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Kapital und Kapitalismus

 

Das Wort Kapitalismus gibt es noch keine zweihundert Jahre, obwohl es in dieser Untersuchung für etwas herhalten soll, was vor rund tausend Jahren entstand. Der zuvor fehlende Begriff verweist darauf, dass es vorher entweder keinen Bedarf gab, etwas begreifen zu wollen, oder aber und wahrscheinlicher, dass Menschen Vorgänge in Gang setzten, die sich zugleich quasi hinter ihrem Rücken vollzogen.

 

Selbst das Wort Kapital taucht erst auf, nachdem es solches schon lange gegeben hat, und fast überall erst Jahrhunderte, nachdem Kapitalismus bereits in großen Teilen Europas seinen Siegeszug angetreten hat. Aber immerhin schreibt schon der den Spiritualen nahestehende und hochgelehrte Franziskaner Petrus Johannis Olivi (1247-1296) bereits über das Kapital:

In seinem Tractatus de contractibus (1293–1295) formuliert Olivi eine für die damaligen Verhältnisse moderne Theorie des Preises und des Kapitals, welches er vom Geld unterscheidet. Er meint, dass das, was nach dem Entschluss des Eigentümers zu einem wahrscheinlichen Gewinn bestimmt ist, nicht nur die Kraft des bloßen Geldes oder einer bloßen Ware hat, sondern darüber hinaus eine gewisse „eine gewisse samenartige Bestimmtheit zur Gewinnerzeugung“ (quandam racionem seminalem lucri). Dabei macht er bereits im Unterschied zu moderner ökonomischer Geschwätzigkeit auch deutlich, dass die Vermehrung des Kapitals in diesem nur beschlossen ist, wenn Bauern, Handwerker oder Kaufleute dafür arbeiten. Dem Kapitalgeber in einem Fernhandelsgeschäft ist entsprechend nicht nur der einfache Wert zu erstatten, sondern auch noch ein Mehrwert (valor superadiunctus). Dadurch wird das derzeitige scholastische Zinsverbot bereits implizit in Frage gestellt.

 

Lateinische Wurzel von Kapital ist das Wort caput, welches für den Kopf bzw. das Haupt steht. Daraus leitet sich capitalis ab, welches man unter anderem mit "hauptsächlich" übersetzen kann. In spätmittelalterlichen norditalienischen Volkssprachen wird dies Wort wieder substantiviert, um von dort dann später in den Norden zu wandern, wo es im Deutschen zum Beispiel als hauptgut Anfang des 16. Jahrhunderts auftaucht.

In italienischen Städten des späten Mittelalters mit ihrem blühenden Kapitalismus wird es beim Geschäft/Unternehmen die Hauptsache benennen. Diese aber ist das, was nicht die Nebensache ausmacht, welche das ist, was für den persönlichen Konsum abgezweigt und damit dem (eigenen) Geschäft verloren geht, sondern das, was eingesetzt wird, um es zu vermehren, ohne dabei allzu viel physische (bzw. militärische) Gewalt einsetzen zu müssen.

 

Etwas ist soweit mit dem Begriff schon gewonnen: Es gibt Haupt- und Nebengüter. Das lässt sich allerdings im späten Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit etwas unterschiedlich verstehen. Es kann zum Beispiel das Kapital als das Haben, den Besitz im Unterschied zu Verpflichtungen, Schulden meinen. Nun ist Kapital aber dabei nicht irgendein Besitz, sondern nur jenes Gut, welches ausschließlich zu seiner Vermehrung eingesetzt wird. Im 16. Jahrhundert wird dabei im Italienischen zum Beispiel manchmal noch der Besitz von Vieh gemeint, dessen biologische Vermehrung durch Nachwuchs als Zinsen aufgefasst wird.

Der oft riesige Grundbesitz eines mittelalterlichen Klosters ist nicht per se Kapital, sondern das wird er zum Beispiel dadurch, dass die in Geld umgesetzten Erträge zum Teil als Kredite ausgegeben werden. Dann wird ein Teil des Geldes, welches abhängige Bauern für ihre frommen Herren erarbeiten, kapitalisiert.

 

Ökonomisch sinnvoll ist ein solcher Kapitalbegriff nur, wenn er sich in Zahlen rechnen lässt, also als Geld aufgefasst werden kann. Kapital tritt dabei nur auf einem Markt (im weitesten Wortsinn) auf. Schließlich wird vom Hauptgut nicht die Qualität vermehrt, sondern die Quantität, der Kapitaleigner verkauft schließlich kein Getreide, um mehr Getreide zu bekommen, sondern einen geldwerten Gewinn. Kapital ist eine quantitative, keine qualitative Größe.

 

Das Wort Kapital oder Hauptgut oder ähnliches verleitet allerdings dazu, sowohl Vorgänge wie Beziehungen unter Menschen darin zu verstecken: Man verdinglicht sie auf diese Weise. Dem werden auch wir nicht ganz entkommen, wenn wir nicht eine völlig neue Sprache erfinden wollen und damit unverständlich werden. Kapital wird also auch in diesem Text in zwei Bedeutungen vorkommen: Einmal als jenes Hauptgut, dessen einziger Zweck seine in Geld rechenbare Vermehrung ist, zum anderen als Vorgang, in dem Geld in Arbeit investiert wird, die es vermehrt. Ich folge hier Karl Marx darin, dass es kein Kapital ohne Arbeit gibt, die es "verwertet". Ich folge ihm allerdings nicht darin, dass Kapital und Arbeit zwei "Klassen" von Menschen ergeben, da diese Idee sich historisch nicht so klar verifizieren lässt, wie er hoffte, heute schon gar nicht mehr.

 

Vor dem Kapitalismus

 

Wir reden von Kapital, aber das ist missverständlich, denn dabei handelt es sich um Vorgänge und Einstellungen zu Eigentum, und nicht eigentlich um ein „Ding“. Der Vorgang ist der der Vermehrung oder wie Marx schrieb, der Verwertung von Eigentum (als Kapital) zum  alleinigen Zweck seiner Vermehrung. Um das zu verdeutlichen, sei auf einige andere Möglichkeiten, mit Einnahmen umzugehen, hingewiesen: Die eine ist, dass es sofort verbraucht wird und so mehr oder weniger schwindet. Die andere ist die Schatzbildung, bei den germanisch dominierten Nachfolgereichen des weströmischen Imperiums üblich, und zwar bei Königen, Hochadel, Kirche und Kloster. Mustergültig als Königsschatz, der zentralen Insignie solcher Herrscher, wichtig als Krone oder Szepter, wurde dieser in Kriegen zusammengerafft und -geraubt, danach durch Tribute von Unterworfenen vergrößert, und solche Vermehrung mehrte Glanz und Ruhm königlicher Macht. Schätze aus Münzen, Gold und Silber, Perlen und Edelsteinen und Gefäßen dienen aber auch dem Ruhm Gottes und seines Bischofs oder Abtes.

 

Schatzbildung war zudem auch das, was Hunnen, Awaren und manchmal Wikinger betrieben. Was fing man nun mit solchen Schätzen an: Was von ihnen nicht gehortet wird, wird zielgerichtet verschenkt.

Bis ins „Christentum“ hinein machten viele solche Völker noch etwas, was jeden Kapitalismus unmöglich erscheinen lässt: Sie gaben zumindest Teile solcher Schätze ihren Reichen und Mächtigen mit ins Grab, wo sie allerdings oft der Grabräuber harrten. Es gab schon damals Gier, aber die Leute machten daraus kein Wirtschaftssystem, sondern entfachten Gewalttätigkeit.

 

Wenn wir uns noch einmal die germanisch dominierten Folgereiche der Nachantike anschauen: Unter denen, die etwas hatten und darum Macht hatten, war zunächst das Schenken, das Darbringen von Geschenken wichtiger als jeder Warenverkehr. Geschenke stellten Freundschaft her, ein eher vorkapitalistisches Verhältnis von Menschen zueinander, welches Kapitalverwertung dann geradezu privatisiert hat – es wird von einer öffentlichen zu einer privaten Bindung, - wenn wir von der bis heute andauernden Korruption einmal absehen.

 

Manche davor liegende Stammeskulturen waren durch ein damit verwandtes Verhalten gekennzeichnet, welches bis ins frühe Mittelalter hineinreichen wird: Gewählte Häuptlinge mussten Talente haben, die dazu führten, dass sie viel besaßen, denn sie mussten soviel haben, dass sie an ihre Leute verschenken konnten. Mit solchen Kulturen des Schenkens wird der Kapitalismus dann im Laufe der Zeit ganz und gar aufräumen, denn das wird für ihn Verschleudern potentiellen Kapitals, also Verschwendung.

 

Kapital gibt es also zum Beispiel schon in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes , - aber eben noch keinen Kapitalismus. Es gibt Eigentum, Kapital, Arbeit, Arbeitsteilung, Geld, Waren, einen Markt bzw. ganz viele Märkte, Landwirtschaft, Handwerk, Produktion, Handel und Konsum von Waren – aber keinen Kapitalismus. Die Masse der vor allem auf dem Lande erwirtschafteten Gelder geht in den Konsum einer kleinen staatstragenden Oberschicht, also nicht in die Hauptsache, sondern die Nebensache eines privilegierten Luxus. Handwerk und Handel können sich bei der Expansion des Reiches immer weniger entfalten, da sie für militärische Zwecke reglementiert und abgeschöpft werden. Kapital macht noch keinen Kapitalismus, nicht einmal viel Kapital. Das wird im Mittelalter des lateinischen Abendlandes anders werden.

 

In diesem letzteren Sinne kann man sagen, dass es in der Antike dieser gerade angedeuteten tausend Jahre bereits insbesondere im Mittelmeerraum einzelne Kapitalisten gab, aber desungeachtet immer noch keinen Kapitalismus, wie er hier um der Klarheit willen definiert werden soll. Das liegt daran, dass einzelne Kapitalisten zwar gewiss wichtig waren, aber atypisch und nicht normbildend, und sie wurden von denen, die die Macht in Stadt und Land hatten, zwar benutzt, aber eher verächtlich betrachtet. Und außerdem - sie wurden nicht konstitutiv für die Reiche, die damals bestanden, sie waren ein Aspekt, der nicht ihr Wesen durchtränkte.

 

Das Ideal, dem die nachkamen, die sich das leisten konnten, war eher der Konsum als die Kapitalbildung. Das hieß, der ausgedehnte Handel, die Produktion von Massenwaren und Luxusgütern, alles das zielte vor allem auf den Lebensgenuss einer Oberschicht ab, deren Basis landwirtschaftlich genutzter Großgrundbesitz war, also eine aristokratische Lebensweise. Es fehlt jenes städtische Bürgertum, aus dessen Reihen die kommen, welche innovativ in größerem Umfang Kapitalverwertung zu einem Selbstläufer machen werden. Im übrigen wird das sogenannte Christentum zwar ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus, in dem, was dann entfalteter Kapitalismus wird, hätte es aber gar nicht mehr so entstehen können.

 

Kapitalismus

 

Zu Kapitalismus, so wie er hier verstanden werden soll, wird Kapitalverwertung erst da, wo sie Macht, Weltanschauung und Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der Menschen nachhaltig verändert und beeinflusst, und zwar so, dass das zunächst regional und am Ende weltweit irreversibel wird.

 

Kapitalismus als Dominanz der Kapitalbewegungen zeigt sich an den von ihnen verursachten Veränderungen in allen Lebensbereichen, wie sie das Mittelalter kennzeichnen werden. Persönliche Abhängigkeit wird zunehmend ergänzt und dann auch ersetzt durch solche vom Markt, das Warenangebot verändert das Leben, erleichtert es manchmal. Frei eingegangene Arbeit "lohnt" sich mehr, und mehr Menschen stehen mehr Karrieren offen. Dabei werden arm und reich nicht mehr nur nach Geburt, sondern stärker nach eigener Leistung bestimmt, auch wenn der erhebliche Wohlstand weniger auf der relativen Armut vieler beruht.

 

Die politische Macht von Teilen des großen Kapitals in den Städten bricht sich aber dann an der der Fürsten und Könige, die die ganz großen Entscheidungen mit ihrem Umfeld treffen. Aber Fürsten und Könige werden im Verlauf des hohen und späten Mittelalters immer abhängiger von dem, was Kapital erwirtschaftet und was entsprechend Handwerk und Landwirtschaft vorantreibt. Kriege müssen bezahlt werden und werden oft vom Kapital vorfinanziert. Umgekehrt sollen ihre Ziele zunehmend den Bewegungen des Kapitals im eigenen Land dienen. Neben den bisherigen Krieg tritt in ersten Ansätzen der ausgesprochene Wirtschaftskrieg.

Das Regieren, Ausüben politischer Macht, soll nicht nur Einkünfte bringen, es kostet auch zunehmend Geld, welches bald nicht mehr primär aus fürstlich-königlichen Besitzungen herrührt, sondern aus der freieren Wirtschaft abgeschöpft wird. Fürsten und Könige in deutschen Landen werden ganze Ortschaften und Städte verpfänden, zudem Rechte, die der Machtausübung dienen, um an Geld des großen Kapitals zu kommen. Regieren wird kreditfinanziert, und durch das spätere Mittelalter werden deutsche Königswahlen vom Kapital finanziert, welches nicht immer, aber oft einen einträglichen Gegenwert bekommt. Italienische Stadtherrschaft wird vom einheimischen großen Kapital über Anleihen finanziert, die wiederum erhebliche Renditen abwerfen.

 

Zur Erfolgsgeschichte des Kapitalismus gehört dabei zu allererst die Beschleunigung einer Bevölkerungsvermehrung bis ins 14. Jahrhundert, wobei dichtere Bevölkerung selbst wiederum eine von vielen Voraussetzungen für Kapitalismus ist. Mehr Menschen können überleben und Nachwuchs erzeugen und letztlich damit den Wohlstand von mehr Menschen über ihnen erarbeiten. Die Welt wird weniger statisch, das Thema schnellerer Veränderung zieht in die überlieferten Texte ein.

 

Die Existenz von Kapital bedeutet also noch keinen Kapitalismus. Er schleicht sich zwischen dem zehnten und zwölften Jahrhundert im Raum des lateinischen Abendlandes ein, zunächst nur an wenigen Orten, breitet sich aus und wird erst bemerkt und noch kaum verstanden, als es bereits keine Umkehr mehr zu geben scheint. Dabei handelt es sich um jenen großen Teil Europas, der sich immer weniger zurecht als Erbe des römischen Reiches sieht und damit auch seiner Sprache, die in dieser Epoche als eine Art lingua franca dient, beim Aufstieg des Kapitalismus aber Schritt für Schritt verdrängt wird.

Er wird ein ungeheures Erfolgsprogramm, ungefähr so umwälzend wie die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht und des Handwerks. Die Natur gab zu essen und trinken, und der Kapitalismus wird als zweite, menschengemachte Natur verstanden, so unabänderlich wie die erste und scheinbar genauso die Menschen nährend.

 

Die ökonomische Dominanz der Bewegungen des Kapitals in dieser Zivilisation setzt sich nur langsam, dabei aber unentwegt  durch und wird offenbar im hohen Mittelalter irreversibel, das heißt, die Bewegungen des Kapitals haben sich inzwischen zumindest in großen Regionen soweit etabliert, dass eine Rücknahme ihrer Macht als eine für unerträglich gehaltene Katastrophe angesehen würde.

Irreversibilität heißt hier, um ein Beispiel zu geben, dass eine Rücknahme kapitalistischer Verhältnisse die Inkaufnahme eines Massensterbens bedeuten würde und die Mächtigen ihre Macht gekostet hätte. Das ist bis heute so geblieben, nur die Dimensionen haben sich weiter drastisch und beunruhigend vergrößert: Ohne funktionierenden Kapitalismus würden die meisten der Milliarden heutigen Menschen sehr schnell verhungern.

 

Darüber hinaus beeinflussen sie dort die Lebensverhältnisse der meisten Menschen, die zunehmend in die neue Warenwelt integriert werden, die sie meist dankbar aufnehmen. Kapitalismus erzeugt einen Erwartungshorizont.

Zwar leben die meisten Menschen auf dem Lande und bewirtschaften dieses. Aber einmal produzieren sie immer  stärker für einen kapitalistisch geprägten Markt, und zunehmend nicht nur Lebensmittel, sondern auch Rohstoffe für handwerkliche und auch schon maschinelle Produktion. Und zum anderen werden sie immer stärker auch von der kapitalistischen Entwicklung beeinflusst, sowohl in ihren Arbeits- wie überhaupt auch Lebensverhältnissen.

 

 

***Kapital als Einstellung und Haltung***

 

Kapitalismus entsteht also dort, wo Kapital elementar wichtig wird. Das aber heißt zunächst, dass diejenigen, die so viel besitzen, dass sie Kapital bilden können, von der Begierde getrieben werden, dieses Gut auch ausnahmslos zu seiner Vermehrung einzusetzen. Damit man es soweit bringt, muss man erst einmal genug besitzen. Das gelingt in unserer Schwellen-Zeit in aller Regel nicht durch produktive Arbeit, und schon gar nicht durch solche elementare, die der menschlichen Ernährung dient, aber auch nicht durch solche, die wir unter die Handwerke einordnen. Vielmehr sind es wohl weithin Handel und Geldgeschäfte, die einige wenige so besitzend werden lassen, dass sie überhaupt die Entscheidung treffen können, einen Teil ihres Besitzes als Kapital abzuteilen. Oder aber sie sind darüber so kreditwürdig geworden, dass sie sich Kapital quasi als Vorschuss auf einen Gewinn leihen können.

 

Leider wissen wir abgesehen von Ausnahmefällen von keinen dokumentierten Beispielen der Kapitalbildung in dieser Zeit. Damit unterliegt auch die Frage danach, warum überhaupt Kapital gebildet wird, der schieren Spekulation bzw. des Rückschlusses aus späteren Zeiten. Aber im Kern lässt sich einigermaßen analog auch fragen, warum heute jemand, der durch Kapitaleinsatz Millionen Euro oder Dollar einnimmt, nicht schnell wieder damit aufhört, sobald er inzwischen genug für ein angenehmes (und wohl auch arbeitsfreies) Leben zusammen hat.

 

Zweifellos handelt es sich dabei nicht um die Gier, die Pflanze und Tier entwickeln, sobald punktuell ein Übermaß an Nahrung offeriert wird, und zwar als Reaktion darauf, dass es in diesem Sinne auch Zeiten des Mangels geben kann. Wenn wir beim Menschen (zumindest dem in Zivilisationen) von pervertierter Gier sprechen, meinen wir ein als psychische Störung einzuordnendes Suchtverhalten, welches auf einer ebenfalls psychisch zu verortenden Störung beruht, nämlich dem Drang nach Kompensation von Unzufriedenheit.

 

Da Kapital via Waren auf einem Markt vermehrt wird, wird sich Kapitalismus auf der anderen Seite dort einstellen, wo die sich in der Kapitalvermehrung manifestierende pervertierte Gier auf die von Kunden trifft, die angesichts eines entsprechenden Angebotes zunächst Luxusbedürfnisse an zu konsumierenden Waren entwickeln. Dabei messen sich Gier und Luxus hier nicht moralisch, sondern an den Vorgaben einer außermenschlichen Natur und letztlich auch denen  menschlicher Kultur(en) vor aller Zivilisierung.

 

Das sich in Kapital und Konsum verallgemeinerte Suchtverhalten des oft zutiefst pervertierten Säugetieres Mensch ist in den letzten Jahrtausenden ansatzweise und von wenigen einzelnen thematisiert worden, in sehr eigenartig religiös verbrämter Form vom evangelischen Jesus zum Beispiel, in gar nicht religiöser Form wohl durch den als Buddha in die Geschichte eingegangenen indischen Prinzen, ein wenig auch durch einige der Griechen, die als Philosophen bekannt wurden. Es zeigt seinen krankhaften Charakter heute am deutlichsten darin, dass die inzwischen fast völlig zivilisierte Menschheit wohl nur noch die Wahl hat, demnächst mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen unterzugehen oder aber unter Einsatz der (schon) vorhandenen oder noch zu entwickelnden Massenvernichtungs-Waffen denselben Effekt zu erzielen.

 

 

Hier ist ein Absatz angemessen, um kurz innezuhalten und dann zu fragen, wieso Menschen es soweit gebracht haben und dies nicht mit der Plattitüde zu erschlagen, dass sie es eben konnten.

 

 

***Arbeitsteilung, Ware und Markt***

 

Bis der Kapitalismus bzw. die ihn betreibenden Menschen sich an ihre Zerstörung machten, gab es noch Völker ohne andere als geschlechtliche Arbeitsteilung und ohne Markt. Es sind vor allem naturräumliche Aspekte, die viele andere Menschen dazu brachten, Arbeit zu teilen. In größerem Umfang geschieht das in der Jungsteinzeit mit der Abtrennung von zunehmend mehr Handwerk von der Nahrungsproduktion: Diese kann mit Überschüssen handwerkliche Produkte aus Töpfereien, der Waffen- und Schmuckproduktion zum Beispiel eintauschen.

 

Es gibt neben der internen auch eine geographische Arbeitsteilung: Bernstein gab und gibt es vor allem im Samland und überhaupt der südlichen Ostseeküste. Als Schmuck begehrt, wird es schon in der Steinzeit bis in den Mittelmeerraum gehandelt. Feuerstein (zum Feuerentzünden) und Obsidian (unter anderem für Waffen) waren nicht überall vorhanden und wurden deshalb gehandelt.

 

Arbeitsteilung bedeutet Spezialisierung und damit Verbesserung von Techniken und Produkten. Spätestens im antiken Griechenland wird daraus ein Fortschrittsgedanke entwickelt, der über das Römerreich und das Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert relativ ungebrochen anhält, auch wenn das Christentum zunächst mit einem eher ablehnenden Menschenbild (des Sünders) dazwischen geht. Das Wort Fortschritt selbst kommt dann im Deutschen als Reaktion auf den säkularisierten Sündenbegriff von Jean-Jacques Rousseau gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf, um einen immer positiveren Klang zu erhalten, der nur wenig von denen getrübt wird, die sich kritisch mit den Schattenseiten von massenhafter Industrialisierung, Entwurzelung, schließlich auch Konsumismus und massivster Zerstörung des Lebensraumes Erde befassen.

 

Arbeitsteilung bedeutet Warenproduktion und Warentausch, also Handel und Markt. Dabei ist Markt (aus dem Lateinischen entwickelt) zunächst einmal der Ort, an dem Waren (merces)getauscht werden, während er insbesondere im Soziologen-Deutsch des 19. Jahrhunderts überhaupt alle Handelsbeziehungen meint.

 

Die Ware wiederum entwickelt sich im Altenglischen zu dem Wort für einen Wert darstellende Gegenstände und vermutlich ebenso auf dem germanischen Kontinent. Unter Ware verstehen wir dann alle Gegenstände, die gehandelt werden können, wozu oft auch Menschen gehören, die als Sklaven benutzt werden. In der Auffassung fast aller Menschen bis heute besitzt der Planet Erde Warencharakter und wird auch so behandelt: Im Laufe der Geschichte der Zivilisationen wurden immer einmal wieder sogar große Regionen gekauft und verkauft, und zwar mit den darauf lebenden Menschen, die dabei ihre Herren wechseln.

Auf jeden Fall gewinnt der Lebensraum Erde mit seinen Pflanzen und Tieren im Laufe der Zeit Warencharakter: Sie werden genutzt, ge- und Verkauft wie leblose Waren, und das ebenfalls bis heute und wohl auch weiter in Zukunft.

 

Ähnlich dem Warenkauf ist die Warenmiete: Menschen vermieten schon in frühen Zivilisationen auf einem Markt ihre Arbeitskraft und ihre Fähigkeiten. Insbesondere Frauen vermieten bzw. vermarkten sexuelles Begehren anreizende Aspekte ihrer Körper, die dadurch ebenfalls Warencharakter bekommen.

 

Der Weg in den Kapitalismus wird geprägt durch die Verwandlung von allem und Jedem in eine Ware, alles wird käuflich und damit auch fast jeder Mensch, dem dabei nichts mehr schützenswert, also im besten Sinne heilig ist. Am Ende erobert sich spätester Kapitalismus im 20. Jahrhundert nach vielen Vorläufen die Körper der Menschen zur Gänze mit der Vermarktung ihrer Geschlechtlichkeit als Teil eines allgemeinen Konsumismus. In der Konsequenz wird derzeit von Politideologen, den üblen Nachfolgern der Priesterschaft, eine Neudefinition des als Ware anerkannten und darum ihrer Ideologie zugänglichen menschlichen Körpers auch in diesem Bereich propagiert.

 

 

***Konkurrenz: Krieg mit anderen Waffen***

 

In der (außermenschlichen) Natur findet eine "gnadenlose" Konkurrenz um Lebensraum und darin befindlichen Ernährungsmöglichkeiten statt und zudem  um den optimalen Fortpflanzungserfolg. Sie macht das aus, was in der Ökologie als Wissenschaft betrachtet wird. Soweit unterscheidet sich der Mensch bei aller Abartigkeit nicht von den übrigen Lebewesen. Im weitesten Sinne impliziert solche Konkurrenz immer Gewalt, wobei deren eklatanteste Form spätestens seit den frühen Zivilisationen der Bronzezeit der Krieg ist, das Töten, Verletzen und Zerstören im herrschaftlichen Machtkampf .

 

Konkurrenz bei Produzenten und Händlern setzt einen entfalteten Markt voraus und gewinnt erst dort an Bedeutung, wo beide jeweils mehr anbieten, als unmittelbar nachgefragt wird. In der Nachantike und bis tief in unsere Schwellenzeit hinein wird an zumindest sehr vielen Produkten oft deutlich weniger angeboten, als Bedarf besteht, insbesondere bei Nahrungsmitteln und anderen Elementaria. Das wird sich dann in den nächsten Jahrhunderten ändern. Aber Konkurrenz ist natürlich nicht nur die innerhalb einzelner Warensparten, sondern überhaupt die um die gesamte Kaufkraft auf einem Markt.

 

Diese Konkurrenz verbindet sich seit dem 10. Jahrhundert immer heftiger mit jener potentiell bzw. real gewalttätigen, mit der Herren via Waffen um Macht konkurrieren, indem Produktion und Handel Kampf und Krieg finanzieren. Dazu ist noch einmal darauf zurückzugehen, dass Herrschaft erst dort entsteht, wo potentielle Untertanen beginnen, genug zu produzieren, um Herren zu ernähren bzw. zu finanzieren. Herrschaft ist die Aneignung von Produkten und  Diensten derjenigen, die damit zu Untertanen werden und sie dient nach innen genau zu diesem Zweck, während sie nach außen als eine Art Beute suchendes Raubtier agiert.

 

Immer wieder betonen Historiker, Herrscher würden wenigstens bis in das große Kolonialzeitalter oder gar bis in den Merkantilismus keine eigentliche Wirtschaftspolitik betreiben, aber ihr Metier ist mehr oder weniger, aber dafür immer das der Bereicherung aus dem Wirtschaften Untergebener heraus. Neben gelegentlichen Raubzügen ist die Förderung der Sphäre, an der sie sich bereichern, ihr Hauptaugenmerk von Anfang an.

 

 

Auf einem Markt sind alle Beteiligten Konkurrenten. Insbesondere ist Kapital als Prozess Wachstum, wo es nicht wächst, verschwindet es. Kapitalkonzentration ist also seine Existenzgrundlage, wobei größere Firmen kleinere vernichten, - sie haben gar keine andere Wahl. Auf der anderen Seite konkurrieren auch Konsumenten, und zwar, indem sie Waren nachfragen: Sie treiben allerdings dabei die Preise hoch.

 

 

***Kapitalismus heute?***

 

Zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert findet keine industrielle "Revolution" statt, aber eine enorme Beschleunigung kapitalgetriebener Zerstörungsprozesse. Mit dem Einsatz von Dampfkraft beginnt die Verstärkung und partielle Ersetzung menschlicher Arbeitskraft, die gleichzeitig aber immer mehr Industriearbeiter verlangt. Produktionsprozesse werden so beschleunigt, dass Industrie das produzierende Handwerk zerstört. Parallel dazu wird Landwirtschaft Schritt für Schritt zwecks Produktionssteigerung mit neuen Geräten, Maschinen und Chemikalien ausgestattet, was einen Druck auf Kapitalisierung auslöst, dem in der Konkurrenz immer mehr bäuerliche Landwirtschaft erliegt, welche in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern durch industrialisierte Nahrungsproduktion abgelöst wird.

 

Mit dem Kolonialzeitalter teilt sich die Welt in zunehmend kapitalistische Länder und solche, die ihnen Nahrungsmittel und Rohstoffe liefern. In ersten kapitalistischen Ländern gelingt es seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, über Massenproduktion immer mehr Konsumenten zu bedienen. Da immer mehr von ihnen unselbständige Arbeit leisten, müssen sie zugleich soweit entlohnt werden, dass sie sich mehr Konsumgüter leisten können. Damit bekommt eine sogenannte Arbeiterbewegung eine den Kapitalismus fördernde Funktion, welche man über einzelne Parteinamen hinaus als sozialdemokratisch bezeichnen kann, und wird ein Stück weit in die Machtstrukturen integriert.

 

Arm und reich?

 

Die Menschen zugeordneten Attribute arm und reich gehören zu jenen "Selbstverständlichkeiten" einer schon lange vorherrrschenden Geschwätzigkeit, die eben deshalb nur so vor Unklarheit triefen; dies nicht nur, weil sie nicht klar bzw. völlig beliebig quantifizierbar sind, obwohl sie sich überwiegend auf Quantitäten beziehen, sondern auch, weil sie gerne mit religiösen, moralischen oder politischen Ideologien unterfüttert sind, die sowieso alle der Verunklarung dienen. Für Wörter wie Wohlstand gilt dasselbe.

Gemeinhin wird Armut als Mangel an Besitz und Konsum verstanden, und Reichtum entsprechend: Beide benennen dabei eine tatsächlich wahrnehmbare Relation, sie sind also "relativ". Dies sind sie auch durch die Zeiten, denn eine heutige konsumistisch orientierte mitteleuropäische Bevölkerung betrachtet weithin das Konsumniveau und das Warenangebot früherer Zeiten als ärmlich.

 

Tatsächlich entwickeln sich Unterschiede in Besitz und Konsum bereits dort, wo bäuerliche Kulturen der Jungsteinzeit sich auf dem Weg der Umformung in Zivilisationen befinden, beruht doch die Machtergreifung von (nunmehr) Herrschern auf einem hinreichenden Besitz und Einkommen, mit denen ein Anhang geschaffen werden kann, der die entsprechenden Gewaltakte vollzieht. Zugleich ist dann erster Sinn der Einrichtung zivilisatorischer Strukturen die Bereicherung derjenigen, die nun einen institutionalisierten Machtzuwachs haben, indem sie nunmehr den Untergebenen etwas von ihrer Arbeitskraft und/oder deren Produkten wegnehmen können.

 

Soweit wir heute davon wissen, sind es Priester, die mit ihren Konstruktionen die nunmehr extreme Ungleichheit in Eigentum und Konsum (aus Einkommen) als gottgewollt rechtfertigen, und dies wird sich im Christentum noch verstärken.

Zwar gibt es spätestens seit dem 12. Jahrhundert nur wenigen bekannte Versuche ökonomischer "Theorie", die rationale Erklärungsversuche hinzufügen, aber erst im 18. Jahrhundert beginnen sich bei den wenigen Belesenen auch Ablösungsversuche von den religiösen Rechtfertigungen zu verbreiten, die dann zwischen Rousseau und Marx in ihrer Ablehnung enden und bei den etablierten Wissenschaftlern in einer Rechtfertigung nunmehr nur noch mit Vernunftgründen.

Danach ist es naturgemäß und damit vernünftig, dass der Klügere, der Talentiertere und der Stärkere erfolgreicher sind als ihr Gegenteil. Dies wird in diesen Erklärungen aber dadurch arg konterkariert, dass das Erbrecht die Schere zwischen arm und reich aber auch für die Dümmeren, Unfähigeren und Schwächeren zumindest aufrechterhält. Zudem sind alle Machtapparate, in denen Menchen nun leben, darauf ausgerichtet, den Reicheren ihren Reichtum und Wohlstand zu erhalten bzw. im Falle von Umstürzen einer neuen Schicht von Reichen nun neuen Reichtum zu garantieren.

 

Möglicherweise ist in den meisten Zeiten das wichtigste Erklärungsmoment das der "Aufrechterhaltung der Ordnung", die immer die jeweils bestehende ist. Mit ihren Macht- und Besitzstrukturen ist sie zugleich auch das einzige Schutzelement - vor illegalem Diebstahl im Unterschied zu dem geregelten der Machthaber, der weniger destruktiv erscheint, vor Raub, Mord, Totschlag und Vergewaltigung. Dies ist wichtig, denn Zivilisationen mit ihren (oft latenten) Gewaltstrukturen sind erheblich gewalttätiger und brutaler als frühere Kulturen. In unserem Zeitraum vom 10. bis 15./16. Jahrhundert ist entsprechend ordo ein wichtiger, vieles bezeichnender Begriff, aber immer wird darunter angemessene "Ordnung" verstanden.

 

Im 10. Jahrhundert im römisch-katholischen Abendland besitzen längst wenige, nämlich Bischöfe, Klöster und weltliche Herren, den größten Teil des Landes, und auf diesem wird ihr Reichtum durch die vielen erzeugt, deren bloße Subsistenz zwar (ebenfalls mittels ihrer Arbeit) einigermaßen gewährleistet ist, denen aber der zum Teil erhebliche Luxus, den die wenigen Herren genießen, nicht möglich ist. Sie pendeln also zwischen Identifikation, also Bewunderung, und in der Regel wohl leisem Murren oder gottesfürchtiger Hinnahme.

 

Da die Rechtsverhältnisse und andere Gegebenheiten der abhängigen Bauern unterschiedlich sind, gibt es unter ihnen auch ärmere und wohlhabendere, wobei die Unterschiede aber aus heutiger Sicht gering bleiben. Daneben gibt es noch freie Bauern, die oft ebenfalls am Rande der Subsistenz leben, unter denen es aber ebenfalls Unterschiede in Besitz und Einkommen gibt.

 

Schließlich gibt es noch die kleine und langsam wachsende Gruppe von Handwerkern und Kaufleuten/Händlern samt etwas Lohnarbeit in den Städten. Wohlhabend werden von ihnen im wesentlichen erfolgreiche, aber eben auch seltene Fernhändler, wiewohl sie wohl kaum damals an den Reichtum hoher geistlicher und weltlicher Herren herankommen, die ihre wichtigsten Kunden sind.

 

Vom 10. bis 16. Jahrhundert wird sich eine steigende Diversifizierung in den einzelnen Gruppen der Bevölkerung erkennen lassen: Über die sich fast ununterbrochen entwickelnde Kommerzialisierung der Landwirtschaft wird es in Westeuropa eine Zunahme wohlhabenderer Bauern und eine diversifizierte Steigerung ihres Wohlstandes und dabei zugleich eine Zunahme verarmender und in die Lohnarbeit in Land und Stadt sinkender Bauern geben, also so etwas wie Proletarisierung.

Dasselbe geschieht mit dem von ihnen lebenden Adel, der allerdings steigenden Wohlstand nur dort erreicht, wo er sich auch in andere Geschäfte begibt oder aber genügend Grundherrschaft innehat, während der niedere Adel mit seiner ganzen Ritterlichkeit manchmal sogar bis in relative Armut absinkt.

In den Städten werden sich wohlhabende und ärmere Zünfte herausbilden und es wird ein immer größeres Proletariat von Besitzlosen entstehen, die nur gelegentlich etwas über die schiere Subsistenz hinaus erreichen, manchmal aber eben bettelarm werden.

Überregionaler Handel wird die häufigste Lösung sein, um als unteradeliger "Bürgerlicher" zu erheblichem Reichtum aufzusteigen, der dann am Ende bis zum Einkaufen in den Adel mit entsprechender Lebensführung führen kann.

 

 

Der Bruch mit dem Mittelalter

 

Fabriksystem, Untergang des Handwerks und Industrialisierung der Landwirtschaft

"Aufklärung"

Verwissenschaftlichung

Politische Theoriebildung als alleinige Rechtfertigung von Machtausübung

 

Geschichtsschreibung: Die Geschichte der Wenigen und die vielen Anderen

 

An das Unheil der Geschichte schließt sich das Unheil der Geschichtsschreibung fast lückenlos an.

 

Geschichte handelt von Geschehen, welches naturgemäß immer zugleich Vergangenheit ist. Soweit es nicht wie fast alles vergessen wird, also soweit es erinnert wird oder neu entdeckt werden kann, verwandelt sich das Geschehen in Geschichten, die manchmal in Verbindung gebracht werden können, mit denen man sich auseinandersetzen kann, und die immer neue Horizonte in Zeit und Raum erschließen.

 

Geschichte ist keine Wissenschaft wie die mathematisierten und technik-orientierten Naturwissenschaften, aber sie kann sich der Kriterien wissenschaftlicher Verfahrensweisen bis zu einem bestimmten Punkt bedienen. Am Ende ist sie so subjektiv, wie Subjektivität den Menschen nur interessant machen kann, sie ist so subjektiv wie das Interesse, welches dahintersteckt, mag es auch nach Verallgemeinerung streben.

 

Schließlich ist Geschichte immer Erzählung, Bericht, Untersuchung, und darum selbst im besten Fall höchstens ähnlich dem, was einmal war. Das hat dann auch etwas mit den Zufälligkeiten von Erinnerung zu tun, von Fundstücken und Überlieferungen, und natürlich mit den Interessen des Erzählers.

 

Kenntnisse von irgendeiner Vergangenheit haben wir umso weniger, je mehr uns Texte fehlen: Geschichte ist immer ein Text, und er handelt vorwiegend von dem, was sich in Text fassen lässt. Schon dadurch geht fast die ganze Vergangenheit völlig verloren. Knochen, Gebäude. Werkzeuge, Artefakte und ähnliches erlauben nur blasseste Spekulation über das, was von vergangenen Menschenaltern handelt, wenn wir nicht wenigstens in Texten Menschen "lauschen" können, die dazu gehörten.

 

Nun ist aber über die Überlieferung Geschichte bereits ganz ungeheuer einseitig: Von den meisten Menschen "wissen" wir gar nichts, von den meisten übrigen fast nichts, und mehr nur von ganz, ganz wenigen. Dies sind die Wenigen, von denen wir Schriftliches überliefert haben, und je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto weniger wird das, - und wenn wir uns in Richtung "Gegenwart" bewegen, handelt es sich andererseits um eine längst unüberschaubare Masse an "Quellen", die unter den Bedingungen des Buchdrucks und dann später der Massenproduktion immer weniger über Menschen und immer mehr über den Warencharakter der Produkte verraten, während sich die Menschen zunehmend dahinter verbergen.

 

Das Problem der Einseitigkeit wird aber erst dadurch so recht schwerwiegend, dass Vorgänge des Wandels, des Betreibens von Veränderung, die gerade auf diesen Seiten hier auch betrachtet werden sollen, vornehmlich von ganz wenigen nur betrieben wurden, die dadurch in unserer Wahrnehmung eine besondere Prominenz erhalten. Die Geschichte ist soweit die der wenigen Erfinder und nicht so sehr die der Mitmacher und Nachahmer, sie ist eine der besonderen Talente und Antriebe, wie sie nur wenigen zuteil wurden - im Guten wie im Bösen. Und schließlich ist sie eine der Prominenz der großen Machthaber, die seit Jahrtausenden mit dem Hang von zu "Volks"massen umgeprägten Menschen rechnen dürfen, ihr Leben nicht selbst und zugleich gemeinsam verantworten zu müssen.

 

In dem, was wir hier als Geschichte betrachten, ist dann noch etwas wichtig: In der Regel wissen die Beteiligten nicht, was sie anrichten, welche Folgen es hat und ignorieren die fatale Differenz zwischen Absicht und tatsächlicher Wirkung. Wenn Geschichte im Rückblick dem naiven Betrachter plausibel, konsequent, logisch linear erscheinen mag, so war und ist genau das im Vorausblick immer illusionär. Die Logik des Rückblicks ist eine Konstruktion des Betrachters. Auch insoweit ist Geschichte reine Ansichtsache, und die Blickrichtung verändert den Gegenstand in ganz erstaunlichem Maße.

 

 Zwischen Herodot und dem einsam herausragenden Thukydides entwickelt sich eine zunehmend weniger dem Hörensagen gehorchende und kritischere, analytischere griechische Geschichtsschreibung. Erst relativ spät beginnen Römer die eigene Geschichte aufzuschreiben, nämlich seit den punischen Kriegen, und entsprechend werden römisches Machtstreben und die Interessen der Reichen und Mächtigen ungeniert propagiert. Mit den Bürgerkriegen kommt dann mehr oder weniger ideologisch verbrämte Parteinahme für einzelne Machtfraktionen hinzu. Das Entsetzliche an dieser Geschichtsschreibung ist aber vor allem, dass sie im wesentlichen von Kriegen und Machtkämpfen handelt, von Gewalttätern vor allem, von denen ein Teil auch noch gefeiert wird. Die allermeisten Menschen tauchen nur summarisch als das massenhafte Menschen-Material dieser Halunken auf und wir erfahren nicht einmal exemplarisch etwas von ihrem Leben. 

 

Das wird seit Livius 'Ab urbe condita', welches schon ins Prinzipat mündet, über Tacitus bis zu den letzten weströmischen antiken Autoren nicht besser. Tiberius lässt ein prorepublikanisches Geschichtswerk verbrennen und bekommt dafür von Velleius Paterculus eines, welches ihn lobt. Auf Lucans sogenannte 'Pharsalia', welche Cato feiern, folgt der präventive Suizid des Autors.

 

Tacitus beklagt das Ende eines idealisiert-aristokratischen Römertums:

Das Werk, das ich beginne, enthält eine Fülle von Unglück, berichtet von blutigen Kämpfen, von Zwietracht und Aufständen, ja sogar von einem grausamen Frieden. Vier Fürsten fielen dem Dolch zum Opfer, drei Bürgerkriege wurden geführt, noch mehr Kriege mit auswärtigen Feinden, beide Arten meistens zur gleichen Zeit. (...) Sklaven wurden bestochen gegen ihre Herren, Freigelassene gegen ihre Patrone und, wenn ein persönlicher Feind fehlte, der wurde ein Opfer seiner Freunde. (Historien I)

 

Die Identifikation mit dem eigenen Imperium und den oder ausgewählten Reichen und Mächtigen bleibt durchgehender Standard. Autoren wie Sueton oder Sallust werden dann nicht nur stilistische Vorbilder für mittelalterliche Geschichtsschreibung, in der die eigenen Herrscher und Machthaber meist mit Lobhudelei versehen und ihre Gegner diffamiert werden. Ganz offen sagt das zum Beispiel einer der Gebildeteren, Otto von Freising in seinen 'Gesta Frederici', also dem Tatenbericht Kaiser Friedrichs I.: Die Absicht (intentio) aller, die vor uns Geschichte (res gestas) geschrieben haben, war es, so meine ich, die glänzenden Taten tapferer Männer (virorum fortium clara facta) zu preisen (... OttoGesta, S.114). Und er wird genau das für seinen Kaiser und Verwandten tun. Da es sich seit dem Ende des weströmischen Imperiums für rund tausend Jahre um geistliche Autoren handelt, Bischöfe, Mönche, Äbte, kommt zur weltlichen nun die kirchlich-religiöse Propaganda hinzu.

 

Die moderne Geschichtsschreibung mit wissenschaftlichen Kriterien ist im Umfeld eines späten Kapitalismus entstanden und von diesem notwendig geprägt worden. Die Unterordnung der Menschen unter das Kapital als magische sowie handfeste Abgabe von Lebendigkeit an dasselbe, die zugleich ja Ein- und Unterordnung in eine Hierarchie von Agenten und Agenturen seines Verwertungsprogramms ist, die Ausweitung der Gratifikationen und Kompensationsmöglichkeiten - Lebendigkeit aus zweiter Hand - die sich immer rapidere Ausweitung der Zerstörung alles Lebendigen auf der Erde zugunsten einer Welt toter Waren, --- all das wurde ignoriert durch eine Begrifflichkeit, die ich als neuzeitlich idealistisch bezeichne und in der eine hochgradige Verklärung des kapitalistischen "Fortschritts" als Heilsreligion veranstaltet wird. Der Umgang mit Wörtern wie "Freiheit", "Gleichheit", "Demokratie", "Wohlstand" u.v.a. vergoldet den oft vergleichsweise behäbigen Alltag von Verbeamteten der "Wissenschaft". Das Schulterklopfen der staatlichen und privaten Geldgeber war und ist ihnen so gewiss wie die fehlende Beunruhigung angesichts dessen, was Menschen so anrichteten und weiter anrichten.

 

Diese Geschichte ist eben auch eine der Wenigen, die sie als "Wissenschaft" betreiben, fern jeder Öffentlichkeit der weit mehr als 99% der Bevölkerung, die sie auch ganz praktisch fast überhaupt nicht bemerken, weil sie sich dafür nicht die Zeit nehmen und wohl auch schnell intellektuell überfordert sind. Dabei kommt es reichlich unreflektiert zu einer ganz besonderen Bindung zwischen den Historikern und denen, die sie kommentierend begleiten und gerne derart ein wenig adoptieren.

 

Das Problem der Geschichte von Wenigen für Wenige hat allerdings auch eine ganz andere Seite; - unter den Bedingungen von Zivilisationen spätestens seit der griechischen und römischen Antike werden die meisten Menschen nicht nur von der Geschichtsschreibung als entindividualisierte Massen betrachtet, als Material für diejenigen, die "Geschichte machen", als manipulierbare Klientel der Mächtigen, sondern sie sind auch nur allzu oft tatsächlich dazu gemacht worden. Zivilisationen verlangen brave und möglichst gedankenlose Untertanen, und zwar sehr viele, nicht zuletzt solche, die als städtische "Volks"massen, besser, als urbane "Bevölkerung" Untertänigkeit, Schutz und Versorgung verlangen - und sonst gar nichts.

 

Leute, die in Armeen und Manufakturen hineindomestiziert werden, in, Grundherrschaften, Plantagen und Bergwerke, in staatliche Schulen, Büros und Fabriken, und die dafür als Preis Drogen und Amüsierprogramme geliefert bekommen, Leute, die sich einer steten Propaganda-Berieselung von oben ausliefern und ausgeliefert werden, sind nicht nur individuell kaum noch beschreibbar, ihre Individualität ist auch kaum noch im nachherein verifizierbar. Und so sind sie in den Geschichtsbüchern üblicherweise der anonyme Stoff, aus dem die Namhaften und Benennbaren "Geschichte machen", sie sind Kanonenfutter, Arbeitskraft, Jubel- und Stimmvieh.

 

Das Erschreckende dieser Liebe zur Untertänigkeit, ein Komglomerat aus Faulheit, Bequemlichkeit, Dummheit, Angst und Feigheit, hat sich am deutlichsten in den letzten Jahrhunderten in jenen sogenannten "Revolutionen" entfaltet, in denen eine machtgierige Clique eine andere "im Namen des Volkes" der einer "Klasse" abzulösen versuchte, und die, soweit erfolgreich, oft von den Protagonisten der modernen Geschichtsschreibung im Namen eines fast schon theologisch schöngeredeten Fortschritts hochgejubelt werden, bis hin zu den Lobreden auf derzeitige "Demokratien".

 

Es lässt sich aber ganz allgemein beobachten, dass sich mit der Zivilisierung, also der Zerstörung von Kulturen und der Schaffung untertäniger Massen eine allgemeine Neigung dieses längst geduckten "Volkes" zur Identifikation mit der Macht zeigt, eine Neigung zur Abgabe von Verantwortung an die Mächtigen auch auf Basis eines zunehmenden Unverständnisses der komplexer werdenden (eigentlich eigenen) Lebenszusammenhänge. Diese lässt sich wohl anthropologisch-biologisch mit der eingeborenen Neigung zur Faulheit und damit auch Verblödung von Säugetieren erklären, die in Gefangenschaft gehalten und dabei durchgefüttert werden. In den menschlichen Zivilisationen kommt dann als Kompensation noch die Vorhaltung von Amüsement dazu, höchste Gratifikation für Menschen, die von den Mächtigen als Nutztiere besonderer Art gehalten werden.

 

Gegen eine solche jahrtausendealte Historie, die man auch als interessegeleitete Geschichtsfälschung innerhalb eines kleinen Zirkels Interessierter bezeichnen kann, anzuschreiben, ist enorm schwierig. Zweimal gab es bislang Anstöße, es anders zu machen, einmal unter dem Einfluss von Karl Marx, was immerhin das Interesse vor allem von Frankreich ausgehend ein wenig in neue Richtungen lenkte, und dann in der BRD, als der Schock des Dritten Reiches und der Zerstörung Deutschlands im verlorenen Krieg seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein wenig zu wirken begann. Aber das hat die weitere Ideologisierung der Geschichte jeweils nach den neuesten Moden nicht aufhalten können und die zunehmende Zerstörung der deutschen Sprache und die nicht mehr nur mit Mitteln der Diffamierung betriebende Dogmatisierung einer politischen Korrektheit, die inzwischen deutlich an die Methoden der Bolschewiken und Nationalsozialisten gemahnt und in manchem bereits über sie hinausgeht, tut ihr übriges.

 

Aber einen Versuch hier soll es eben doch wert sein!