszönität bekommt, was später dann überhaupt erst erneut Pornographie ermöglichen wird.

 

 

 

Anthony Weir und James Jerman haben in ihren 'Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches' mehr als andere vorher eine Tür geöffnet zu jenem Bindeglied zwischen den lateinischen Texten des Klerus und der Volksfrömmigkeit derer, die nicht lesen und schreiben können, der Bildersprache des romanischen Hochmittelalters von Kloster- und Kirchenreform nämlich, wie sie sich vor allem in den allen zugänglichen Klein-Skulpturen geistlicher Gebäude niederschlägt.

Am Ende ihres Buches fassen sie zusammen, was man an einigen romanischen Kirchen zwischen Nordspanien und den britischen Inseln an Kleinplastik so alles entdecken kann.

"In Spanien, an der Kollegiatskirche von San Pedro de Cervatos, südlich von Santander zum Beispiel können unter den 95 Kragfiguren (über der Südtür von rechts nach links) gefunden werden: In einander verschlungene Tiere, eine weibliche Exhibitionistin mit einer Person auf ihrem Rücken, einen megaphallischen Mann, einen hockenden Affen,

einen exhibitionistischen Affen mit der rechten Hand zwischen seinen Beinen und der linken Hand in seinem Mund; ein den Anus darbietendes Tier, ein männliches, seine Geschlechtsteile vorzeigendes Tier welches eine Stange über seinem Kopf hält; einen Widder; ein männliches Paar (beim Analverkehr?); eine hockende Figur mit einem großen Maul; ein Harfenist und ein Akrobat.An dem Schiff sind ein den Anus darbietender Affe;

hockende Figuren; ein , exhibitionistischer Mann, dessen Hinterbacken von einem anderen Mann auseinandergezogen sind; Schweine, Ziegen, Widder und Affen; eine hockende Gestalt mit einem Tierkopf, die mit den Händen die Kiefern aufreißt; akrobatische Bestien, deren einem die Zunge heraushängt; eine Frau, die Füße oben, die den Kopf zwischen den Beinen hat;

ein megaphallischer Mann mit einer Hand auf seinem Bauch, während der andere seine Hoden hält; weibliche Exhibitionisten, die Füße bei den Ohren, den Unterleib darbietend, ein Mann mit den Füßen oben, der den Kopf zwischen seinen Beinen hat; ein männliches Paar beim Analverkehr; ein Mann mit riesigen Hoden, der die Füße in seinen Mund gesteckt hat; zwei Männer, die Fässer tragen; Harfenisten; ein Mann mit einem riesigen Penis in seinem Mund; ein männlicher Exhibitionist (mit normal großen Genitalien), der eine Scheibe hält, und eine Frau, die ihre Brüste mit den Händen hält. Schließlich folgt (an den Fensterkapitellen) eine akrobatische weibliche Exhibitionistin , die die Füße an den Ohren hält; ein megaphallischer Mann (ihr gegenüber) und andere megaphallische Männer; und an dem Turm, auf einem Kapitell, ist ein bogenschießender Zentaur."

Das Relief nebenan aus dem Mailand des 12. Jahrhunderts (Museum des Castello Sforza) ist so obszön wie aggressiv. Eine Frau rasiert in offensiver Körperhaltung ihre Scham. Es entstammt eben der Zeit, in der das neue lyrische Ich neue Vorstellungen von Liebe und Frauendienst entwickelt. Dem Verdacht wird nachzugehen sein, ob beides  vielleicht einander ein Stück weit bedingt bzw. zusammengehört. Ganz offensichtlich entstammt es nicht mehr dem kirchlich-klösterlichen, sondern dem weltlichen Raum. Man hat vermutet, dass Barbarossas Gemahlin gemeint sein könnte und es sich darum um ein antistaufisches Hassbild handelt. Obszönität ist Aggression und nur so zu verstehen. Sie wird auch genau eben so empfunden.

 

In der Kirche von Villers-Saint-Paul bei Creil (nordöstlich von Paris) gibt es zudem Seejungfrauen, einen grinsenden Teufel mit Börse, Pferdeköpfe, in Mauriac am Rand der Auvergne Hoden-Vorzeiger, Männer, die ihren eigenen Penis im Mund haben usw. (S.153f)

 

Solche offen sexuelle oder auf die Ausscheidungsfunktionen des menschlichen Körpers verweisende Darstellungen gibt bzw. gab es an und in einem nicht geringen Teil der romanischen Kirchen und Klöster vor allem entlang der Pilgerwege nach Santiago de Compostela. Sie entstanden im Gefolge der monastisch beeinflussten Kirchenreform und verschwinden mit dem Einzug der Gotik. Sie fehlen fast völlig in deutschen Landen.

 

Gezeigt werden die Genitalien von Mensch und Tier (bei Tieren vor allem der erigierte Penis), der Anus, und die klassische Körperhaltung dazu. Insbesondere bei Frauen, auf die der Betrachter von unten schaut, sind es die gespreizten und am Körper so angewinkelten Beine, dass sie neben den Ohren anliegen. In dieser Haltung zeigen die weiblichen Gestalten des öfteren auch explizit ihren Anus. Gezeigt werden, wenn auch selten, kopulierende Paare, auch homosexuelle und solche aus Tier und Mensch gebildete. Gezeigt wird die Zunge mit ihren sexuellen Konnotationen. Dazu gehören dann Tiere, die Geilheit versinnbildlichen: Die Böcke der Ziegen und Schafe, Affen (damals als degenerierte, abartige Menschen angesehen), von denen bekannt war, dass sie in Gefangenschaft heftig masturbieren; Schweine, schon damals als Schimpfwort missbraucht für alle Spielarten unanständiger Menschen.

 

Dargestellt werden oft unmittelbar in ihrer Umgebung die Unterhaltungsartisten der damaligen Zeit, die unter Begriffen wie Spielleute, ioculatores, den altfranzösischen jongleurs usw. eingeordnet werden und denen die Kirche pauschal sexuelle Libertinage unterstellte.

 

Schließlich werden insbesondere Gestalten unanständiger Frauen oft mit der Schlange der Verführung gezeigt, die ihnen nun aber aggressiv in die Brüste beißt oder im Extremfall dabei sogar aus ihrer Scheide hervorkommt (Museum von Toulouse, 'Images of Lust', S. 68).

 

Zu erwähnen wäre noch die Übernahme mythischer Gestalten der Antike, die ebenfalls mit Sexualität konnotiert sind. Da sind am häufigsten die Meerjungfrauen, gelegentlich mit zwei Fischleibern, zwischen denen manchmal auch die Vulva markiert ist ('Images of Lust', S.51 z.B.), und die genauso wie die vogelköpfigen Sirenen die Männer betören, sowie die Zentauren, mehr auf Frauen aus (auf die sie ihre Pfeile manchmal richten), gelegentlich aber auch den Zwiespalt des Menschen zwischen Geist (Sexualmoral) und Tiernatur (des Menschen nach dem Sündenfall) repräsentieren.

 

Monster beißen in die Genitalien des auf dem Kopf stehenden Mannes (Kirche von Barret, 'Images of Lust' S.71), Schlangen beißen dem Mann in die Hoden ('Images of Lust', S. 75), alles, was neuzeitliche Extrem-Pornographen für abseitige sexuelle Bedürfnisse auch sadistischer und masochistischer Art anbieten, ist an romanischen Kirchen der betreffenden Gegenden und aus dieser Zeit zu betrachten.

 

Zu ergänzen wäre, dass Weir/Jerman zurecht in ihre Arbeit die Darstellungen von Geizigen einbeziehen, die mit dem Attribut der Börse in der Regel auch mit den Gestalten sexueller Begierde zusammen abgebildet werden. Tatsächlich gehört in diesen Bildprogrammen jede Form des irdischen Begehrens und darum auch die Gier nach Geld zusammen, die sich darin ausdruckt, dass man es hortet und nicht den Armen und Kranken als Almosen wenigstens zum kleineren Teil abgibt.

 

Die christlichen "Tugenden", wie es hochmittelalterlich heißt, drücken sich im Kloster eben nicht nur in sexueller Abstinenz, sondern auch in Armut und Besitzlosigkeit aus, und die Kirchenreform versucht das auch auf die Weltgeistlichen zu übertragen. Dagegen stehen die Laster der luxuria, mit der voluptas verbunden und der concupiscentia (was sich in den Gestalten als Geilheit darstellt) und auf der anderen Seite die avaritia, die Besitzgier und Geiz in einem meint.

 

Dabei handelt es sich fast immer um kleine Steinmetzarbeiten, das großfigurige Bildprogramm und die Fresken im Inneren beschreiben die Majestät Gottes, den Triumph seines Sohnes über den Tod (den Eva unter die Menschen gebracht hat), stellen Heilige dar und die zentralen Geschichten der Bibel.

 

Spätere Zeiten finden solche Darstellungen von Sexualität, zumindest was die Frommen betrifft, obszön und haben bis weit ins neunzehnte Jahrhundert viele solcher Figuren zerstört oder wenigstens die Genitalien demoliert. Man könnte die Vermutung wagen, dass das erzieherische Programm dieser Kirchen in Verbindung mit vielen anderen Entwicklungen die öffentliche Meinung soweit beeinflusst hatte, dass die im Bildprogramm formulierten Verbote jetzt stärker angenommen waren. Man könnte aber gleichzeitig annehmen, dass mit der romanischen Phase des Hochmittelalters dieser monastisch geprägte Wunsch, Abscheu zu erregen gegenüber Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit, abklingt und ersetzt wird durch Sublimationsstrategien.

 

Linda Paterson hat zu Recht im Anschluss an Weir und Jerman darauf verwiesen, dass solche Bilder nicht nur von der Geistlichkeit genehmigt, sondern wohl auch erwünscht waren. (Paterson, L'obscenite du clerc, in dieselbe, Culture and Society in Medieval Occitania,.S. 475(IV)). Unser Verständnis von Obszönität ist also ein anderes als das damalige und die Veränderung scheint schon mit der Verbreitung der Gotik einzusetzen, denn nach und nach werden diese Figuren als in unserem heutigen Sinne obszön eingestuft.

 

Einige der Bilder lösten womöglich gegen Ende des Hochmittelalters bereits auf neuartige, unerwünschte Weise Ekel aus oder zumindest Abscheu, und im Bereich dessen, was an Körperlichkeit Ekel oder Abscheu auslöst, gilt von nun an die provokante (als Provokation angesehene) Darstellung der Sexualität und der Ausscheidungsorgane des Verdauungstraktes als obszön.

 

Ekel

 

Der Ekel bzw. das Wort „Ekel“ erscheint in der deutschen Sprache erst im 16. Jahrhundert. Das Wort hat weder in den antiken noch den mir sonst bekannten Sprachen ein exaktes Gegenstück.

 

Die einzigen Lebewesen, die sich überhaupt ekeln können, sind wir Menschen. Die vielleicht beste Vermutung über den Ursprung des Ekels besagt, dass er der Vermeidung ungenießbarer Nahrung dient und so doch einen genuin tierischen Ursprung hat. Tatsächlich haben Menschen kein anderes instinktives Talent, die richtige von der falschen Nahrung zu unterscheiden. Für diese Vermutung sprechen der Würgereflex bei der Auslösung von Ekel und die mimischen Vorformen dazu.

 

Entwicklungsgeschichtlich ist der Ekel als Resultat der Offenheit des Menschen auch für das Unnütze oder Schädliche damit eng gekoppelt an die Offenheit der menschlichen Sexualität und die Offenheit des Menschen für reflektierendes Urteilen in der Sprache. Aus der Welt der Säugetiere ererbt ist der Würgereflex auf ungenießbare Nahrung. Hier ist vor allem interessant, was über das rein Tierische hinausgeht.

 

Das vermutlich angeborene Talent zum Ekeln wird in den ersten Lebensjahren auf traditionell definierte Objekte gerichtet. Zuvor ekeln sich Kleinkinder genauso wenig wie Hunde vor Kot, Urin oder bestimmten Kleintieren. Gemeinhin werden das vierte bis achte Lebensjahr als die der Ausbildung eines Ekels vor bestimmten Objekten angesehen. Die Affizierung dieser Menschenkinder mit Ekel ist ein Erziehungsprozess und eine Kulturleistung. Dort, wo diese misslingt, kann der Ekel ins Krankhafte umschlagen - oder aber in sein Gegenteil.

 

Der bekannteste Vorgang ist der der Reinlichkeitserziehung mit der Herausbildung der Abscheu vor den Ausscheidungen der Verdauung und vor den Ausscheidungsorganen, insbesonders vor dem Analbereich.

 

In manchem wiederholt sich bekanntlich die Entwicklungsgeschichte der Menschheit in der des einzelnen Menschen. So wie das Kleinkind erst lernen muss, bestimmte geeignete Gegenstände mit Ekel zu affizieren, so neigt die Entwicklung von Zivilisationen aus Kulturen heraus zur Verstärkung der Fähigkeit, sich zu ekeln, zur Intensivierung der Emotion und ihrer körperlichen Ausdrucksformen.

 

Dabei kann der Ekel unmittelbar durch die Sinne ausgelöst werden, vor allem den Geruchs- und den Gesichtssinn. Er kann aber auch aus der Assoziation des unmittelbar sinnlich nicht ekelhaften mit ekelbesetzten Objekten ausgelöst werden. Die Affizierung durch die sinnliche Wahrnehmung wird dann ersetzt durch die Konnotation. Im Extremfall können dann sogar Wörter Ekel auslösen (wohlgemerkt: Ekel, nicht einfach nur Ablehnung).

 

Die Zunahme des Ekels und seiner Objekte im Verlauf der letzten tausend Jahre wie auch die Affizierung durch Ekel vermittels Assoziation lassen an Texte von Sigmund Freud denken. Wenn Triebregungen in irgendeiner Form durch die autoritative Instanz in einem selbst, die in uns hineingenommenen äußeren Machtinstanzen, unterdrückt werden, werden sie in der Neurose ambivalent. Wenn sie dann aus dem Reich des Bewussten entfernt sind, sind sie auch den Bemühungen der Kultivierung entzogen. Dabei können sie sich aber in ihrem unbewussten Weiterleben verändern. Laut Freud brechen sie gelegentlich als Perversionen wieder durch.

 

Die ambivalente Affizierung mit bewusstem Ekel und unerlaubter Lust, so lässt sich weiterspekulieren, kann dazu führen, dass der Ekel sich verstärken muss, um die Lusterwartung abzudrängen. Das verbotene Lustpotential wird so zum Verstärker des Ekelgefühls.

 

In diesem Sinne wäre die intensiv hässliche, grotesk-abstoßende Darstellung des Sexuellen und des mit ihm Assoziierten nicht zuletzt das Unterfangen, den "Christen" ihre Geschlechtlichkeit zu verekeln. Wenn dann aber (eher seltener) auch sich liebevoll begegnende und manchmal umarmende (Ehe?)Paare oben an den Gebäuden dagegengesetzt werden, stimmt das eher skeptisch gegen solch allzu grobe Verallgemeinerung.

 

Dieser gedankliche Schematismus, dessen Möglichkeiten auszureizen sein werden, scheint mir aber nur sinnvoll bei der eigenen Körperwahrnehmung bzw. ausgehend von ihr, und das heißt vor allem bei den Vorgängen, die sich auf die Verdauung und die Fortpflanzung bzw. Produktion sexueller Lust beziehen. Neurotisch macht schließlich nicht das Verbotene, weil Ungenießbare, sondern die Frustration von Lustbarkeiten, deren Genießbarkeit unmittelbar außer Frage steht.

 

Wenn der sprachliche Ausdruck von Ekel vor der beginnenden Neuzeit des Begriffes ermangelt, haben wir mit einem Problem zu kämpfen: Die Suche nach den Wurzeln oder Keimblättchen des Kapitalismus im Schoße des Mittelalters lässt sich dann auf den ersten Blick nicht mehr mit einer Untersuchung des begrifflichen Umgangs der Beteiligten mit "Ekel" verbinden. Andererseits wissen wir, dass auch vorkapitalistische Gesellschaften und Gemeinschaften das Phänomen des Ekels kennen.

 

Der Weg führt einmal über die bildenden Künste und Texte, in denen das Phänomen des Ekelhaften eine bestimmte Aufgabe übernimmt, ohne begrifflich so gefasst zu werden, zum anderen über die Frage, ob die begriffliche Fixierung des Ekels insbesondere in der deutschen Sprache etwas mit Geburtswehen des Kapitalismus zu tun hat.

 

Der erste Ausweg, um uns dem Thema zu nähern, findet sich über das, was ich viel früher schon dem Ekel hintangestellt habe: Die Scham, für die es eine Kontinuität seit der lateinischen Antike gibt, als sie noch pudor (Scham, Schamgefühl) und pudicitia (Schamhaftigkeit, Keuschheit) hieß. Letztere zeigt unverhohlen den sexuellen Kontext, erstere umfasst deutlich ein weiteres Feld: Sie wird im antiken Latein auch mit jener Scheu verbunden, die Achtung meint, mit Ehrbarkeit, Schüchternheit, mit respektabler Schwäche gegenüber der anerkannten Autorität.

 

Die Scham

 

Ekel und Scham lassen sich nur mit Mühe verbergen, da es nicht leicht ist, ihren (unterschiedlichen) unwillkürlichen körperlichen Ausdruck zu vermeiden. Der Ekel ist dem Schrecken verwandt und zeigt sich nicht nur im Würgereflex, sondern auch im Erbleichen, in Gesten körperlicher Abwendung usw. Letztere sind auch für die Scham bezeichnend, während sie andererseits sich im Erröten erweist, - auch die Scham ist eine Verwandte des Schreckens.

 

Grundsätzlich lässt sich annehmen, dass die Scham eine körperliche Reaktion auf Deutungsmuster ist, die wir an Dinge anlegen. Nur deshalb, weil wir das überhaupt tun, können wir uns schämen. Indem wir die Ernährung bejahend deuten, die Verdauung aber verneinend, wird letztere überhaupt schambesetzt. Indem wir die Fortpflanzung bejahen, das Begehren der Lust aber verneinen oder aber die Unwillkürlichkeit sexueller Vorgänge, können Penis und Hodensack, weiblicher „Scham“bereich und weibliche Brust schambesetzt sein.

 

Nichts zeigt das besser als die Doppelbedeutung der weiblichen Brust samt ihrer Brustwarze als Nahrungsquelle für den Säugling und als erogene Zone, als Sexualobjekt. Die Ambivalenzen lassen sich an den Darstellungen der Maria Lactans verfolgen, jener Madonnengestalt, die dem Jesuskind die nährende (entblößte) Brust reicht. Im Verlauf der Gotik, besonders dort, wo sie im (sprachlich) romanischen Bereich früh und bruchlos in die Renaissance übergeht, wandelt sich die Darstellung von einer religiösen zu einer immer unverhohlener erotischen. Hans Peter Duerr hat recht, wenn er als spätmittelalterlichen Höhepunkt jene „Madonna“ des Jean Fouquet angibt, der zwar noch ein Kind beigegeben ist, die aber ganz offensichtlich die eine pralle Brust nicht mehr zum Stillen entblößt hat, sondern als Erotikon darbietet.(H.P.Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozess. Band 4. Frankfurt 1994, S.131ff) Als Modell hatte wohl Agnes Sorel gedient, die ehemalige Geliebte König Karls VII.

 

Es ist die (Be)Deutung, die der weiblichen Brust beigegeben wird, welche Scham erzeugt oder verhindert. Eine gewisse Fülle, also ein bestimmtes Maß an Fettgewebe, signalisiert ein hohes Potential an Milchproduktion, also Nahrhaftigkeit. Die sexuelle Empfindlichkeit der Brustwarze andererseits, die sich in ihrer Vergrößerung und ihrem Aufrichten erweist, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Möglichkeit, dem Säuglingsmund zum Saugen zu dienen. Der saugende Mund aber selbst des Säuglings kann sexuell stimulierend wirken. Die Stimulation der weiblichen Brust wiederum kann die Aussendung von Botenstoffen hervorrufen, die Bereiche der weiblichen Scham stimulieren - im besonderen Fall bis zum Orgasmus. Andererseits kann sich im weiblichen Orgasmus die Brust oder zumindest den Bereich um die Brustwarze kurzzeitig vergrößern.

 

Die Scham hat hier mit den Ambivalenzen zu tun, die aus der Trennung von Fortpflanzung und Lust entstehen. Sie teilt sich darauf in die erlaubte und die verbotene Lust. Letztere wiederum wird ambivalent unter dem Verbot. Das romanische Bildprogramm der Verhässlichung der Sexualität will dann Eindeutigkeit herstellen: Sexualität ist immer hässlich und grundsätzlich zu verabscheuen. Die Schlangen, die in die Brüste der Frauen beißen, verweisen auf den gerechten Lohn für sexuelles Begehren in der Hölle, in dem Gericht der Apokalypse und in den Strafen, mit denen Gott die Sünder schon auf Erden belegt.

 

Die Scham ist unmittelbar mit Schuldgefühlen verbunden, ja, sie findet ohne solche gar nicht statt. Die Schuldgefühle beziehen sich auf Verbote, und alle Kulturen hatten ausführliche Gebots- und Verbotskataloge bezüglich der menschlichen Geschlechtlichkeit. Wie Hans Peter Duerr sehr ausführlich in fünf Bänden dargelegt hat, sind Schambesetzung und Schamgrenzen in verschiedenen Kulturen sehr verschieden und zugleich in allen vorhanden. Dabei ist die Scham im Unterschied zum Ekel nicht auf Körperlichkeit begrenzt, auf Ernährung und Fortpflanzun), sondern betrifft überhaupt alle Bereiche des Verbotenen. Diebstahl und Mord können für Einzelne schambesetzt sein, der Inzest ist es aus außersexuellen Gründen, schämen kann man sich für körperliche Gebrechen und mentale Defizite so wie auch außergewöhnliche Faulheit oder (seit neuestem) außergewöhnliche Leistungsfähigkeit in wenig anerkannten Bereichen wie denen intellektueller Neugierde.

 

Während der Pandoramythos gut und böse (im Sinne von "schlecht") voraussetzt im Moment, als die allbeschenkte Allschenkerin ihr Schatzkästlein öffnet und das Unglück in die Menschenwelt entlässt, werden gut und böse, die nur als Möglichkeit vorhanden waren, durch den Sündenfall des ersten Menschenpaares und die Hauptsünde der Eva erst für Menschen denkbar und wahrnehmbar. Da unser Sündenbegriff ein christlicher und kein alt-jüdischer ist, ist es denn auch wie bei den Griechen das Unglück, welches in die Welt entlassen wird: Brudermord, Polygamie, Inzest, Diebstahl usw. Die Scham tritt in der Paradiesgeschichte in die Welt, weil Adam und Eva ein (göttliches) Verbot übertreten haben. Nur wer gut (erlaubt) und böse (verboten) unterscheiden kann, kann sich auch schämen.

 

In der Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem hebräischen Original lauten die entscheidenden Sätze:

 

Und es waren sie beide nackt, der Mensch und seine Frau und nicht schämten sie sich voreinander. ...Die Schlange: ...ihr werdet wie Gott erkennend gut und böse... und sie nahm von seiner Frucht und sie aß und sie gab sogar ihrem Mann bei ihr und er aß......Und es öffneten sich (die) Augen den beiden und sie erkannten, daß sie nackt (waren) und sie fügten Blätter einer Feige und machten sich Umgürtungen. ... Und er (JHWH) sprach, wer meldete dir, dass nackt du bist? etwa von dem Baum, von dem ich dir gebot, nicht zu essen davon aßest du?

...Und es bildete JHWH Gott für Adam und für seine Frau Röcke (von) Haut und kleidete sie ...

...in Sorge gebäre Kinder und nach deinem Mann dein Begehren und er herrsche über dich; ...

 

Wie man sieht, ist das Augenmerk hier noch nicht wie nach wenigen Jahrhunderten Christentum auf das sexuelle Moment konzentriert, denn es ist nicht ursächlich für den Vorgang des Falls. Vielmehr ist es die Vertreibung aus dem Naturzustand in den der Erkenntnis, welcher erst Körperlichkeit und Sexualität thematisiert und die Körperscham ins Leben ruft. Indem sich die beiden Sünder "umgürten" mit Feigenblättern, werden allerdings hinten der Analbereich und vorne die äußerlich sichtbaren Organe der Fortpflanzung und der Ausscheidung des Urins bedeckt, denn nun schämen sie sich "voreinander".

 

Ist das erste Menschenpaar "wie Gott" geworden, wie die Schlange versprach? Es hat wohl vielmehr den Vorgang der Menschwerdung durchlaufen: Die Fähigkeit der Erkenntnis bezieht sich hier nicht auf die Benennung der Welt, die Adam schon vorher vollzogen hatte, sie bezieht sich auf die Selbsterkenntnis (Selbstwahrnehmung), die in Urteile eingeht. Der Kopf, der "Geist", verurteilt den animalischen Leib, Ernährung und Fortpflanzung, die nun beide als leidiges Thema und als Strafe auftauchen, und mit ihnen Begehren, Gebären und Herrschaft.

 

Alles spricht dafür, dass es hellenistische und antik-römische Einflüsse waren, die die Sexualisierung dieser Geschichte betrieben. Dabei wird sie auf den Kopf gestellt: Nun wird es das sexuelle Begehren des Mannes und die weibliche Verführung, welche den Sündenfall ausmachen. Die menschliche Urteilsfähigkeit macht Sündhaftigkeit überhaupt erst möglich.

 

Das Obszöne

 

Die Scham kann, muss aber nicht mit dem Ekel zusammengehen oder gar aus ihm erwachsen. Um einen anderen kulturellen Kontext gegenüberzustellen, hier ein kurzer Blick in einen Text des antiken Hellas.

 

Im platonischen 'Parmenides' geht es um das, was eigentlich Begriffe seien. Der titelgebende Philosoph fragt dann, ob dessen Vorstellungen für alle Begriffe Geltung hätten: Etwa auch über solche Dinge, o Sokrates, welche gar lächerlich herauskämen, wie Haare, Kot, Schmutz und was sonst noch recht geringfügig (atimótatón) und verächtlich (phaulótaton) ist, bist du im Zweifel, ob man behaupten solle, dass es auch von jedem unter ihnen einen Begriff besonders gebe, der wiederum etwas anderes ist als die Dinge, die wir handhaben, oder ob man es nicht behaupten solle?

 

Und ein paar Zeilen später heißt es: Du bist eben noch jung, o Sokrates, habe Parmenides gesagt, und noch hat die Philosophie dich nicht so ergriffen, wie ich glaube, dass sie dich noch ergreifen wird, wenn du nichts von diesen Dingen mehr gering achten wirst. Jetzt aber siehst du noch auf der Menschen Meinung deiner Jahre wegen. (Schleiermacher-Übersetzung, Original: Platonis Opera, Tomus II. Oxford University Press (19.ed.)1991, S.6f)

 

Haare, Kot und Schmutz sind, was Scham und Ekel angeht, keine homogene Aneinanderreihung, aber sie sind hier Beispiele für das, was geringfügig und verächtlich ist, wobei Haare wohl eher geringfügig ist, Kot und Schmutz eher verächtlich. Jedenfalls sind sie das im Kontext eines philosophischen Gespräches über Begriffe für den jungen Sokrates.

 

In dem lateinischen obscenus sind Kot und Schmutz im selben Wort verbunden: caenum ist beides. Im Obszönen wird das caenum schamlos behandelt, und in der Regel aggressiv. Zugleich bezeichnet das obscenum sowohl den Penis als auch alle Schampartien "zwischen den Beinen".

 

Während im platonischen Text Haare wie Kot vermeintlich unter der Würde philosophischer Betrachtung liegen, macht die lateinische Sprache Kot und Fortpflanzungsorgane auf derselben Ebene ekelhaft. In der Scham werden sie den Sinnen entzogen, in der Obszönität werden sie aufdringlich wahrnehmbar gemacht.

 

Das Wort "obszön" kommt erst im späten Barock in die deutsche Sprache, die größere sprachliche Kontinuität macht sein Erscheinen in der französischen Volkssprache schon in der Renaissance möglich. England mit seiner mittleren volkssprachlichen Nähe zum Romanischen steht auch zeitlich in der Mitte: Der gebildete höfische Aristokrat, der sich wohl hinter dem Namen Shakespeare versteckt, übernimmt es als obscene aus dem Französischen.

 

Das Obszöne, so wie wir es nach dem Mittelalter verstehen, ist ein wichtiger Teil romanischer Kunst, von dem Trobador Marcabru bis zu den Figuren besonders an sakralen Gebäuden. Nach einer Übergangszeit, die sich gut in den Texten von Leuten wie Rabelais erfassen lässt, wird die Kunst zwischen Gotik und Renaissance vom Obszönen gereinigt, ein Vorgang, der überhaupt erst den Gebrauch des Wortes hervorbringt.

 

Scham und Obszönität verhalten sich zueinander wie Defensive und Offensive, wie Verteidigung und Aggression. Und tatsächlich konzentrieren sich beide gemeinsam auf die Organe und Vorgänge der Fortpflanzung und der Verdauung, auf hergebrachte animalische Körperlichkeit, sie sind ein Umgang mit menschlicher Aggressivität.

 

Wenn die Scham die tierhaft-aggressive Natur des Menschen verdecken möchte, und dies ein menschliches Grundbedürfnis ist, dann ist die Obszönität nicht die Wiederherstellung natürlicher Triebhaftigkeit, sondern selbst ein Kulturphänomen. Das Obszöne ist eine Bloßstellung der Scham und nicht der menschlichen Triebhaftigkeit. Es ist ein zutiefst aggressiver Akt gegen die menschliche kulturelle Verarbeitung seiner Natur.

 

Obszön ist danach die Darstellung/Darbietung der männlichen Erektion als solcher oder auch nur des männlichen Gliedes, die Darstellung der (insbesondere der geöffneten) weiblichen Scham, die Darstellung des nackten Hinterns, soweit der Blick dabei auf den Anus zielen soll, die Darstellung des urinierenden und scheißenden Menschen und dieser Endprodukte der Verdauung selbst. Obszön wird es allerdings nur soweit, als die obszöne Absicht vorhanden ist bzw. zum Ausdruck kommt.

 

Die obszöne Absicht wiederum verweist auf die Schamschranken, wo diese fallen, ist im Maße ihres Verschwindens Obszönität nicht mehr möglich. Wenn Goethes Götz dazu auffordert, ihn "am Arsch zu lecken", machte das keinen Sinn, wenn dieser sauber und geruchsfrei wäre und zudem erotisch fetischisiert und nicht mehr als Ausscheidungsorgan von nützlich Verdautem angesehen würde. Diese Obszönität funktioniert nur, weil sie von der Voraussetzung der Schambesetzung des Anus ausgeht und diesen nicht zum Beispiel in ein sekundäres Geschlechtsorgan verwandelt.

 

Soweit ist die Obszönität eine Pervertierung der Scham, als Kunstgriff kann sie aber eine ganz andere Aufgabe übernehmen.

 

Im Italien der Renaissance werden in Grotten (grotte) antike Fresken entdeckt, die als grottesco bezeichnet werden, weil man sie zunächst nur von daher kannte. Erst im Verlauf der Neuzeit löst sich das Wort von der entsprechenden Malerei und wird stärker verallgemeinert angewendet. Entsprechend undeutlich ist auch die Wortbedeutung.

 

Obszön und grotesk ist nicht dasselbe, aber es gibt große Gebiete, wo sie zusammenkommen oder zusammenfallen. Eine romanische Skulptur über dem Kirchenschiff im Schweizer Jura, die der Gemeinde unten den nackten Hintern zeigt, ist für neuzeitliche Menschen beides. Desgleichen sind es unterschiedliche Arten von Lebewesen, die miteinander kopulieren, also Schimären erzeugen. Wesen, ob fabulöse Löwen oder Menschen, die die Zunge weit herausstrecken, sind im zweiten Fall eher obszön, im ersten eher grotesk.

 

Sirenengestalten und Meerjungfrauen mit Fisch-Unterleib haben sexuelle Konnotationen, Tiere, die sich in Tiere verbeißen, verweisen auf animalische Aggressivität, Tiere, die Menschen verschlingen, genauso. Zudem besetzt der romanische Skulpturenreichtum auch diejenigen biblischen Themen, die direkt in die Gotik und Renaissance verweisen, aber auch solche, die mit der Romanik anderen Platz machen, solche Themen wie Daniel in der Löwengrube oder Jonas und der Wal.

 

Es fehlte dieser Romanik zunächst unser Begriff (und nicht nur das Wort) vom Obszönen und Grotesken, der es ausschlösse, dass christliche Kirchen damit geschmückt würden. Dazu passt, dass ein so christlich-theologisch gebildeter und orientierter Trobador wie Marcabru des öfteren von der con, also dem lateinischen cunnus in seinen Liedern spricht, das heißt von der (neuzeitlichen) Vulva, aus dem lateinischen volva, der Gebärmutter, wobei Vulva bekanntlich die Klitoris, die Schamlippen und den Scheidenvorhof meint.

 

Dieses romanisch-okzitanische con kann wie bereits das lateinische cunnus auch als Bezeichnung der Frau dienen, die damit auf ihre äußeren Geschlechtsorgane reduziert und so (manchmal völlig) abgewertet wird, wie man es vom englischen cunt her noch heute kennt. Das deutsche Schimpfwort heute wäre "Fotze" zum Beispiel, die volkssprachliche Futt mittelalterlicher Texte.

 

Dass im Hochmittelalter das Obszöne nicht genauso aufgefasst und aufgenommen wurde wie seit der Gotik oder Renaissance, heißt nicht, dass nicht dieselbe Darstellung als obszön gilt oder als grotesk. Was sich geändert hat, ist die Funktion und damit der Kontext. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Darbietung des nackten Hinterns in Stein in einem Kreuzgang damals weniger obszön und damit beschämend wäre als heute, vielmehr ist an einem so christlich-religiös definierten Ort davon auszugehen, dass vorausgesetzt wurde, dass die Darbietung viel zuverlässiger mit Schrecken verbundene Schamgefühle auslöste, als das heute in noch möglich is

 

Die unmittelbare Reaktion auf das Obszöne ist der Schrecken. Die unmittelbare Reaktion auf das Groteske ist gemeinhin das Vergnügen des sich Wunderns, des Staunens. Als klassische Abwehrrreaktion gemeinsam mit dem Obszönen lässt sich das Lachen beobachten, jenes Weglachen, welches verhindern möchte, dass man mit intimeren Gefühlsregungen affiziert wird, deren Ambivalenzen nicht so leicht auszuhalten sind. Es ist zu vermuten, dass in der Romanik wenige gelacht haben beim Anblick solcher Figuren, denn sonst hätte die Geistlichkeit sie nicht so häufig anbringen lassen. Es ist aber möglich, dass sich damals außerhalb des Bereiches der Kirchen bereits eine "Lachkultur" als Gegenbewegung insbesondere bei jenen entwickelte, die sich periodisch von der Triebunterdrückung entlasteten, indem sie das Unterste zuoberst kehrten, - was nichts anderes geheißen hätte, als von einem Extrem ins andere zu fallen.

 

Die Bildprogramme von romanischen Sakralbauten waren bekanntlich Lehrprogramme, und sie unterrichteten unübersehbar anders als die gotischen oder gar die so ganz anderen der Renaissance. Das lässt sich ästhetisch formuliert fassen, aber auch in Termini einer unmittelbaren Sinnlichkeit; schließlich auch in den Vorstellungen von einer anderen Welt. Ein Musterbeispiel sind die Fabelwesen, seien es fabulös erfundene wie Greif oder Einhorn, solche, deren Fabelcharakter aus ihrer Exotik (für Europäer) herstammen, wie beim Löwen oder Elephanten, oder solche wie der lupus ex fabula, die einerseits heimisch vertraut sind, andererseits aber fabulös besetzt wurden.

 

Viele kluge Texte haben versucht zu beschreiben, wie sehr die Menschen der vorwissenschaftlichen Welt sich diese Welt aus der Besetzung von Dingen und Lebewesen mit Bedeutungen zusammenbauten. Umgekehrt heißt das, dass fast alles zum Zeichen für etwas werden kann. Diese Welt ist für die meisten nicht sehr christlich aufgeladen, um so weniger im übrigen, je stärker der germanische Einfluss noch da ist, der nach Süden ebenso abnimmt wie zeitlich im Verlauf des Mittelalters. Die Romanik ist dabei (entgegen ihrem Namen) noch stärker germanischen Wurzeln verpflichtet als die ebenso fehlbenannte Gotik.

 

Kirchliche Lehrprogramme im Bilderschmuck greifen in der Romanik noch eher Heidnisches auf als in der Gotik oder gar der Renaissance. Ohnehin drängt sich mir (am Rande immer mal wieder) der Gedanke auf, dass die Christianisierung erst mit der Entfaltung des Kapitalismus in der Neuzeit durchgreifenden Erfolg hat, einen Erfolg allerdings, den sich die Kirche so nicht gewünscht hatte, da er so nicht ihren Bildungsprogrammen entsprach.

 

 

Während Kirche und Kloster die menschliche Geschlechtlichkeit damals mit Ablehnung bis Abscheu betrachteten, kann man davon ausgehen, dass die Laienwelt bis ins Hochmittelalter darüber sehr gespalten war. Die Christianisierung der meisten Menschen war ein langwieriger Prozess und ihre „heidnischen“ Vorstellungen und Praktiken waren zählebig. Betrieben wurde diese Christianisierung vor allem vom Grundherrn aus, der für die ihm (ge)hörigen oder von ihm abhängigen Bauern Kirchen baute, die ihm so gehörten wie er über die von ihm eingesetzten Geistlichen verfügte.

 

In Italien, wo mehr Städte intakter überlebten und die Christianisierung fortgeschrittener war, war die Situation etwas anders, aber unter dem dünnen Mantel des Christentums überlebten hier umso mehr antik-"heidnische" Vorstellungen.

 

Mehr oder weniger gemeinsam war allen die Unkenntnis über die inneren Vorgänge im Menschen, die als körperliche nicht dem offiziellen Interesse der Kirche unterliegen konnten. Auf spekulativem Wege waren Philosophen dabei, sich langsam Vorstellungen vom Wasserkreislauf in der Natur und vom Blutkreislauf im Menschen anzunähern. Allerdings gelang es im arabischen Raum erst im 14. und im christlich-abendländischen im 16./17. Jahrhundert, eine korrekte Vorstellung davon zu entwickeln.

 

Während der männliche Anteil an der Fortpflanzung in groben Zügen offenkundig war, waren die versteckten Vorgänge in der Frau weithin unbekannt. Heloysa, eine der „gebildetsten“ Frauen ihrer Zeit, schreibt über die Menstruation:

 

Der Körper des Weibes hat einen sehr großen Feuchtigkeitsgehalt. Dies beweist die Glätte und der Glanz ihrer Haut, und ganz besonders beweisen es die regelmäßigen Reinigungen, die ihren Körper von überflüssiger Flüssigkeit entlasten. (Sechster Brief)

 

Der Scheideneingang der Frau liegt zwischen dem Ausgang der Harnleiter und dem des Darmes, von letzterem wenig mehr als 2 Zentimeter entfernt. Inter urinam et faeces werden wir geboren, heißt es bei Augustinus. Und dann entströmt dem Zielpunkt (männlichen) sexuellen Begehrens in regelmäßigen Abständen Blut, das (was man damals nicht verstand) durch die Keime in der Vaginalflora so zersetzt wird, dass es für menschliche Nasen stinkt. Zudem gelangen ständig Bakterien aus dem Anus und vom Urin in die Scheide, die das ansonsten saure Milieu beim Monatsausfluss nicht mehr beseitigen kann und die das blutige Sekret anreichern.

 

Im dritten Buch Moses heißt es: Wenn ein Weib den Monatsfluss hat, so bleibt sie sieben Tage lang in ihrer Unreinheit. Kontakt mit dem mensualen Sekret macht wiederum alles und andere für eine Zeitlang unrein. Bei manchen „Natur“völkern ziehen sich Frauen während ihrer Regelblutung völlig zurück. Wenn man bedenkt, dass die Menstruation zudem mit Schmerzen und Schwächeanfällen verbunden sein kann, wird verständlich, dass sie neben den häufigen Schwangerschaften als eine der konstitutiven Grundlagen für die Benennung der Frauen als „schwaches Geschlecht“ diente.

 

Regulär trugen Frauen im Mittelalter keine Unterwäsche. Die Menstruationsflüssigkeit lief manchmal an den Beinen herunter und war schwer zu verbergen, ebenso wenig wie der Geruch. Frauen waren also im Unterschied zu ihren tierischen Verwandten, den Säugetieren, doppelt benachteiligt, einmal galten sie außerhalb der Menstruation als „allzeit bereit“, mussten also die Ehepflichten auch wenig zärtlicher Ehemänner und "Liebhaber" ertragen, zum anderen nahm ihnen die monatliche Blutung jeden Monat mehrere insofern unbeschwerte Tage.

 

Das muss im Zusammenhang gesehen werden mit der auch in gelehrten Kreisen vertretenen Ansicht, dass die Frau an der Geilheit des Mannes schuld sei, dass Eva die(se) Sünde in die Welt gebracht hat. Vor diesem Hintergrund sind die Marienverehrung wie die neue Lyrik zu betrachten. Die Frau, der dunkle Kontinent, wird entsexualisiert und auf diese Weise verdeckt erotisiert. Nun kann man sie ohne Ekel, Scham und Schuld „lieben“.

 

Noch einmal die Sexualisierung der romanischen Skulpturen

 

Wir haben also zwei recht gegensätzlich orientierte Bewegungen, die sich aber gegenseitig beeinflussen. Die kirchliche ist seit dem 10/11. Jh. immer offensiver sexualfeindlich und meißelt Objekte des Abscheus in den Stein, die andere entwickelt eine erotisch-sinnliche Oberschicht-Kultur und adaptiert vom kirchlich verordneten Christentum nur dasjenige Zeremonielle, welches diese Kultur verfestigt.

 

In der Mitte dazwischen entwickelt sich in Kloster und Kirche eine intensive Gefühlskultur, die eine hoch sublimierte christliche Liebesvorstellung entwickelt. Der bedeutendste Vertreter wird Bernhard von Clairvaux, der sich ausführlich gegen den romanischen Figurenschmuck wendet und die Zisterziensergotik einleitet.

 

Das alles muss vor dem Hintergrund einer zum allergrößten Teil bäuerlichen Kultur gesehen werden, die von alledem wenig mitbekommt und nur minimal christianisiert ist und einer städtischen Kultur, die in den Augen des Adels von Sekundärtugenden getragen wird, sich "kulturell" aber am Adel orientiert und sich auf den Weg in frühe Formen kapitalistischen Wirtschaftens begibt.

Die Anstöße zu solchen Entwicklungen kommen aus Kloster und Kirche, und ein Bindeglied sind die Autoren der Texte in Latein und Volkssprache, die zunächst beide Kleriker mit unterschiedlichen Loyalitäten sind, so wie viele Steinmetze vorwiegend für Kirche und Kloster, aber zunehmend auch für hohe weltliche Herren arbeiten.

 

Ein weiteres Bindeglied bildet die Tatsache, dass die wichtigen weltlichen Herren, die hohen Herren der Kirche und die Masse der Insassen und insbesondere die Äbte und Äbtissinnen derselben gesellschaftlichen Schicht angehören, sie gehören alle zu denen, die sich gegen Ende des Hochmittelalters als "Adel" abschließen werden.

 

Was nun setzt Menschen in den Klöstern und dann auch in der Kirche in solche Bewegung? Sie bewegen sich jedenfalls, bevor eine höfische Kultur auftritt, zu der sie sich als Gegenbewegung begreifen können. Sie bewegen sich auch, bevor in Wechselwirkungen technische Innovationen, steigende Produktivität, steigender "Wohlstand" und Bevölkerungsvermehrung das Hochmittelalter verändern. Zwar gehört zu den Abscheubildern der romanischen Kirchen auch der Geizhals mit der Börse in der Hand oder um den Hals, aber diese Gestalten können noch gar nicht antikapitalistisch gemeint sein, es gibt noch keinen Kapitalismus.

 

Die Hinwendung zu Gott und fort aus der "Welt" ist ursprüngliches Christentum, neu ist, dass es nun auch für andere als für nur wenige Heilige gelten soll, zumindest für die Pilgerscharen. Einmal bedürfen die Frommen, die recht weit oben an den Wänden den neuartigen (und teilweise abstoßenden) Zierat anbringen, zusätzlicher Geldmittel für Bildhauer zu dem üblichen affirmativen Figurenschmuck an Portalen und in der Kirche selbst.

Zum anderen muss es Gründe für die propagandistische Hinwendung zur Laienwelt geben mit dem Ziel der Verhässlichung von Körper und Geschlechtlichkeit. Weir/Jerman verweisen darauf, dass viele der Kirchen an den großen Pilgerwegen liegen, und das Pilgern ist in der Zeit dieser Figuren im Gefolge der Reconquista und der Kreuzzüge ein laikales Massenphänomen geworden. Viele Pilger übernachten in den Kirchenräumen und bekommen so bildlich gepredigt, was alles lasterhaft und unchristlich ist. Über den Reliquienkult und das Pilgern wird Christentum auch zu einem großen Geschäft, und wo das Geld fließt, ist auch das Amüsiergewerbe nicht weit.

 

 

Vermutlich ist die Masse der produktiv auf dem Lande Tätigen nicht gepilgert, sei es, weil die Herren es ihnen im Frühmittelalter nicht erlaubten, sie ihre Äcker, Weiden und Ställe nicht verlassen konnten oder aber einfach keine Mittel dafür besaßen. Sie werden also wohl nicht die Hauptadressaten der später für obszön gehaltenen Kleinplastiken sein. In Klöstern dürften das die Mönche selbst gewesen sein, denen die wesentlichen Tätigkeitsfelder des Teufels stets vor Augen gehalten wurden. Aber was den Anderen vorgeführt wurde, waren wohl ihre vom Klerus (und den Steinmetzen) so vorgestellten eher häufigeren Sünden. Illizite Kopulationen heterosexueller Art, anale und orale Praktiken, Masturbation, homosexuelle Praktiken, Koitus mit Tieren, Prostitution.

 

Dagegen wissen wir so gut wie nichts über das tatsächliche Sexualleben der Menschen damals (und auch über das der Heutigen wenig). Neben die bildlichen Darstellungen treten noch die etwa gleichzeitigen erhaltenen Bußbücher mit ihren Sündenkatalogen, die sich im sexuellen Bereich kaum von den figürlichen Darstellungen unterscheiden. Beides, bildliche und schriftliche Darstellung, unterliegt aber dem Manko, eine kirchliche/monastische Sicht wiederzugeben, die in der persönlichen Auseinandersetzung mit sich selbst jenes Abtöten des Fleisches, welches sexuelles Begehren vor allem meint, vermutlich allzu viel im Mittelpunkt sah und welches vermutlich auch über die Maßen phantasieanregend wirkte.

 

Andererseits war das oft gemeinschaftlich herumziehende Pilgern eine besonders gute Gelegenheit für einen Ausflug in Abschweifungen und Ausschweifungen, was Klerus bei Beichten, Gerede oder sogar durch persönliche Kenntnisnahme mitbekam.

 

Körperlichkeit wird nicht nur durch Kultur definiert und durch Zivilisation überformt, sondern sie wird zu allererst durch den Fortpflanzungserfolg hergestellt, in dem Erfolgreiches vererbt wird, ein Vorgang, den Zivilisationen partiell konterkarieren und der in der Postmoderne der entwickeltsten und sich auf ihren Untergang hinbewegenden Völkern des späten Kapitalismus offenbar fast zur Gänze aufgehoben wird.

(ff)

 

(Buchmalerei)

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Sublimation

 

Viele Fragen stellen sich, darunter die, warum solche wie wir sie nennen obszönen und grotesken Figuren in Ostfranzien und Teilen Italiens nicht auftauchen, aber auch die, wie wir ihre Gleichzeitigkeit mit so anderen, sublimeren Formen und Figuren erklären.

Diese Abbildung von St. Vitus in Ellwangen zeigt etwas von dem Standardrepertoire romanischer Großplastik, vorläufig noch als Relief. Hier erfahren wir dann wenig von denen, für die das Bild hergestellt wurde und mehr von der Propaganda-Absicht derer, die es in Auftrag gaben. Ein majestätisch thronender Jesus umgeben von Figuren großer Heiligkeit, mit erstarrtem Gestus. Der himmlische Machthaber über dem Eingang in den Ort der magischen Unterwerfung.

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Marien (in Arbeit)

 

Maria als Muttergottes gehört nicht zur göttlichen Dreifaltigkeit, andererseits ist sie als jungfräuliche Gottesmutter auch nicht irgendeine der Heiligen, die auf Erden nichts anderes als Menschen waren.

Der Aufstieg Marias und nach ihr Maria Magdalenas in den christlichen Pantheon mit der zukünftigen Implikation stärkerer Innigkeit liegt noch in den Anfängen, und dort, wo die Gottesmutter deutlicher auftaucht, wird sie noch eine Weile eher als thronende Herrscherin dargestellt, die ebenso frontal zum Betrachter schaut wie das Kind auf ihrem Schoß, ohne Kontakt zu ihr, in seinen Posen den zukünftigen Herrscher und Triumphator ahnen lassend.

 

Bild

 

Bei Thietmar von Merseburg taucht solche Marienfrömmigkeit bereits für die Zeit um 1000 auf: Nach dem Heimgang der Herrin (domne) entschied sich ihr seliger Gefährte (felix comes: Graf Arnfried), das Leben eines Mönches nach einer möglichst strengen Regel auf sich zu nehmen; nicht, dass ihn irdische Beschwernisse dazu gebracht hätten, sondern er beschritt ganz bewusst den Pfad der Tugend (…). Er reiste zur Marienkapelle nach Aachen et mundi domnam exoravit (und betete zur Herrin der Welt).

 

Deutlich wird diese Vorstellung einer thronend herrschenden Maria in der Widmung des Speyerer salischen Domes an sie. In einem Evangeliar für „seinen“ Speyrer Dom lässt sich Heinrich III. zusammen mit der Gemahlin Agnes vor der thronenden Gottesmutter abbilden. Sie soll ihnen als Gebärerin Christi einen Thronfolger schenken. Dazu heißt es: Oh Königin des Himmels, weise mich König nicht zurück. Durch die Überreichung dieser Gabe (des kostbaren Buches) vertraue ich mich, den Vater mit der Mutter und insbesondere die, mit der ich in Liebe zum Nachkommen verbunden bin, dir an. Mögest du allzeit eine huldreiche Helferin sein.

Später kommt dazu Heinrichs IV. Anrufung von ihr immer wieder und insbesondere 1080 in seiner Auseinandersetzung mit Gregor VII. und dem Gegenkönig. Mit Maria tritt in den Pantheon/Himmel des dreigestaltigen Gottes auf Augenhöhe mit dem König Christus dessen "Mutter", heilig eigentlich nur durch die göttliche Insemination, die ihr Hymen intakt ließ.

Augenhöhe stellt der Sohn dar, indem er ihr eine Krone aufsetzt, wie er sie selbst trägt. In den nächsten Jahrhunderten werden malerische Darstellungen dieses Krönungsaktes immer mehr christliche Kirchen zieren und bei denen, die ihr geweiht sind, Christus vom Hauptaltar verdrängen.

 

Als regina ist Maria inzwischen dem rex Christus gleichgestellt und mit ähnlicher göttlicher Macht ausgestattet, ein theologisches Phänomen. Zugleich sind Mutter und Sohn als Königspaar dem irdischen im Titel gleichgestellt. Aber Maria bleibt zusammen mit Christus vorläufig noch „Herrin“.

 

Neben die thronende und unnahbare Gottesmutter tritt eine aus mehreren evangelischen Marien fusionierte Maria Magdalena, die nun immer stärker von der Sünderin zur Büßerin wird. Die deutlichere Erotisierung beider wird noch bis in die nächsten Jahrhunderte auf sich warten lassen, aber bei den Magdalenengestalten ist mit dem Büßertum ein eigenartiger Reflex auf die geschlechtliche Körperlichkeit vorhanden, der sich in der Eremitenbewegung und radikal asketischen Verbindungen von Eremitage und Kloster niederschlägt.

 

Im Zuge der Klosterreform, die im burgundischen Cluny beginnt und der Kirchenreform, wie sie ab Mitte des 11. Jahrhunderts vom Lateranpalast ausstrahlt, und deren Ziel die Beendigung des unchristlichen Lotterlebens von Mönchen und Weltgeistlichkeit ist, wird Maria Magdalena neuendeckt. Nur wird sie nun von einer Liebenden fast zur Gänze in eine Büßerin verwandelt, die sie an keiner Stelle der Evangelien war(en).

 

Die obigen hochmittelalterlichen Reformen setzen eine konsequente sexuelle Askese von Mönchen und Klerus durch, wobei letztere erst jetzt in einem etwa 80 Jahre dauernden Kampf der Reformer gegen die Priesterschaft deren Ehelosigkeit wenigstens teilweise durchsetzen, was ihre Frauen und Lebensgefährtinnen in Abgründe sozialer Not stößt, sind sie doch nun Huren, „meretrices“ geworden, sozusagen Magdalenen neuen Typs. So manche wurde es in ihrer Not darauf auch wirklich.

 

Parallel dazu wird nun die Pflicht zur christlichen Eheschließung durchgesetzt – zunächst an der Kirchenpforte, damit die Erlaubnis zur letztlich doch sündigen Lust, die die Eheschließung in den Augen der Reformkirche darstellt, nicht die heiligen Hallen beschmutzt. Zugleich wird die Unauflöslichkeit dieser Ehe von nun an vehement durchgesetzt, weshalb die Flucht von Frauen dort, wo die Behandlung durch den Ehemann vollends unerträglich war, fast nur noch in jene neuartigen klösterlichen Gemeinschaften möglich war, in die nun auch die von der Kirche verstoßenen Frauen der Geistlichen flüchteten. Am besten erforscht ist in dieser Beziehung das Kloster, welches Robert d'Arbrissel in Fontevrault (Fontevraud heute) gründete. Ihm wurde vorgeworfen, jede Menge „Huren“ in seine Gemeinschaft aufzunehmen.

 

Im Zuge dieser Entwicklung, zu der parallel sich dann eine "frauenfreundlichere" an den Höfen der Laien breitmachte (Trobadors, Minnesänger, Dichter von christlich beeinflussten Ritterepen, Autoren von Kompendien höfischer, also höflicher Liebe), im Zuge dieser Entwicklung gelang es dann auch, „Maria Magdalena“ nicht als Liebender, sondern als büßender, kniender Sünderin eine Heimstatt im lateinischen Abendland zu verschaffen.

 

In Konkurrenz zur Legende, die sie nach Ephesus verbrachte, gelangte sie hier nach Aix-en-Provence, von wo aus sie in Baume lange als Eremitin lebte, worauf ihr in Aix dann ein Mausoleum errichtet wurde, welches (sic!) Frauen nicht betreten und dadurch entweihen durften. Als man in Vézelay Mitte des 12. Jahrhunderts an einem durch Pilgergaben ohnehin schon reich beschenkten Ausgangspunkt des Jakobsweges entdeckte, dass dort die wirkliche Begräbnisstätte der Magdalena sei, weil dort immer mehr Wunder geschahen, musste man nur noch erforschen, wie sie dorthin gelangt sein könnte (man hatte sie vor einem Sarazenenangriff aus Aix gerettet), und dann ihre sterblichen Überreste dort entdecken.

 

Erfundene Geschichten erfreuen die Menschen auch heute noch, und wirksam sind sie auch heute für fast alle nur, wenn wenigstens während der Lektüre oder Betrachtung vergessen wird, dass sie erfunden wurden. Nicht das ist von Bedeutung, sondern die Wandlung, die vom evangelischen hin zum hochmittelalterlichen Frauenbild erfolgte. Magdalena kniet nicht mehr wie die Liebende vor dem Geliebten, sondern wie die hochmittelalterliche Braut vor dem Bräutigam, der nun ihr Herr werden soll, wie der Vasall, der sich in die Mannschaft seines Herrn begibt, wie der Mönch bei der Ableistung seines Gelübdes. Sie ist keine mit Gefühls- und Triebanarchie drohende Isolde und keine schwer bezwingbare Brünhilde mehr, sondern eine schwache Magd Gottes.

 

Während sie gehorsam dienen soll, wird sie zugleich an den Höfen des Poitou, Aquitaniens und der Provence nun zur „Herrin“, der der sie verehrende Mann „dient“. In vollkommener Umkehrung der christlichen Doktrin, und ihr soweit verhaftet, kultiviert eine privilegierte Laienschar an diesen Höfen nun das Leiden an der sich als „Dame“ verweigernden Frau und übt sich – wie es umgekehrt die Magdalenen sollten – am Leiden im Verzicht.

 

Auf diese Weise entstehen zwei höchst eigenartige Formen abendländischer Liebesrhetorik, beide sehr sublim, beide auf dem Weg zu jener enormen Inbrunst, die in den ekstatischen Verzückungen des Barock und dann im 18. Jahrhundert in einer ersten Blütezeit literarischer und bildlicher Pornographie enden werden, beides dann unter dem Ladentisch, aber bereits mit enormen Auflagen.

 

 

Die wirklichen Körper der Menschen

 

Schon die Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter ist von krassen Unterschieden zwischen Ideal und Wirklichkeit geprägt. Diese nehmen mit der Entstehung des Kapitalismus noch einmal zu. Die Herren verstoßen weiter gegen alle Gebote und werden dabei zum guten Teil von der Kirche unterstützt. Diese ist selbst weithin von der Gier nach Macht und Reichtum geprägt, und die Masse ihrer Mitglieder hält nicht einmal das Gebot der Keuschheit ein. Die produktive Masse der Menschen wiederum ist höchsten geringfügig christianisiert und im wesentlichen auf das tägliche Überleben, also auf Arbeit konzentriert.

 

Das lateinische Abendland ist von einer durch nichts unter einen Hut zu bringender Vielfalt geprägt, die von viel mehr Widersprüchen geprägt ist als jede Zivilisation vorher. Mönche und gelehrtere Geistliche lesen offenbar mit Ovid jemanden, der diametral allem Christentum widerspricht. Ausgerechnet die Reformkirche des 11. Jahrhunderts erfindet den heiligen Krieg. Die Gier früher Kapitaleigner trägt erste Früchte mit erheblichem Reichtum, während die ländliche Bevölkerung immer noch auf vorchristlichen Bräuchen beharrt.

Die Kirche wird weiter bis ins 12. Jahrhundert den Geschlechtstrieb als Ursünde betrachten, während sie ihn zugleich selbst noch überwiegend auslebt. Für die Herrenmenschen findet er zum guten Teil neben der Ehe statt, während Körperlichkeit zudem in Jagd und anderem Sport, in Kampf und Krieg ausgelebt wird. Bei den produktiv Arbeitenden werden die Körper im wesentlichen von der Arbeit beansprucht, die bei den Bauern weiter sehr hart ist und in der Regel auch bei Handwerkern.

 

Wenn sich der Abt Guibert von Nogent auf seine alten Tage in 'De vita sua' zum Geschlechtsleben seiner Lebenszeit äußert, ist da wenig Christliches wahrzunehmen. Ein Neffe seines Vaters war "in den Werken der Venus so bestialisch, dass ihn das eheliche Band keiner Frau abhielt" (cum Venerico operi adeo pecualiter indulgeret, ut cujus piam necessitudini feminarum in nullo deferret), weshalb er selbst auch nie heiratet (I,7)

 

Eine andere Geschichte Guiberts handelt von seinem Zeitgenossen Enguerrand de Boves, welcher einerseits der Kirche sehr zugetan ist, aber noch viel mehr den Frauen, so dass er immer einige gekaufte oder gemietete um sich herum hat. Im übrigen aber wildert er auch in den Reihen der verheirateten Frauen, unter anderem treibt er es mit der Frau des Grafen von Namur. Diese kam zu ihrem Gemahl schon schwanger von einem anderen in die Ehe und wurde von ihm dann offenbar vernachlässigt. Das hindert ihn aber nicht, nun auf das brutalste Krieg gegen Enguerrand zu führen und seine Leute massenhaft am Galgen aufzuhängen, ihnen die Augen auszustechen oder die Füße abzuhacken. (De vita sua, III,3)

 

Zu den relativen Tabuthemen bis heute gilt das Erwachen des Geschlechtstriebes bei den Jugendlichen, insbesondere bei den Knaben, aber Guibert spricht es doch an, wenn concupiscentia, heftiges und für Christen sündhaftes Begehren, und cupiditas, leidenschaftliches Begehren, erwachen und erwähnt auch die Selbstbefriedigung, die occultae malignitati, der er sich wacker widersetzt, bis er dann gehen möchte, um der Schwäche seines Fleisches nachzugeben. (I,16)

Erotische Literatur wie die des Ovid ist in seinem Kloster erreichbar und in erotischem Verseschmieden versucht der Jugendliche seinen Geschlechtstrieb zu sublimieren (?). Süße Wörter der Dichter werden durch eigene ergänzt und erregen ihn sexuell. Obscenula verba kommen dazu, seine honestas versinkt; die Kameraden haben die gleichen Neigungen und denselben Geschmack. Am Ende rettet ihn Anselm von Canterbury aus seinen Irrungen und Wirrungen. (I,17)

 

Guibert erwähnt auch einen Mönch, der schwarze Magie erlernen möchte. Ein Jude aus dessen Bekanntschaft willigt darin ein, ihn mit dem Teufel in Kontakt zu bringen, Dieser verlangt von ihm ein Trankopfer aus seinem Samen. Er soll es ihm dann einschenken und als erster davon trinken.Nicht die Masturbation im Kloster, sondern der Teufelspakt ist hier das Besondere. 

 

Zu den gängigen Textpassagen (geistlicher) Autoren des 11. Jahrhunderts über im wesentlichen städtische Frauen gehören Klagen über ihr wenig "christliches" Auftreten und ihre fehlende pudor (Schamgefühl). Bei Guibert von Nogent lautet das so:

Possenreißereien (triscurria) ist das, was ihre Manieren ausmacht, und nur Spaßereien sind zu hören, mit Augenzwinkern und Geschwatze. Schamlose Leichtfertigkeit (petulantia) in ihrem Auftreten, lächerliche Sitten. Die Extravaganz ihrer Kleidung unterscheidet sich von der alten Einfachheit ihrer Kleidung, und sie scheinen mit der Vergrößerung ihrer Ärmel, der Enge ihrer Tuniken, der Entstellung ihrer Schuhe aus Leder von Cordoba und nach oben gedrehten Zehen jegliche Scham weggeworfen zu haben. Ihr schlimmstes Leid ist das Fehlen eines Liebhabers. Ihr Anspruch an nobilitas und höfischer Glorie beruht auf Massen an Verehrern. Früher (...) gab es mehr Zurückhaltung in verheirateten Männern, die errötet wären in Gesellschaft solcher Frauen, als heute bei verheirateten Frauen besteht. Und Männer sind durch solch schändliches Benehmen zu ihren Liebschaften ermutigt und dazu angestachelt, die Märkte und öffentlichen Straßen zu behelligen. (...)  Weder das Prahlen der Männer über die Anzahl ihrer Liebschaften noch die Wahl bezüglich ihrer Schönheit gerät ihnen zum Vorwurf. (De vita sua, I,12)

 

Zwei Generationen vor Guibert beklagt sich schon der Mönch Radulf Glaber in seinen Historien:

Um das Jahr 1000 seit der Fleischwerdung des Wortes, als König Robert die Königin Konstanze zur Frau nahm, wurden ihretwegen die Francia und Burgund von eitlen und prahlerischen, völlig charakterlosen Menschen überflutet. Ihre Sitten waren ebenso verdreht (distorti), ihre Waffen und die Aufzäuming der Pferde ein Durcheinander. Diese Leute hatten eine Hälfte des Kopfes glattrasiert und waren bartlos wie Spielleute (histriones). Sie trugen schamlose Hosen und Schuhe und sie kümmerten sich einen Dreck um Treu und Glauben und den Gottesfrieden. Und, oh weh! ihr schlechtes Beispielwurde vom ganzen Volk der Francia, einstmals das ehrbarste von allen Völkern, und ebenso von den Burgundern übernommen. Sie gleichen sich beide diesen ehrlosen und sündigen Leuten an. (in: Hartung, S. 68. Konstanze entstammt der Provence und bringt etwas von ihrer mediterranen Lebensart mit in den Norden.)

 

 

Je mehr Macht Menschen haben, desto weniger müssen sie sich um die Vorschriften der Mächtigen in der Kirche kümmern, mit denen sie eine Interessengemeinschaft pflegen. Für sie ist bis ins 11. Jahrhundert weder die monogame Ehe, noch vor allem eheliche Treue verbindlich. Henry I. von England (1069-1135) soll wenigstens sechs Konkubinen gehabt haben und unter den Kindern von ihnen sind mehr als zwanzig bekannt, von denen er einen guten Teil während seiner Ehe mit Mathilda bekommt, von der er wohl ebenfalls zwei oder drei hat.

Das hindert den Mönch William aus dem Kloster von Malmesbury nicht, über ihn im ersten Band seiner 'Gesta Regum Anglorum' zu schreiben. dass:

er sein ganzes Leben frei von fleischlichen Gelüsten geblieben sei und sich - wie ich von denen gehört habe, die es wissen müssen - - lediglich den Umarmungen des weiblichen Geschlechtes aus Liebe gebeugt habe, um Kinder zu bekommen und nicht, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Denn er hielt es für unter seiner Würde, sich anderen Vergnügungen hinzugeben, solange der königliche Samen seine königliche Bestimmung erfüllen konnte. (in diesem Deutsch in: Mazo Karras, S.263) Auch für belesene Historiker ist es manchmal opportun, so zu lügen, dass die Balken sich biegen.

 

Brunos Wutschrift vom Sachsenkrieg Heinrichs IV. enthält publikumswirksame Angaben zu dessen Geschlechtsleben, die allerdings wenig überprüfbar sind:

Zwei oder drei Konkubinen hatte er zur gleichen Zeit, aber auch damit war er noch nicht zufrieden. Wenn er hörte, jemand habe eine junge und hübsche Tochter oder Gemahlin, befahl er, sie ihm mit Gewalt zuzuführen, wenn er sie nicht verführen konnte. Zuweilen begab er sich auch selbst mit ein oder zwei Begleitern bei Nacht dorthin, wo er solche wusste; manchmal gelangte er ans Ziel seiner üblen Begierde  Dafür schläft er (bis 1069) nicht mit seiner Gemahlin, stattdessen führt er ihr Ehebrecher zu, die den Grund liefern sollen, sie verstoßen zu können.

Über seine weiblichen Opfer heißt es: (...) wenn er selbst, so lange er Gefallen daran hatte, an ihr seine Lust befriedigt hatte, gab er sie einem seiner Knechte (de famulis suis) gleichsam zur Frau. Nachdem er die edlen Frauen dieses Landes zunächst selbst schmählich missbraucht hatte, entehrte er sie noch ärger durch die Vermählung mit seinen Dienstmannen 

Seiner Schwester fügt er Schande zu, als er sie mit seinen eigenen Händen niederhielt, bis sie ein anderer auf seinen Befehl und in Gegenwart des Bruders entehrt hatte. (in: Quellen Heinrich, S203f)

Es geht nicht darum, was darüber hinaus stimmt, dass der königliche Geschlechtstrieb möglicherweise überdurchschnittlich stark ist, sondern darum, dass das hier Erzählte wohl für Menschen damals glaubwürdig erscheinen sollte und konnte.

 

Die französischen Pastorellen des 12. Jahrhunderts handeln von der Verführung von Schäferinnen, und etwa jede vierte davon trifft auf Widerstand und endet mit einer Vergewaltigung. In einer von ihnen heißt es aus der Herrenperspektive:

Als ich sah, dass sie weder durch mein Bitten, noch durch meine Versprechungen, noch durch Schmuck oder was ich mir ausdachte, Gefallen an mir finden mochte, warf ich sie einfach ins Gras. Sie konnte sich anfangs gar nicht vorstellen, dass sie so großes Vergnügen dabei empfinden werde, und seufzte, schlug mit den Fäusten, raufte sich die Haare und versuchte zu entwischen. (in: Mazo Karras, S.265)

 

Vergewaltigung von Frauen gehört weiter zum Alltag des Krieges, wobei wie immer die Brutalität der Feinde beschrieben wird: In Brunos 'Sachsenkrieg' hat König Heinrichs IV. Militär  1075 einen Sieg errungen, und dieses zieht plündernd durch Sachsen:

Es half den Frauen nichts, dass sie sich in die Kirchen geflüchtet und ihre Habe dorthin getragen hatten; denn die Männer waren in die Wälder geflohen, oder wo sie sonst in einem Versteck auf Rettung hoffen konnten. Die Frauen schändeten sie noch in den Kirchen, selbst wenn sie sich zum Altar geflüchtet hatten, und wenn nach Barbarenweise ihre Lust befriedigt war, verbrannten sie die Frauen mit den Kirchen. (cap.47 in: QuellenHeinrich, S.257)

 

Die Natur, zu der der Leib des Menschen gehört, gilt es nach offizieller Doktrin zu bezwingen, alles andere ist Sünde. Aber an zwei Stellen fängt sie an, wieder zu positiverer Aufmerksamkeit zu finden, einmal bei jenen "Philosophen", die sich ihr sehr abstrakt und mit Vernunftgründen zuwenden, und empirisch und praktisch in der Medizin (siehe auch Großkapitel 'Intellekt 1').

 

Zunächst einmal entwickelt sich die Medizin über die Tradierung und Neuentdeckung antiker Schriften, was aber auch Schaden anrichtet, weil sich mit ihren Mitteln jene Privilegierung von Ärzten einer damals auch fatalen Schulmedizin durchsetzen lässt, welches sich gegen die jeweils heimische Erfahrungsmedizin (besonders auch von Frauen) wendet. Schaden richten auch das kirchliche Sektionsverbot an, welches erst durch das Aufkommen von Wundärzten kompensiert werden kann, und die kirchliche Propagierung von spezifisch christlicher Schamhaftigkeit.

 

In diesen Zusammenhängen kommt der medizinischen Schule von Salerno, nicht allzu weit von der islamischen Welt entfernt, eine besondere Bedeutung zu. Bevor die Frauen im lateinisch-christlichen Abendland ganz aus der Medizin vertrieben werden, taucht hier Anfang des 12. Jahrhunderts mit einer sonst unbekannten Trota/Trocta eine Medizinerin auf, die sich mit Geburtshilfe, Empfängnisverhütung und Geschlechtskrankheiten befasst und dabei empirisches Wissen einbringt.

 

Aber empirische Medizin, die sich in Richtung Wissenschaftlichkeit bewegt, wird es neben der ideologisch fundierten noch lange schwer haben. Damit wird die Natur des Menschen, auf seiner Körperlichkeit beruhend, zwar jedem Menschen aufgrund seiner Erfahrung mit ihr persönlich bekannt sein, dies aber nur oberflächlich und unter den Nebelschwaden von Ideologie, die in Abwandlungen bis heute weiter grassieren.

 

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Ein nicht unwesentlicher Aspekt von Körperlichkeit zeigt sich darin, dass mit der sich vor allem im südlichen Westfranzien langsam von der Architektur  befreienden plastischen Darstellung von Körpern eine Wende ankündigt. Zum einen treten in Reliefs die Figuren immer stärker hervor und werden lebensechter. Zum anderen kommen zu den Ganzkörper-Darstellungen des gekreuzigten Jesus Marienstatuen hinzu, und dann solche erster Heiliger wie der Sankt-Fides in St.Foy (Conques). Ein Pilger berichtet dazu:

Der Kult schien mir zuerst missbräuchlich und heidnisch. Für mich galt der Brauch, die Verwendung von Stein, Holz oder Metall auf die Darstellung unseres Herrn am Kreuz zu beschränken. Die Heiligen empfingen nur die Ehre der Schrift oder der Malerei. (in: Neiske, S.103)

 

Was hier erkennbar wird, ist nicht nur eine Aufwertung der Heiligen und ihres Kultes, denn in ihrer plastischen Darstellung wird für den einfachen Gläubigen ihre Anwesenheit in ihrem dreidimensionalen Abbild naheliegender, wie das schon seit der Bronzezeit für Götterstatues galt; man kann vielmehr auch von einer Aufwertung des (menschlichen) Körpers sprechen. Das hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass solches Tun nun durch neue Handwerkskunst wieder möglich wird. Aber jener Weg ist eingeschlagen, in dem dann auch Adam und Eva als Skulpturen auftauchen, schließlich auch Maria Magdalena, der dann zu spätromanischen Freiplastiken ganz weltlicher Natur und schließlich zum Feiern körperlicher Schönheit an und in gotischen Kirchen führen wird.

 

 

Versuchung

 

Sublimation, Verfeinerung entsteht im 11./12. Jahrhundert zwischen zwei Polen, Verteufelung und Feiern des Körperlichen nämlich. Jenseits von Klerus und Kloster liegen diese Pole zeitlich getrennt und vermutlich auch im Bewusstsein der Menschen weit auseinander, eben zwischen Kirchgang und weltlichem Alltag. Ein besonderes Spannungsfeld darin ist das zwischen Versuchung und Abwehr, und ein Weg in die Aufhebung dieser Spannung ist Sublimierung, die das Begehren nicht verteufelt oder leugnet, sondern in Impulskontrolle "verfeinert".

 

Männer wurden dabei schon immer am meisten gefesselt von solchen Versuchungen, die von den erotischen Reizen von Frauen ausgehen. Es ist dies die unendliche Fortführung der christlichen Version der Paradiesgeschichte, in der der Teufel Adam (den Menschen) durch das Weib (Eva, die Lebendige) versuchen, also verführen lässt.

 

Die Rückkehr ins Paradies ist direkt nicht mehr möglich, aber dafür der Weg in den durch Jesu Opfertod eröffneten Ersatz, in die paradiesischen Zustände der ewigen Seligkeit. Dieser Weg öffnet sich durch den Glauben und die Entsagung, und letztere wurde beispielhaft von den Eremiten der äygptischen Wüste vorgelebt. Cassian berichtet in seinen 'Unterredungen mit den "Wüstenvätern" der Kirche, den Collationes Patrum, von den drei Entsagungen des koptischen Paphnutius:

 

Wir werden also die wahre Vollkommenheit dieser dritten Entsagung dann in Wahrheit besitzen, wenn unser Geist durch seine ansteckende Verbindung mit Fleischesfett herabgestimmt, sondern durch die erfahrenste Bearbeitung geläutert ist von jedem Affekt und irdischer Beschaffenheit und nun durch unaufhörliche Betrachtung der göttlichen Schriften und geistige Beschauungen zum Unsichtbaren so emporgestiegen ist, daß er auf das Himmlische und Unkörperliche gerichtet die Hülle des gebrechlichen Fleisches und des ihm anhaftenden Körpers gar nicht mehr merkt. Dann soll er auch in solche Entzückungen hingerissen werden, daß er nicht nur seine Stimmen mehr mit dem leiblichen Ohre vernimmt, und nicht durch den Anblick der vorübergehenden Menschen eingenommen wird, sondern daß er nicht einmal die dastehenden mächtigen Bäume und die größten sich darbietenden Gegenstände mit leiblichem Auge sieht. Die Glaubwürdigkeit und Kraft dieses Zustandes wird nur der fassen, der das Gesagte durch Erfahrung kennen gelernt hat, dessen Herzensaugen nämlich der Herr so von allem Gegenwärtigen abgezogen hat, daß er es nicht nur für vorübergehend, sondern für gleichsam nicht daseiend hält und es für leeren Rauch ansieht, der in Nichts sich auflöst. Wandelnd mit Gott wie Henoch und über menschliches Thun und Treiben erhaben findet man ihn nicht mehr in der Eitelkeit dieser Zeit.

 

Auf die Entsagung von Geld und Gut folgt die auf das irdische Begehren, auf die Laster also. Delarun zitiert ohne Quellenangabe (Erotik..., S.71f) einen Engel, der zu Paphnutius spricht, welcher sich darüber beklagt, sich beim Kochen eines Linsengerichtes die Hand in der Flamme verbrannt zu haben:

 

Paphnutius, warum bist du traurig darüber, dass dieses irdische Feuer nicht mit dir Frieden hält, wo doch in deinen Gliedern noch das Feuer sinnlicher Gelüste wohnt, ein Feuer, das noch keinesfalls erloschen ist. Solange derartige Gelüste in deinem Innersten lebendig sind, werden sie nicht zulassen, dass dir das irdische Feuer in Frieden begegnet. Du wirst nicht aufhören, seine Angriffe zu spüren, bis zu dem Tag an dem du durch folgende Zeichen erfahren wirst, dass jede innere Regung des Fleisches in dir erstorben ist: Geh hin und nimm ein junges, außerordentlich schönes nacktes Mädchen; wenn du sie im Arm hältst und feststellst, dass dein Körper unverändert ruhig bleibt und die Regungen deines Fleisches besänftigt sind, dann wird für dich die Berührung mit dieser sichtbaren Flamme mild und schmerzlos sein, wie sie es auch war für die drei Männer im Feuerofen zu Babylon.

 

Es scheint so zu sein, dass Robert Arbrissel deshalb nicht in ein schon vorgegebenes Kloster ging, weil er seinen eigenen Weg zur Entsagung und seine eigenen Erfahrungen damit machen wollte. Seine Experimente mit entsagungsvoller Nähe zu Frauen, in der Zeit, in der in Okzitanien fin amor entdeckt wird, wurden vielleicht deshalb von seinen Kritikern abgelehnt, weil diese Erfahrungen hatten mit der Kraft der Versuchung, während Robert sich immer wieder dessen versicherte, dass er schon dort angekommen sei, wo der Engel Paphnutius hinführen wollte.

 

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Hilarius und Eva

 

Neue Formen von Frömmigkeit konnten zu solchem Massenanhang führen wie bei Robert oder später beim Franziskus von Assisi, aber sie führten um 1100 immer noch auch recht häufig in die Ermitage oder die Zweisamkeit. Wie bei Robert sind diese Leute aber dennoch verknüpft mit der kirchlichen und Adelswelt der Zeit. Zugleich sind sublimere Erotik und Religiosität wie bald auch bei Bernhard von Clairvaux in extremem Umfang eng verbunden. Dazu hier einige Beispiel aus einem E-Book von Werner Robl.

 

Robl vertritt, nicht ganz alleine, die These, ein Meister Hilarius aus Orléans sei mit Hilarius, dem Dichter, und Hilarius, einem Kanoniker von Le Ronceray, identisch. Er bezieht sich dabei einmal auf „insgesamt 11 Briefe von, an und über einen gewissen magister Hilarius: "Es herrscht unter den Fachleuten breite Übereinstimmung darüber, dass es sich dabei um die eigentliche Briefsammlung des Hilarius oder um eine exakte Abschrift derselben gehandelt haben muss. (…) Zumindest wird er in insgesamt 4 Briefen konkret als Hilarius Aurelianensis, d. h. Hilarius aus Orléans, bezeichnet. (…) Die wichtigsten wissenschaftlichen Publikationen, die sich mit dieser Frage beschäftigten, haben zu divergierenden Aussagen geführt. Nikolaus Häring traf in seiner englischsprachigen Edition der Briefe von 1973 - Hilary of Orléans and his Letter Collection (…) - folgende Feststellung: „The poet Hilary studied under Abelard. There is nothing to suggest that Hilary of Orléans had done the same ... We must distinguish three Hilarys. The writer of the first letter calls himself Hilary of Orléans ... It is useful to adopt the addition to differentiate him from the poet and Canon Hilary … ”Walter Bulst und Marie Luise Bulst-Thiele widersprachen in ihrer revidierten Edition der Briefe von 1989, die nunmehr überwiegend dem Pariser Manuskript folgte, (…) dieser Ansicht entschieden.“ (RoblHilarius)

 

Robl vermutet, dass Hilarius um 1080 in Orléans geboren, also gleichaltrig mit Abaelard sei. Ein Hilarius beginnt um 1100 seinen Dienst beim Bischof von Orléans, fällt kurz vor 1109 bei ihm in Ungnade und wird nach acht Jahren Dienst fortgeschickt.

 

 

Bischof Johannes II. von Orléans war 1096 unter reichlich skandalösen Umständen - nach ... Eingriffen des Königs und des Erzbischofs Hugo von Lyon - ins Amt gekommen, und dies, obwohl zunächst die größte kirchenrechtliche Autorität im Lande, Bischof Ivo von Chartres, und große Teile des Domkapitels von Orléans wegen unlauteren Lebenswandels heftig gegen Johannes opponiert hatten. Erst, nachdem er die anfänglichen Widerstände überstanden hatte, konnte er seine Position innerkirchlich konsolidieren. Johannes II. war eine lange Amtszeit beschieden: Bis 1135 ist er als Bischof von Orléans bezeugt.“ (Robl)

 

Eine gewisse bisexuelle oder homosexuelle Neigung mag bei Hilarius vorhanden gewesen sein. „Von Bischof Johannes II. behauptete wiederum kein geringerer als der französische König persönlich, er sei der succubus (...) seines Amtvorgängers Johannes I. gewesen. Im Übrigen war Johannes II. schon zur Zeit seines Kanonats in Orléans von seinen Kollegen wegen der homosexuellen Beziehungen zu seinem Vorgänger Johannes I. als „Hure Flora“ verspottet worden.“ (Robl mit Belegen)

 

Hilarius schrieb an Hugo Primas:„In servitio domini episcopi Aurelianensis octo annos expendi, non tamen ab ipso aliquid boni, immo maximum dampnum acquisivi – Acht Jahre habe ich im Dienst für den Herrn Bischof in Orléans verschwendet, aber nichts Gutes habe ich von ihm erhalten, sondern nur höchsten Schaden...“ (im E-Book Robl)

 

Bischof Ivo von Chartres prangert an, dass einer der Gespielen des Bischofs von Orléans seinen „Geliebten“ mit gesungenen Reimgedichten vergöttert hätte. „Ivo berichtete empört Erzbischof Hugo von Lyon und in einem weiteren, fast gleichlautenden Schreiben sogar Papst Urban II.: „Viele Leute aus Orléans würden meine Aussage bezeugen, wenn sie nicht Verhaftung oder Vertreibung befürchten müssten. Damit ihr nicht glaubt, ich hätte mir das alles nur ausgedacht, habe ich Euch stellvertretend für viele andere ein Lied geschickt, das von einem seiner Beischläfer mit Metrik und Klang über ihn verfasst wurde. Dieses Lied trällern ständig die Burschen, die so schwul sind wie er, in unseren Städten, auf den Straßenkreuzungen und Plätzen. Aber auch er selbst hat es mit seinen Gespielen oft gesungen, oder zugehört, wenn sie es ihm vorsangen...“ (58 „Multi enim Aurelianenses ad haec quae dixi mihi darent testimonium, nisi timerent carcerem vel exilium. Et ne me ista aliquae occasione confinxisse credatis, unam cantilenam de multis metrice et musice de eo compositam ex persona concuborum suorum vobis misi, quam per urbes nostras in compitis et plateis similes illi adolescentes cantitant, quam et ipse cum eisdem concubis suis saepe cantavit et ab illis cantari audivit...“ Siehe Briefe Ivos von Chartres an Hugo, den Erzbischof von Lyon, und an Papst Urban, hier zitiert aus Gallia Christiana Bd. 7, S. 1443-1445. Lieder mit Metrik und Klang! Der Gedanke an den Dichter Hilarius drängt sich hier förmlich auf.)“ (Robl)

 

Hilarius fiel auf jeden Fall kurz vor 1109 beim Bischof von Orléans in Ungnade und erhielt nach acht Jahren Dienst ... den Laufpass!

 

 

 

Gerade zu diesem Zeitpunkt scheint sich ein Hugo „Primas“ von Orléans eingeschaltet zu haben: Er übernimmt ihn an die Domschule von Orléans, die sich damals noch eine unabhängige Position gegenüber dem Bischof bewahrt hatte. "Die diesbezüglichen Worte in seinem späteren Schreiben sind unmissverständlich. Dass das Domkapitel mit seinen Schulen einen eigenständigen, oft gegen den Episkopat gerichteten Kurs vertrat, war zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches.“ (RoblHilarius) Jedenfalls gibt er in einem späteren Schreiben an Hilarius vor, von einem „Exil auf Zeit“ ausgegangen zu sein, und er ruft Hilarius, der inzwischen nach Angers gezogen war, nach Orléans zurück.

 

 

Hugo „Primas“ selbst musste später übrigens Orléans auch verlassen. Unter welchen Umständen, ist unbekannt, aber in einem seiner berühmt gewordenen Gedichte prangerte er später Bischöfe, die simonistisch ihr Amt erlangten, bewährte Mitarbeiter verstießen oder der Päderastie frönten, mit folgenden Worten an:

 

Cil, ki servierant per longum spacium, / amittunt laborem atque servitium, / tristis hypocrita quem vos eligitis, / adeptus honorem non suis meritis... / et presto sit puer, filius militis, / que il deit adober pro suis meritis, / qui virgam suscitet mollibus digitis, / plus menu que moltum hurte de genitis…

 

Doch die, die ihren Dienst so lange treu versehen, / die müssen von dem Brot aus ihrer Arbeit gehen, / den Heuchler, den ihr Euch erwählt, mit saurem Angesicht, / erlangt dann zwar die Ehr, doch durch Verdienste nicht... / Und wenn ihn dann die Gier des geilen Sinnes plagt, / so ruft den Knaben er zu sich, des Ritters Sohn, / vergelten muss er ihm den Dienst mit hohem Lohn: / Mit weichen Fingern schafft er, dass das Glied sich regt, / noch öfter als der Bock mit seiner Rute schlägt...“

 

 

Mit rund 30 Jahren übernimmt Hilarius als einer von insgesamt drei Kanonikern im Auftrag der Äbtissin Tiburgis von Le Ronceray die Außenvertretung der Abtei.

Mit seiner Schwester Hildburgis scheint er nach dem Verlassen der Heimatstadt in Kontakt geblieben zu sein; sie vermachte später, wie bereits erwähnt, den Nonnen von Angers ein Haus.

 

 

"Daneben scheint Hilarius auch einzelne Nonnen in der Dichtkunst unterrichtet zu haben. Zumindest fordert er die Nonnen Bona und Superba sowie seine Äbtissin im Schlusssatz der ihnen gewidmeten Gedichte auf, ihm in „Reim und Metrik“ zu antworten. Das vierte Widmungsgedicht an eine englische Nonne geht über die eben genannten hinaus, denn Hilarius preist in ihm in erotischen Untertönen auch deren körperlichen Vorzüge:

Sei gegrüßt, Du Morgenstern, Stern von einzigartigem Licht! Höchste Zierde deines Stammes und der Erde Englands! Sei gegrüßt, Du Glanz der Mädchen, hochherzige Herrin! Funkelnder Edelstein, leuchtender Stern, reizende Frau...

Mit Leib und Gut unterwerfe er sich ihrem Liebreiz, setzte Hilarius seinen Minnegesang schwärmerisch fort, „um Dich göttliche Gestalt als Herrin zu haben.“ (Robl/Hilarius)

 

Die weiblichen Adressaten der Gedichte sind offensichtlich einige Nonnen aus Le Ronceray: Carmen 2 wendet sich an eine junge Novizin namens Bona, die Jahrzehnte später, um 1175, als domina Bona in Le Ronceray erscheint. Das Briefgedicht 3 richtet sich an eine  Nonne Superba, die 1132 im Geleit der Äbtissin Hildburgis eine Urkunde für Le Ronceray zeichnet. Carmen 4 ist wohl Tiburgis gewidmet. "Er lobt die Äbtissin in höchsten Tönen und bittet sie am Ende um eine dichterische Gegengabe. Dies ist ein Indiz dafür, dass damals die Dichtkunst bei den Nonnen von Angers auf dem Lehrplan stand und sich einer gewissen Beliebtheit erfreute.“ (RoblHilarius)

 

Erotische Untertöne zwischen Geistlichen unterschiedlicher Grade und belesenen Nonnen andererseits sind keine Seltenheit, aber sie finden nicht im volkssprachlichen Troubadour-Ton statt, sondern im an Ovid und anderen geschulten Latein, so wie auch das Lästermaul der Scholaren und wandernden Magister in allerdings  derberem Latein auftritt, also der Sprache weniger "Insider".

 

In den Knabengedichten, über deren Sinngehalt wir uns hier nicht weiter auslassen wollen, auch wenn sie homoerotische Neigungen des Hilarius in den Raum stellen, findet sich ein weiterer Beleg dafür, dass der Dichter aus Angers kam. Carmen 7 wendet sich ad puerum Andegavensem, d .h. an einen Jungen aus Angers.“ (Robl)

 

 

 

Frühjahr 1126 verlässt Hilarius Angers und zieht zu Abaelard in die Champagne, - "wenn es sich denn um dieselbe Person handelt. Von dort beginnt er ein Wanderleben als Magister und Dichter.

In einem Carmen 1 taucht die gereimte Vita einer Einsiedlerin namens Eva auf, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts zusammen mit ihrem Gefährten Herveus bei der Kirche Saint-Eutrope im Süden von Angers lebt. Ein Mönch des normannischen Klosters Saint-Bertin namens Goscelin berichtet in einer hagiographischen Schrift davon, wie er einst in dem englischen Frauenkloster Wilton in der Grafschaft Wiltshire "ein religiöses Wunderkind namens Eva betreute." (RoblHilarius)

 

"Schon kurz nach der Geburt hatte er diese Tochter des hochadeligen Angelsachsen Apis und der Lothringerin Oliva als Oblatin in den Konvent von Wilton gebracht - offensichtlich deshalb, weil sie an einer körperlichen Deformierung litt und für eine spätere Verheiratung aus dynastischen Gründen ungeeignet war. Schon damals bevorzugte das überaus fromme Mädchen das Leben in einer Zelle, wo sie unaufhörlich und zum Erstaunen der Schwestern psalmodierte. Sie erregte mit ihrer Frömmigkeit derart Aufsehen, dass sie bereits im Alter von sieben Jahren zusammen mit ihrer Äbtissin und dem Ortsbischof an einem Festbankett des englischen Königs teilnahm.

Um 1079 entschloss sich die von religiösem Eifer durchglühte Eva zu einer unerwarteten, Aufsehen erregenden Flucht. Sie verließ ihr der Verweltlichung anheimfallendes Kloster in England und begab sich, ohne zuvor ihren geistigen Beistand Goscelin informiert zu haben, über den Ärmelkanal und die Loire flussaufwärts nach Angers, um dort eine neue religiöse Lebensform zu suchen. Schon im 11. Jahrhundert hatte sich in Nähe der Kirche Saint-Laurent bei Angers eine kleine Gemeinschaft von Klausnerinnen konstituiert, die nach dem griechischen Anachoreten- Ideal unter einfachsten Verhältnissen lebten. Zwei von diesen heiligen Frauen sind namentlich bekannt geworden. Hildebert von Lavardin und Marbod von Rennes erwähnen außerdem Reklusinnen griechischer Abstammung, Athalisa und Agenoris.

 

Die von Abt Balderich von Bourgueil nach ihrem Tod besungene Klausnerin Benedikta nahm die junge Eva bei sich auf. Goscelin schrieb über dieses Leben: Is anachorite in lignea cellula ecclesie adherenti aderat – Sie lebte bei einer Anachoretin in einem hölzernen Verschlag, der an eine Kirche angebaut war.

Irgendwann vor 1100, als ihre Gefährtin Benedikta gestorben war, fand Eva Anschluss an einen ehemaligen Mönch aus Saint-Trinité in Vendôme, der Herveus hieß und sein Priorat Sainte-Trinité von Angers verlassen hatte, um mit Erlaubnis seines Abtes als Klausner in der Nähe zu leben. (…) Eine Zeit lang hatte sich Herveus der Bewegung der Pauperes Christi um Robert von Arbrissel angeschlossen und lebte in der Eremitenkolonie im Wald von Craon. Als dieser das unregulierte Leben aufgab und sich an die Gründung von La Roë und nachfolgend Fontevraud machte, kehrte Herveus nicht zu seinem Konvent nach Vendôme zurück, sondern zog um 1102 zusammen mit seiner Begleiterin Eva in eine gemeinsame Zelle bei dem Kirchlein Saint-Eutrope am Stadtrand von Angers, in unmittelbarer Nähe zum Priorat seines Ordens. Abt Gottfried von Vendôme schickte Eva und Herveus zu ihren gemeinsamen religiösen Vorhaben einen langen Widmungsbrief." (RoblHilarius)

In einem langen Briefgedicht schrieb Hilarius über sie:

Ibi vixit Eva diu cum Herveo socio. / Qui hec audis, ad hanc vocem te turbari sentio. / Fuge, frater, suspicari, nec sit hec dilectio, / non in mundo, sed in Christo fuit hec dilectio…

Eva lebte lange dorten, mit Hervé, dem Herzensfreund. / Und schon schwankst du, lieber Leser, was dies seltsam Wort wohl meint. / Spar dir den Verdacht, mein Bruder, Liebe könne dies nicht sein. / Sie war nicht von dieser Erden, gründet sich in Gott allein..." (in RoblHilarius)

 

"Zur Trauerfeier seien viele Mönche, Kanoniker und Nonnen gekommen, wobei mit letzteren niemand anders als die Nonnen von Le Ronceray mit ihren Kanonikern, darunter Hilarius selbst, gemeint gewesen sein kann. Auftraggeber für diese Totenehrung war offensichtlich der trauernde Klausner Herveus persönlich gewesen. Zur Erfüllung des Auftrags hatte er Hilarius das Trostbuch des Goscelin überlassen, wie sich durch einen Textvergleich unschwer beweisen lässt. Hilarius bedankte sich am Ende seines Gedichts bei Herveus für den Auftrag und empfahl diesen selbst sowie seine verstorbene Gefährtin Eva der Fürsprache aller Heiligen. Da Herveus als armer Mann den Autor wohl kaum mit Geld entlohnen konnte, darf man annehmen, dass ihm Hilarius, der Dichter, mit dem Gedicht einen Freundschaftsdienst erwies. Dass Herveus eng mit Meister Hilarius aus Orléans befreundet war, erwies wiederum der genannte Brief an diesen. Herveus überlebte übrigens, wie sich weiter unten noch erweisen wird, seine Eva um lange Jahre." (Alles in bzw. nach Robl/Hilarius)