ZUM GEGENSTAND UND ZUR PERSON:

KAPITALISMUS IM MITTELALTER

 

Jan van Eycks Doppelporträt von 1434 zeigt ein heute unbekanntes großbürgerliches Paar wohl aus Brügge, welches mit allen Details als Gewinner einer frühen Hochblüte des Kapitalismus dargestellt wird. Die technische Perfektion und die ästhetische Raffinesse, mit der sie porträtiert sind, verleitet leicht dazu, die Welt damals mit ihren Augen zu sehen, oder gar mit denen der Machthaber über ihnen. Aber das sind ganz wenige, und sie profitieren ungeniert von der Mühe und Arbeit der vielen, die schon damals in den Geschichtsbüchern im Schatten stehen und von denen keine kostspieligen Porträts gemalt werden.

Hier nun soll der Versuch unternommen werden, einen anderen Blick auf die Vergangenheit zu werfen, einen vollständigeren, dessen erstes Problem aber ist, dass wir bis in die Zeit dieses Porträts vergleichsweise wenige Texte und kaum Bilder besitzen, die ein solches vollständigeres Bild ermöglichen würden. Es ist nämlich so, dass die Quellenlage die damaligen Machtverhältnisse widerspiegelt: mit einem Blick von oben nach unten. Aber einen ersten Versuch scheint es meines Erachtens dennoch wert zu sein, - sozusagen um die Geschichte  unserer Vergangenheit etwas zu "humanisieren".

 

 

Dreimal hat es in der Menschheitsgeschichte große Umwälzungen gegeben,

Revolutionen, um einmal das längst überstrapazierte Modewort zu benutzen. Die erste, schon in der Spätzeit der Menschheitsgeschichte, führt zur Produktion von Lebensmitteln, oft verbunden mit Sesshaftigkeit und frühen Formen von Handwerk. Damit beginnen Menschen ihren Planeten zu verändern, zunächst nur in Ansätzen. Es ist dies die Zeit früher Kulturen.

 

In nicht wenigen solcher Kulturen kommt es über mehr Produktion und Bevölkerungsvermehrung zur Machtergreifung einzelner Gewalttäter im Bündnis mit einer Priesterschaft, oder aber zum Aufbau einer Priester-Herrschaft wie in Andenregionen oder in Süd-Mesopotamien, aus der heraus dann manchmal weltliche Gewaltherrschaft entstehen kann. Solche "revolutionäre" Zivilisationen, in denen nicht selten große Städte entstehen, zerstören Kulturen bzw. deuten sie für sich um. Ihr wesentlicher Zweck ist es, den produktiv arbeitenden Menschen einen Teil ihres Produktes wegzunehmen, um so Reichtümer und Müßiggang für sich selbst und ihre Helfershelfer zu erwerben. Mit den "legal" angeeigneten Mitteln werden zudem Kriege als Raubzüge mit willfährigen Untertanen unternommen, um Macht und Reichtum zu vergrößern, und die wenigen Reichen und Mächtigen lassen Handel betreiben, um auch so ihre Reichtümer zu vermehren. Der Naturraum Erde wird durch Regulieren des Wasserhaushaltes, Abholzen großer Wälder und dem Ausrotten erster Tierarten auch durch herrschaftliche Jagd in immer mehr Gegenden deutlich verändert.  

 

Durch mehrere Jahrtausende wird dort so die Masse der Menschen zu meist brav arbeitenden und für ihre Herren in den Krieg ziehenden Untertanen erzogen, deren Ohnmacht von Priestern und ihrer Welt-Erklärung abgesichert wird. In der uns hier interessierenden Gegend der Erde ist diese Phase revolutionärer Zivilisierung mit dem Ende des römischen Großreiches abgeschlossen.

 

In den folgenden Jahrhunderten versuchen im europäischen Westteil des ehemaligen Römerreiches germanische Heerführer mit ihrem Anhang möglichst viel aus der Konkursmasse für sich zu nutzen, scheitern dabei aber, da sie keine hinreichend stabilen Formen der Machtausübung finden. Erst im 10./11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung entwickeln Machthaber mithilfe der christlichen Kirche stabilere Monarchien, aus denen dann im Laufe der Zeit außerhalb der deutschen Lande und Italiens Nationalstaaten entstehen. In dieser Zeit eines langen Mittelalters, dessen Ende, das des ancien régime, mit 1776 und 1789 grob markiert sein soll, findet die dritte Umwälzung oder Revolution statt: Im Rahmen monarchisch-aristokratischer Machtentfaltung entsteht und entwickelt sich jener Kapitalismus, der am Ende die Fesseln bisheriger Machtstrukturen sprengen wird, um mit den modernen Staaten, deren Wohl und Wehe von ihm abhängt, jene Verhältnisse zu schaffen, die wir heute noch kennen.

 

Diese Entwicklung versuchen die folgenden Untersuchungen wenigstens ansatzweise und vom Anfang her zu verstehen. Das alles ist hoch-kompliziert: Wirtschaftliche und herrschaftliche Macht fallen neuartig auseinander, dabei wird die zweite, die weiter über die Waffengewalt verfügt, auf die erste immer angewiesener. Kapitalmacht schafft neue Ordnungsverhältnisse und Untertänigkeit inmitten der Machtsphäre der Monarchen und Aristokraten. Christliche Religion und weltliche Mächte stützen sich zwar gegenseitig, fallen aber zugleich auseinander. Der Kapitalismus bedarf zunächst des Christentums römischer Prägung, aber sein Rationalismus drängt die Religion langsam in die Defensive. Der schließlich untaugliche Versuch, beides miteinander in einer vernunftgemäßen Synthese zu verbinden, scheitert. Am Ende werden Religion und Priestertum in eine immer unscheinbarere Ecke gedrängt sein.

 

Aber vorher muss Religion ihren Einfluss auf die Köpfe und Gemüter der Menschen zunehmend mit einer von Fürsten und neuartigen Städten ausgehenden Warenwelt teilen, in der die meisten (auch) für die Gier und Eitelkeit der Mächtigen zu arbeiten haben, sich notgedrungen unter diese ducken und - deren Wertvorstellungen akzeptierend - sich meist auch mit ihnen identifizieren. 

Wir wissen heute (durch Texte) nur von wenigen, die die Oberfläche dieser kapital-getriebenen Welt - ohne sie zu verstehen - schon im 12./13. Jahrhundert beklagen, aber im 13./14. Jahrhundert ist sie bereits im lateinischen Abendland unumkehrbar. Wie eine große Naturgewalt überzieht sie dort dann die Welt der Menschen, verändert den Planeten immer stärker und vermehrt die Zahl der Menschen, die schon alleine damit die Fülle der Pflanzen und Tiere verringert.                   

Kapitalistisch geprägte Monarchien erobern dann große Teile der Erde, plündern sie aus und nehmen ihnen viel von ihren kulturellen Wurzeln und anzivilisierten Strukturen. Solche Gegenden werden in einen Weltmarkt integriert, um dessen Kontrolle inzwischen wenige und heute nicht mehr europäische Mächte mit ihren Vernichtungswaffen kämpfen.

 

Kapitalismus wird zunächst zum Erfolgsrezept für wenige Kapitaleigner und ihre Herrscher, im Verlauf des 20. Jahrhunderts aber auch für eine große Konsumentenschar in den Metropolen des Kapitals, die von den niedrigen Preisen für Rohstoffe und Fertigwaren in der einst sogenannten "Dritten" Welt profitiert. Zugleich schafft es seine Effizienz bereits, die Erd-Oberfläche mit ihren Pflanzen und Tieren und die sie umgebende Atmosphäre in irreversiblem Maße zu zerstören. 

Damit einher geht ein nie dagewesenes Bevölkerungs-Wachstum, welches ein extremes ökologisches Ungleichgewicht hervorgebracht hat, dessen Korrektur nur ungeheure Katastrophen noch bewältigen könnten, - falls überhaupt. Die Zukunft der Menschen scheint dabei nur noch in großen naturfernen Betonkasernen inmitten riesiger Agglomerationen zu liegen, die kaum noch den Namen Stadt verdienen.

Soziale, psychische und sexuelle Verwahrlosung nehmen zu. All das sowie die ohnehin schwierige Verwaltbarkeit großer Menschen-Konglomerate hat Staaten wie zum Beispiel die BRD oder Rotchina inzwischen dazu gebracht, als politische Agenturen großen Kapitals den Zugriff auf die Menschen bis ins kleinste Detail auszuweiten und ihr Leben umfassend zu regulieren. Ihnen geblieben ist neben dem Gelderwerb nur noch Konsum in einer gigantisch ausgeweiteten Amüsierindustrie als einzige Wahl-Möglichkeit,- je nach Geldbeutel.

 

Für (zumindest) fast alle Menschen in den bisherigen Metropolen des Kapitals sind die Strukturen, in denen sie leben, undurchschaubar und damit sie selbst zu Opfern großer Vereinfacherer und Betrüger unterschiedlichster Couleur geworden. Schon alleine deshalb erscheint es sinnvoll, historisch und damit von den Anfängen auszugehen und dabei eine das Verständnis erleichternde Begrifflichkeit zu entwickeln. 

Was Kapitalismus meinen soll, wird dabei nicht theoretisch, sondern historisch im Zuge seiner Entstehung und Entwicklung zu beschreiben sein. Dabei nutze ich dankbar die Forschungen meist akademischer Wissenschafter, ohne aber, wie man schon aufgrund des bisher Gesagten erkennen kann, ihre Sichtweise und ihr Menschenbild mir zu eigen zu machen.

 

Der Blick ist etwas deutsch-zentriert, weil ich dort, in der Mitte Europas, meine Wurzeln habe, und er konzentriert sich auf jenes durch das Mittelalter lateinische Europa, aus welchem Kapitalismus hervorgeht. Aber Ausgangspunkt ist darüber hinaus das Bewusstsein, dass es eigentlich eine Menschheit geben müsste, die allen Grund hätte, gemeinsam gegen all die religiösen und weltlichen Übeltäter vorzugehen, die seit Jahrtausenden so viel Unheil, Schrecken und Leid über uns Menschen gebracht haben. Aber es sieht eher so aus, als ob fast alle Menschen sich weiter hilflos und wehrlos von ihnen treiben lassen werden, - einem immer zerstörteren Planeten mit ruinierten natürlichen Lebensgrundlagen entgegen.

 

 

Der auf den folgenden Seiten folgende Versuch, in einem Deutsch möglichst vor seinem derzeit anhaltenden Schwundprozess eine Geschichte des frühen Kapitalismus zu schreiben, seiner Voraussetzungen, seiner Entstehung und seiner ersten Blüte, vertritt keinerlei religiöse oder parareligiös-politische Werte, sondern versucht einfach hinzuschauen auf das, was dann danach zu dem wird, wovon der Autor sich heute umgeben sieht. Hinschauen wird aber immer dort schwieriger, wo vorgegebene Deutungsmuster das Auge zu trüben drohen. Man muss versuchen, sie abzustreifen.

 

Der Text ist Ergebnis eines langen Versuches, sich aus dem immer wieder neu Selbstverständlichen zu lösen, um so die Kunst eines kritischen Verstehens möglichst frei davon auszuüben. Zugleich hat das Studium der Vergangenheit und der langsam freiere Umgang mit der Gegenwart dazu beigetragen, eine gewisse innere Freiheit überhaupt erst zu erlangen. Texte wie einige von Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud haben dazu frühe Anstöße gegeben, ohne Gläubigkeit damit zu verbinden.

 

Die Rechtfertigungsgeschichte der Macht und der sich immer neu auftürmenden Machtstrukturen soll dabei nicht ersetzt werden durch eine Geschichte "von unten", quasi ihr Spiegelbild. An der Vor- und Frühgeschichte des Kapitalismus bis in seine erste Blüte sind alle Menschen beteiligt, nur ganz wenige befehlend und die meisten meist bequem gehorchend. Das Unheil, dem sie bis heute den Weg bereiteten und weiter bereiten, ist dabei zutiefst in jenen menschlichen Absonderlichkeiten begründet, an denen wir alle (!) Anteil haben.

Nachdem Menschen sich Götter erfunden hatten, und dann nicht nur Machthaber sich entweder gottgleich oder von Göttern eingesetzt gaben, ist es dazu gekommen, dass beim Verlust des Glaubens an sie Menschen sich nun selbst wie Götter in ihrer jeweiligen Welt benehmen. Ein wenig Entsetzen über das, was sie inzwischen treiben, wäre ihnen wohl angemessener. Aber die menschliche Psyche ist nicht auf unangenehme Erkenntnis angelegt, sondern auf deren bequeme Vermeidung. Sie konstruiert sich tröstende und im rosa Nebel liegende Welten, die hinreichend entfernt sind von Ahnungen beunruhigender Wirklichkeit.

 

Erkenntnis ist hier nicht auf ein fertiges Ergebnis (in einem Buch) angelegt, denn die Welt, die der Autor zu konstruieren versucht, kann sich einer Wirklichkeit nur immer neu annähern, ohne sie recht fassen zu können. Mehr ist nicht möglich, für keine Vergangenheit oder Gegenwart. Selbst eine jenseits davon existierende Wirklichkeit bleibt notgedrungen nur ein (notwendiges) Postulat. Deshalb ist ein Text im Internet, mit einem Rechner geschrieben, sehr geeignet, da sich so ständige Veränderung leicht bewerkstelligen lässt. Schreiben tut ihn ein Autor, für den das eine Entdeckungsreise ist, die auch ins eigene Innere führt und führen soll. Das immer neue Überdenken der Zusammenhänge und Entwicklungen wird sich dabei langsam einem durchgehenden Text nähern, von dem immer mehr Material in Anhänge ausgesondert werden kann. Zugleich wird sich eine ansatzweise innere Konsistenz des durchgehenden Textes erst langsam einstellen, und zwar zuerst für die Anfänge und dann erst nach und nach für die folgenden Jahrhunderte.

 

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sinnfuersinnlichkeit hieß vor langer Zeit eine Seite, die sich zunächst mit einer Bedeutungsanalyse von Wörtern in Jane Austens 'Sense and Sensibility' beschäftigte, und die sich dann zu arg gewagten Untersuchungen über das 16. bis frühe 19. Jahrhundert unter dem Titel 'Die Tugend, der Teufel und die heilige Schrift' ausweitete. Ich habe den Netznamen nicht nur aus praktischen Gründen beibehalten, sondern wegen seiner akzeptablen Doppelbedeutung: Man kann einen Sinn haben für Sinnlichkeit, also für Offenheit und Kultivierung der Sinne als Grundlage aller Erkenntnis, und andererseits die vernunftgemäße Verstandestätigkeit der Herstellung von Sinnhaftigkeit an die Stelle von Sinnlichkeit setzen. Zwischen beiden Polen und in den vielen Punkten dazwischen lässt sich europäisches Mittelalter ganz gut verstehen. Abgesehen davon ist die Beibehaltung des Netz-Namens auch ganz bequem.

 

Ulli Wohlenberg, 11.12.2023

 

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