Konsum und Freizeit im späten Mittelalter
Fasten und Feste
Das Spektakel und die Massen
Alkohol
"Kunst"
Sport
Natur und Landschaft (Von der Idylle zur rauhen Wirklichkeit)
Konsum und Freizeit im späten Mittelalter
Der Kapitalismus entsteht in den frühen neuartigen Städten, in denen Handel und Konsum aufeinandertreffen, wozu meist auch Handwerk sich ansiedelt. In manchen der Städte dominiert der Handel samt Finanzgeschäften, in anderen eher der produktive Sektor, immer aber entwickelt sich neben dem Luxuskonsum der adeligen Herren und der bürgerlichen Oberschicht das, was hier als damaliger Massenkonsum verstanden werden soll. Das sind die Güter des täglichen und darüber hinaus im weiteren Sinne alltäglichen Bedarfs, also einmal Nahrungsmittel, dazu der textile Bedarf an Kleidung und anderen Tüchern, der Bedarf an sich verschleißenden Gerätschaften des Haushaltes und manches mehr.
Es entwickelt sich jene Dynamik aus steigendem Angebot und steigender Nachfrage, die Indikator für einen aufblühenden Kapitalismus ist. Im späten Mittelalter verschwimmt dabei zunehmend die Grenze zwischen dem, was am Massenkonsum noch benötigt und was schon selbst Luxuskonsum auf niederer Ebene ist. Auch die schweren Krisen des 14. Jahrhunderts stellen dabei nur kurze Einbrüche dar, die Entwicklung ist unaufhaltsam: Das Angebot schafft Nachfrage und die wiederum verselbständigt sich. Im Kapitalismus wächst Warenwelt unaufhörlich und übersteigt manchmal sogar die in Umlauf befindliche Geldmenge.
Motoren der Entwicklung sind Kapital und Arbeit; auch wenn nur wenige imstande sind, in größerem Umfang zu investieren, so arbeiten doch immer mehr gegen Lohn daran, das Investierte rentabel zu machen. Dabei expandieren Handel und Finanzen immer mehr, sie "wachsen", während immer größere Teile des produktiven Handwerks in das Räderwerk der kapitalgetriebenen Warenwelt geraten und davon abhängig werden.
Aus den Texten und Bildern des späten Mittelalters lässt sich deutlich ablesen, wie sehr Konsum über das Notwendige hinaus das Wirtschaften vorantreibt, ein Vorgang, der bis heute anhalten wird. Es scheint so zu sein, als ob eine Konsumperspektive die Mühen des Alltags nun rechtfertigen soll. Dabei geht es nicht alleine um ein "Mehr", sondern um das "Neue" als das immer wieder neu Begehrenswerte. Und wer beim Geldausgeben nicht mithalten kann, würde es dennoch vermutlich gerne tun.
Eine Vorstellung vom Haushalt eines gehobeneren Bürgertums bietet der des Pfründners der Göttinger Pfarrerei St. Johannes und herzoglichen Kanzlers mit zwei Pfarrern und einer Magd im Haus. Um 1510 werden knapp 50 Mark ausgegeben, von denen zwei Drittel auf Speis und Trank entfallen, davon 60% auf Fleisch und Fisch, und 15 % auf übrige Ausgaben. Den Rest und die übrigen Einnahmen der Pfründe streicht der oft abwesende Pfründeninhaber für sich ein. (Karsten Igel in: Konsumentenstadt, S.164)
Herrschaftlicher Konsum hatte einst als Nachfrage den Weg in den Kapitalismus gewiesen, große fürstliche Höfe bleiben im späten Mittelalter nicht nur die größten Arbeitgeber, sondern auch die alles überragenden Konsumenten. An der Spitze steht der tägliche Nahrungsmittelverbrauch von zwischen 100 und 300 Anwesenden, der oft nur noch zum kleinen Teil aus Eigengütern kommt, und vor allem auf dem Markt besorgt werden muss. Dabei geben die Menge und Qualität der Lebensmittel Auskunft über den Status des Fürsten, wobei sie aber immer nach sozialer Abstufung auch in Menge und Qualität abgestuft werden: Am bescheidendsten werden die niedrigen Dienstboten versorgt. Gut versorgt werden müssen aber hundert und mehr Pferde in den Stallungen.
Im Inventar des schwerreichen Herzogs von Berry von 1398 leisten den Tafeldienst neun Brotmeister, drei Mundschenke, acht Vorschneider, sechs Küchenmeister und dreiundzwanzig Kellermeister und Anrichter. Vierzig Suppenköche, Saucenköche, Wasserträger, Obstservierer usw. sind in der und für die Küche beschäftigt.
Große und wohlhabende Höfe in deutschen Landen müssen am Ende des Mittelalters 300 bis 450 Personen bezahlen und versorgen. An der Spitze stehen zehn bis zwanzig Räte mit ihren Dienern und Pferden, wobei einem gelehrter Rat schon mal doppelt so viel Einkommen (bis zu 500 Gulden) zugestanden wird wie einem höheren Adeligen. Zu den Räten gehört oft der Kanzler, der Haushofmeister, der Kammermeister und und der Futtermeister (wie 1494 in einer Liste des Innsbrucker Hofes). Dazu kommen eine Anzahl persönliche Dienstboten des Fürsten (darunter ein Barbier und mehrere Ofenheizer) und der Fürstin und ihrer oft zahlreichen Hofdamen, die selbst auch wieder Dienerinnen haben.
Es gibt eine ganze Anzahl Türhüter (für die beiden herrschaftlichen Apartements, die Küche usw.) und Torhüter, eine Anzahl Schreiber für verschiedene Bereiche, viele Träger für die Reisen, fünf bis zehn Stallknechte, mehrere Schlittenknechte, manchmal diverse Handwerker (gelegentlich mit 20-50 Gulden jährlich bestallt) und Leute für das Proviantmagazin.
Herren- und Damenküche beschäftigen jeweils mehrere Köche und ihre Helfer, in Innsbruck 1494 zum Beispiel vier Frauen für den Abwasch. Dazu kommt der Metzger als Speziualist. Beim wettinischen Hof sind ein Drittel der Ausgaben
(11 411 Gulden) für Küche und Keller bestimmt. (Spieß2, S.69) Den Batzen liefern nicht mehr eigene Güter, sondern der Markt, und das trifft dann besonders modische Südweine und exotische Gewürze sowieso.
Jeder Hof hat einen Kaplan, manche haben auch einen Arzt. Für die Jagd gibt es ebenfalls erhebliches Personal, darunter auch Hundeknechte, Falkner mit ihren Knechten, manchmal Vogelfänger
Der Unterhaltung dienen eher schlecht bezahlte Hofmusikanten, zu denen schon mal neun Sänger, Trompeter, Klarinettisten, Pfeifer, Lautenschläger, Tambourinist und Pauker gehören können. Narren scheinen obligat zu sein, sie können besonders geistreiche Witzereißer sein oder aber missgebildete (zum Beispiel Zwerge) oder geistig zurückgebliebene Menschen, deren Idiotie begeistert.
Auch größere Schlösser des ausgehenden Mittelalters nehmen nicht das ganze Personal auf, weswegen beim Schloss manchmal ein Herrenviertel und ein Gesindeviertel entstehen. In Burg bzw. Schloss schlafen alle Hofdamen manchmal in einem Raum, Edelleute zu viert und Gesinde zu vielen im selben Zimmer.
Mit der höfischen Pracht wird luxuria zu ausgesprochener Verschwendung, der Demonstration von Überfluss. Als 1377 der zehnjährige Richard II. zum englischen König gekrönt wird, findet folgendes statt:
In der Mitte des Königspalastes war auf einem gestuften Sockel eine ausgehöhlte Marmorsäule errichtet worden, auf deren Spitze ein riesiger, geflügelter Adler stand, und von den Füßen des Adlers auf dem Kapitell der Säule floss während des ganzen Tages der Königskrönung Wein verschiedener Art in vier Richtungen herab, und niemand hielt irgendjemanden, auch nicht den Ärmsten, davon ab, sich reichlich zu bedienen. (Walsingham in: Ertl, S.104)
Zu der Versorgung mit Lebensmitteln kommt die mit Sommer- und Winterkleidung, in einheitlichen Farben für die jeweiligen Rangstufen, die immer öfter, manchmal jährlich nach der neuesten Mode wechseln. "Bei der Hochzeit Herzog Georgs von Sachsen mit der polnischen Königstochter Barbara 1496 in Leipzig wurden für 3271 Gulden kostbare Stoffe wie Atlas, Barchent, Damast, Samt und Seide eingekauft, um das Hofgesinde als Einheit in gleicher Farbe auftreten zu lassen." (Spieß2, S.69) Fast ein Viertel der Ausgaben eines solchen Festes können auch für den Ankauf von Schmuck draufgehen, der nicht nur der eigenen Verzierung nach neuester Mode, sondern vor allem auch als Geschenk dient.
Überhaupt sind Fürstenhochzeiten wie die von Landshut 1475 mit manchmal tausenden von Gästen Zeiten eines enormen Konsums, wobei schon mal tausende von Pferden mit ihrem Bedarf an Futtergetreide eine weitere Art von Nachfrage darstellen, neben den 323 Ochsen, 490 Kälbern, 969 Schweinen und Ferkeln, 3295 Schafen und Lämmern sowie 11500 Gänsen für die menschlichen Gäste. (Spieß,2, S.94)
Ob 8000 oder 40 000 Gulden, die Ausgaben für den Hof übersteigen oft die Einnahmen, was der fürstlichen Verschuldung Vorschub leistet.
Fürstliche Raffgier auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und ebenso fürstliche Verschwendung gehören zusammen, was vielleicht nirgendwo widerwärtiger oder geschmackloser stattfindet als beim sogenannten Fasanenbankett des Herzogs Philipp ("des Guten") von Burgund vom 17. Februar 1454. der im Jahr nach der Einnahme Konstantinopels (Byzanz) durch den Osmanen damit zu einem Kreuzzug ermuntern will (oder das wenigstens als Vorwand offeriert).
Haushofmeister Olivier de la Marche beschreibt einen Saal mit einer Tapisserie, die das Leben des Herkules darstellt mit drei unterschiedlich großen Tischen, an denen Ritter und Knappen in Damast oder Satin bedienen.
Die zweite und längste Tafel zeigte vor allem eine riesige Pastete, in der zwanzig lebende Personen waren, die der Reihe nach auf verschiedenen Instrumenten musizierten. Der zweite Tafelaufsatz war ein Schloß nach Art von Lusignan, auf dessen Hauptturm sich Melusine in Gestalt einer Schlange befand. Von den beiden kleineren Türmen sprang Orangenwasser in die umliegenden Gräben. Dann war auf einem Hügel eine Windmühle zu sehen, auf deren Dach eine Elster saß, nach der Leute aller Stände mit Bogen und Armbrüsten schossen. Weiterhin sah man auf einem Weinberg ein Faß, in dem es zweierlei Getränke gab, ein süßes und ein bitteres, und darauf saß ein wohlgekleideter Mann mit einem Zettel in der Hand, auf dem geschrieben stand: Wer davon will, der nehme! […] Die Art der Bewirtung und die Gerichte selbst waren unerhört prächtig. Da war jede Schüssel mit 48 verschiedenen Speisen versehen, und die Bratenbehälter bestanden aus mit Gold und Blau ausgeschlagenen Wagen. Zunächst der Tafel stand eine hohe Anrichte, die mit Gold- und Silbergeschirr beladen war, dazwischen Kristallgefäße, die mit Gold und Edelsteinen besetzt waren. (Christa Dericum: Burgund und seine Herzöge in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1966, S.189f)
Auf einem etwas kleineren Tisch ist eine Kirche mit Glocke und vier Sängern dargestellt. Auf eine Felsen pinkelt ein Kind rosafarbenes Wasser usw. Auf einem kleinen Tisch ist unter anderem ein Wald mit sich bewegenden exotischen Tieren zu sehen.
Zu essen gibt es 48 verschiedene Gerichte, aber wichtiger noch sind die acht Schauspiele zwischen den Gerichten, entremets, und schließlich der Auftritt des Wappemkönigs vom Goldenen Vlies, der einen lebenden Fasan trägt, der mit Goldkollier, Juwelen und Perlen geschmückt ist. Man beginnt, seine Teilnahme an einem Kreuzzug zu beschwören, der dann am Ende allerdings überhaupt nicht stattfindet.
Selbst spektakuläre Zurschaustellung von fürstlichem Luxus findet kaum Kritik, dafür aber Bewunderung. Daran hat sich bis heute schon alleine insofern kaum etwas geändert, als große Teile der Bevölkerung von den Pharaonen bis zu Potentaten der letzten Jahrhunderte immer wieder in Bewunderung ob der von ihnen hinterlassenen Pracht ausbrechen und in einem entsprechenden "Besichtigungs"-Tourismus gelungenen Zeitvertreib finden.
****
Die Kleidermoden wechseln immer schneller, dabei werden die Stoffe für die Reichen und Mächtigen kostbarer und vielfältiger. Schon seit dem hohen Mittelalter setzt sich Unterwäsche durch, und wer es sich leisten kann, trägt dabei feines Leinen. Was fehlt, sind wohl in der Regel Unterhosen, was oft bei den Frauen bis ins 18. Jahrhundert so bleibt. Mit noch feinerem und wohl durchsichtigem Leinen bedecken vornehme Frauen ihr Haar.
Ansonsten führen den Reigen der Kostbarkeiten sowohl verzierte schwere Wollgewebe wie manchmal federleichte Seidenstoffe an, die zunächst aus China kommen und dann in Lucca und später anderen norditalienischen Städten und schließlich auch in deutschen Landen (vor allem in Köln) produziert werden. Eingearbeitete Silber- und Goldfäden und applizierte Perlen und Edelsteine zeichnen die Reichen und Mächtigen aus. Dazu kommen Pelze, die sich möglichst durch Feinheit und Seltenheit auszeichnen sollen.
1347 bestellt Papst Clemens VI., der den Reigen berühmt-berüchtigter Renaissancepäpste anführt, "430 Hermelinfelle für einen Umhang für sich selbst und weitere 310 für einen Mantel, neben den 362 für fünf Kapuzen." (Spufford, S.88). Mit Verordnungen wird dafür gesorgt, dass in Kirche und Welt der Kleiderluxus nach unten abzunehmen hat, und zwar in Stadt und Land, um die produzierenden und transportierenden Massen möglichst überhaupt nicht zu erreichen.
Ob Eitelkeit eine anthropologische Konstanze ist oder eine Art massenhafte Charakterschwäche, lässt sich mangels Kenntnissen nicht weit genug zurückverfolgen. Vermutlich ist sie bei Mädchen und Frauen stärker angelegt, was sich aber nicht überall und durch alle Zeiten so wie für heute belegen lässt.
Die Konzentration von Läden in Straßen oder Vierteln lädt jedenfalls zum Entlangspazieren an Auslagen von Geschäften ein: Das sinnlich wahrnehmbare Warenangebot erhöht die Gier, die weiterhin vor allem bei einer immer noch sehr kleinen Oberschicht dokumentiert ist.
1493 besucht Beatrice d'Este Venedig und berichtet in einem Brief an ihren Ehemann von einem Spaziergang von der Rialto-Brücke zum Markusplatz in Venedig:
Wir gingen am Rialto an Land und gingen durch die Gassen, die Mercerie genannt werden. Dort fanden wir Verkaufsläden der Gewürzhändler und der Seidenhändler, die alle gut sortiert waren. Umfang und Qualität ihrer vielfältigen Waren sowie die Waren der anderen Zünfte boten einen schönen Anblick, sodass wir häufig verweilten und das Angebot betrachteten (...) Anschließend gingen wir zum Markusplatz durch die Marktstände der Messe. Dort sahen wir eine solche Menge an schönen Gläsern, dass man staunte und sich anstrengen musste, um nicht lange zu verweilen in Anbetracht der schon fortgeschrittenen Stunde. (in: Ertl, S. 216)
Schwester Isabella, 17 Jahre alt, schreibt ein Jahr später an einen Angestellten, über das, was sie in Venedig gesehen hat:
Das sind die Dinge, die ich haben möchte: gravierte Amethysten, schwarze, bernsteinfarbene und goldene Rosenkränze, blaues Tuch für eine camora, schwarzes Tuch für einen Mantel, wie esohne einen Rivalen in der Welt sein soll, auch wenn es zehn Dukaten pro Meter kostet; solange es wirklich von hervorragender Qualität ist, ist es egal! Wenn es nur so gut ist wie das, was andere tragen, möchte ich es lieber gar nicht haben! (in: Ertl, S.217)
Die Estes als Fürsten von Ferrara können sich so eine Einstellung leisten, da sie den Untertanen hinreichend viel Geld abpressen können, aber es kann kaum bezweifelt werden, dass Frauen mit kleinem Geldbeutel das sofort mitmachen würden, wenn sie könnten. Immerhin werden sie die "Promis" einer heutigen reichen Amüsier-"Society" derzeit so anhimmeln, als ob deren konsumistische Lebenspraxis höchstes Ideal wäre.
Eitelkeit ist aber nicht allein dem Geschlechtstrieb im engeren Sinne geschuldet, denn auch andere Formen von Macht müssen sich durch Sichtbarkeit auszeichnen. Vor allem von meist ohnehin bescheidenem Intellekt sind die meisten mehr oder weniger bekannten Menschen vor allem auf schiere sinnliche Wahrnehmung angewiesen. Macht aber wird von den Untergebenen um so mehr respektiert, als sie sinnlich wahrgenommen wird. Auch demokratische Staatsmänner heute residieren gerne in palastartigen Gebäuden, obwohl sie wegen ihres übrigen Auftretens weniger respektiert werden als frühere "Blaublüter", also Leute, von denen behauptet wurde, sie seien von edlerem "Geblüt".
Glanz und Glitter faszinierten schon Menschen später Steinzeitkulturen bei der Begegnung mit Menschen aus Zivilisationen. Im Verlauf des Mittelalters ändert sich daran nur, dass der Materialwert zuzunehmen hat, der vor allem durch Seltenheit ausgezeichnet ist. Und so ist "Schmuck" offensichtlich für sehr viele Menschen ein zentraler Wert an sich. Der Kapitalismus entwickelt sich in hohem Maße durch die zunehmende Wertschätzung nicht lebenswichtiger Dinge, und das scheint fast alle Menschen zu betreffen.
****
Das Wort "Freizeit" im allgemeinen heutigen Sinne kennt das Deutsche erst im 19. Jahrhundert. Produktive Arbeit reicht im Mittelalter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und arbeitsfreie Zeit gibt es vor allem an den vielen Feiertagen, die bis zur Reformation schon mal ein Drittel des Jahres umfassen können. Diese sind in der Regel mit Kirchgang verbunden, aber oft auch mit zum Teil allermerkwürdigsten Festivitäten. Eines von zahlreichen überlieferten Beispielen findet auf der Mauer des Freiburger Friedhofes statt, wo am Palmsonntag ein hölzerner Esel mit Rädern auf Schienen hin- und hergezogen wird, auf dem die Kinder gegen Bezahlung reiten können. Vermutlich repräsentiert das Tier aus Holz jenen Esel, mit dem Jesus in Jerusalem eingeritten sein soll.
Das Amüsiergewerbe und der Wunsch nach Unterhaltung haben im 14. Jahrhundert mit dem Triumphzug des Kapitalismus längst gegen die Ansprüche der Kirche gewonnen, auch wenn diese weiter immer einmal wieder dagegen ankämpft. Aber sie muss dabei sogar weiterhin gegen die Aufführung wenig frommer Spiele in Verkleidung, das Abspielen von weltlicher Musik oder das Tanzen in Kirchen angehen.
Inzwischen gibt es mehr und mehr Bruderschaften der Spielleute, in Arras beispielsweise eine Confrérie des jongleurs et bourgeois d'Arras. 1321 gründen in Paris 29 Männer und 8 Frauen die confrairie dudit mestier der Spielleute, die einer Handwerkszunft ähnelt. An der Spitze steht eine Art Spielmannskönig und 1341 genehmigt der Stadtpräfekt diese Vereinigung. (Hartung, S.271) Vereinzelt tauchen auch Spielleute-Bruderschaften in deutschen Landen auf wie in Wien 1288 und 1320 sogar ein Spielgraf im Regensburger Stadtrecht mit einzelnen Funktionen wie ein Zunftmeister. (Hartung, S.288)
Wenn Bürger in Städten den Spielleuten eine gewisse Ehrbarkeit zuerkennen und Fürsten diese bestätigen, gibt auch die Kirche nach. Papst Eugen IV., selbst venezianischer Kaufmannssohn und Papst von 1431-47, lässt Spielleute nun sogar zur Kommunion zu, einmal pro Jahr, wann sie wollen, am Besten zu Ostern (...) und nur, wenn sie sich fünfzehn Tage vor und nach dem Empfang des Sakramentes ihres possenreißerischen Treibens als Spielleute enthalten. (in: Hartung, S.290)
In ihrem erotischen Moment gehören die Tänze in Stadt und Land zu dem unchristlichsten, was man so treiben kann, und sie sind entsprechend beliebt. In seinem 1494 in Basel gedruckten satirischen 'Narrenschiff' beschreibt Sebastian Brant sie folgendermaßen:
Die hielt ich fast für Narren ganz, / Die Lust und Freude haben am Tanz / Und springen herum grad wie die Tollen (...) Da läuft man, wirft umher wohl eine, / Dass man hoch sieht die bloßen Beine, / Ich will der andern Schande schweigen. / Der Tanz schmeckt süßer da als Feigen. / Wenn Kunz mit Greten tanzen kann, / Ficht Hunger ihn nicht lange an, / Bald sind sie einig um den Preis, / Wie man dem Bock geb um die Geiß. (in: Hartung, S.216f)
Im Nürnberger Recht des 15. Jahrhunderts heißt es zum Tanzen in der Stadt: Auch dürfen sie beim Tanzen nicht den Hals des Partners umschlingen oder sich umarmen. (in: Hartung, S.291) Anders gesagt sind Tuchfühlung sowie das Entblößen der Beine durch Sprungbewegungen offenbar durchaus beim Zanzen üblich.
Immer unterhaltsamer werden die geistlichen Schauspiele, die auf Laiendarsteller übergehen und bald eher der Verweltlichung der Religion dienen, wenn man das einmal so ausdrücken darf. (siehe Großkapitel Kirche 5)
In der Freiburger Fronleichnamsprozession zum Beispiel marschieren lebende Bilder mit, die die Heilsgeschichte darstellen. "Nach einer Prozessionsordnung von 1516 etwa zog die Malerzunft an der Spitze. Ihre Mitglieder waren verkleidet als Teufel mit dem Adamsbaume, als Adam und Eva sowie als Engel mit dem Schwerte. Am Schluss hatten sich die Angehörigen der Rebleutezunft als Teufel mit den verdammten Seelen zu maskieren. An einzelnen Stationen der Prozession wurden die Szenen auch gespielt. Solche Spiele sind erstmals für 1479 nachgewiesen. Entsprechend lange dauerte die Prozession und verband sich mit einem Volksfest, das zahlreiche Besucher von auswärts anzog und nicht selten in Händel und Unfug ausartete." (Freiburg, S.513)
Solche Masken und Kostüme, insbesondere die von Teufeln und Dämonen, gehen dann manchmal auf die Fastnachtsspektakel über. Das geht so weit, dass man es im frühen 16. Jahrhundert zu verhindern sucht. 1566 wird ein neues Schloss in dem gmach in dem thurn, darin die spil und feufls claider behalten ligen, angebracht und für Freiburg heißt es 1566: Es ist erkhannt, die personen, so in den kleidern, die man im passion gepraucht, in mumeri und butzenweise diese vaßnacht geloffen seindt etc. gefenklich inzelegen und zustraffn. (beides in: Heinzle, S.239)
****
Wer dafür Geld hat, scheint in der Stadt nicht selten freie Zeit im Wirtshaus zu verbringen, was offenbar regulär mit Alkoholkonsum verbunden ist, der nicht selten jenes Erregungsniveau produziert, welches zu Streit und Schlägereien führen kann.
Dort finden auch das Würfelspiel und seit dem späten 14. Jahrhundert das Kartenspiel statt, bei denen es in der Regel um Geld geht, was vom Fluch bis zum Streit begleitet werden kann. Mit dem Spiel, welches durch den Geldeinsatz ja in Wirklichkeit bitterer Ernst ist, kommen die Berufs- und Falschspieler auf, gegen die schon Ende des 13. Jahrhunderts die ersten Städte Verbote aussprechen.
Spiele sind Beschäftigungen zwischen Zeit-Totschlagen und Einübungen von Miteinander. Sie sind teiweise schichtspezifisch: Das Schachspiel gilt als adelig-fürstlicher Zeitvertreib und ist auch so konzipiert. Adelig ist auch vieles, was dann ausgehend von der Jagd zu Pferde in das Wort Sport mündet. Die schlichteren Gemüter und Einkommensgruppen spielen Karten und mit Würfeln oder amüsieren sich beim Kegeln. Mittlere bürgerliche Kreise beteiligen sich an Schützenfesten. Daneben gibt es spielerische Kraftproben wie der aus dem Breisgau überlieferte Katzenstriegel:
"Zwei Burschen, jeder mit einem kleinen Stock im Munde, legen sich, die Köpfe gegeneinander, auf den Bauch. Ein Riemen wird um die beiden Nacken unter die Stöcke geführt und zusammengespannt, und nun gilt es, ob einer den anderen mittelst des Riemens, indem er sich rücklings schiebt, an sich ziehen kann." (Freiburg, S.522)
Das Vergnügen am (inszenierten) Leid anderer Leute, auch Schadenfreude genannt, ist offenbar dem Mittelalter so wenig fremd wie der Gegenwart heute. Von der Schweiz bis Lübeck sind Kämpfe von Blinden um ein Schwein für den Sieger überliefert. Für 1386 und für Lübeck heißt es:
"Die >Junker< der Stadt - die jeunesse dorée - suchten zwölf kräftige Blinde aus, gaben ihnen reichlich zu essen und besonders gut zu trinken, bewaffneten sie sodann mit Helmen, Harnisch und Waffen, um sie auf dem Marktplatz um das Schwein kämpfen zu lassen. Jung und alt, Geistliche und Laien sahen diesem Schauspiel zu, bei dem sich die Blinden schwer verletzten." (SchubertAlltag, S.356)
Ähnliches Niveau haben öffentliche Dirnenwettläufe, bei denen Prostituierte um einen Preis laufen, dabei aber, was den eigentliche Spaß ausmacht, sich gegenseitig heftig behindern dürfen.
****
Klerus und Klöster fallen aus dem Freizeit-Begriff, wie ihn die produktiv und auch distributiv sowie in der Verwaltung arbeitende Bevölkerung wenigstens in der Sache kennen, heraus und natürlich offiziell auch aus den damit verbundenen Vergnügungen. Aber natürlich sind sie Konsumenten mit zum Teil erheblicher Kaufkraft, da sie aber zum Teil über ihren Grundbesitz sich selbst ernähren und sogar für einen Markt produzieren können, fallen sie besonders, und im späten Mittelalter bereits ganz ungeniert, als Luxuskonsumenten auf.
Die Zisterzienser von Salem beispielsweise kaufen unter anderem über ihren Stadthof in Konstanz neben Fisch, sogar Meeresfisch, "Reis, Zucker, Olivenöl, Feigen und Mandeln sowie Gewürze und Früchte, die über die Alpen den Weg nach Norden fanden." (Karsten Igel in: Konsumentenstadt, S.160). Das sind für die meisten Menschen des Spätmittelalters unerschwingliche Güter. Die Zisterzienser von Eberbach kaufen in Köln "Gewürze wie Safran, Nelken, Ingwer, Cardamom, Galgant, Gelatine, Kalmus, Zimt, Pfeffer, Zucker sowie Rosinen und 1477 ein Korb Feigen." (s.o., S.161) Dabei handelt es sich aber um besonders wohlhabende Klöster.
Ähnlichen Konsum-Luxus betreiben wohlhabendere Stifte und die Bischöfe mit ihren Domkapiteln. An die letzteren in Kammin liefert das pommersche Kloster Eldena (Greifswald) 1385zum Beispiel pflichtgemäß "Gewürze wie Safran, Pfeffer und Muskat, sowie Rosinen und Feigen". (Karsten Igel in: Konsumentenstadt, S.162)
Ungefähr 3% der Einwohnerschaft von Städten wie Osnabrück und Freiburg sind Geistliche, die sowohl die Märkte beliefern wie auf ihnen einkaufen. Sie sind hoch privilegiert, was immer wieder zu Konflikten mit den weltlichen Produzenten und Händlern führt. (ff)
****
Für den auf Grundbesitz basierenden Adel ergibt das Konzept "Freizeit" keinen Sinn. Er muss sich zwar um seinen Besitz und seine Einkünfte kümmern, kann aber, wo er wohlhabender ist, viel davon delegieren. Dazu kommen "feudale" Verpflichtungen mit Standesgenossen und übergeordneten Instanzen wie Anwesenheit bei Hofe etc.
Für den Konsum in der Stadt spielen die unterschiedlich häufigen Adelshöfe dort vermutlich nur eine geringe Rolle, da der Adel, wenn er sich dort und nicht auf seinem Landsitz aufhält, sich primär wohl aus seinen eigenen Gütern versorgt. Andererseits besucht er sie auch kurz, um Einkäufe zu tätigen oder tätigen zu lassen. Aber unabhängig davon, wo der Stadthof liegt, gibt es für den Luxus besondere städtische Märkte wie die von Köln, Frankfurt und Nürnberg, wobei der Besuch von Messen besonders wichtig ist. Daneben gibt es bereits eine Art Weihnachtsgeschäft, wobei offenbar besonders gerne renommierte (bzw. modische) Goldschmiede aufgesucht werden.
Städte und besonders auch Messen dort werden aber auch für ein abstrakteres Gut aufgesucht, nämlich zum Leihen von Geld, welches es am ehesten dort zu finden gibt. Dabei werden Kredite gegen Sicherheiten wie Grund und Boten aufgenommen und dann manchmal über lange Zeiträume samt Zinsen abgezahlt. Solche Renten können dann auch weiterverkauft werden (Schneider in: Konsumentenstadt, S.149f)
Zum städtischen Konsum in Adelskreisen gehören auch die Treffen der Rittergesellschaften in den Städten, in denen sie ihren Sitz haben. Dazu gehören umfangreiche Festessen dieser Adelsgesellschaften oft in ratseigenen Räumen, bei denen sich auch Ratsmitglieder einfinden.
Fasten und Feste (in Arbeit)
Die Aufspaltung der Persönlichkeit in (männliche) Jugend und Erwachsensein, in Religion und Alltag findet zunehmend einen dritten Aspekt in den Extremen von Fastenzeiten und Festzeiten.
Fasten heißt vor allem nur einmal am Tag zu essen, und dabei vor allem auf Fleisch und Alkohol, aber auch auf Milchprodukte und Eier zu verzichten.
Die wichtigste Fastenzeit dauert vierzig Tage von Aschermittwoch bis Ostersonntag. Dazu kommen weiter hohe kirchliche Feiertage, insbesondere aber auch die Adventszeit.
Gedacht ist Fasten als Orientierung auf die christliche Jenseitsperspektive, Erinnerung an die Minderwertigkeit alles Irdisch-Leiblichen, als Zeit intensivierten Betens, auch als Gedächtniszeit an Passagen des Lebens Jesu. In der Passionszeit sind deshalb die Altäre der Kirchen verhüllt. Heiraten ist für diese Zeit verboten und eigentlich auch das Ausleben des Geschlechtstriebes.
Auf einer Synode wird 1091 der Beginn der Passions-Fastenzeit auf den Aschermittwoch verlegt, worauf der Abend vorher zur Fastnacht wird, ein Wort, welches im 13. Jahrhundert in Quellen auftaucht (1283 z.B. in Freiburg als vasenaht).
Als Kompensation entstehen im Dunkel der Geschichte und wohl von vorchristlichen Bräuchen ausgehend vor der großen Fastenzeit Festtage, an denen genau das Gegenteil gefeiert wird. Offenbar finden nun besonders viele Hochzeiten statt und die Metzger haben Hochkonjunktur.
Für 1283 ist in Freiburg/Breisgau zum ersten Mal das Wort vasinaht belegt.
"Mit der <Pfaffenfastnacht> ist der siebente Sonntag vor Ostern (...) gemeint, bei der die klerikale Lustbarkeit im Mittelpunkt stand, die in anderen Quellen auch als <Herrenfastnacht> bezeichnet wird. Die <rechte Fastnacht>, an der sich auch das <Volk> vergnügte - in den Freiburger Quellen auch <Jungfrauenfastnacht> genannt -, bezieht sich auf den Dienstag danach, der vielfach auftauchende Begriff der alten vasnacht jedoch auf Invocavit, den sechsten Sonntag vor Ostern, also auf die Zeit nach Aschermittwoch." (Freiburg, S.519)
1341 taucht in Köln ein Fastelovend auf. Der Rat verhält sich ambivalent, subventioniert mal das Treiben und schränkt es dann wieder ein, nicht zuletzt auch wegen Ausschreitungen und Messerstechereien. Genauere Fastnachtsbräuche sind aber erst seit dem 15. Jahrhundert überliefert, ausführlicher erst für das 16. Einmal geht es um fettes Essen und teils maßlosen Alkoholgebrauch, zum anderen um Maskeraden.
Am Samstag vor dem Fasten findet in Nürnberg der 'schmalzige Samstag' mit Schmalzküchlein, Brot und Wein statt. Am Dienstag findet hier der 'geile Montag' statt und am Dienstag die 'rechte Fastnacht'. An diesen Tagen dürfen die Handwerksgesellen durch die Stadt rayen und mit pfeiffern gehen, also "in Reihen durch die Stadt tanzen." (Fleischmann, S.116)
Für Nürnberg ist seit der Mitte des 15. Jahrhunderts das Tragen von Masken belegt und der Geschlechtertausch, also der Kleidertausch zwischen den Geschlechtern, was das Auf-Den Kopf-Stellen strenger städtischer Ordnungsvorstellungen bedeutet.
Im erlaubten Schembartlauf wird den Metzgern Kompensation geboten für vierzig Tage verlorenen Geschäftes. Sie tanzen öffentlich, wobei die städtischen Pfeiffer und Trommler die Musik geben. Dazu gehört eine kostümierte Laufgruppe mit Gesichtsmasken. Da dem Rat dieser Brauch gefällt, kauft er ihnen das Monopol darauf 1468 ab. "Eine kleine Gruppe einheitlich sehr schön Kostümierter zog unter einem Anführer von der Burg aus und lief und tanzte auf einem festgelegten Weg durch die Stadt vorbei am Rathaus und am Frauenhaus. Das Spektakel endete immer am Hauptmarkt, wo man die "Hölle" verbrannte. So nannte man die Schaugefährte in Gestalt von Burgen, Drachen, Elefanten oder Schiffen, die siet 1475 mitgeführt wurden und schließlich in Flammen aufgingen." (s.o.)
Mit der Verwandlung in ein offizielles Spektakel wird wohl der Rat auch die Kontrolle über die Zeit der Unordentlichkeit übernommen haben. Die Reformation wird es dann 1539 verbieten.
1482 findet der Schabernack in Köln einen durchaus politischen Höhepunkt, als der Gürtelmacher Johann Hemmersbach mit Zunftkumpanen als Reaktion auf die zum Schuldenabbau erhöhten Brot- und Weinpreise das Rathaus besetzt und beide Bürgermeister und einige Ratsherren in den Turm sperrt. Als sie Aschermittwoch abziehen, kennt der Rat keinen Spaß, der Fastnachtsrebell wird hingerichtet.
Fastnacht als Gelegenheit für kleine Revolten gibt es auch anderswo. 1376 findet in Basel ein Aufruhr der Bürger gegen den Adel in der Stadt und Herzog Leopold III. als böse Fastnacht statt. 1529 bewaffnen sich protestantische Basler an Fastnacht und zerstören Bilder in den Kirchen bei zugleich politischem Hintergrund.
Zu Freiburg wird über Narrentreiben am 12. Februar 1496 ausführlicher berichtet, als
"des kanzlers karreknecht wegen eines fasnachtspihls in den Turm geworfen wurde. Anfang des 16. Jahrhunderts sind das Butzenlaufen und der Sturm des Butzenturms mehrfach erwähnt (und in der Regel verboten). Unter Butzen hat man Masken und Schreckgestalten zu verstehen. (...) Offenbar wurde die Fastnacht in erheblichem Maße von den Genossenschaften getragen, namentlich von den Zünften und Bruderschaften, daneben von den Studenten. Aufgrund des reichlichen Alkoholgenusses, den man immer wieder einzuschränken suchte, kam es häufig zu gewalttätigen Streitereien." (Freiburg, S.519)
****
Nicht nur die Fastnacht, sondern (meist christlich begründete) Feste überhaupt dienen auch dazu, dem männlichen Geschlechtstrieb freiere Bahn und die guten Manieren gegenüber Frauen fallen zu lassen. Gerne werden dazu die Fronleichnams-Prozessionen und ähnliche Schaustellungen benutzt. 1508 wird im elsässischen Oberehnheim ein Hans bestraft, "weil er als Darsteller eines der Teufel (...) <unzüchtig> gegenüber Frauen und Jungfrauen egworden war - ein Versuch, die durch die Verkleidung ausgedrückte spielerische Verwandlung Wirklichkeit werden zu lassen." (Freiburg, S.520)
Das Spektakel und die Massen
Das spectaculum leitet sich vom lateinischen spectare ab, welches unter anderem anschauen oder zusehen meint. Es lässt sich so am besten mit Schauspiel im weitesten Wortsinn begreifen, braucht also den Zuschauer bzw. die Gaffer. Hier soll es im neueren Wortsinn gebraucht werden, in dem etwas zu Begaffendes als spektakulär angesehen wird, - und nicht im engen Sinne der Aufführung eines Theaterstückes. Dabei soll als Spektakel sowohl dasjenige angesehen werden, welches für Zuschauer inszeniert wird wie auch jenes, in dem die Beteiligten, eher aus dem Hintergrund angeleitet, zugleich die Erlebenden sind. Dazwischen gibt es fließende Übergänge.
Ein Spektakel, welches sich die Beteiligten selbst geben, welches aber zugleich auch Zuschauer hat, sind die Prozessionen, Vorläufer späterer "politischer" Demonstrationszüge. Reine Inszenierungen sind die Spektakel, in denen die Kirche sich wesentlich inszeniert, wie in der Messe, aber auch die Auftritte der Mächtigen wie ihre Einzüge in Städten. Ein rein inszeniertes Spektakel sind die öffentlichen Grausamkeiten, wie sie Hinrichtungen bedeuten, besonders die sehr beliebten öffentlichen Verbrennungen, in denen eine Art Schrecklust auftaucht, die offenbar zumindest in Zivilisationen sehr vielen Menschen zu eigen ist, ganz unübersehbar bis heute, ein Verwandter der Angstlust und der Schmerzlust als Komponente sexueller Befriedigung.
Das Spektakel lässt sich mit dem alten Begriff Sensation insofern verbinden, als es der Herstellung erhöhter Erregungszustände dient, ähnlich wie das Hochtreiben sexueller Energien und Zustände unter bewusstseinsverändernden Drogen. Die erhöhte Erregung schaltet ganze Bereiche des Gehirns aus und feuert andere an, so dass der nüchterne Sinn für Wirklichkeit zumindest partiell verloren geht. In Kulturen bringt das kultisch-rituelle Entlastung der Psyche, in Zivilisationen dient es der Verdummung der Massen.
Massen entstehen durch die lokale Verdichtung von Bevölkerung, ein Vorgang, der für das lange Mittelalter spätestens in der Mitte des 14. Jahrhunderts in unserem Raum erst einmal abgeschlossen ist, und zwar unter den Bedingungen von massiver Untertänigkeit. Diese Massen sind von allen ihnen nicht als privat zugestandenen Entscheidungen ausgeschlossen, so dass sie sich auf Partizipation oder Pseudopartizipation bei Spektakeln konzentrieren müssen. Zugleich sind sie kontinuierlich bewusst ausgeschlossen aus allen Informationen, die den Mächtigen zur Verfügung stehen. Sie haben wie selbst die meisten Handwerker weder Zeit noch Möglichkeiten, Einblicke zu gewinnen oder einen weiteren Horizont zu gewinnen. Vorformen von Wissenschaftlichkeit werden in der lateinischen Sprache entwickelt und verbreitet und sind ihnen darum so wenig zugänglich wie die als so wichtig betrachteten theologische Inhalte.
Seit im 13. Jahrhundert die Vertreter der Bettelorden außerhalb der Kirchen predigen dürfen, entwickeln sie rhetorische Techniken, Massenhysterie anzuheizen. Vicent Ferrer, ein Dominikaner aus Valencia und ein Beispiel für sehr viele, beginnt 1399 im Alter von knapp fünfzig Jahren ein Leben als Wanderprediger, zu dem Huizinga folgendes schreibt:
"Wo Vinzenz predigt, muss ein hölzernes Zimmerwerk ihn und sein Gefolge vor dem Andrange der Menge schützen, die ihm Hand oder Kleider küssen möchte. Das Gewerbe steht still, solange er predigt. Nur selten geschah es, dass er seine Zuhörer nicht zum Weinen brachte, und wenn er vom Jüngsten Gericht und den Höllenstrafen oder von den Leiden des Herrn sprach, brachen er selbst und seine Hörer immer in so großes Wehklagen aus, dass er geraume Zeit schweigen musste, bis das Weinen sich beruhigt hatte. Büßende warfen sich vor allen Anwesenden auf die Erde nieder, um unter Tränen ihre großen Sünden zu bekennen." (Huizinga, S.6f)
Solche Massenhysterie ist heute längst durch die von Größen der Amüsierindustrie provozierte abgelöst wurden, wird aber weiterhin auch von besonders terroristischen Diktatoren in Szene gesetzt. Sie besagt damals nichts über die Frömmigkeit des Publikums, da sie bald nach dem Spektakel wieder ihre Wirkung verliert. Wenn es Savonarola wie andere solche Leute es durch das 15. Jahrhundert erreichen, dass die üblichen gewohnheitsmäßigen Sünder ihren plötzlich so gewerteten Luxus-Plunder nach gewaltigen Predigten auf großen Plätzen in Scheiterhaufen werfen, kann man davon ausgehen, dass sie ein paar Tage später wieder mit dem Ansammeln neuen Plunders beginnen werden.
Die des Spektakels bedürftigen Massen sind von nun an das, was Engländer sehr viel später als den Mob bezeichnen werden, die leicht für alles mögliche mobilisierbaren Massen. Sie sind das Menschenmaterial der Machthaber, der idiotisierte Pöbel (populus), der sich mit panem et circenses gerne bescheidet.
Ein bis ins 20.Jahrhundert in römisch-katholischen Gegenden bekanntes Spektakel sind die Prozessionen, erst spät durch die weniger disziplinierten Polit-Demonstrationen abgelöst, die aber einen mindestens so starken Bekenntnisdrang entwickeln und das Geschrei und Brüllen an die Stelle frommen Schluchzens und Weinens setzen.
Es gibt die regulären, von der Kirche, zum Teil in Zusammenarbeit mit der Stadt inszenierten Prozessionen, die sowohl die Zugehörigkeit zum vorgeschriebenen Glauben wie auch in ihrer Organisation die Machtstrukturen der Stadt demonstrieren. Dann gibt es die ereignisorientierten Bittprozessionen, die Regen erhoffen oder zuviel Regen abwenden möchten, oder jene zum Beispiel, in denen, wie der sogenannte bourgeois von Paris in seinem Journal für das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts beschreibt, man dem König Kriegsglück wünscht, wenn er sich an der Front aufhält. Man geht barfuß und fromm mit nüchternem Magen, die Herren des Parlement wie die armen Bürger, mit Kerze oder Fackel, so man so etwas hat. Man ging mit oder schaute zu en grant pleurs, en grans, en grant devocion. (Weinen, Tränen, fromme Hingabe. Journal, S.)
Zu den beliebtesten Spektakeln der untertänigen Massen gehört (übrigens bis ins abendländische 19. Jahrhundert) die öffentliche Hinrichtung, sei es am Galgen, mit dem Richtbeil oder auf dem Scheiterhaufen. Das allen Lebewesen gegebene Aggressionspotential, welches die Evolution vorangetrieben hat, treibt spätestens unter den Bedingungen von Zivilisation zumindest die vermassten Menschen zur Lust am Miterleben von Gewalttätigkeit und Grausamkeit. Huizinga fasst folgendes Ereignis aus der Chronik des Jean Molinet so zusammen:
"Während der Gefangenschaft Maximilians zu Brügge 1488 steht auf dem Markte vor den Augen des gefangenen Königs die Folterbank auf einer hohen Estrade, und das Volk kann nicht genug bekommen, die des Verrats verdächtigen Magirstratspersonen immer wieder in der Folter zu sehen, und verzögert die von jenen erflehte Hinrichtung, nur um immer wieder neue Quälereien auszukosten." (Huizinga, S.25)
Die Grausamkeit ist eine auch im Raubtier Mensch angelegte Abart der natürlichen Aggressivität und muss bekanntlich Kindern mühsam aberzogen werden, um nicht ständig durchzubrechen. Die seit dem 11./12. Jahrhundert kirchlich verherrlichte Gewaltätigkeit religiös korrekter Krieger lässt in der Praxis selten das aufkommen, was als "Ritterlichkeit" verherrlicht wird, sondern entfesselt eher Formen von Grausamkeit, die dem vermassten Pöbel der Städte ein Beispiel geben. Darüber hinaus propagiert die Kirche seit etwa unserer Schwellenzeit verstärkt, dass die Heiligkeit von Glaubenszeugen (Märtyrern) sich besonders intensiv in dem Faszinosum kirchlich ausgedachter Folterqualen aller Arten, die den Heiligen oft nur angedichtet werden, darstellt.
Da in Zivilisationen die Gewalttätigkeit von den Machthabern monopolisiert und ansonsten unter Strafe gestellt wird, bleibt den untertänigen Massen nur das Spektakel für das Ausleben seiner Gelüste. Dafür dienen aber auch andere aberwitzige Greueltaten, in denen sich Schwache als Zuschauer über Schwächere stark fühlen können.
Immer wieder zu recht zitiert wird als Beispiel extrem widerwärtigen Verhaltens ein im Journal des Pariser Bürgers beschriebener Wettkampf (abatement), den man für vier Blinde ausrichtet, die man in Rüstungen steckt und um ein Schwein kämpfen lässt. Am Vortag müssen sie in Rüstung und Waffen mit einem Dudelsackpfeifer durch die Stadt ziehen, der sowohl die Richtung vorgibt als auch den Spaßcharakter des Ganzen unterstreicht. Dazu kommt ein Mann mit einer großen Fahne, auf der ein Ferkel abgebildet ist. Niemand soll sagen, dass das heute nicht auch bei sehr vielen Begeisterungsstürme hervorrufen würde. Solche Leute begeistert schließlich heute auch das als "Sport" regulierte massiv gesundheitsschädliche sich Prügeln, welches die Amüsierindustrie in Verbindung mit dem übrigen organisierten Verbrechen ausrichtet.
Die vielgestalten Widerlichkeiten machen die höchsten Kreise vor, in denen zum Beispiel Fehlgebildete und Kleinwüchsige ("Zwerge") wie Spielzeug eingekauft und behandelt werden, zum Beispiel als sogenannte "Narren".
Eine blonde Zwergin Philipps von Burgund lässt man vor Publikum mit Akrobaten ringen. Die Zwergin des "Fräuleins von Burgund" lässt man bei Hochzeitsfeierlichkeiten auf einem riesengroßen Löwen als kleines Schäfermädchen reiten, auf einer "Maschine", die sogar singen kann. Sie wird an die Herzogin von Burgund als Geschenk übergeben und vor ihr auf den Tisch gesetzt. (Huizinga, S.28)
****
Ein Aspekt des Spektakulären im Mittelalter ist das Exotische, an anderer Stelle schon beschrieben. Es handelt sich um das Spektakuläre, welches von außen und damit aus der Fremde kommt. Dahin gehört das Faszinierende an außereuropäischen Tieren wie Elephanten, Löwen und vielen anderen, welches als Material zur Darstellung eines hohen Status, von Macht und Reichtum dient. So wie solche Tiere, heute in Zoos eingesperrt, begafft werden und bis vor kurzem im "Zirkus", so geht es auch mit exotisch aussehenden Menschen, die vorgeführt und begafft werden. Bis zu den Kleidervorschriften für Juden fallen diese nur wenig auf und sind vielen Städtern auch ein gewohnter Anblick. Sie unterscheiden sich nur durch ihre orientalisch anmutenden Riten, von denen die christliche Öffentlichkeit eher wenig mitbekommt, während die altjüdischen Mythen und Sagen fest in das "Christentum", wie es trotzdem weiter heißt, integriert sind.
Exoten sind die Zigeuner, die hier weiter so benannt werden sollen wie seit ihrem ersten Auftreten in deutschen Landen Anfang des 15. Jahrhunderts, so wie sie in anderen Sprachen weiter gitanos, gypsies etc. benannt werden. Die von parareligiösen Propagandisten verretene Behauptung, dass man an die Stelle dieses Wortes die Bezeichnung einer oder mehrerer Großsippen/Stämme der Zigeuner setzen solle, wird hier als die übrigen diffamierend abgelehnt.
Der "bourgeois" von Paris erzählt von der Ankunft einer Gruppe von rund 120 in Paris, wo sie wie auch anderswo behaupten, aus Ägypten gekommen zu sein und für ihren einzigen Abfall vom Glauben büßen zu müssen. Bischöfe und Äbte sollten, so habe der Papst befohlen, ihnen bei ihrer Pilgerschaft jeweils 10 Pund der Währung von Tours geben. Mit solchen Lügen auf die Leichtgläubigkeit des "Volkes" versuchen sie, ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen: Die Leute lassen sich von den Frauen aus der Hand wahrsagen, wobei ihre Geldbörsen par art magicque ou autrement bei den Zigeunern landen. (Journal, S.)
Die Ablehnung von Sesshaftigkeit und von produktiver Arbeit wird sie auch in Zukunft eher auf Bettelei, Zauberkunststücke und Kleinhandel verweisen. Ihr religiöses Konglomerat aus christlichen, orientalischen und südasiatischen Elementen wird ihnen darüber hinaus sehr lange jede Integration erschweren, die sie auch sehr lange aus Verachtung der anderen ähnlich wie die Juden ablehnen.
ff
Alkohol
Vermutlich ist ein wesentlicher Aspekt der Entstehung von Zivilisationen die Verbreitung bewusstseinsverändernder Drogen: Harte Drogen für die Priesterschaft mittel- und südamerikanischer früher Zivilisationen, Bier in Mesopotamien und dem Ägypten der Pharaos, in der Regel mit Wasser vermischter Wein in den Mittelmeerzivilisationen. Dazu kommt schließlich die Zerstörung indigener Kulturen in Nordamerika auch durch die Verbreitung von billigem Fusel.
Vermutlich ist die Zerstörung von Kulturen im Osten und Norden des lateinischen Abendlandes auch mit deren Alkoholisierung verbunden, aber es gibt nur wenige Nachrichten darüber. "Gegen Ende des 12. Jahrhunderts beklagt sich der norwegische König Sverrir Sigurdarsson über die Unmengen an Wein, die die Deutschen nach Bergen brachten, weil sie damit der Trunksucht und gewalttätigen Unruhen Vorschub leisteten." (Dollinger, S.6)
Im städtischen Mittelalter ist Wasser oft erheblich verunreinigt, weswegen niedrig-alkoholisches Bier oder Wein zum Wasserersatz wird, was vor allem deswegen funktioniert, weil beide in der Regel einen eher geringeren Alkoholgehalt als heute haben. Die überlieferten Mengen lassen allerdings eine manchmal durchaus nicht unerhebliche Alkoholisierung von Teilen der Bevölkerung erkennen. Fälle von Alkoholismus sind dokumentiert.
Die römische Kirche kennt keine Offenbarungen unter Drogeneinfluss mehr und der Messwein hat nur noch symbolischen Charakter. Aber Alkohol durchzieht das ganze Mittelalter, ist Bestandteil von Festen, von Zusammentreffen und dem, was neudeutsch "Geselligkeit" heißt, denglisch "Party".
Was vorher auf rituelle Zwecke beschränkt war, wird nun zum psychischen Trost für Entrechtung und Unterdrückung der Massen. In unserer heutigen drogenverseuchten Gegenwart wird dann ganz deutlich, welche psychische Entlastungs-Funktion Drogen und immer noch nicht zuletzt Alkohol alltäglich einnehmen.
Bewusstseinsverändernde Drogen setzen Instanzen der Wahrnehmung von Wirklichkeit außer Kraft und wirken vorübergehend euphorisierend. Deshalb werden sie in allen Zivilisationen gefördert, von der Produktion über den Handel bis zum Konsum. Vor allem deshalb ist Alkohol heutzutage staatlicherseits erwünscht, wird der Konsum anderer solcher Drogen nicht mehr verfolgt,auch da die Staaten über Geldwäsche an eher erhöhte Steuern gelangen, und deshalb konzentrieren sich viele Staaten auf die Diffamierung des Rauchens von Tabak, welcher abgesehen von seinen Gesundheitsschäden eher Wachheit und Konzentrationsfähigkeit fördert. Bewusstseinsverändernde Drogen fördern hingegen Leidensfähigkeit, Apathie und politische Resignation. Für viele Menschen heute sind sie alltägliche Fluchten.
Es ist kein Zufall, dass eine kleine mächtige Oberschicht Trinkstuben für sich einrichtet, ebenso wie Zünfte und dann auch Gesellenvereinigungen. Nahe bei städtischen Kirchen stehen die Wirtshäuser, in denen Männer nach dem Gottesdienst Erholung vom frommen Geschehen suchen. Mittelalterliche Zunftordnungen wie die von Straßburg stellen "Diebstahl, Maulstreiche, gotteslästerliche Fluche und unzüchtige Worte bei den Zusammenkünften ebenso unter Strafe (...) wie das Werfen von Krügen, Kannen, Kübeln und Gläsern, das Beschädigen von Fenstern und Ofenkacheln, das Eintreten von Türen oder das Ziehen von Messern. In Hamburg bestraft man das Verschütten von Bier, während die Flensburger Schuhmacher im 15. Jahrhundert differenzierte Bußen über betrunkene Mitglieder verhängten, je nachdem, ob sie sich vor dem Zunfthaus oder noch innerhalb der Räumlichkeiten erbrochen hatten." (Schneider-Ferber, S. 96f)
Nicht besonders erwähnt zu werden braucht die Propagierung des Suffs bei Gelegenheit der Fastnachterei, die bis heute anhält.
Nach der kurzen Phase von Fröhlichkeit in angeheitertem Zustand kommt der stärkere Kontrollverlust, in der Regel beabsichtigt. Eingedämmte Aggressionen schwappen hoch, zahlreiche Gewalttaten geschehen bis heute unter Alkoholeinfluss. Besonders betroffen sind Kinder und Frauen.
Die Bedeutung von Alkohol zeigt sich daran, dass nicht nur bei Festen "Angeheitertsein" bis hin zur Volltrunkenheit mindestens im sogenannten späten Mittelalter recht üblich zu sein scheint. Geselliges Beisammensein wird in aller Regel mit höheren Dosen von Alkohol begossen. Betroffen sind offenbar breite Kreise bzw. alle Schichten.
Aus Briefen von Hansekaufleuten wird deutlich, dass der Nachwuchs die Härte der Ausbildung bei fernen Kollegen gerne schon mal mit Alkohol kompensiert. 1513 schreibt der Danziger Kaufmann Hans Chonnert nach dem finnischen Abo, wo sein Sohn in die Lehre geht, er habe gehört, dass sein Sohn Bier saufe wie eine Sau, und zwar trinke er nicht leichtes, sondern höher alkoholisiertes Bier. Man möge ihn deshalb wieder nach Hause schicken. (Kümper, S.211f)
Der Weinkonsum muss groß gewesen sein. "In Köln wurden um 1430 von den rund 40 000 Stadtbewohnern 2,5 Millionen Liter Wein im Jahr konsumiert, also rund 65 Liter pro Kopf. Nicht umsonst war daher die Weinakzise, die Verbrauchssteuer auf den Ausschank und Verkauf von Wein, eine der wichtigsten Einnahmequellen vieler Städte überall im Reich, und der Weinkeller war eine bedeutsame Einrichtung in vielen hanseatischen Ratshäusern. In Lübeck etwa, wo sich der Rat schon früh das Schankmonopol auf Rheinweine gesichert hatte, lagerten 1289 über 150 000 Liter des begehrten Getränks." (Kümper, S. 194)
Wir erfahren von Trunkenheit und Trunksucht vor allem dort, wo sie in Gewalt enden und so in die überlieferten Texte eingehen. 1467 betrinken sich englische Kaufleute auf Island und erschlagen dabei den Statthalter der dänisch-norwegischen Krone, was zu Maßnahmen des dortigen Königs gegen die Engländer führt, die dafür dann Hansekaufleuten die Schuld geben, das Londoner Hansekontor schließen und Geld als "Entschädigung" verlangen. In der Regel ist alkoholisierte Gewalt in ihren Ergebnissen aber Etagen tiefer angesiedelt.
Aber schon das lateinische Mittelalter ist ohne den Alkoholkonsum nicht verständlich, er ist Betäubungsmittel und Fluchtversuch zugleich.
Deutlicher noch als im Mittelalter wird heute klar, welche Funktion bewusstseinsverändernde Drogen (insbesondere) in (absterbenden) Zivilisationen haben. Seit dem frühen 19. Jahrhundert operiert Musik mit der Induzierung von Rauschzuständen im Gehirn, mit der Amüsierindustrie seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts werden solche bewusst mit hämmernden Rhythmen zur (nicht nur vorübergehenden) Verblödung eingesetzt, zunehmend unter dem Einfluss von Drogen produziert und konsumiert und staatlicherseits gefördert als "Kultur".
"Kunst" (in Arbeit)
Der moderne Kunstbegriff, durch "Künstler" seit dem zwanzigsten Jahrhundert eher zunehmend ins Lächerliche gezogen, ist eine Sache der Renaissance und des Barock, läuft dann eigentlich im 18. Jahrhundert mit dem Niedergang des Adels als Auftraggeber im Rokoko aus und wird danach im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert durch "bürgerliche" Autoren romantisiert und idealisiert, Ausdruck des Niedergangs wie der der Ritterromane im späteren 13. und 14. Jahrhundert.
Um ihn so zu verstehen, wie er seit dem Geniekult des späten 18. Jahrhunderts aufkommt, muss man ihn als Schlusspunkt einer Säkularisierung sehen, die den Künstler zunehmend als Ersatz für die Priesterschaft betrachtet, wobei ersterer nun seine "Inspirationen" nicht mehr aus göttlichen Eingebungen, sondern aus noch luftigeren und "durchgeistigteren" imaginären Höhen bezieht, um persönliche Offenbarungen unter die Leute zu bringen, die nun im damaligen Sinne für "bürgerlich" gelten. All das findet stärker als anderswo in deutschen Landen statt, wo alleine es dieses Wort "Kunst" überhaupt gibt, während es ansonsten stärker in Fortführung der artes sich entwickelt.
Kunst ist bis ins 18. Jahrhundert zunächst einmal handwerkliches Können, und vom frühen Mittelalter an zunächst einmal dem Schmuck von Kirchen und Klöstern einerseits und dem weltlicher herrschaftlicher Gebäude andererseits gewidmet. Sie zu beauftragen und zu erwerben verlangt Geld, und sie gehört zu den kostbareren bzw. kostspieligeren Konsumgütern.
Im hohen und späten Mittelalter verlangt der Status eines Kunsthandwerkers Zugehörigkeit zu einer Zunft, bei Malern erst relativ spät manchmal auch einer Lukasgilde, die in den Niederlanden in Renaissance und Barock alle noch heute berühmten Maler umfassten.
Anders als andere Handwerke verlangen solche des Skulptierens und der Malerei, um höheren Ansprüchen zu genügen, einen hohen Zeitaufwand und damit auch für den Erwerb gewisse Kosten. Dabei spielen spezifische Aspekte von Kunstfertigkeit eine große Rolle, aber auch solche der Größe, Menge und des Materials. Es ist Kostbarkeit, die Prachtentfaltung ausmacht, und darum gelten Skulpturen aus Marmor oder Alabaster und solche aus Elfenbein als wertvoller als Gemälde aus Holz und Farbe. Darum wird ein relativ festangestellter Hofmaler wie Johan Malwael (Jean Malouel) vom Burgunderherzog Philipp dem Kühnen auch hauptsächlich für Festdekorationen, Schilderbemalungen oder Bemalen von Skulpturen eingesetzt.
Maler mit großem Auftragsvolumen in Größe und Menge besitzen Werkstätten mit einer zunehmenden Zahl von Gehilfen, an die sie zum Beispiel bei großen Altar-Retabeln viel Arbeit an diese abgeben und sich selbst auf die Hauptfiguren konzentrieren. Bis ins 15. Jahrhundert signieren sie ihre Gemälde nicht, die großen Künstler des kühnen Philipp wie Melchior Broederlam oder Claus Sluter sind uns mit einem Teil ihrer Werke durch die herzogliche Buchführung bekannt, wo ihre Bezahlung vermerkt ist.
Irgendwo zwischen Konsum und Schatzbildung liegt das fürstliche Ansammeln prachtvoller kunsthandwerklicher Produkte. Als Herzog Jean de Berry 1416 starb, "wurden seine Tapisserien auf achtundzwanzigtausend livres geschätzt, seine Juwelen und Manuskripte auf hundertdreißigtausend und sein von Jacquemart de Hesdin gemalter Psalter allein auf viertausend." (Reliquet, S.127) Philipp "der Kühne" war durch seinen Hofmaler Malwael (Malouel) auf dessen hochbegabte Neffen Paul, Herman und Johan van Limburg verwiesen worden, die ihm 1402 ein Bibelmanuskript bemalen. Als Philipps Bruder, der Herzog von Berry, das Ergebnis sieht, ist er so begeistert, dass er ab 1410 diese ein Stundenbuch ausmalen lässt, die 'Très riches Heures du Duc de Berry'. Von dort führt dann ein Weg zu Jan van Eyck, der stolz damit beginnt, mit seinem Namen zu signieren.
Der hohe Wert von Büchern liegt am Pergament, besonders aber an der aufwendigen Beschriftung und den immer luxuriöseren Bebilderungen und zeugt nicht immer von hoher Belesenheit der Besitzer. 1435 verkauft der immer knappere Gilles de Rais unter anderem einen Sueton, einen Valerius Maxismus, einen Ovid und Augustinus, ohne aber auf der Höhe solcher Texte anzukommen.
Soviel Prunk und Pracht ist Statussymbol, zum Protzen und zum eigenen Vergnügen bestimmt, kann aber jederzeit auf dem Markt veräußert werden, wobei die sich wandelnden Moden aber über den Materialwert hinaus den Marktpreis auch sinken lassen können.
Wahre Gesamtkunstwerke sind durch das Mittelalter Kirchenbauten samt Klostergründungen als fürstliche Grablegen. Philipp "der Kühne" kauft 1377 Land außerhalb von Dijon und lässt das Kartäuserkloster Champmol von Claus Sluter und einer von ihm eingestellten Bildhauertruppe erbauen. Melchior Broederlam bemalt die Schauseiten des zugeklappten Retabels. Mit Grabmal und Mosesbrunnen entstehen Sluters bekannteste Meisterwerke mit stark individualisierten Figuren und frühen Portraits.
Sport
Das verhältnismäßig wenig abwechslungsreiche Leben des Adels in deutschen Landen auf seinen Burgen wird vor allem mit Freizeitvergnügungen gefüllt, die sich aus seiner Bedeutung als Kriegerschicht ableiten. Das originäre Amüsement ist die Jagd zu Pferde, die durchaus auch Übungsmöglichkeit für kämpferische, "ritterliche" Betätigung ist. Dazu kommen im hohen Mittelalter die Turniere, der sportive Kampf. Deren Bedeutung nimmt in dem Maße zu, in dem die Ritter für die Kriege an Bedeutung verlieren.
Sport als Wettkampf nach festen Regeln findet an Fürstenhöfen des späten Mittelalters auch anderweitig statt, als Ballspiele oder Frühformen des Tennis, aber als Wirtschaftsfaktor relevant sind vor allem die Kampfspiele, für die keine Zelt"städte" bei Burgen mehr dienen, sondern die des Komforts und des Zuschauerpotentials wegen in die Städte bzw. an deren Rand verlegt werden.
1479 findet in Würzburg ein großes Turnier des süddeutschen Adels statt, für das um die 350 Wettkämpfer angenommen werden. Joachim Schneider schätzt, dass etwa 3200 Besucher dabei in die Stadt von rund 7000 Einwohnern kommen, (in: Konsumentenstadt, S.132f). Die reine Turnierorganisation haben mehrere Adelsgesellschaften inne, während Stadtherr und Rat der Stadt dafür die "Infrastruktur" (Schneider) bereitstellen. Nicht nur die Gasthäuser verdienen dabei, irgendwie müssen auch viele Bürger ohne Gastgewerbe Zimmer zur Verfügung gestellt haben, für die ein fester Betrag verordnet wird.
Um die Versorgung mit Nahrung zu sichern, werden für die Zeit des Turniers Marktabgaben und Zölle erlassen. Sollten die städtischen Händler für die Versorgung nicht reichen, so können auch ortsfremde Bäcker und Metzger in die Stadt gelassen werden. Für den Stadtherrn entstehen so keine zusätzlichen Einnahmen, eher im Gegenteil, aber dafür umso mehr für die Stadt und das ihr gehörende Gasthaus und für ihre Bürger. Für den Fürstbischof von Würzburg zählte wohl vor allem der Statusgewinn.
Für solche edle Festivitäten sitzen die Geldbeutel der adeligen Teilnehmer lockerer als sonst, denn Status und öffentlicher Luxuskonsum gehören zusammen. Wie das etwas kleinere Mainzer Turnier des folgenden Jahres erweist, werden erhebliche Mengen an (wohl höherwertigem) Wein und Bier, Süßigkeiten wie Gewürzkuchen, sehr viel Fleisch und Fisch verzehrt, Reis, Mandeln und wohl auch "feinere" Gewürze (Schneider in: Konsumentenstadt, S.135ff). Mit den Lebensmitteln profitiert nicht nur der Handel, sondern auch das ganze Umland.
Neben dem Turnier als Sportfest gibt es auch die Feste, insbesondere Hochzeiten, als Rahmen für Turniere. Solche Turniere finden dann oft auf dem großen Marktplatz in der Stadt statt, aus dem die Marktbuden geräumt werden und Gelegenheiten für die vielen Zuschauer geschaffen werden müssen.
Nicht so sehr für ein Turnier geeignet, aber ebenfalls enorme Nachfrage nach Konsumgütern erzeugend sind die einige Wochen nach der Beerdigung erfolgenden fürstlichen Leichenbegängnisse mit ihrem Leichenschmaus, auch sie manchmal von tausenden von Gästen besucht.
Natur und Landschaft (in Arbeit)
Dieses Paradiesgärtlein kann man sich im Frankfurter Städel anschauen; es wurde etwa hundert Jahre nach dem Hadlaub-Lied und zweihundert Jahre nach Bertrant de Ventadorns Liedern gemalt, also etwa um 1410.
Hier fallen Eigenschaften der schon vergangenen neuen höfischen Liebeslieder, des dazugehörigen neuen Verhältnisses zu „Natur“ und ein neues, auch im höfischen Kontext verwandeltes Christentum mit eher bürgerlichen Elementen zusammen.
Zunächst einmal sieht man einen durch eine zinnenbewehrte Mauer abgeschlossenen möblierten Garten, in dem eine Maria sitzt, die durch ihre Krone als Himmelskönigin gekennzeichnet ist. Wenn wir die durch Symbolsprache erkennbare religiöse Zuordnung weglassen, sitzt da eine adelige oder großbürgerliche Frau im Garten und liest. Das ist neu, denn man las früher in der Schreibstube oder Bibliothek, und zwar stehend an einem Lesepult. Höfisch ist auch die Musikbegleitung, die das Lesen von aufmerksamer Gelehrsamkeit in einen Lesegenuss verwandelt. Die Versammlung von Leuten im Garten ist, wie es sich für eine Himmelskönigin gehört, eine von Heiligen und Engeln. Und natürlich ist dies ein hortus conclusus, ein abgeschlossener Garten als Symbol oder Metapher für die Jungfräulichkeit Mariens, deren Leib für männliches sexuelles Begehren verschlossen ist. Er selbst ist ein Garten der Heiligkeit.
Aber dies ist auch ein Picknick im Grünen, dem inzwischen etablierten gehobenen städtischen Bürgertum um 1400 so vertraut wie die sommerliche Mahlzeit im baumbestandenen Burggarten, zu dem auch Blumen und Kräuter gehören. In einem solchen Garten als Liebesnest traf sich schon die Isolde des Gottfried von Straßburg mit ihrem Tristan.
Es handelt sich auf unserem Bild um einen Blumen- und Obstgarten, was ihn dem Paradiesgarten der Genesis ähnlich macht: Es ist ein müheloser, also ein weder bäuerlicher noch bürgerlicher Gemüsegarten, - Gemüse würde an Mühe und Arbeit erinnern. Hier aber treffen das himmliche, spirituelle Vergnügen an Lektüre mit dem sinnlichen an Musik, visueller Schönheit der „Natur“ und Geschmacks-Genuss aus Essen und Trinken zusammen.
Für uns ist hier interessant, dass „Natur“ in ihrer Darstellung eine Fortentwicklung von der ist, die in den Minneliedern und den dazugehörigen Malereien schon auftritt. Es ist eine transformierte Natur, so wie die neue Liebe eine Transformation des Geschlechtstriebes ist.
Als Paradiesgarten allerdings ist sie für die meisten Menschen sowieso eher ein Traum, so wie das Schlaraffenland und vieles andere mehr.
****
Das Bewusstsein von einer Natur als zu schützender natürlicher Lebensgrundlage fehlt noch völlig. Das "Land", nun im Unterschied zur Stadt, dient der Erzeugung von Nahrung und Rohstoffen und wird soweit wie möglich ausgebeutet. Wald und Feld sind Jagdgrund des Adels, also sein Sportgelände. Exotische Tiere wie Löwen und Affen werden in Zoos und Käfige eingesperrt und gelten als Statussymbole und Ausdruck von Reichtum, werden angegafft und gerne auch verschenkt. Reittiere, Last- und Arbeitstiere werden oft geschunden und gequält. Hunde werden zu Schoßtierchen degeneriert und als solche missbraucht.
In dem kurz vor 1340 von Ambrogio Lorenzetti gemalten Bild von den Auswirkungen der guten Regierung im Palazzo Pubblico zu Siena reiten Städter hinaus in das Seneser Umland, um sich wohlbestellte Felder und Weiden anzuschauen.
Das Bild ist Teil der malerischen Darstellung politischer Propaganda der gerade führenden Gruppierung in der Stadt. Aber zugleich ist es ein frühes Beispiel der langsam einsetzenden Verselbständigung von "Landschaft" in der Malerei.
Die so gemeinte Landschaft hat aber noch keinen Begriff im Mittelalter. Das "Land" kann zwar von der Stadt unterschieden sein, als ländlicher, dörflicher Raum, und es wird im späten Mittelalter bereits ästhetisch ausgedeutet, so wie der Mensch mit dem Porträtbild, aber es ist noch auf keinen klaren Begriff gebracht. (siehe auch Großkapitel 'Helden')
Landschaft ist im späten Mittelalter Asudruck eines ständisch gegeliderten Gebietes:. Ernst Schubert zitiert für das Tirol von 1363: "Die Landschaft gemeinlich, edel und uneldel, arm und reich." (Schubert, S.42) Gemeint ist hier die Summe aus Bauern, Bürgern und Adel. In Würtemberg taucht der Begriff zum ersten Mal 1457 auf, wobei damit die Vertreter von Ämtern und Städten gemeint sind (s.o.)
***Von der Landschaftsidylle zur rauhen Wirklichkeit*** (in Arbeit)
Die Ausplünderung des inzwischen weitgehend vernutzten Restwaldes wird in deutschen Landen nur manchmal lokal gebremst. Im 15./16 Jahrhundert wird sogar das Brennholz für die Privathaushalte mancherorts knapp, manchmal knapper als die Basisernährung. Die ärmeren Leute sparen daran und frieren und Betriebe versuchen sich ebenfalls in Energiesparen. Aber ein in ein zwei Stuben beheiztes Patrizierhaus verbraucht weiter jährlich vier bis sechs Festmeter Holz. (Schubert Alltag, S.94) Städte tendieren dazu, solches Holz zu kontingentieren.
Wo die Wälder ohnehin selten oder inzwischen großflächtig vernichtet sind, wie in den nördlichen Niederlanden, aber auch anderswo, muss Holz über Handel aus der Ferne herbeigeschafft werden.
Immer größere Steingebäude neben den weiter gebauten Fachwerkhäuser verlangen entsprechend viel Bauholz. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird der Bau der Münchener Frauenkirche rund 20 000 Baustämme erfordern, die über die Isar mit 147 schwerbeladene n Bauholzflöße angeliefert werden (Schott, S.69 etc.)
Ein klassisches Beispiel dafür, dass es gegen Ende des (kurzen) Mittelalters bereits zu viele Menschen bzw. zu viel Kapitalismus gibt, zeigt sich an der Nachfrage nach (Stein)Salz, die im Norden überall mit der Nachfrage nach Holz als Energieträger verbunden ist. Nach der Entwaldung der Großregion um Lüneburg muss das Holz für das Salzsieden nun aus Mecklenburg kommen. dessen Entwaldung damit vorangetrieben wird. Immerhin entstehen dort teilweise dadurch Ackerflächen, während der Boden der nunmehrigen Lüneburger Heide verarmt.
Die vom Großkapital gefütterten Reviere der Montanindustrie des 15. Jahrhunderts wandern wie die des Nürnberger großen Kapitals dem Wald hinterher, den sie vernichten. Allein Hammerwerke der Oberpfalz verbrauchen 1387, wie es heißt, 175 000 Festmeter Holz im Jahr. (SchubertAlltag, S.102) Das geht so, bis der Wald der Gegend vernichtet ist. Und das städtische Kapital, welches dem Adel ganze bewaldete Mittelgebirgs-Gegenden dafür abkauft, kümmert sich nachher auch nicht um die generationenübergreifende Waldpflege ohne überschaubaren Gewinn.
Lange nach Nürnberg beginnt Venedig um 1470 mit einem Wiederaufforstungsprogramm mit geringer Wirkung, allerdings nicht aus Respekt vor den menschlichen Lebensgrundlagen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen: Es gilt vor allem, den Rohstoff für den Schiffsbau im Arsenal zu erhalten, der größten Produktionsstätte damals in Europa. Aber die Holz muss aus immer größerer Ferne importiert werden, schließlich sogar aus Kreta.
****
In der Bezeichnung "Wildnis" schwingt vieles zwischen Angst und Faszination mit, und die Angst schwindet im späten Mittelalter in dem Maße, indem Naturlandschaft verschwindet. Es gibt dabei noch mächtige wilde Tiere, im 13. Jahrhundert werden in Teilen der deutschen Lande noch Elch, Auerochse und Wisent gejagt, Wölfe und Bären. Aber sie sind dabei, aus der Landschaft zu verschwinden. Zwar gibt es noch bis ins 17. Jahrhundert organisierte Wolfsjagden gegen den unmittelbarsten Nahrungskonkurrenten des Menschen, aber der Wolf wird mehr und mehr durch das Nutztier Hund ersetzt, der noch so verwandt mit dem Wolf ist, dass er sich gelegentlich mit ihm paart. Dieser wird so häufig, dass er in den Städten verwildert und dann von Hundeschlägern erschlagen werden muss.
Während die Bären aus der Landschaft verschwinden, werden sie nun von Bärenführern für Amüsierveranstaltungen missbraucht. Spielleute ziehen zum selben Zweck mit Affen (Meerkatzen) durch die Lande.
Kuriosität wird Wildnis spätestens im 15./16. Jahrhunderts, als sie aus Mitteleuropa fast völlig verschwunden ist, indem sie im Wilden Mann oder manchmal auch der Wilden Frau nunmehr nicht nur literarisch, sondern auch als Skulptur, Relief oder Abbildung auf Wandteppichen auftaucht, nackt oder im härenen Gewand, eine Keule schwingend. Eine Gilde von Fastnachtern in Basel heißt nun 'Zum Wilden Mann'. "Im Elsass wurde alljährlich zur Fastnachtein entsprechend verkleidetes >wildes Weib< (von einem Mann dargestellt, unter Rutenschlägen von Geispoltsheim ins Straßburger Münster getrieben." (SchubertAlltag, S.225)
Entfremdung von der Natur geht durch alle Schichten. Exotische Tiere gelten bei den Mächtigen und Reichen schon lange als Statussymbole. Fürsten halten sich Tiergärten, in denen man sie bestaunen kann. Ende des 15. Jahrhunderts wird vermerkt, dass es in der Herzogsburg zu München drei Löwen gibt und zwei weitere würden frei herumlaufen und sich streicheln lassen. (SchubertAlltag, S.204) In der Augsburger Oberschicht hält man sich sogar Affen als Schaustücke und anderswo Sittiche in Käfigen.
Dabei werden Vögel und auch viele Singvögel mit Netzen und Leimruten gefangen. "Nicht nur gemästete Fettammern, sondern auch Lerchen, Stieglitze und Finken werden gefangen, gebraten, mit süßer Brühe übergossen, auf langen Stäben aufgespießt und als >Spießvögel< auf den Märkten verkauft. Noch häufiger verspeist werden Tauben. Einige feiern den Gesang der Vögel, andere verspeisen sie.