VORAUSSETZUNGEN UND DEFINITIONEN (Zusammenfassung der Anhänge 1-6)

 

 

Kapital und Kapitalismus zum ersten

Wirklichkeit - Mensch - Welt

Natur und Kultur

Aggression als Natur

Kultur zum ersten

Kultur als Prozess: Sigmund Freud

Machtergreifung: Der Übergang zu Zivilisationen

Zivilisation

Die doppelte Zähmung der Aggressionen

Städtische Zivilisationen

Hellas und frühes Rom

Kaiserreich

Palästina und Jesuaner

Frühes Christentum

Das vierte Jahrhundert

 

 

Auf der Suche nach den Anfängen des Kapitalismus bin ich zunächst einmal immer früher in einem sogenannten Mittelalter zurückgeschritten, bis ich im 10./11. Jahrhundert innehalten konnte, um dort Voraussetzungen und erste Ansätze zu entdecken. Aber Geschichte ist ein Kontinuum in Zeit und Raum, und sie wird nur verständlich, wenn man sich dabei ein Bild vom Menschen verschafft, welches nicht vollständig sein kann, wenn es nicht von seinen Anfängen her durchdacht und verstanden wird. So kam ich zu den antiken Zivilisationen, und da auch diese nicht verstanden werden können ohne ihre Voraussetzungen in frühen Kulturen, bin ich zwar nicht bei Adam und Eva, aber doch bei dem gelandet, was von frühen Menschen bislang einigermaßen bekannt ist. Aber bevor von ihnen in einem extrem kurzen Abriss ausgegangen wird, ist zunächst wenigstens ansatzweise einiges Grundsätzliches voraus zu schicken, und grundsätzlich sind immer Begriffsbestimmungen. 

 

Kapital und Kapitalismus zum ersten

 

Wenn hier, einige Groß-Kapitel weiter, die Ursprünge von Kapitalismus im 10./11. Jahrhundert des lateinischen Abendlandes gesehen werden, dann wird bereits deutlich, wie wenig wir von ihnen wissen können. Es gibt für diese Zeit wenig an Texten und eher noch weniger archäologische Funde, die uns hier helfen könnten. Noch schwieriger wird es, wenn wir uns mit den noch früheren Voraussetzungen für diese Wendezeit in ein abendländisches Mittelalter beschäftigen: Die vielen dicken Bücher über solch frühe Zeiten täuschen Kenntnisse vor, wo es zum großen Teil um Glauben, Meinen, Vermuten und Erschließen geht.

 

Schlimmer noch steht es um die oft in ihren Texten unreflektierte und unklare Begrifflichkeit, derer sich (die heutzutage meist staatlich finanzierten) Historiker gerne bedienen, auch um einen stillschweigenden Konsens zu demonstrieren, ohne den sie nicht ihres Amtes walten und einen gewissen Lebensstandard für sich aufrecht erhalten können.

 

Fangen wir mit den zwei Kernbegriffen an und definieren sie zunächst einmal ganz grob, anstatt nur unreflektiert mit ihnen herum zu schwatzen: Kapital und Kapitalismus. Kapital, abgeleitet vom lateinischen capitalis, dem Adjektiv zu caput, dem Kopf oder Haupt, soll einmal als "Hauptsache" jenes geldwerte Gut bezeichnen, welches weder zur Schatzbildung noch zum Konsum, sondern ausschließlich zu seiner Vermehrung eingesetzt wird, wobei diese durch den Einsatz menschlicher Arbeit erfolgt; vor allem aber soll es den spezifischen Vorgang seiner Vermehrung benennen, - und Kapital ist wesentlich ein Vorgang.

Als Handelskapital taucht es vielleicht schon im bronzezeitlichen Assur, häufiger aber erst in der sogenannten Eisenzeit, dem ersten Jahrtausend (vor der Zeitrechnung) im Mittelmeerraum auf, seitdem Händler nicht mehr nur Dienstboten von Despoten sind, sondern selbständige Unternehmer werden. Diese gibt es bei Phöniziern und Hellenen. Schon bei ihnen und dann auch in der römisch beherrschten Antike lassen sich wohl auch Fälle von Finanzkapital und ein wenig von solchem in gewerblicher Produktion erkennen. Von Kapitalismus sind wir aber noch weit entfernt.

 

Ideologisierende Begriffsbildungen mit -ismen als Endungen sind - und das auch in diesem Fall - ein Ärgernis, und es wäre wünschenswert, wenn wir für Kapitalist und Kapitalismus bessere Wörter finden würden. Diese fehlen allerdings noch. Hier soll der Kapitalist, also der Kapitaleigner, jemand sein, der wesentlich die Vermehrung von Kapital betreibt, anders gesagt, sein Gut wesentlich als Kapital einsetzt. Entsprechend soll Kapitalismus die zunehmende Dominanz von Kapital über immer mehr Lebensbereiche der meisten Menschen bezeichnen. Kapital gibt es also lange, bevor Kapitalismus beginnt.

 

Kapitaleigner sind Menschen, und der Kapitalismus erfasst im Laufe der Zeit alle Menschen, ob sie es wollen oder nicht. Da es aber viele sehr verschiedene Vorstellungen vom Menschen gibt, von denen die meisten sich schnell als Glaubenssachen erkennen lassen, ist es nötig, mit den Menschen als historischen Wesen zu beginnen und zu erfassen suchen, was sie ausmacht, - und das vor allem, seit sie biologisch den heutigen im Großen und Ganzen ähnlich sind.

 

Dabei sollen übrigens Definitionen nicht aus irgendwelchen Kompendien hergeholt, sondern aus der menschlichen Geschichte abgeleitet werden, und zwar so, dass sie erkenntnisfördernd sind, auch wenn das einer jeweils modischen Ideologieproduktion abträglich sein sollte.

 

 

Wirklichkeit - Mensch - Welt

 

Wenn hier Geschichte als die der Menschen (und nicht nur einiger weniger) betrachtet werden soll, und wenn insbesondere die vielen Menschen und nicht nur einige wenige am Ende in einen Kapitalismus hinein finden, dann stellt sich als nächstes die Frage, wer wir eigentlich sind und später dann die, was das in Spät- und Nachantike genauer für Menschen waren.

 

Das Offensichtliche zuerst: Wir sind Lebewesen, Säugetiere und (etwas entartete) Primaten, Ergebnisse einer langen Naturgeschichte der Evolution. Das aber ist Kenntnisstand seit dem 19. Jahrhundert, von Charles Darwin zum ersten Mal formuliert und dann von Biologen verfeinert, schließlich von Nietzsche und von Freud noch einmal überdacht. Für (gläubige) Juden, Christen und ab dem siebten Jahrhundert auch Muslime sah das bis dahin ganz anders aus: Laut ihnen sind wir Menschen allesamt Geschöpfe eines Gottes, der mit uns etwas besonderes vorhatte und uns darum ganz von den anderen Lebewesen absonderte und uns sogar einen ganzen Schöpfungstag widmete.

 

Damit landen wir bereits im Reich der Sprache, welche uns schon alleine deswegen begleiten wird, weil in ihr nicht nur dieser Text stattfindet, sondern auch all das, was ihm als forschendes Denken voraus geht. Dabei stolpert der nicht gläubige Mensch sofort über zwei Wörter: Gott und Schöpfung. Laut heutigem Kenntnisstand schaffen sich aber Kosmos und Natur unentwegt aus sich selbst heraus, niemand hat sie erschaffen. 

Damit landen wir bei einem ersten kritisch zu betrachtenden Phänomen: Es gibt Wörter, Nomen (Namen) als Substantive ohne Substanz oder besser gesagt solche, die nicht Gegenstand unserer Erfahrung sind. Als Erfahrung bezeichnen wir dabei das, was seit dem 18. Jahrhundert definiert wird als Ergebnis wacher sinnlicher Wahrnehmung, die sich in Sprache ausdrückt, die aus vernunftgemäßen Konstruktionen besteht.

 

Gewiss gab es in der vorchristlichen Antike einige nachdenkliche Griechen und Römer, die damit bereits halbwegs einverstanden gewesen wären - wie zum Beispiel die Skeptiker. Aber die meisten Menschen damals wollten sich nicht mit dem begnügen, was man wissen kann, und erschufen sich einst eine Welt im Mythos und/oder stopften die Lücken des Nichtwissens mit Erfindungen ihrer Vorstellungskraft. Dazu gehörten Götter und magische Kulte, mit denen man mit ihnen in Verbindung treten kann.

Wissen wiederum kann man zum Beispiel, was mit Lebewesen geschieht, wenn sie gestorben sind. Aber das unangenehme Wissen um das, was nach dem Tod geschieht, nämlich die Verwesung, wird durch Phantasien über ein Leben danach in einem verschiedenartig ausgemalten Jenseits ersetzt. Eine Menge Wörter sind so Lückenbüßer für Nichtwisssen bzw. Wunschvorstellungen, die gegen unangenehme Tatsachen immunisieren sollen.

 

Mit Judentum, Christentum und später dem Islam kommt etwas neues dazu: Es gibt nur noch einen Gott und sein Volk sind die, die jeweils daran glauben. Dieser Gott repräsentiert nicht mehr wie oft frühere Götter Naturkräfte, und da er nicht mehr aus diesen abgeleitet werden kann, wird in "heiligen Schriften" dargelegt, wie er sich offenbart haben soll, was allerdings völlig unüberprüfbar ist. Dafür  bietet er nun menschlichen Phantasien von Allmacht, Allwissen, Wahrheit, ewigem Dasein, Grenzenlosigkeit und ähnlichem eine Vorstellungsfläche.

 

Menschen neigen also dazu, sich nicht mit dem abfinden zu wollen, was sie jeweils wissen können, sondern sich zusätzlich Vorstellungen zu machen, die man allerdings nur glauben kann, die also unüberprüfbar sind. Und genau deshalb, weil sie eigentlich haltlos sind, wird Glaube trotzig mit viel größerer Emotionalität vertreten als Wissen. Das gilt seit dem späten 18. Jahrhundert auch dort, wo Religion durch politische Glaubenssätze ersetzt wird.

 

Um das zu verstehen, ist es nützlich, zwischen Wirklichkeit und Welt zu unterscheiden, was einige wenige Nachdenkliche im Wesentlichen schon in der Antike konnten. Wir definieren dabei Wirklichkeit, die aus dem Tatigkeitswort Wirken, also aus Bewegung abgeleitet ist, als Bewegung in Zeit und Raum, und Welt als das, was wir aus davon Wahrgenommenem machen, indem wir es in Sprache fixieren. Welt enthält dabei meist jede Menge sehr unwirklicher Bestandteile aus Betrug und Selbstbetrug.

Damit taugt das Wort Realität für unsere Untersuchungen nicht, da diese auf Dingen, res, beruhen möchte, uns also Wirklichkeit als eine Summe von fixen Gegenständen vorgaukelt und die stete Veränderung von allem leugnet. Das ist Kern der Falle, in die uns oft Sprache führt, deren historische Kernbestandteile Namen sind, die wir nicht selten fiktiven Gegenständen geben - und dabei sogar zu Dingen substantivieren, was (tatsächlich) Tätigkeiten sind, Aktivitäten: Liebe, Arbeit, Gerechtigkeit und vieles mehr. In diesen Schein-Substantiven verliert die Wirklichkeit aber leicht ihre Substanz.

 

Wir Menschen brauchen für unseren Alltag die Illusion von Stabilität und konstruieren uns so eine uns gemäße Welt, die wir in Sprache festzuschreiben versuchen. Wir konstruieren diese Welt also mit den beschränkten Mitteln der Sprache, die sie auch entsprechend einschränken. Das erste Besondere an uns Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen ist dabei, dass wir als Sprachbegabte nicht mehr imstande sind, das, was uns die Sinne von Wirklichkeit jeweils vermitteln, einfach hinzunehmen: Wir sehen uns genötigt, ständig etwas daraus zu machen. Sprache ist darum nicht nur eine Errungenschaft der Evolution, sondern zugleich auch ein massiver Unheilsfaktor, wie die Geschichte der Menschen dann zeigt. Ihm wenigstens entgegen zu wirken kann nur gelingen, wenn sie im Nachdenken immer wieder kritisch hinterfragt wird.

 

Religion und jede andere Form von Gläubigkeit sind emotional aufgeladen, um die Verwandlung von Illusion in scheinbare Wirklichkeit zu unterstützen. Darum wird Glaube aus seiner spezifischen Schwäche heraus alles tun, um kritisches Hinterfragen zu unterdrücken und oft auch zu verfolgen. Als eine solche Religion entpuppt sich die christliche spätestens, seitdem sie sich unter Kaiser Konstantin mit der Macht verbündet hat und dabei selbst als Kirche eine solche wird. Im Besitz absolut gesetzter Wahrheiten, mit denen sich die kirchlichen Machtorgane bewaffnen, verfolgt sie nun bald nicht nur "Abweichler", sondern auch die ganze kultische Konkurrenz. 

Dabei wird aus der eigenen Entscheidung für die christliche Religion und Kirche eine, die mehr und mehr Menschen auch, zum Teil mit brutaler Gewalt, aufgezwungen wird. Da den Menschen dann die Möglichkeit, jenseits von kirchlicher Propaganda Welt zu konstruieren, offiziell genommen ist, und es jedenfalls bequemer ist, darüber auch gar nicht mehr nachzudenken, wird der jeweilige Glaube solange Bestand haben wie die Macht, die sich daraus begründet. Dasselbe gilt für Inhalte diverser heutiger Politpropaganda.

 

Apropos Wissen: Es beruht auf Kennenlernen und fasst darum keine ewigen Wahrheiten, sondern vorübergehende Erkenntnis, die durch immer neue Kenntnisse überholt wird. Damit ist auch alle Welt, mag sie auf Urteilen beruhen, die aus Kennenlernen resultieren, was also immer im eigentlichen Sinne Vorurteil vor einem revidierenden Urteil bedeutet, Ideologie, sobald sie geglaubt wird, - so wie selbst der moderne Glaube an (behauptete) Wissenschaftlichkeit nur Ersatzreligion bedeutet.

 

Apropos Wahrheit: Dies Wort taucht gemeinhin dort auf, wo es um Glaubenssachen geht, die entsprechend emphatisch vertreten werden. Das alleine schon sollte in uns Misstrauen auslösen. Die Etymologen führen dies Wort auf einen Grundbestand zurück, der den Bedeutungsraum von Vertrauen, Treue und Zustimmung umfasste, also den reiner Subjektivität. Das ist im englischen true noch enthalten.

Erfahrungsgemäß wird das Wort Wahrheit vor allem dort eingesetzt, wo es - oft - um unbewusstes Lügen, aber nicht selten auch um die ganz bewusste Lüge geht. In letzterem Fall hat es wenigstens einen rechtlichen Aspekt. Da es in unserem Text nicht um Wahrheit, sondern um versuchsweise Annäherungen an vergangene Wirklichkeit gehen soll, kann es hier nicht nützlich sein.

Die aus der lateinischen veritas abgeleiteten Adjektive vrai (französisch) oder verdadero (spanisch) sind hier im übrigen genauso wenig hilfreich.

(zu alledem siehe auch: Anhang1)

 

 

Natur und Kultur

 

Die Entstehung des Kapitalismus, so wie wir sie historisch verfolgen können, ist an bestimmte Verhältnisse in Teilen des lateinischen Abendlandes im frühen Mittelalter gebunden gewesen, welches wir hier etwas willkürlich mit dem 9. bis 11. Jahrhundert datieren. Diese wiederum sind aus der Geschichte der Menschheit hervorgegangen, und zwar unmittelbar aus den Zerfallsprodukten des antik-römischen Imperiums, die wir hier als Nachantike bezeichnen möchten. Deren Voraussetzung war das römische Kaiserreich und vorher eine Zeit städtischer Zivilisationen rund um das Mittelmeer. Vor diesen wiederum gab es vor allem im Niltal und den Flusstal-Oasen von Euphrat, Tigris und ihren Nebenflüssen große, despotisch regierte Reiche der Bronze- und Eisenzeit, die wiederum aus solchen jungsteinzeitlichen Kulturen hervor gegangen sind, die es am Ende schafften, soviel über das absolut Lebensnotwendige hinaus zu produzieren, dass es sich Priester und mit ihnen verbunden andere Machtgierige aneignen konnten, welche Kultur in Zivilisation verwandelten und so die Naturgeschichte der Menschen in eine institutionalisierter Machtgebilde verwandelten.

 

In einer Wirklichkeit als Kontinuum aus Raum und Zeit sind solche Epochen Hilfskrücken, mit denen wir versuchen, die Welt der Menschen übersichtlicher zu machen. Für die Jahrmillionen davor, in denen sich eine Naturgeschichte der Menschen bis hin zur Durchsetzung der biologisch heutigen Menschen abspielte, machen solche Epochalisierungen wenig Sinn.

 

Gemeinhin wird angenommen, dass der sogenannte homo sapiens um 300 000 begann, sich auf der Erde durchzusetzen. Mit dem aufrechten Gang, der Nutzung des Feuers und dem ausgiebigeren Gebrauch von Steinwerkzeugen beginnt die Zeit, in der frühe Menschen aus der Säugetierwelt der Primaten insoweit heraustreten, als sie ihre Umwelt nach und nach als Gegenstand ihrer (gedanklichen) Betrachtung wahrnehmen, als Objekt also, welches sich dann auch bildlich darstellen lässt und welches nach Ausbildung spezifischer Sprechorgane und eines entsprechenden Gehirns eben auch sinnlich wahrnehmbare "Wirklichkeit" in versprachlichte Welt verwandelt.

 

Um das etwas zu verdeutlichen: Umwelt ist hier nicht das vage Wort heutiger Polit-Ideologen, sondern die tatsächlich wahrnehmbare und erfahrbare Umwelt jedes Einzelnen. Wirklichkeit ist dabei die nicht (sprachlich) fixierbare und weithin auch nicht wahrnehmbare Veränderung, Welt ist das, was Menschen daraus machen, um sie an die bescheidenen Möglichkeiten ihrer Sinnesorgane und Gehirne zu adaptieren, im Kern nichts anderes als eine sich selbst unentwegt wieder verändernde Illusion.

Dabei presst Sprache, wie schon gesagt, stete Veränderung in das starre und scheinbar zeitlose Korsett von Worten, die jene Stabilität vortäuschen, für die vor allem Namen (Substantive) zuständig sind, nicht zuletzt eben auch durch Substantivierung verdeckte Vorgänge.

Dem dient neben den Sprechorganen auch das große Gehirn, welches eine verfrühte Geburt und entsprechend lange Hilflosigkeit des Kindes und damit die Bedeutung von Familie und Verwandtschaft bedingt. Mit dem Fehlen einer erkennbaren Brunftzeit und den dauernd gerundeten Brüsten der sexuell reifen Frau beginnt zudem eine stärkere Entkoppelung des Geschlechtstriebes von der schieren Fortpflanzung.

 

In diesem Vorgang der Menschwerdung, in dem Menschen immer mehr Welt konstruieren, die nicht nur Objekt ihrer Wahrnehmung, sondern auch Raum ihrer Machtentfaltung wird, wie beim Sammeln und Erjagen von Nahrung und der Auseinandersetzung von Männern um die attraktivsten Frauen, entsteht Kultur als die aus Erfahrung geborene jeweils optimale gemeinschaftliche Lebensform mitsamt einer Welt aus Vorstellungen, die dazu passen.

Das Besondere an diesen menschlichen Vorstellungen ist, dass im Laufe der Zeit wohl immer häufiger solche auftauchen, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit bzw. ihrer Erfahrung haben, und die manchmal schiere Wunschgebilde sind, wie die Vorstellung, dass der Tod nicht endgültig sei, oder dass unverständliche Kräfte, die in der Natur oder auch der unbelebten Wirklichkeit existieren, in gewissem Sinne zu Gesprächspartnern von Menschen gemacht werden könnten, für die sich dann am Ende Experten zuständig erklären. Wohl mit ihrer Hilfe und in ihrem Interesse werden dann solche "Naturkräfte" manchmal zu  - modern ausgedrückt - Göttern, Geistern oder Dämonen personalisiert, was am Ende dazu führen kann, dass damit eine "Welt" des Überirdischen, Übernatürlichen entsteht.

 

Nachdem sie nun schon einmal benutzt wurden, sollen nun auch die Begriffe Natur und Kultur geklärt, also recht eigentlich erst zu Begriffen gemacht werden, nachdem sie schon sehr lange, und auch bei Historikern, hinreichend unklar bleiben, um einer allgemeinen Schwatzhaftigkeit dienen zu können.

 

Die lateinische natura hängt mit dem Verb nasci zusammen, welches den Bedeutungsraum von "gebären" und "geboren werden" einnimmt, und entsprechend soll es hier die Sphäre aller Lebewesen umfassen, die des Lebens und des Lebendigen also. Im Interesse einer gewissen Klarheit ist also der Raum des Leblosen, mag er auch wie Vulkane oder Meereswogen viel Bewegung enthalten, nicht Natur, was alle die behaupten, die alles nicht Menschengemachte unter Natur einordnen möchten und dem Begriff so jede Klarheit nehmen. Schon gar nicht soll Natur im Jargon einer schon im Mittelalter zunehmenden und die Gegenwart heute überschwemmenden Eigentlichkeit ein "Eigentliches" oder "Wesen" von etwas benennen.

 

Die lateinische cultura gehört mit dem Verb colere zusammen, welches den pfleglichen menschlichen Umgang mit etwas und wohl ursprünglich den mit der Umwelt meint, wie beispielsweise in der Agrikultur. Hier sei er als Vorgang der Menschwerdung bis in die Zeit der Produktion von Nahrungsmitteln hinein und zugleich als Vielfalt von dabei sich entwickelnden Kulturen (im Plural!) definiert: Kultur ist hier so, anders als seit langem, nicht der Konsumsphäre, sondern eher der produktiven zugeordnet, und dazu gehört auch der Bereich der Fortpflanzung. In diesem Sinne werden mit den demnächst zu definierenden Zivilisationen, also institutionalisierten Machtstrukturen, Kulturen zerstört. Genau dieser Vorgang aber lässt sich ohne klare Definitionen überhaupt nicht erfassen, was so auch gewollt war und ist. Kulturen sollen also als sich aus Erfahrung selbst gemeinschaftlich definierende Lebensformen verstanden werden, und nicht die (oft legitimatorischen) Amüsierwelten kleiner privilegierter Kreise, die gerne dabei seit Jahrhunderten mit dem Wort Kultur diesen Bereich aufzuwerten versuchen, - und es ist schon gar nicht der Sektor eines postindustriell gefertigten konsumistischen Massenamüsements, als das "Kultur" inzwischen als eine Art Betäubungs- bzw. Rauschmittel auftaucht.

 

Wie alle Lebewesen erlebt sich auch der Mensch in Ernährung und Fortpflanzung notgedrungen als Getriebener, und Kultur entsteht in dem Maße, indem es Menschen gelingt, aus dann auch tradierter Erfahrung Gemeinschaften zu bilden, also gemeinschaftlich Ernährung zu bewältigen und Geschlechtlichkeit zu regulieren. Schon in Kulturen und auch später in Zivilisationen können dabei auch Gesellschaften entstehen, in denen sich Menschen aber nur zu einzelnen spezifischen Zwecken versammeln, wie z.B. die Gesellschaften von Adoleszenten in (inzwischen zerstörten) Südseekulturen oder wie die Bruderschaften und Zünfte des hohen und späteren Mittelalters. Hingegen macht es keinen Sinn, die Untertanen-Massen von Zivilisationen als Gesellschaften zu bezeichnen, da diese sich nicht zueinander gesellen, sondern von Machthabern durch Unterwerfung geschaffen werden, was etwas deutlich anderes ist.

 

 

Aggression als Natur

 

Mit der Entdeckung der natürlichen Evolution durch Charles Darwin wurde nach 1859 ein religiös begründetes Menschenbild und eine damit verbundene Konstruktion von Welt zerstört. Ungefähr in den zwei Jahrzehnten danach gelingt es Friedrich Nietzsche, daraus erste Konsequenzen zu ziehen: Kein Gott kann mehr Welt erklären und auf sie einwirken, Moral ist ein schieres Mittel (der in seinem Sinne Schwachen) Macht auszuüben, und der Urgrund menschlichen Daseins ist es, als Lebewesen wie alle anderen Macht auszuüben, und ich füge hinzu, um mit Essen und Trinken und vielem anderem solange zu leben, dass Kinder gezeugt und bis in ein Alter der Selbständigkeit betreut werden können.

Darwin erlebte und Nietzsche erkannte aber auch, dass solche Einsichten verheerende Folgen für eine naiv-gläubige Sicht auf Mensch und Welt haben, und entsprechend verweigern sich bis heute viele Menschen solchen eher beunruhigenden Einsichten und der Auseinandersetzung mit daraus erwachsenden Konsequenzen.

 

Der Vorzug von Nietzsches "Willen zur Macht" war es, das natürliche Getriebensein des Lebewesens Mensch auf einen Trieb zu beschränken, den er allerdings als "Wille" zumindest missverständlich benannte, während Sigmund Freud eine Generation später zumindest deren zweie annahm. Andererseits beschrieb dieser den geschichtsmächtigen Raum des Unterbewussten bzw. Unbewussten mit größerer Deutlichkeit, eine wenigstens so starke Kränkung des bisherigen abendländischen Menschenbildes wie die Entdeckung der Evolution alles Lebendigen, und dazu kamen dann noch zwei weitere Kränkungen: Die Beschreibung der enormen Macht des Geschlechtstriebes mit allen Weiterungen und damit verbunden des erheblichen aggressiven Potentials in den Menschen.

 

In der Überzeugung, dass ohne diese drei Denkanstöße von Darwin über Nietzsche bis Freud Geschichte als Wissenschaft eine akademische Hilfswissenschaft bleibt, soll hier darauf etwas näher eingegangen werden.

 

Darwins Evolution, Nietzsches Wille zur Macht und die Freudsche Auffassung von Triebhaftigkeit sind alle drei mit dem Phänomen der Aggressivität durchsetzt. Das haben einige Menschen schon früh verstanden und die anderen immerhin so erleben können. Dazu gehört Hobbes Satz vom Menschen als des Menschen Wolf (homo homini lupus) und gehören noch viel früher und wohl auch durchdachter die in Fragmenten erhaltenen Gedanken des Heraklit.

 

Heraklits polemos patér, jener gerne in "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" übersetzte Satz, meint im Kern wohl nicht Krieg, sondern Kampf und Streit, agon. Ich möchte das auf das Folgende konzentrieren: Das Säugetier Mensch ist einmal ein Raubtier insofern, als es sich von vorneherein nicht nur von Pflanzen, sondern auch von (zunächst rohem) Fleisch insbesondere von Säugetieren ernährt hat. Und es ist wie andere Tiere von jenem Kampf ums Dasein geprägt, der auch Konflikte mit Mitgliedern der eigenen Art mit sich bringt. Aggression und Gewalt sind ihm eingeboren und haben zu einem guten Teil den (bedenklichen) Fortschritt seiner Geschichte hervorgebracht und getragen. Soweit seine Naturgeschichte bis heute.

 

Das Wort Aggression leitet sich vom lateinischen aggredi, also u.a. angreifen, ab, kann aber auch anderes wie zum Beispiel "eine Sache anpacken" bedeuten. Hier soll es das bewusste oder implizite Durchsetzen eines eigenen Nutzens zum Nachteil eines anderen bedeuten und ist soweit ein Aspekt alles Lebendigen und zudem der, welcher die Evolution vorantreibt. Offensichtliche Aggression fällt immer dann kurz einmal aus, wenn gerade keine Konkurrenz besteht bzw. die Machtverhältnisse kurzfristig stabil geregelt sind.

Beim Menschen kann man insbesondere zwischen verbaler und ("physisch") gewaltsamer Aggression unterscheiden, und über das Individuelle hinaus geht das häufige gemeinsame aggressive Verhalten und die verabredete Intrige.

 

Aggression kann "kaltblütig" geplant sein oder aber impulsiv/situativ zustande kommen. Im letzteren Fall entspricht sie dem Geschlechtstrieb, denn beide bauen sich auf, werden ausgelebt und erschöpfen sich dabei für eine gewisse Zeitspanne, bis die entsprechende Energie wieder aufgebaut wird. Die Evolution in der lebendigen Natur ist selbst mit dem Überleben der am besten an die jeweilige Situation Angepassten ein aggressiver Konkurrenzkampf.

 

Es ist die Leistung Sigmund Freuds, als erster den konstruktiven Umgang des Menschen mit dieser seiner aggressiven Natur, ihre immer wieder neue Zähmung, als seine wesentliche Kulturleistung verstanden zu haben.

 

 

Kultur zum ersten

 

Kultur ist zunächst einmal die Leistung, unter den jeweiligen naturräumlichen Bedingungen jene Ambivalenz möglichst erfolgreich zu bestehen, die sich daraus ergibt, einmal der Natur immer bewusster gegenüber zu treten und zugleich ein Teil von ihr zu bleiben. Der Natur treten Menschen dabei sprachlich und in Bildern gegenüber und beginnen so, Welt zu konstruieren, wobei wohl auch unbelebte Welt manchmal wie Natur belebt gesehen wird. Dabei bleibt ein Teil der Menschen zunächst weiter in der Situation von wenig ortsgebundenen Jägern und Sammlern und unterscheidet sich in manchem noch nur wenig von anderen Tieren.

Ein anderer Teil beginnt in einigen Gegenden der Welt mit Gartenbau, Ackerbau und Viehzucht und tritt in der Züchtung von Pflanzen und Tieren nicht nur deren Geschlechtlichkeit bewusster gegenüber, sondern darüber auch der eigenen.

Gemeinschaftsbildung als Kulturbildung entsteht über die Regulierung von geschlechtlicher Triebhaftigkeit und übriger Aggressivität in Formen von Ehe, Familie und Verwandtschaft, über die dann auch noch Formen ideeller Verwandtschaft gesetzt werden, wie sie manchmal als Clan oder Stamm bezeichnet werden.

 

Garten- und Ackerbau kann dort, wo die Fruchtbarkeit von Böden schnell erschöpft ist, weiter ortsungebunden stattfinden, aber andererseits auch dort Sesshaftigkeit fördern, wo man Anbau und Brache geschickt wechseln kann.

An manchen Stellen bereiten sich Kulturen dabei dann durch eine gewisse Überproduktion, welche sich dadurch entstehende Machthaber aneignen können, ihr eigenes Grab.

 

In dieser extrem schematisierenden kurzen Darstellung lässt sich immerhin zusammenfassen, dass Kulturen auf Sprache, darüber vermittelbarer Erfahrung und mit ihr auf Tradition beruhen.

Dabei ist Kultur immer ein gemeinsamer Vorgang der Auseinandersetzung mit Natur, in dem sich Gemeinschaft bildet. Diese wird durch Kulte zusammen gehalten, in denen sich der Stand dieser Auseinandersetzung abbildet.

Zugleich kann man davon sprechen, dass miteinander verwandte bzw. ähnliche Gemeinschaften einer Kultur angehören, auch wenn diese dabei immer weiter ein Vorgang ist, der nicht dinglich reduziert werden sollte.

 

Die Stärke aller Kulturen besteht darin, dass sie keine Schrift kennen, welche Auseinandersetzung und Tradition durch schriftliche Festsetzung blockiert, wie das dann alle Zivilisationen tun werden. Für den Historiker bedeutet das aber, dass er ganz auf Archäologie und damit massive Spekulation angewiesen ist, also im wesentlichen auf Schlussfolgerungen. Wer aber andererseits die Geschichte der Menschheit auf die kurze Zeit der Zivilisationen reduziert, vermittelt einen völlig falschen Eindruck von ihr.

Die entscheidende Schwäche aller Kulturen gegenüber Zivilisationen besteht bis ins 20. Jahrhundert einmal darin, dass sie diesen waffentechnisch unterlegen und schon dadurch dem Untergang geweiht sind, zum anderen darin, dass sie leicht der Faszination einer von außen eingeführten Warenwelt erliegen, der gegenüber sie sich nicht selten naiv verhalten. Korrumpierend wirken zudem billiger Fusel und andere Drogen und vernichtend oft von Zivilisatoren eingeschleppte Krankheiten.

 

   
Kultur als Prozess: Sigmund Freud

 

Es gibt in Wirklichkeit keine Trennung zwischen inneren Bewegungen und äußerem Handeln der Menschen. Beide bilden eine Einheit. Von dem, was in Menschen in jenem Vorgang, den wir hier als Kultur verstehen wollen, vor sich geht, beschreibt Geschichte als Text bislang nur das, was sie als (scheinbare) Selbstverständlichkeiten der Reflektion entziehen möchte. Es war die Leistung des älteren Sigmund Freud, angesichts der untergehenden abendländischen Zivilisation in einer Anzahl kleinerer Schriften und Briefe das Innenleben der Menschen mit ihrem sichtbaren Handeln in Beziehung zu setzen. Dies leistete er durch Analogiebildungen und Schlüsse, die als Resultat der durchaus problematischen Psychoanalyse des Mediziners Freud entstammen.

 

Ein Kernsatz ist der folgende:

Diese Ersetzung der Macht des einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, dass sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der einzelne keine solche Schranke kannte. ('Das Unbehagen in der Kultur' III)

 

Als Erben eines abendländischen (versprachlichten) Bewusstseins können wir etwas anders formulieren, der Mensch wird vom Naturwesen zum Kulturwesen, oder besser, er entwickelt Kultur in der Natur. Dabei verwandelt er Unmittelbarkeit in kulturelle Vermitteltheit, solche, die nur solange erfolgreich ist, wie Erfahrung sie nicht bricht und nur solange, wie sie tagtäglich eingeübt wird.

 

Wenn wir Kultur als Vorgang der Vergemeinschaftung von Menschen verstehen, dann kommen da viele Dinge zusammen. Zu den wichtigen gehört die Vergrößerung des Gehirns nach der Nutzbarmachung des Feuers und dem dadurch ergiebigeren Fleischkonsum, verbunden mit der langsamen Verbesserung von Waffen und (vor allem auch gemeinschaftlichen) Jagdtechniken, zudem die aus der wachsenden Kopfgröße notwendig werdende Verfrühung der Geburt mit der Notwendigkeit längerer Versorgung der Kinder durch Entwicklung von Ehe und Familie samt Verwandtschaft, die Entwicklung eines Sprachzentrums im Gehirn in Verbindung mit entsprechenden Sprachorganen samt der so möglichen Menschen-spezifischen Konstruktion von Welt und vieles mehr.

 

Lust und Frustration

In all dem bewegen naturgegebene Aggression und damit verbunden das, was Freud das „Lustprinzip“ nennt, alle Vorgänge. Zu letzterem schreibt er:

Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dies Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparates vom Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt , mit dem Makrokosmos ebenso wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch „glücklich“ sei, ist im Plan der „Schöpfung“ nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. ('Das Unbehagen in der Kultur', II)

 

Um das deutlicher zu machen: Das Getriebensein in aller Natur äußert sich beim Menschen, sobald er in Sprache sich selbst (formulierend) gegenüber tritt, als Lust und Unlust. Das Streben nach angenehmem Gefühl trifft dabei bekanntlich immer wieder einmal auch auf seine Frustration, seine Vereitelung. Die Leistung von Kulturen besteht dann darin, in der Ernährung und im Geschlechtstrieb einmal Frustrationstoleranz zu erlernen, zum anderen sein Anspruchsniveau der jeweils vorhandenen Wirklichkeit anzugleichen: Kultur ist so die (jeweils) gelungene gemeinschaftliche Konstruktion von Welt.

 

Menschen entwickeln also im Prozess der Menschwerdung gegen die Bedrohungen, denen sie sich gegenüber sehen, Besonderheiten wie die Sprache und eine spezifische Geschlechtlichkeit, die wiederum, und zwar zugleich, das herausfordern, was wir Kultur nennen. Diese wiederum ist eine Form gemeinschaftlich entwickelter und vor allem individuell praktizierter Selbstbeherrschung.

 

Herr ist man immer über etwas oder jemand, und sei es nur ein wenig über sich selbst. Letzteres erreicht man auch über die Internalisierung der Ansprüche einflussreicher Anderer. Das betrifft sowohl Männer wie Frauen, auch wenn der "Herr" männlichen Geschlechts ist. Da der Vorläufer des deutschen "Herrn", was mit "hehr", mit "geachtet, würdig sein" zu tun hat (was der senior der römischen Antike war, der zum seigneur wie signore wird) aus demselben Stamm wie das Wort "Frau" herkommt, war diese sinngemäß die Herrin, wie sie denn auch in der frühen Neuzeit manchmal tatsächlich genannt wird, als die frouwe langsam ihre moderne Bedeutung erhält (sie löst das wîp ab, welches nun weiter abgewertet wird).

 

Im romanischen Raum des Mittelalters wird der senior durch die seniora ergänzt, und der volkssprachlich bis auf den "don" verschwindende dominus durch die domina, die zur italienischen donna (okzitanisch dompna) und zur französischen (ma)dame mutiert.

Insofern kann man getrost die (Selbst)Beherrschung auf Männer wie Frauen beziehen. Sie ist zunächst Verzicht auf das spontane Ausleben von Triebregungen, dann die Beschränkung der eigenen Emotionalität und am Ende in extremo die Auferlegung von Restriktionen auf das Gefühlsleben.

 

 

Sexualität

Der Geschlechtstrieb ist genauso aggressiv wie der nach Nahrungsaufnahme trachtende, er wird als genauso fordernd empfunden und geht genauso aggressiv vor. Das gilt bis hin zum aggressiven Eindringen des erregten Mannes in die zu befruchtende oder seinen Trieb einfach nur abführende Frau. Unter Menschenaffen gibt es eine ganze Palette offen aggressiven Verhaltens von Männchen gegenüber Weibchen. Die Erotisierung des Sexuellen verändert dann  das Verhalten und die Vorstellungen, nicht aber den Trieb selbst.

 

Im Moment der Bindung des Mannes an die Frau als Mutter seiner Kinder muss das aggressive Moment des Geschlechtstriebes in ein stärker konstruktiv-produktives umgeformt werden. Es ist davon auszugehen, dass die fehlende notwendige Übereinstimmung der Aspekte von Lust und Fortpflanzung in der Sexualität, die, wie Freud sagt, den ganzen Körper zur "erogenen Zone" machen können, und die sexuelle Interaktion damit ein Stück weit von dem Fortpflanzungsziel trennen, dabei helfen, den Sexus erotisch zu transformieren, so dass die konstruktiv-produktiven die aggressiven Anteile in gewissem Sinne übertreffen können.

 

Da die ausbleibende Befriedigung von Hunger und Durst zum Tod führt, wird sie in der Regel als erste Notwendigkeit erlebt und der Geschlechtstrieb gilt dann als sekundär. In Wirklichkeit aber gehören beide zusammen, damit Leben existiert. Zudem bewirkt der Umgang mit dem Letzeren beim Menschen Vorgänge, die aus der Verhaltensveränderung Veränderungen in ihm bewirken, die wiederum auf sein Verhalten einwirken. Für die Kulturbildung ist darum die menschliche Geschlechtlichkeit gleichrangig.

 

 

Da Leben nur möglich ist, indem es sich selbst hervorbringt, lässt sich erahnen, dass der Fortpflanzungstrieb überhaupt das Lebendigste, Intensivste ist, was wir von uns kennen. Tatsache ist nun, dass dieser Sexualtrieb – was sich bei Primaten schon andeutet – bei befriedigtem Hunger und Durst beim Menschen übermächtig wird: Abgesehen von den Besonderheiten von Kindheit und hohem Alter unterliegt er beim Menschen keiner saisonalen Periodizität mehr als der des Wechsels zwischen Aufbau und Abbau jener triebhaften Spannung, die nach Befriedigung drängt.

Tiere haben nur eine kürzere oder längere Fortpflanzungssaison, bei den kleinsten Affen ein Tag, bei Hirschen bis zu anderthalb Monate, die wohl am Geburtendatum hängt, welches durch Klima, Vegetation bzw. Verfügbarkeit von Beutetieren gebunden ist. Freud schreibt dazu:

Vermutlich hing die Gründung der Familie damit zusammen, dass das Bedürfnis genitaler Befriedigung nicht mehr wie ein Gast auftrat, der plötzlich bei einem erscheint und nach seiner Abreise lange nichts mehr von sich hören lässt, sondern sich als Dauermieter beim einzelnen niederließ. Damit bekam das Männchen ein Motiv, das Weib oder allgemeiner: die Sexualobjekte bei sich zu behalten; die Weibchen, die sich von ihren hilflosen Jungen nicht trennen wollten, mussten auch in deren Interesse beim stärkeren Männchen bleiben.('Unbehagen', IV)

 

Auch hier versucht Freud eine Analogie zwischen dem heranwachsenden Einzelnen und dem Prozess der Kulturbildung, der Menschwerdung im Allgemeinen herzustellen. Dabei zerstört er die Unschuldsvermutung beim Kind, wie sie das Christentum formulierte, und erklärt den Menschen von Anbeginn zu einem Geschlechtswesen. Die noch nicht genital fixierte kindliche Sexualität ist erst einmal ungerichtet und übt sich dann daran, beliebige und notwendige Objekte des Begehrens zu finden. Die des erwachsenen Menschen ist im Kern nicht mehr ausschließlich auf die Fortpflanzung ausgerichtet, sondern vermittelt sich primär als spannungslösende Befriedigung in der kurzen Phase bei ihm nun intensiverer Lust. Im Fetischismus erinnern sich Erwachsene an die kindliche Fähigkeit beliebiger Besetzung von Gegenständen mit ihrem nun genital zentrierten Begehren. In der Fetischisierung von Waren werden diese dann  jenseits unmittelbarer Nützlichkeit zu Objekten des Begehrens werden.

 

Es sei kurz angemerkt, dass die Erklärungsmuster Freuds wie die der unkritischen positiven Wissenschaften auf einer Welt aus Ursachen und Absichten beruhen. Dabei hat der Mensch sich nie absichtsvoll entwickelt, sondern die Evolution ruht jenseits aller seiner Absichten in sich selbst. Daraus wird zu erklären sein, dass kausale Erklärungsmuster, die aus intentionalen entstanden sind, die Dinge unserem Verstand anpassen und damit eine Welt konstruieren, die unsere Psyche beruhigen soll, deren bewusster Teil sich an Absichten und Ursachen orientiert. In kausalen Strukturen ist dann der Weg von der Erklärung zur Rechtfertigung nicht weit. Absicht und Ursache zerren dabei auseinander, was zusammengehört und was einst wohl vor allem in zeitlichen Relationen erlebt wurde.

 

Die spezifische menschliche Sexualität war wohl dasjenige Moment organischer Entwicklung, in dem der Mensch vor allem "zum Menschen wurde". Im Umgang mit ihr wurde er zum Kulturwesen. Dazu bedurfte es der sozialen Bindungen, aus denen Familie entstand. Diese sind aber nur möglich unter Einhalten von Verboten, die ein sich Versagen von Formen der Triebbefriedigung beinhalten, bzw. ein Hemmen des Sexualtriebes, wobei es Freud darum geht, was dabei im Menschen bzw. beim Menschen geschieht. Voraussetzung für das Verständnis ist, dass Triebe dort nicht weniger werden oder gar verschwinden, wo sie nicht ausgelebt werden, also Befriedigung finden, sondern an Kraft eher zunehmen:

Man darf sagen, die Aufgabe der Bewältigung einer so mächtigen Regung wie des Sexualtriebes anders als auf dem Wege der Befriedigung ist eine, die alle Kräfte eines Menschen in Anspruch nehmen kann. Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom sexuellen Ziele weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Lebenszeit feuriger Jugendkraft.

(...) Denn der psychische Wert der Sexualbefriedigung erhöht sich mit ihrer Versagung

(...) Das sexuelle Verhalten eines Menschen ist oft vorbildlich für seine ganze sonstige Reaktionsweise in der Welt. ('Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität')

 

Während der altsteinzeitliche Jäger und Sammler möglicherweise keine Bedenken hatte, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu ernähren und soweit im Tierreich verbleiben konnte, steht ihm irgendwann im sexuellen Bereich kein bedenkenloses Triebleben mehr zu. Die christliche Diffamierung des Geschlechtlichen hat hier ihren Ursprung, aber aus dieser maximalen Irritation erwächst im Zuge der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts auch ein Reflektionspotential. Dass dieses zunächst als Ärgernis auftaucht und dann im Warencharakter von Sexualität im Gegenschlag des 20. Jahrhunderts pornographisiert werden kann, deutet ebenfalls die enorme Macht des Sexuellen in der Menschheitsgeschichte an.

 

Die Tatsache des "Inter urinas et faeces nascimur" des Augustinus, wir werden  zwischen Urin und Faezes geboren (und auch gezeugt), führte wohl  dazu, dass die menschliche Geschlechtlichkeit neben der metabolischen Ausscheidung in Kulturen schambesetzt wurde und erst die vollständige Eroberung der menschlichen Körper durch das Kapitalinteresse hat das in der sogenannten "westlichen" Welt zunehmend reduziert. 

 

Aus alledem geht hervor, dass menschliche Sexualität ohne Kultur entweder anarchisch und chaotisch ist und damit die Art bedrohend, oder aber, unter den Machtstrukturen von Zivilisationen mit Hilfe von Priestern oder ähnlichen Progagandisten der Macht gelenkt und "von oben" für ihre Interessen kanalisiert wird. Was nun heute unter den Bedingungen der völligen Abkoppelung des sexuellen Begehrens von der Fortpflanzung geschieht, kann jeder um sich herum sehen: Das Absterben von Völkern einerseits und der biologische Triumph andererseits derjenigen, die weiter die (unheilvolle) Massen-Vermehrung der Menschheit betreiben.   

 

Aggression

Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgemeinschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. (Freud, 'Unbehagen in der Kultur', V)

Dabei sind die psychischen Reaktionsbildungen in vielem solche, die unbewusst bleiben, und allerdings: "Kultur" ist kein Subjekt der Geschichte, das ist in Kulturen vielmehr jeder Einzelne in Beziehung zu seinen Nächsten.

Im weiteren heißt es:

Für alles weitere stelle ich mich auf den Standpunkt, dass die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist, und komme darauf zurück, dass die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet. ('Unbehagen in der Kultur', VI)

Im Unterschied zu Freud sehen wir, wie schon angedeutet, Aggression nicht als Neigung und nicht als "selbständige" Triebanlage an, sondern als Kern der allen Lebewesen gegeben Lebendigkeit. Darüber hinaus scheint es sinnvoller, wohl eigentlich auch im Sinne von Freud, von den Triebhemmungen und dem domestizierenden Charakter von Kultur zu sprechen.

 

 

Die vitalen Triebe treten im Lebewesen nicht nur aggressiv fordernd auf, sondern sie werden auch aggressiv ausgelebt. Lebewesen ernähren sich von Lebewesen, vorwiegend solchen anderer Arten: Sie töten, lösen die Nahrung auf, verdauen sie und scheiden alles Unbrauchbare aus. Was natürlich ist, wird für den heutigen "zivilisierten" Menschen gerade mit seinem naturfern-christlichen Hintergrund und dessen profanen Weiterungen egoistisch und grausam. Die Leute, die sich heute im weitesten Sinne als "grün" verstehen, sind meist naturferner als jemals Menschen zuvor.

 

Leben ist darauf aus, zur Befriedigung des eigenen Interesses Leben zielgerichtet zu vernichten. Das hindert Menschen nicht am Appetit und der Nahrungsaufnahme, aber in Kulturen führt es zu Schuldgefühlen, die kultisch abgearbeitet werden. Der Ursprung dieser Schuldgefühle kann natürlich nicht in menschlicher Gewalttätigkeit liegen, sondern er muss dort liegen, wo ihre Wahrnehmung als solche möglich wird.

 

In Kulturen und mehr noch in fortgeschrittenen Zivilisationen führt dieser Vorgang zudem zum Ekel. Die menschlichen Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane und alles Ausgeschiedene selbst werden für den Gesichtssinn wie insbesondere für den Geruchssinn unleidlich. Wir stehen in einer besonderen Linie von Primaten, deren Geruchsorgane sich seit Jahrmillionen zugunsten einer besonderen Art des Sehens zurückgebildet haben. Das Riechen ist eben das stärker der Willkür entzogene Sinnesorgan, im Unterschied zum Sehen lässt es sich kaum vermeiden. Kulturen setzen bereits stärker auf das Auge.

 

Mit dem Ekel verbindet sich die Scham. An diesem Punkt beschreibt Freud, was er „organische Verdrängung“ nennt, (...) „die den Weg zur Kultur gebahnt hat“, - etwas versteckt in eine Anmerkung:

Es wäre auch unverständlich, dass der Mensch den Namen seines treuesten Freundes in der Tierwelt als Schimpfwort verwendet, wenn der Hund nicht durch zwei Eigenschaften die Verachtung des Menschen auf sich zöge, dass er ein Geruchtstier ist, das sich vor Exkrementen nicht scheut, und dass er sich seiner sexuellen Funktionen nicht schämt. ('Unbehagen', IV, Anmerkung)

 

Dazu kommt, dass Menschen gegenseitig offensichtlich eine höhere Neigung zu aggressivem Verhalten bis in die Zerstörung des anderen entwickelten, als sie ohnehin ansonsten im Tierreich vorhanden ist. Das mag mit der gehemmten Triebabfuhr zusammenhängen, mag aber in vorzivilisatorischen Kulturen auch mit dem Bedarf an größeren Lebensräumen bei zunehmenden Populationen zusammenhängen. Diese gesteigerte Aggression durch die Kulturbildung wird in ihr dann bei erfolgreicher Kultivierung kanalisiert, d.h. kulturell ausgerichtet.

 

In Zivilisationen mit ihren höheren Bevölkerungszahlen ist schließlich die Gewalt verrechtlicht und wird zum Monopol des Staates. Kriegerische Gewalt wird nun nicht mehr kulturell vermittelt, sondern von den Mächtigen im Staat angeordnet und in ihrem Interesse durchgeführt.

 

Ambivalenz: Schuld, Ethos und Moral

Es gab keinen sinnvollen Kulturbegriff vor Freuds psychoanalytischem Ansatz zum Verständnis von Aggression in der Geschichte. Dieser krankt allerdings an zwei Schwächen: Einmal setzt er Kultur und Zivilisation in eins. Am Ende von 'Warum Krieg' formuliert Freud in einem Brief an Einstein:

 Ich meine das Folgende: Seit unvordenklichen Zeiten zieht sich über die Menschheit der Prozess der Kulturentwicklung hin. (Ich weiß, andere heißen ihn lieber: Zivilisation.) Diesem Prozess verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden.

Freud reagiert damit auf die Neigung seiner Zeit, "Zivilisation", zu deutsch unsinniger Weise oft durch "Hochkultur" ersetzt, eindimensional als "Fortschritt" gegen die "Unterentwicklung" der "Wilden" der kolonisierten Kontinente anzusetzen und unterscheidet zudem nicht zwischen Kultur und Zivilisation, wie wir das hier tun. Aber was andererseits bei ihm wichtig ist, ist die Abschaffung des längst  vorherrschenden Fortschrittsglaubens zugunsten der Erekenntnis  einer grundlegenden Ambivalenz in der Geschichte der Menschheit: Alle von Menschen betriebene Veränderung löst Probleme und schafft zugleich neue, und diese werden bislang immer übermächtiger.

 

Freud übersieht dabei auch, dass seine Übertragung psychischer Vorgänge im Einzelnen, auf die er sich spezialisiert hat, auf Gruppen oder Massen von Menschen in Kulturen auf der gemeinschaftlichen Verarbeitung und Tradierung von Erfahrung beruht und in Zivilisationen auf der Durchsetzung von Machtinteressen durch wenige, die die originären Erfahrungen einzelner Menschen als Untertanen ideologisch und mit meist latenter Gewalt überdeckt. Die Zähmung der Aggressionen wird dabei am Ende eine doppelte.

 

 

Kultur ist so ein Vorgang der Bezähmung der eigenen Triebhaftigkeit als Grundlage aller Aggression, einer der Domestikation. Welch enorme und zugleich schmerzhafte Leistung sie darstellt, fasst Freud so zusammen:

Welcher Mittel bedient sich die Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten? ... Wir können (das) an der Entwicklungsgeschichte des einzelnen studieren. Was geht mit ihm vor, um seine Aggressionslust unschädlich zu machen? Etwas sehr Merkwürdiges, das wir nicht erraten hätten und das doch so naheliegt. Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als „Gewissen“ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt. ('Unbehagen' VII)

 

Ich möchte lieber schreiben, dass Kultur die innere Kolonisierung des Menschen durch den Menschen zur Schaffung überschaubarer menschlicher Gemeinschaften ist, so wie Zivilisierung den Menschen zunächst zusätzlich einer äußer(lich)en Form von Staatsgewalt unterwirft. Womit wir bei zwei Wörtern angelangt sind, die es in sich haben.

 

Freud schreibt, wie gesagt, auch da von Kultur, wo Franzosen eher von civilisation reden würden, wobei er den technischen Fortschritt, die Künste und die Ausformung von Machtverhältnissen alle einbezieht. Immerhin beginnt bei ihm Kultur mit der Menschwerdung des Menschen, seiner Sonderentwicklung im Tierreich.

Eine Möglichkeit dahin nennt Freud Verdrängung des Triebes oder eher eines Teiles, Abdrängung in Form einer Umwandlung: Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Anteile in Schuldgefühl umgesetzt. ('Unbehagen', VIII)

 

Unübersehbar sind das weithin unbewusste, wenn auch nachvollziehbare Vorgänge, in denen Menschen mehr oder weniger neurotisch werden, wie Freud das nennt. Wesentlich bewusster und raffinierter ist die Verfeinerung des Triebhaften in seiner Verwandlung. In diesem Vorgang bringt Freud die Künste unter. Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung... ('Unbehagen' III) Dabei übernimmt Freud den bürgerlichen Kunstbegriff, der in seiner Zeit gerade im Untergang begriffen ist.

 

Über alle diese Vorgänge wacht das Über-Ich als Gewissen und Zensor, in dem Forderungen, die von außen gestellt werden, als eigene wahrgenommen werden. Wir haben es also mit der Internalisierung jener Anforderungen zu tun, die Menschen ein gemeinschaftliches Leben ermöglichen: Man darf ... annehmen, dass aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte, nur äußerer Zwang war. ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I)

 

Die produktiven Ziele der Kultur müssen mit den zerstörerischen Komponenten der Aggression umgehen, was Freud als Erziehungsprozess bezeichnet. Unter dem Eindruck der Bezähmung des Aggressiven findet auch eine Erotisierung von Aspekten des Sexuellen statt:

Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten darf. Und: Durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt. Etwas später: Die Kultureinflüsse leiten dazu an, dass immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden. ('Zeitgemäßes', I)

 

Wenn man genau hinschaut (und man möge mich korrigieren), dann entwickelt sich der Mensch einmal in der Entwicklung von Bewusstsein - das sich in Sprache darstellt - einem formulierenden (Welt schaffenden) Ich, welches nur ermöglicht wird, indem es große Teile des im Hirn verankerten Eigenen ins Unbewusste, Freuds ES, abtrennt, um Kultur zu ermöglichen, und gleichzeitig in einer von Freud ÜBER-ICH genannten regierenden Instanz, die die verinnerlichten, ursprünglich äußerlichen Anforderungen der Kultur als quasi eigene speichert, damit Gemeinschaft entsteht als alltägliche Routine, über die nicht ständig neu entschieden werden muss.

Im zwanzigsten Jahrhundert einer totalen Warenwelt werden die Vorgänge der Erotisierung des Sexuellen auf den Markt geworfen und so durch Pornographisierung zerstört. Mit dem kulturellen Rest-Erbe in der Zivilisation verrottet dabei unübersehbar diese selbst und vollendet so ihr Verschwinden.

 

Im unmittelbaren Zusammenhang damit steht der zweite, sozusagen gleichzeitige Weg, in dem die Bezähmung aggressiver Impulse soziale Einstellungen und Haltungen hervorbringt, wobei der Geschlechtstrieb oder Aspekte von ihm erotisiert werden.

Eros und Ananke sind ... die Eltern der menschlichen Kultur geworden. Der erste Kulturerfolg war, dass nun auch eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten.(...) Diese Personen machen sich von der Zustimmung des Objekts unabhängig, indem sie den Hauptwert vom Geliebtwerden auf das eigene Lieben verschieben, sie schützen sich gegen dessen Verlust, indem sie ihre Liebe nicht auf einzelne Objekte, sondern in gleichem Maße auf alle Menschen richten, und sie vermeiden die Schwankungen der genitalen Liebe dadurch, dass sie von deren Sexualziel ablenken, den Trieb in eine zielgehemmte Regung verwandeln."('Unbehagen' IV)

 

Dies klingt fast so erfreulich oder zumindest beruhigend wie der in den Schulklassen und von der Politik gepredigte Fortschrittsglaube. Aber der Schein trügt und der Vorgang ist in Schmerzhaftes und Bedrohliches eingebettet. Noch einmal:

Wenn eine Triebstrebung der Verdrängung unterliegt, so werden ihre libidinösen Anteile in Symptome, ihre aggressiven Anteile in Schuldgefühl umgesetzt. ('Unbehagen', VIII)

 

Ausgehend davon, dass das Über-Ich Auslöser von Schuldgefühlen ist, die auf der Verdrängung und Umformung aggressiver Triebregungen beruhen, kommt es zur Verdopplung des triebhaften Strebens in ein bewusstes partielles oder vollständiges Nein bei gleichzeitigem Weiterbestehen des ins Unbewusste abgedrängten Triebanteils. Freud spricht dabei von Ambivalenz, die als Ambivalenz im Gefühlsleben erlebbar ist. Je stärker die Gefühle, desto stärker auch ihr ins Unbewusste verdrängter Konterpart. Nirgendwo wird das so deutlich, wie wenn Liebe in Hass umschlägt, oder, wäre hinzuzufügen, wenn aggressive Wut in sexuelles Begehren umschlägt und umgekehrt. Die Erotisierung des Sexus gibt ihm eine sadomasochistische Qualität, deren eklatanten Ausbruch allerdings erst die Zivilisationen markiert.

...das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonflikts, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions – oder Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird. ('Unbehagen', VII) Und wenige Zeilen später: Ist die Kultur der notwendige Entwicklungsgang von der Familie zur Menschheit, so ist unablösbar mit ihr verbunden, als Folge des mitgeborenen Ambivalenzkonflikts, als Folge des ewigen Haderns zwischen Liebe und Todesstreben, die Steigerung des Schuldgefühls vielleicht bis zu Höhen, die der einzelne schwer erträglich findet.

 

Im Schuldgefühl findet sich der Ursprung der „Religionen“, besser, des kultischen Umgangs mit der Natur, was Freud indirekt andeutet: Die Religionen wenigstens haben die Rolle des Schuldgefühls in der Kultur nie verkannt. ('Unbehagen', VIII)

Hier wird es notwendig werden, die Kulte von den Religionen abzusetzen, für das Abendland insbesondere von Judentum, Christentum und Islam. Es ist nicht sinnvoll, in Europa von Religion zu sprechen vor Durchsetzung eines Christentums, für das überhaupt erst der Begriff „Religion“ entwickelt wird.

 

Nietzsches 'Jenseits von Gut und Böse' entwickelte vor Freud in einer Art tastender Selbstanalyse, dass die abendländische christlich geprägte "Moral" ein böses Instrument im Spiel von Macht und Ohnmacht ist, und entdeckte im Ressentiment wie in der Heuchelei Auswüchse dieser Moral. Der Arzt Freud verbindet Selbstanalyse mit der des unmittelbaren Gegenübers und entwickelt dabei eine analytisch-therapeutische Distanz, die ihn athletischer Anspruchs- und Anforderungsthesen enthebt. Er schreibt am Eingang zu obigem Kapitel des 'Unbehagens' entgegen aller Konstruktionen von Religion und philosophierender Ethik:

Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse darf man ablehnen. Das Böse ist oft gar nicht das dem Ich Schädliche oder Gefährliche, im Gegenteil auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen bereitet. ('Unbehagen' VII) Und an anderer Stelle heißt es bei ihm zur Erklärung: Die Untersuchung zeigt ... dass das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse. ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I)

 

Polemisch formuliert und in ein Bonmot verwandelt ist das Böse jenes Gute, welches im Prozess der Menschwerdung den Verboten der Kultur zum Opfer fällt.

Es war ihm vor allem versagt, sich der außerordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wettkampfe mit den Nebenmenschen schafft. ('Zeitgemäßes über Krieg und Tod', I).

 

Lüge und Betrug gegenüber dem anderen entspricht die Illusion von sich selbst. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, dass sie irgend einmal mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.('Zeitgemäßes', I) Mit der Illusion betrügen wir uns um die eigene Beunruhigung.

 

Die Menschwerdung als kultureller Prozess wird bei Freud im Umgang mit der sozial bedingten Hemmung seiner Triebe beschrieben. Er setzt dabei, wie schon gesehen, den Vorgang des Heranwachsens des Einzelnen mit dem Hineinwachsen der Menschheit in die Kultur analog, wenn nicht gar gleich:

Diese primitiven Regungen (Aggression und Geschlechtstrieb) legen einen langen Entwicklungsweg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus - Altruismus, aus Grausamkeit - Mitleid geworden wäre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, dass manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges ... Verhältnis, das man die "Gefühlsambivalenz" benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu bewältigen ist die Tatsache, dass starkes Lieben und starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, dass die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche Person zum Objekt nehmen. ('Zeitgemäßes',I)

 

Was am individuellen Menschen betrachtet wird, geschieht in der Interaktion zwischen Individuen. Kulturbildung ist Gemeinschaftsbildung. Die Entstehung von Kultur ist die Entstehung der Familie. Darüber hinaus kann die Archäologie und die Ethnologie für steinzeitliche Kulturen die Ausbildung von kleinen Gruppen aus mehreren Familien vermutbar machen, die Gemeinschaft bilden in einer gemeinsamen Lebensweise.

Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, dass er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. ... Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden... ('Unbehagen', V)

 

Hier taucht eine Schwierigkeit auf, an deren Rand sich Freud nur selten begibt: Der archäologisch erschließbare "Kulturkreis", in dem dem Anschein nach eine gemeinsame "Kultur" vorliegt, kann große Regionen umfassen. während Kultur als primär Gemeinschaft hervorbringender Prozess nur kleine, für jeden einzelnen überschaubare Gemeinschaften hervorbringt, hervorbringen soll.

 

Dabei setzt ein über wirkliche Gemeinschaft hinausgehendes Bewusstsein von Gemeinsamkeit ein, welches tatsächlich nicht mehr auf Gemeinschaft, wesentlich eine Erfahrung, sondern auf einer Vorstellung von Ähnlichkeit beruht. In der abendländischen Völkerwanderungszeit lässt sich vage erschließen, wie wirkliche, überschaubare Gemeinschaften sich über kulturelle Ähnlichkeiten soweit in ihrer Vorstellung miteinander verbinden, dass man später von Stämmen reden kann, ideellen Abstammungsgemeinschaften, die auf dem gemeinsamen Kult und dann auch dem gemeinsamen Mythos beruhen.

 

Die ideale Voraussetzung für diesen Vorgang ist der Krieg, das heißt die Erfindung des gemeinsamen Feindes, das noch heute weithin funktionierende Instrument zur Beseitigung wirklicher Gemeinschaft durch vorgestellte Gemeinsamkeit und zudem der Vater aller zivilisatorischen Anstrengungen und damit des Staates.

 

 

Machtergreifung: Der Übergang zu Zivilisationen

 

Wenn wir soweit Freud folgen, dann sind Kulturen immer auch von einer gewissen Labilität bedroht, die auf den erheblichen Mühen der Kultivierung beruht. Wo das möglich ist, wird sie mancherorts leicht durch Zivilisierung zerstört.

 

Zu jeder Definition von Kapital gehört die von Eigentum als Voraussetzung, und das ist nicht mehr ganz einfach, seitdem bronzezeitliche Despoten sich vor vielen Jahrtausenden eine Art Obereigentum über alles angemaßt haben, was in ihren Machtbereich gehört, etwas, was dann bis heute überall auf dem Planeten für deren Nachfolge-Staaten weiterhin so gilt: Eigentum kann unter Vorwänden seitdem grundsätzlich von Machthabern eingezogen, also legalisiert geraubt werden, und es kann insofern gemindert werden, dass ein Teil des darauf Erarbeiteten regelmäßig an Machthaber abgegeben wird. Die Nutzung des (immer eingeschränkten) Eigentums von Untertanen durch Machthaber wird ein wesentlicher Gründungszweck von Zivilisationen.

 

Ab wann Menschen einen Begriff von Eigentum entwickelt haben, muss wohl unklar bleiben, aber mit der Entstehung von Gartenbau, Ackerbau und Viehzucht in der Jungsteinzeit dürfte er wohl spätestens aufkommen. Das Eigentum ist dabei zunächst das über Grund und Boden und darüber hinaus über Werkzeuge und dient in jenen Gegenden, in denen Kapitalismus entstehen wird, bis ins 18. Jahrhundert im wesentlichen der Subsistenz der bäuerlichen Familie, also ihrem unmittelbaren Überleben. Dort, wo mehr als das erwirtschaftet wird, werden die Herren entstehender Zivilisationen versuchen, möglichst viel davon abzuschöpfen.

 

Bevor der Prozess von Zivilisierung, also der Unterwerfung - zunächst im wesentlichen von Bauern - unter institutionalisierte Macht, in einzelnen Kulturen einsetzt, muss es ein gewisses Maß an Arbeitsteilung geben, was wiederum voraussetzt, dass einzelne Bauern aus ihrer Sicht einen gewissen Überschuss erwirtschaften, den sie gegen nicht-bäuerliche Produkte eintauschen können. Von der Landbewirtschaftung trennt sich so das Handwerk, welches sich dann wiederum bei entsprechender Nachfrage in verschiedene Gewerbe aufteilt. Vermutlich gibt es schon vor der Jungsteinzeit erste gewerbliche Produktion von Feuersteinen und Schmuck und in ihr dann mehr frühen Handel.

 

Mit den Ansätzen von Warenproduktion aus landwirtschaftlichen Überschüssen und handwerklichen Produkten und dem entsprechend entstehenden Markt eines Warentausches entsteht vermutlich noch kaum Kapital, da auch die handwerkliche Produktion wohl noch sehr lange im wesentlichen der schieren Subsistenz dient. Ab wann Händler Ersparnisse zur Kapitalbildung nutzen, ist recht unklar und geschieht wohl frühestens im Nahen Osten der späten Bronzezeit.

Was aber geschieht, ist, dass wahrnehmbare, nunmehr zunehmend auch menschengemachte Wirklichkeit immer komplexer und damit schwieriger zu durchschauen wird, so wie dann auch sich entfaltende Arbeitsteilung zur tendenziellen Entsolidarisierung von Gemeinschaften führen kann.

 

Neben die produktive Aufteilung tritt aber - und möglicherweise schon recht früh - ein Expertentum der Deutung wahrnehmbarer Wirklichkeit, welches zugleich Kulte entwickelt, in denen zunächst wohl der Ausgleich mit einer zunehmend genutzten Natur und dann der Versuch der Besänftigung oder Nutzbarmachung von Wetterereignissen und anderen vor allem für die Ernährung wichtigen Phänomenen wichtig ist.

Hier soll als Sammelbegriff für jene Experten sehr anachronistisch von Priestern gesprochen werden, ein Wort, welches sich aus presbyteros, dem Ältesten der frühen christlichen Gemeinden entwickelt hat, aber mit dem Bewusstsein, dass damit sehr verschiedene "Kultbeamte" gemeint sind.

 

 

Zivilisation

 

Mit diesen Kultexperten und Verfassern von Welt-Vorstellungen beginnt eine erste Gruppe von Menschen lokal und dann auch regional mit der Macht über die Vorstellungen der sich ihnen offenbar ausliefernden Bevölkerung eine erste Machtergreifung, ein frühes Herrenmenschentum, welches sich bald darin äußert, dass man sich für seine Natur- und Wetterbeobachtungen samt Theoriebildungen über die Himmelskörper mit Abgaben der Menschen belohnen lässt und dann die ihren Kulten Unterworfenen dazu bewegen kann, ihnen immer größere Kultgebäude zu bauen.

So wie das Wort Priester kommt auch das oft für Kultgebäude verwendete Wort Tempel aus der Antike, diesmal dem lateinischen templum, auch wenn die Kultgebäude menschlicher Zivilisationen sehr unterschiedlich sind.

 

Je stärker sich solche Priester aus der Gemeinschaft der jeweiligen Kultur absondern und sich ihr überordnen, desto mehr werden solche Kulturen gefährdet, da ihre Vorstellungen nun immer weniger aus eigener und gemeinschaftlich tradierter Erfahrung, und immer mehr von außen und oben gesteuert werden.

In Teilen des Tales des Nils und von Euphrat, Tigris und Nebenflüssen errichten ganze Priestergemeinschaften Tempel, eignen sich Land an und machen sich Bauern und Handwerker der Umgebung abhängig. Mit ihnen verbünden sich wohl ziemlich kluge, gierige und gewaltbereite Menschen, die sich einen gewalttätigen Anhang zuordnen und sich mit den Herren der Tempel zusammentun, die sie sich dann schließlich auch noch unterordnen können. Bis hier hin fehlen aber noch schriftliche Aufzeichnungen, auch wenn die archäologischen Funde zunehmen.

 

Am Ende ist Zivilisierung die Machtergreifung eines Despoten in Zusammenarbeit mit Priestern und einer kleinen Elite. Despot ist vom griechischen despotes, dem Herrn, abgeleitet, und soll hier einen terroristisch, also letztlich mit Schrecken durch offene Gewalt herrschenden Machthaber bezeichnen, wie es beispielsweise die Pharaonen und die Herrscher des Zweistromlandes dann sind.

Damit Herrschaft stabil wird, muss sie aber die Gewaltandrohung in die Latenz versetzen, und mithilfe der von den Priestern betriebenen Kult-Ideologie den Untertanen beibringen, dass von solchen Kultbeamten verwaltete Götter solche Herrschaft legitimieren. Darüber hinaus muss es die Tatsache nutzen, dass Menschen Untertänigkeit grundsätzlich als bequem ansehen, solange sie ihnen ein gewisses Konsumniveau ermöglicht und ihnen die Verantwortung für viele Entscheidungen abnimmt, die in einer komplexer werdenden Welt ihnen kaum noch möglich erscheinen. Zudem neigen in die Untertänigkeit gedrückte Menschen dazu, sich mit ihren Herren umso mehr zu identifizieren, je mehr diese ihre Macht demonstrieren. Entsprechend haben heutige sogenannte demokratische Regierungen eine ausgesprochen geringe Autorität bei ihren untertänigen Massen.

 

Andererseits: Da die Despoten, die weltliche und geistliche Elite, darunter die Beamten, allersamt von der Arbeit der Masse der Untertanen leben, ist es in ihrem Interesse, die Rahmenbedingungen dafür möglichst zu fördern. Dazu gehört in Ägypten und Mesopotamien die Regulierung der Wasserwirtschaft ebenso wie die Illusion, dass Wetterbedingungen kultisch beeinflusst werden könnten. Dazu gehört aber auch der Ersatz zunehmend zerstörter kultureller Erfahrungswelten durch von oben aufokroyierte Gesetze, welche das Zusammenleben und Arbeiten der Untertanen im Sinne der Machthaber regeln. Wichtigster Aspekt all solcher Gesetze seitdem ist, dass den Untertanen alles das verboten wird, was die Herren für sich als selbstverständliches Recht in Anspruch nehmen, nämlich zu rauben, zu stehlen, zu töten und zu morden, und wo sie das für nötig halten, legalisieren sie all das, aber nur für sich selbst und in ihrem Auftrag.

 

Mit der Verwaltung großer Güter durch Machthaber beginnt sich Schriftlichkeit zu entwickeln, die dann in der Verwaltung der Untertanen durch Gesetze mündet, die, da sie nicht mehr dem Erfahrungswissen kultivierter Menschen entspringen, sondern die Interessen der Mächtigen formulieren, nun schriftlich fixiert und nur noch von den Mächtigen revidiert werden dürfen. Schriftlichkeit entsteht so ausschließlich aus Machtinteressen weniger, und es wird bis heute gefährlich bleiben, sie gegen diese zu wenden.

 

Eine Besonderheit der neuen Zivilisationen wird überall die Erfindung des Krieges und die partielle Professionalisierung der Krieger als Söldner bzw. Soldaten. Kriege entstehen aus der Raff- und Machtgier der Despoten, die zu Raubzügen führt und zur mehr oder weniger intensiven Unterwerfung von Gebieten, insbesondere solchen mit wichtigen Rohstoffen, sie entstehen aber einfach auch dort überall, wo Depotien aufeinander treffen. Mit den Kriegen werden Metalle für die Waffenproduktion immer wichtiger und so wird dann die Gewinnnung von Erzvorkommen häufig zu einem Kriegsgrund.

Despoten sind dann ganz wesentlich Kriegsherren und führen einen großen Teil ihrer Herrschaft hindurch Kriege, denn neben der erhofften Beute ist Feindseligkeit nach außen geeignet, um Untertanen unter die Herrscher zu scharen und ihnen im Falle des Sieges Hochachtung entgegen zu bringen. Zivilisierung ist so wesentlich Kanalisierung menschlicher Aggressivität im Interesse von Machthabern.

 

Die Despoten, ob nun Herrscher über eine Stadt und ihr Umland oder über große Reiche, rauben sich nicht nur Reichtümer gewaltsam zusammen, sondern lassen sie auch von Handwerkern als ihren spezifischen Luxus produzieren, während es nur in sehr geringem Umfang Warentausch zwischen untertänigen Bauern und Handwerkern gibt: Die Bauern sind im wesentlichen Selbstversorger auf extrem niedrigem Niveau und zudem Produzenten von Abgaben an die Mächtigen. Darüber hinaus pflegen die Despoten untereinander auch den Austausch von Luxusgütern als Geschenke und halten sich neben den Handwerkern auch Händler als eine Art gehobene Dienstboten. Auch wenn die Despoten riesige Reichtümer ansammeln und sich mit Hilfe von Formen von Zwangsarbeit gigantische Monumente errichten lassen, kommt es zu keiner Kapitalbildung bei Handwerk und Handel, da beide in enger Abhängigkeit von den Despoten bleiben.

 

Despotien sind vor allem das Resultat von jungsteinzeitlichem, bäuerlichem  Bevölkerungswachstum, welches das Zusammensiedeln in einer Art früher Städte ermöglicht, in denen konzentriert genügend Menschen arbeiten, um ihre eigenen Herren unterhalten zu können. Die Despoten wiederum fördern Bevölkerungswachstum, da sie von der Arbeit der Untertanen so immer mehr Einkünfte erzielen und immer mehr Menschen einer ihnen zuarbeitenden Elite fördern können. Daneben ermöglichen größere Menschenmassen auch größere Heere, mit denen man Krieg führen kann.

 

Selbstredend ist es so, dass mehr Menschen mehr Platz auf dem Planeten für sich beanspruchen. Damit sie ernährt werden, müssen sie immer mehr Naturlandschaft in Kulturlandschaft verwandeln. Während Jäger und Sammler in der Regel wohl weiterzogen, bevor sie Pflanzen- und Tierarten ausgerottet hatten, und jungsteinzeitliche Bauern die Erde zunächst noch nicht so dicht besiedelten, dass sie große Naturräume zerstörten, setzt mit den frühen Zivilisationen eine immer massivere Vernichtung von Teilen des natürlichen Lebensraumes Erde ein. Während Flora und Fauna der Flusstaloasen von Nil, Euphrat und Tigris noch zu einem gewissen Teil mit den Menschen koexistieren, beginnt bereits in der Bronzezeit eine immer systematischere Abholzung beispielsweise des Libanon für den Bedarf der Despoten im nahöstlichen Großraum. Ein ähnlich aggressiv-zerstörerisches Verhältnis entwickeln Despoten und die ihnen zuarbeitenden Eliten mit der Jagd als Freizeitvergnügen, welches die spätmittelalterlichen Adeligen dann desportes und von daher englische Herrenmenschen als sport(s) bezeichnen werden. Massenhaftes Abschlachten von Elefanten oder großen Raubkatzen als Herrenvergnügen und großer Spaß, der zudem erhebliches Renommée erzielt, sind durch die Jahrtausende dokumentiert und leiten das immer intensivere Artensterben ein, welches dann bis heute massiv zunehmen wird. Zudem beginnt jenes bedenkenlose Ausräumen von Erzen und anderen Materialien aus der Erde, welches ebenfalls bis heute dort ungebremst anhält, wo noch nicht alles ausgeplündert ist.

 

 

Die doppelte Zähmung der Aggression

 

Freuds Beitrag zu unserer Geschichtsschreibung endet dort, wo er die Besonderheit von Zivilisation im deutlichen Unterschied zu Kultur nicht sieht. So

schreibt er:

So bekommt man den Eindruck, dass die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen.

Das kann in dieser Klarheit nur stehen bleiben, wenn wir Kultur durch Zivilisation ersetzen. Das heißt denn auch, dass Freud hier die Leistungen von Kulturbildung nicht mehr den Einzelnen in Gemeinschaften zuspricht.

 

Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, dass nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Da das Verbot das Gehemmte aufstaut, so dass es wie eine Flut den Damm brechen kann, wären Kulturen mit hohem Verbotsniveau solche, die episodische Beschleunigungen erhielten. (Unbehagen V) 

Kulturen mit hohem Verbotsniveau, wie sie hier gemeint sind, wollen wir aber der Klarheit willen als Zivilisationen bezeichnen. Diese aber sind oft keine Zerfallsprodukte von Kulturen, wie Freud z.B. im 'Unbehagen' Teil V meint, sondern bedeuten deren Zerstörung. Die andere Seite stellen allerdings solche Kulturen dar, die in Kontakt mit Zivilisationen geraten und von diesen beeinflusst werden, wie an germanischen Kulturen darzustellen wäre.

 

Da Zivilisationen aus Kulturen hervorgehen, nutzen sie deren Kulturleistung weiter und formen sie nun in ihrem Interesse um: Sprache wird übernommen, herrschaftlich überformt und schriftlich fixiert, Kulte werden so überbaut, dass sie nun Machthabern dienen. Dabei gibt es einen Alltag der Untertanen, in dem weiter Erfahrung als Regulativ untereinander dient, also der Bezähmung von Aggressionen, zugleich werden diese aber, soweit sie nicht für die Interessen der Machthaber instrumentalisiert werden können, nun kriminalisiert. Das heißt, dass nicht mehr so sehr Einsicht in die das Zusammenleben störenden Verhaltensweisen vorherrscht, sondern Angst vor Strafe durch eine Obrigkeit, also Kriminalisierung. In dem Maße, in dem Untertanen aber lernen, sich mit den Machthabern zu identifizieren, werden die Unterschiede dazwischen weniger wahrnehmbar. 

 

Wenn dann immer einmal wieder Machtstrukturen mehr oder weniger zusammenbrechen, dann reichen, wie für das Pharaonenreich überliefert, einst tradierte Einsichten in gedeihliches Zusammenleben nicht mehr aus: Die nur mit (oft nur angedrohter) Gewalt durchsetzbaren Gesetze werden durch "anarchischere" Gewalt und aggressiv ausgetragene Konflikte ersetzt. Dort allerdings, wo man sich nicht in eine Flusstal-Oase eingesperrt führt, wie bei den Maya-Zivilisationen Mittelamerikas, kann es auch geschehen, dass die Menschen einfach wieder zu ihrem alten Kulturniveau zurückfinden, wie zum Beispiel von den Lacandonen belegt ist.

 

Die ursprüngliche Bezähmung der Aggressionen in Kulturen wird also dadurch abgeschwächt, dass ihr die Domestizierung in Untertänigkeit durch Machthaber übergeordnet wird. Vor alle originäre Einsicht in die Sinnhaftigkeit gemeinschaftlich vorgegebener Ordnung tritt damit das aufoktroyierte Gesetz. Einige bronzezeitliche Despoten sind große Gesetzgeber. Am Ende abendländischer Zivilisation - in unserer Gegenwart - bedeutet das, dass die Funktionsfähigkeit und Überlebensfähigkeit des Untertanenverbandes nur noch durch allumfassende Regulierung durch den dadurch immer totalitäreren Staat gewährleistet werden kann. Die erlebte, wenn auch nicht unbedingt begriffene Ohnmacht der Untertanen lässt sie dann dazu tendieren, besonders brutale Despoten, im Mittelalter antiklisierend als Tyrannen und heute auch als Diktatoren bezeichnet, zu bewundern und zu verehren.

 

 

Städtische Zivilisationen

 

Auf dem Weg hin zum Kapitalismus haben wir uns hier auf den Nahen Osten zwischen Nil und Zweistromland konzentriert. Bronzezeitliche Zivilisationen gibt es aber auch insbesondere im ganzen östlichen Mittelmeerraum (Hellas, Kreta, Zypern, Levante, Kleinasien), wo sie vor über drei Jahrtausenden weithin verschwinden, um dann dort neuen städtischen Zivilisationen der sogenannten Eisenzeit Platz zu machen. Mit diesen neuartigen Städten nähern wir uns einen Riesenschritt jener Entwicklung, die zwei Jahrtausende später weiter westlich in Ursprünge von Kapitalismus münden wird.

 

Das wichtigste Neue ist, dass es sich bei diesen neuartigen Städten nicht mehr um Despotien handelt. Sowohl in Phönizien wie auch in Hellas sind Stadtherren, die Historiker heute manchmal als Könige bezeichnen, nicht mehr mit der Macht ausgestattet, die ihre bronzezeitlichen Vorläufer noch hatten, die allerdings wohl ebenfalls schon die Macht mit einer Gruppe von "Aristokraten" teilen mussten. Vielmehr werden sie in den ersten Jahrhunderten des letzten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung in Hellas immer mehr zugunsten einer Schicht großer Herren zurückgedrängt, die "königliche" Funktionen nun als Ämter selbst übernehmen. In Hellas wie in Phönizien steigt dabei eine Händlerschicht auf, die nicht mehr als Dienstboten von Despoten, sondern mehr oder weniger als freie Unternehmer auftreten können, die also wohl frühe Kapitalisten/Kapitaleigner sind. Dasselbe gilt für ein Handwerk, welches nun für einen Markt produziert, der sich mit aristokratischen Raubexpeditionen und kapitalgenerierten Handelsreisen über das ganze Mittelmeer ausbreitet, wo phönizische Händlergruppen Handelsstützpunkte vor allem in Nordafrika und der nordwestlichen Mittelmeerküste etablieren, aus denen dann stark vom Handel geprägte Städte werden, während es wohl überwiegend aristokratische Abenteurergruppen sind, die aus hellenischen Städten aufbrechen, um vor allem an den Küsten Siziliens und Süditaliens neue Städte durch Siedlung zu etablieren, die sich nach und nach die lokale und regionale Bevölkerung unterwerfen.

 

Für den langen Weg hin in die Anfänge von Kapitalismus sind vor allem die griechischen Städte (poleis) bedeutsam, während das antike Rom auf dem Weg zu imperialer Größe die phönizischen Zivilisationen, die westlich vom Kernland unter die Kontrolle von Karthago geraten, im Laufe der Zeit fast rückstandslos vernichten wird.

 

Diese griechischen poleis werden bald, ähnlich wie das frühe Rom, von einer große Ländereien besitzenden Aristokratie beherrscht, welche Handwerk (die banausos), Bergbau und Handel verachtet, auch wenn man damit bald im Einzelfall auch sehr wohlhabend werden kann und sich als edler Großgrundbesitzer auch schon einmal beteiligt.

Die aristoi sind im Griechischen die Besten, und der Aristokrat hält sich vor allem deshalb für etwas Besseres, weil er nicht mit seinen Händen arbeiten muss und überhaupt große Teile seiner Zeit in Müßiggang oder als Krieger verbringt. Aristokratie als Begriff von der Herrschaft dieser grundbesitzenden Elite taucht erst spät im 5. Jahrhundert (v.d.Zt.) auf, etwa in der Zeit, in der auch Demokratie und Monarchie (bzw. die Tyrannis) als eine Art Verfassungsbegriffe entwickelt werden.

 

Die griechische Polis zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass es keinen Despoten gibt und bald die Herrschaft eines aristokratischen Kollegiums, welches sich die Macht teilt, und das mit etwa der Begründung, die auch römische Aristokraten haben: Es handelt sich um ihre Stadt, da sie deren öffentliche Bauten und die Kulte sowie Kriege selbst finanzieren und die Ämter ohne Bezahlung ausüben. Es gibt darum in Hellas wie in Rom auch nur eine sehr geringe Abgabenlast der produzierenden Bevölkerung und des Handels.

 

Zu der Tatsache, dass es neben dem Großgrundbesitz auch ein freies Bauerntum gibt, und dass Handwerk, Bergwerk und Handel von einem freien Unternehmertum betrieben werden, welches erheblich zum Wohlstand der Stadt beiträgt, gibt es weitere Besonderheiten: Zentrum der Städte sind nicht irgendwelche Paläste und die Tempel, die es weiterhin gibt, sondern ist der öffentliche Markt, der bei den Griechen agorá und bei den Lateinern forum heißt, und auf dem und um den herum das öffentliche Leben vor allem stattfindet, weswegen an ihm wichtige Gebäude angesiedelt werden. In dieses räumliche Zentrum gehört auch die "Volks"versammlung, also die aller (männlicher) "Bürger", wobei sich Volk und Bürger durchaus von denen des Mittelalters unterscheiden, in dem Kapitalismus entstehen wird.

 

Der Götterkult mit seinen Opferhandlungen kennt keine mächtige Priesterschaft mehr und begründet auch weniger die Macht der Reichen und Mächtigen, sondern ist stärker Angelegenheit der sich bildenden Gemeinde. Diese entwickelt sich auch über das geschriebene Gesetz und die Anerkennung der Verantwortung der Oberschicht für die verarmenden Bauern, wie von Athen überliefert ist.

In der Polis entsteht so das "Politische" als Gegenpol zu den zunehmenden Machtkämpfen zwischen mächtigen aristokratischen Familien; dabei schwingt sich bei Übermacht eine von ihnen manchmal zur Tyrannis auf, indem sie Schlüsselämter einnimmt und die Machtansprüche der anderen Familien massiv einschränkt. Solche Tyrannen werden allerdings keine orientalischen Despoten, da sie in der Regel die (politische) Verfasstheit der Polis nicht sehr stark antasten.

 

Nach einer längeren Phase der Tyrannis im 6. Jahrhundert ist für Athen überliefert, dass zunächst wieder die Machtkämpfe aristokratischer Familien ausbrechen, bis es einer von ihnen dann gelingt, mit Reformen die Oberhand zu gewinnen. In diesem Machtspiel der Reichen und Mächtigen wird vor allem von einer Partei, um ihren Einfluss zu halten, den einfachen Bürgern (polites) immer mehr Partizipation an Ämtern und Gerichten zugestanden, bis vor allem Gegner dieser "Politik" das abschätzig als "Demokratie", also Herrschaft der in Demen organisierten Bürgerschaft nennen. Tatsächlich bleiben wenige Schlüsselpositionen aber weiter in den Händen weniger Familien.

 

Diese in der Geschichte der Zivilisationen einzigartige Beteiligung so vieler an so vielen gemeindlichen Entscheidungen in Athen wird auch dadurch gefördert, dass immer mehr einfache Politen in der großen Auseinandersetzung mit dem mächtigen Perserreich als Militär benötigt und eben auch darum "politisch" aufgewertet werden. Die militärischen Siege über die orientalische Großmacht führen denn auch zur Hegemonie Athens über die meisten Städte des Raumes der Ägäis, die nun mit ihren zunehmend erzwungenen Beiträgen diese attische "Demokratie" mitfinanzieren.

 

Demokratie bleibt bis heute ein kurzes Intermezzo, auch wenn moderne Staaten sich aus propagandistischen Gründen so bezeichnen, und sie scheitert damals an der Unfähigkeit der Massen von Politen, verantwortungsbewusst mit ihr umzugehen, bevor dann die griechischen Städte in den monarchischen Reichen der Makedonen aufgehen und schließlich im Imperium Romanum.

 

Einflussreicher wird später - und zwar auf die Oberschicht des Römerreiches - der üppige aristokratische Lebensstil der griechischen Oberschicht mit seinem Müßiggang, seinen homoerotisch-pädophilen Neigungen, seinen nächtlichen alkoholisierten Gastmählern und manchem mehr, was alles dann auf die offensive Ablehnung einer entstehenden christlichen Kirche stoßen wird

Für unsere Geschichte der Entstehung von Kapitalismus wird aber noch viel wichtiger, dass sich spätestens mit dem sechsten Jahrhundert, in Ansätzen aber schon vorher, neben den öffentlichen Kulten ein bis dato nie dagewesener öffentlicher rationaler Diskus in den poleis entfaltet, der, zwar nur in den Texten von wenigen Individuen überliefert, Ausdruck einer gedanklichen Freiheit ist, wie sie Zivilisationen zuvor wohl nicht kannten, und welche erst mit der Etablierung eines Kirchen-Christentums als Staatsreligion rund tausend Jahre später etwas schwinden wird.

 

Es entwickelt sich nämlich unter dem späteren Oberbegriff Philosophie in immer neuen Anläufen der Versuch, Welt nicht mehr mythisch, sondern vernunftgemäß zu konstruieren und dabei auch auf Kenntnisse zurückzugreifen und neue zu suchen. Dazu mag es geholfen haben, dass die antiken Götterwelten nicht in irgendeinem Jenseits fern der Menschen, sondern in ihrer Vorstellung auf Berggipfeln hausen, von denen sie immer wieder zu ihnen heruntersteigen, denen sie auch in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich sind, weswegen sie in den Darstellungen auch wie idealisierte Menschen aussehen.

 

Philosophiert wird vor allem einmal über das, was Griechen physis nennen, und was im 11./12. Jahrhundert nach der Zeitrechnung im lateinischen Abendland in etwa als natura wieder aufgegriffen wird und unter den Bedingungen des späten Kapitalismus in die unsinnigerweise so genannten Naturwissenschaften mündet, die im wesentlichen dann als Grundlagenforschung für Technik zwecks Förderung von Kapitalbewegungen dienen und dabei die Wirklichkeit als Welt einer komplexen Maschinerie konstruieren werden.

 

Neben diesen Versuchen, Welt jenseits von den Phantastereien von Priestern so zu konstruieren, dass sie an die Strukturen eines vernünftigen menschlichen Gehirns angepasst ist, gibt es auch manchmal auf Erfahrung und Wunscherfüllung beruhende Spekulationen über die Menschen und ihre Lebensformen bis hin zur Konstruktion idealer Formen des Zusammenlebens. Dieses von wenigen Leuten betriebene Philosophieren wird schon eine Weile vor der Eroberung durch die römische Militärmacht in die römische Machtsphäre eindringen, der solches Denken bislang fremd gewesen ist.

 

Manches spricht dafür, dass zweckrationales unternehmerisches Denken von Kaufleuten/Handelsherren solche, andere Sphären durchdringende Rationalität befördert hat, so wie sie wohl auch die Entwicklung der Mathematik befördert. Und es lässt sich vermuten, dass der im Vergleich zu bronzezeitlichen Despotien freiere Markt mehr gedankliche Freiheit ermöglicht hat, die zeitweilig sogar vereinzelter kritischer Auseinandersetzung mit dem Götterglauben Raum gibt. Inwieweit allerdings die Masse der Menschen daran teilhat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, aber vermutlich werden sie nur geringfügig davon beeinflusst.

 

Hellas und frühes Rom

 

Der Weg in den frühen Kapitalismus wird vor allem in einigen Gebieten beginnen, die zuvor zum Westteil des römischen Reiches gehörten und dann zum Reich der Franken. Insofern lässt sich für Gebiete Italiens, die gallische Mittelmeerküste und dann auch das Rheintal und Teile von Flandern eine vorausgehende deutliche Kontinuität über rund 1000 bzw. 1500 Jahre feststellen, die in einem "aristokratisch" beherrschten Rom beginnt.

 

Hier (wie im frühen eisenzeitlichen Hellas) existiert bereits eine ungleiche Verteilung des Grundbesitzes und eine darauf gründende Oberschicht, die mit einem König (rex) zusammenarbeitet. Nach Vertreibung des letzten von ihnen werden seine Aufgaben, analog zur Entwicklung in Hellas, auf von dieser Oberschicht besetzte Ämter verteilt, die die res publica, die öffentlichen Angelegenheiten verwaltet und letztlich auch repräsentiert. Das sehr viel spätere Wort Republik benennt oft ganz andere Machtstrukturen, denen am Ende nur gemein ist, dass sie keinen ("legitimen") Monarchen an der Spitze haben.

 

Während der nach seinem Tagungsort so benannte Areopag, der sich zur Versammlung der ehemaligen Archonten entwickelt, im Zuge der Demokratisierung Athens seine Macht verliert, bleibt der römische Senat, in dem die ehemaligen Konsuln sich versammeln, viel länger das Entscheidungs-Zentrum römischer (aristokratischer) Machthaber und wird erst auf dem Weg in die kaiserliche Militärdiktatur zunehmend entmachtet werden.

 

Unter dem Druck der (Klein)Bauern, Handwerker und Händler (der plebs), und weil diese als Fußsoldaten immer wichtiger für die kriegerischen Auseinandersetzungen nach außen werden, kommt es zwar nicht zu einer Demokratisierung wie zum Beispiel in Athen, aber einmal zu einer kollektiven Partizipation in einer Plebejer-Versammlung und zum anderen zur Schaffung des einflussreichen Amtes des Plebejer-Tribunen.

Ähnlich wie in den hellenischen (lateinisch: griechischen) Städten bleibt aber das Leitbild dessen, der Karriere macht und reich wird, in aller Regel das des aristokratischen, auf der Rendite seines großen Landgutes oder dann auch mehrerer beruhenden Müßiggangs als lateinischer privatus (frei von einem Amt) einerseits, und des sich in einem öffentlichen Amt bewährenden publicus andererseits.

 

Ebenfalls ähnlich wie die hellenischen poleis sind auch italische Städte wie Rom offenbar von ausgesprochener militärischer Aggressivität, also zumindest, was die Aristokraten angeht, ausgesprochen kriegerisch gesonnen und von ungenierter Grausamkeit. Entsprechend gerät Rom in Konflikte mit Nachbarn und es gelingt den Herren der Stadt, zwischen etwa 500 und 300 immer mehr Gebiete erst in Mittelitalien und dann auch im Süden der italienischen Halbinsel zu erobern, und mittels Verträgen und Ansiedlung römischer bzw. latinischer Bürger ein Reich aus Gebieten zunächst unterschiedlichen Rechts zu formen, in denen die urbs Roma Vorbild wird und zunächst vor allem die Oberschicht die lateinische Sprache annimmt.

In Kriegen gegen die Karthager (römisch: Punier), Keltiberer, Makedonen und andere werden zwischen der Mitte des 3. und dem Ende des 2. Jahrhunderts die Provinz Africa, Spanien, das äußerste Südgallien und Norditalien (Gallia citerior) erobert, zudem Griechenland und Kleinasien.

 

Einer kleinen Oberschicht gelingt es, durch Kriegsbeute und dann die Verwaltung und Ausplünderung der Provinzen immer reicher zu werden, und in ihrem Gefolge steigen unterhalb des hohen Amts"adels" der nobiles, der aber anders als der mittelalterliche nicht erblich ist, die equites ("Ritter") als weitere Kriegsgewinnler auf, indem sie Reichtümer der Provinzen abschöpfen, Handel treiben, der den Senatoren längst verboten ist, oder Finanzgeschäfte betreiben.

 

Mit der damit zunehmenden Bedeutung des Geldes und von Handel und Finanzen gerät das die res publica zusammenhaltende Einvernehmen einer patriarchalisch strukturierten und in Senat und hohen Ämtern versammelten Oberschicht in eine nicht mehr zu behebende Krise. Dabei ist ihr Leitbild weiter der von seinem Landgut lebende Grundbesitzer mit seinem städtischen Wohnsitz und seiner villa, dessen Land nun allerdings immer mehr zunimmt und manchmal dann Latifundien in verschiedenen Regionen des Reiches umfaßt.

Dieser Großgrundbesitz nimmt dabei zu auf Kosten der (kleinen) Bauern, von denen viele durch so viele Kriegszeiten wirtschaftlich ruiniert werden und in die Städte ziehen, wo die vielen Ärmeren unter ihnen das sogenannte Proletariat bilden, welches eben nichts als seine Nachkommen (proles) besitzt und so zur Lohnarbeit gezwungen ist.

Noch unter dem städtischen Proletariat sind die als Kriegsbeute und Handelsware zunehmenden Sklaven in Stadt und Land angesiedelt, die teils in den Landgütern der Oberschicht, teils in Bergwerken, aber auch in den Haushalten derjenigen arbeiten müssen, die sie sich leisten können. Am Ende der großen Expansionszeit steht ein Teil von ihnen unter offenbar charismatischen Führern gegen ihre Herren auf, um dann in aufwendigen Militär-Operationen erneut und auf das Grausamste unterdrückt zu werden.

 

Neben dem bei wenigen Leuten konzentrierten Geld und Grund-Eigentum, welches es Oberschicht-Patriarchen ermöglicht, schutzbedürftige Leute als Klientel unter sich zu versammeln, die bei Wahlen in den Volksversammlungen eingesetzt werden und ab dem zweiten Jahrhundert auch als brutale Schlägertrupps auf Straßen und Plätzen fungieren, dient der Oberbefehl (imperium) über Truppen in den Provinzen, der vor allem zum Niederschlagen von Aufständen, aber auch für neue Eroberungen eingerichtet wird, als erheblicher Machtfaktor für machtgierige Männer, die nicht mehr den längeren Weg der Konsensbildung im und mit dem Senat suchen.

 

Diese Karrieristen nutzen nun auch "Politik", so wie das schon im Athen des 5. Jahrhunderts geschah, nämlich die Suche nach Anhängerschaft über "politische Programme", die öffentlich vertreten werden und welche in Entscheidungen in den Volksversammlungen, insbesondere zunehmend der der Plebejer, umgesetzt werden können, was sie zu populares macht, wie sie dann im 1. Jahrhundert heißen werden, während diejenigen, die - vereinfacht gesagt - eine "Politik" gegen den Senat ablehnen, als optimates bezeichnet werden, die Besten also. Tatsächlich handelt es sich weniger um politische Parteien als die Machtinteressen mächtiger Familien, die nun "politisch" garniert werden.

 

Konfliktthemen sind schließlich unter anderem die verarmten Kleinbauern, die Ansiedlung der Armee-Veteranen auf neuen Kleinbauernstellen, die Lebensmittelversorgung der städtischen Armen in der immer größeren Stadt Rom und dann zunehmend auch die rechtliche Stellung der Menschen in jenen italischen Gebieten, die man zu Bundesgenossen Roms gemacht hat. Seit den Brüdern Gracchus finden solche Auseinandersetzungen als Machtkämpfe mit Mord und Totschlag statt, mit Straßenkämpfen und dann auch mit dem Marsch von Legionen auf Rom und mit Bürgerkriegen zwischen einzelnen Armeeführern.

 

Spätestens für Gaius Iulius Caesar wird deutlich, dass es im Rahmen der bisherigen Institutionen kein Ende dieses grausigen Blutvergießens geben kann, und dass nur eine Ausweitung dessen, was bislang für besondere Fälle als sechsmonatige Diktatur vorgesehen war, inneren Frieden bringen würde, und zwar gestützt auf das Militär. So lässt Caesar sich ein Imperium, also eine Befehlsgewalt, zur Eroberung des noch nicht unterworfenen Galliens geben und zieht schließlich mit seinem durch erfolgreichen langen Krieg an ihn gebundenen Heer auf Rom und errichtet eine Mischung aus Diktatur und Monarchie, allerdings ohne diese mit den bisherigen Institutionen versöhnen zu können.

 

Nach seiner Ermordung wird binnen dreizehn Jahren seine Nachfolge militärisch ausgefochten, was in die Erfindung des Prinzipats durch den ersten Augustus mündet, der Verbindung einer de facto monarchischen Instanz, die über die Besetzung von Schlüsselämtern bei Beibehaltung der hergebrachten Strukturen organisierter Macht mehr oder weniger funktioniert. Princeps ist der Erste, und deutsch wird das dann zum Fürsten werden.

 

Kaiserreich

 

Nur zur Einordnung: Rund 200 Jahre vor Augustus einigt ein erster chinesischer Kaiser, der sich Qin Shihuangdi („Erster Gottkaiser von Qin“) nennt, die sieben chinesischen Großreiche. Ganz China erhält das effiziente Verwaltungssystem des terroristisch regierten Reiches Qin. Maße und Gewichte werden standardisiert. Minister Li Si vereinheitlicht die Schrift. Mit Hilfe brutalster Zwangsarbeit lässt der Kaiser die große chinesische Mauer durch Verbindung bereits bestehender Mauern der sieben Reiche errichten. Auch erste Kanäle für den Transport von Waren werden gebaut. Als der Kaiser 210 stirbt, wird er in einer einzigartig gigantomanischen unterirdischen Grabanlage bestattet, begleitet unter vielem anderem von seiner Terracottaarmee.

 

Es ist das einzige Riesenreich, welches in modernisierter Form bis heute bestehen bleibt und inzwischen eine Weltherrschaft anstrebt, welche in ihrer Dimension völlig außerhalb des Horizontes des römischen Reiches bleiben wird, und deren wesentliche Grundlage inzwischen hasserfüllte Ablehnung abendländischer Vorstellungen von Freiheit und Rechtstaatlichkeit und Verachtung dort inzwischen eingetretener psychosozialer Verwahrlosung ist.

 

Zurück in die abendländische Antike: Die Augusti (Erhabenen) bzw. Caesaren (deutsch: Kaiser) werden das Reich mehrere Jahrhunderte zusammenhalten und zunächst noch erweitern, aber sie werden weder verhindern können, dass es immer wieder zu oft extrem gewalttätigen Machtkämpfen kommt, noch wird es ihnen gelingen, ohne massive Grausamkeit und erhebliches Blutvergießen regieren zu können.

 

Der zunehmend nur noch pro forma mitregierende Senat, die alten Ämter und die Volksversammlungen haben nur noch die Funktion, kaiserliches Regiment zu stützen und werden zunehmend durch einen Hof(staat) abgelöst, in dem Ritter und freigelassene Sklaven immer wichtiger werden. Mehr an das Zeremoniell altorientalischer Despotien erinnernde höfische Rituale machen deutlich, wie wenig von der alten res publica übriggeblieben ist. Die zunehmende Vergöttlichung von Kaisern, insbesondere nach ihrem Tode, betont diesen despotischen Aspekt.

Dazu passt, dass das in eine lateinisch- und eine griechisch-sprachige Hälfte geteilte und inzwischen nicht wenig hellenistisch beeinflusste Reich immer offener wird für vor allem aus dem nahen Orient entstammende Kulte. In zahlreichen Städten gibt es jüdische Gemeinden, bis in kleine Militärstationen hinein den persischen Mithraskult und bald dann auch sich von den jüdischen absondernde erste christliche Gemeinden.

 

Der zunehmend despotischere Charakter der nun auch in immer gewaltigeren Palästen residierenden Herrscher ist nur möglich, weil sie sich auf das Militär stützen, und ihre Herrschaft entwickelt sich dabei zu immer offenerer Militärdiktatur. Die Legitimation durch militärische Gewalt lädt immer wieder "Usurpatoren" dazu ein, sich von ihren Legionen zu Gegenkaisern ausrufen zu lassen. Dem Kaisertum gelingt es also nur zeitweilig, den Bürgerkriegszustand, wie er das letzte Jahrhunderts vor der Zeitrechnung bestimmt hatte, zu verhindern, und manchmal hält er weiter jahrelang an.

 

Grundlegend besteht die römische Bevölkerung aus der plebs und einer Art Aristokratie, der nobilitas. Die Plebs ist in Freigeborene (ingenui) und Freigelassene (liberti) eingeteilt und darunter existieren die Sklaven (servi). Die vergleichsweise kleine Spitze teilt sich in den Ritterstand (ordo equester) und darüber den Senatorenstand (ordo senatorius). Ganz oben herrscht der Princeps mit seiner Familie, der domus imperatoria.

 

Gegen Ende der Kaiserzeit ist die Macht des Senates verschwunden, aber ein manchmal nicht einmal mehr am Senat beteiligter Senator gehört mit einem Mindestvermögen von einer Million Sesterzen zur reichsten und darum auch einflussreichsten Spitze einer in der Masse aus Plebejern bestehenden Bevölkerung. 

Die darunter liegenden Ritter mussten in der vorkaiserlichen Republik ein Mindestvermögen von 400 000 Sesterzen vorweisen, werden aber nun unabhängig davon vom Kaiser ernannt, um seiner Machtausübung zu dienen.

Die Militarisierung des zentralen Machtapparates in der späten Kaiserzeit lässt die Verwaltung in wesentlichen aus hohen Offizieren bestehen.

 

Seit 212 nach unserer Zeitrechung sind alle Freien im Kaiserreich "Bürger" und damit rechtlich gleichgestellt. Denselben Status erreichen meist nach einigen Generationen die freigelassenen Sklaven, deren Zahl erheblich zunimmt. Die übrigen Sklaven hingegen bleiben weiterhin ein relativ rechtloser Gegenstand in den Händen ihrer Herren.

 

Sehr handfest sind aber auch die vom Wirtschaften geprägten Strukturen. In ihnen liegt die wirtschaftliche Macht bei zum Teil riesigem und über mehrere Provinzen verteiltem Großgrundbesitz (latifundia), in dem die produktiv Arbeitenden immer mehr an ihre Scholle gebunden und von ihren Herren abhängig werden. Riesigen Latifundienbesitz machen die kaiserlichen Domänen (des fiscus) aus. Daneben existiert noch ein in seinem Umfang nicht bezifferbares freies Bauerntum auf eigenem Land. Schließlich gibt es zudem Kapital und Lohnarbeit in ebenfalls nicht mehr nachvollziehbarem Umfang.

 

*****

 

Das Kaiserreich expandiert zunächst weiter, das Gebiet des späteren England wird erobert, dasjenige südlich der Donau und der ganze Balkan. Dazu kommen Mesopotamien, das Hinterland der Levante, Ägypten und ein breiter Landstrich in ganz Nordafrika. Im vierten Jahrhundert (n.d.Zt.) dann nehmen an allen Seiten die Verluste zu, bis 476 ganz offiziell der letzte und längst machtlose Westkaiser abgesetzt wird und der Zerfall damit abgeschlossen ist.

 

Für den Weg in Richtung auf die Ursprünge des Kapitalismus ist die innere Entwicklung im Reich wichtiger als die Abfolge von Kaisern und Kriegen. Dieses Reich entwickelt auch in der Kaiserzeit nur ein sehr geringes Maß an Staatlichkeit, und die Zentrale verbraucht einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen für das Militär. Zu diesen gehört eine maßvolle Erbschaftssteuer von 5% und eine Kopfsteuer in den Provinzen. Dazu kommt dort ebenfalls eine Grundsteuer. Bis gegen Ende des dritten Jahrhunderts (n.d.Zt.) bleiben Steuern und andere Abgaben relativ gering. Unter Diokletian wird versucht, die Berechnung der Grundsteuer durch Ermittlung der Kopfzahl der Arbeitskräfte und des Viehs sowie der Größe von Grund und Boden effizienter zu machen und sie gilt nun auch für Italien.

 

 Neben der am kaiserlichen Hof angesiedelten Regierungszentrale sind Provinzen und in ihnen Städte die wesentlichen Einheiten. Provinzen, die vor der Eroberung durch Rom kaum Städte kannten, wie auf dem größten Teil der iberischen Halbinsel, in Gallien und England werden darum mit Neugründungen überzogen, die sich am Modell der urbs Roma orientieren. Solche civitates (und je nach Status municipiae und coloniae) werden von einem Stadtrat (curia) regiert, der, da er ein Ehrenamt mit großen Verpflichtungen bedeutet, aus der Gruppe der großen Grundbesitzer gewählt wird. Diese Kurialen oder Dekurionen bestreiten wichtige Aufgaben und Ausgaben wie öffentliche Gebäude und das Amüsierprogramm für die städtischen Massen in der Regel aus der eigenen Tasche.

 

Civitas und Umland bilden wie bald auch mit den Bistümern eine Einheit, und die städtische Oberschicht ist sowohl stadtsässig wie zunehmend auf dem Landgut in der villa rustica wohnend. Diese Landgüter werden wiederum von dort hausenden Sklaven bearbeitet, während die von Status und Reichtum ganz oben angesiedelte senatorische Oberschicht in der Regel über riesige Latifundien verfügt, auf denen Sklavenmassen nicht mehr kontrolliert werden könnten, und wo Klein-Pächter als Kolonen (Siedler) angesiedelt werden. Da die Abgaben an die Regierungszentrale vor allem auf Landwirtschaft und damit auch der Kopfzahl der Produzenten beruhen, werden diese Kolonen immer stärker an ihre Scholle gebunden, was die erobernden und neusiedelnden Germanen dann erst einmal so übernehmen werden. Neben alledem gibt es noch eine unbekannte Anzahl freier bäuerlicher Landwirtschaft.

 

Erhalten sind heute im wesentlichen Texte, Gebäude und Artefakte der kleinen römischen Oberschicht, dagegen wissen wir kaum etwas über die vielen Menschen, die das Land bearbeiten, als Sklaven in Bergwerken zugrunde geschunden werden, als kleine Gewerbetreibende in den Städten leben oder zur vermutlich großen Zahl der Lohnarbeiter gehören. Aus kultischen Veranstaltungen entwickeln sich in den Städten schon vor der Kaiserzeit von der kleinen Oberschicht und dann vor allem in der Stadt Rom von den Caesaren ausgerichtete und finanzierte Amüsierspektakel, die entweder gratis oder gegen geringen Obolus die städtischen Massen bei Laune halten. 

Bei Wagenrennen, Gladiatorenkämpfen, Tierhetzen, oft dümmlich ordinären Komödien und manchem mehr können die zivilisierten, also untertänig gehaltenen Massen ihre komplementäre Seite, nämlich ihre aggressive und pervertierte Raubtierpsyche ähnlich wie in der spätkapitalistischen Gegenwart heute ausleben. 

 

Schon in den bürgerkriegsartigen Konflikten vor der Kaiserzeit beginnt mit Spenden und dann mit regulären Gaben das Abfüttern der Proletariermassen der urbs Roma, die bei einer Einwohnerzahl von etwa einer Million in der frühen Kaiserzeit mehrere Hunderttausende umfassen. Erst wird Getreide verteilt, dann kommen auch andere Grundnahrungsmittel dazu, wobei das allerdings wohl kaum das Existenzminimum einer Familie erreicht. Aber auch darüber hinaus bieten reiche Magnaten und dann auch vor allem Kaiser den städtischen Massen einiges an: Wasserversorgung und Abwasserableitung, riesige öffentliche Badeanlagen und öffentliche (Gemeinschafts)Toiletten zum Beispiel. 

 

Das Wohnen der meisten in mehrstöckigen, oft baufälligen Mietskasernen von Immobilien-Großbesitzern, überwiegend in winzigen Wohnungen ohne Bad, Toilette und oft auch ohne Küche hingegen erinnert an die Wohnsituation des Industrieproletariats des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

 

Für die spätere Entstehung von Kapitalismus wichtig wird die als selbstverständlich, das heißt nicht mehr hinterfragbar angesehene Verteilung von Macht weniger und Ohnmacht vieler, damit verbunden die extrem ungleiche Verteilung von Land und Reichtümern, beides dann bald durch das Christentum gerechtfertigt. Wir haben zudem keine Schriftzeugnisse der untertänigen Massen, das Bild der Zeit wird durch eine kleine Oberschicht geprägt, die uns auch alleine in der Entstehungszeit von Kapitalismus ihr Bild von ihrer Zeit hinterlassen wird. Dieses Bild wird dann auch die spätere, einseitige Geschichtsschreibung prägen.

 

Juden und Jesuaner

 

Kapitalismus wird ausschließlich in lateinisch christianisierten Gegenden seinen Ursprung haben, und deshalb kann man von vorneherein vermuten, dass die christliche Religion als eine seiner Rahmenbedingungen anzusehen sein wird. Darum sei hier bereits etwas näher darauf eingegangen.

 

Etwa in der Zeit der solonischen Reformen in Athen soll ein Machthaber in Jerusalem, Zentrum des kleinen Juda, nach dem Untergang Israels seine Macht dadurch zu steigern versucht haben, dass er den (Opfer)Kult der hohen Priester eines Gottes in einem Tempel im Hauptort Jerusalem für seine Untertanen verbindlich machte und das Ganze mit der Redaktion sehr verschiedener wohl weithin unhistorischer Texte als einer Art chauvinistisch-gewalttätigen Nationalmythos flankierte. Dem Ganzen gab er noch eine Art politisch-religiöses Gesetz bei, welches direkte Botschaft des jüdischen Gottes sein sollte. Das extremste Kuriosum dieses Regelswerks ist die Markierung der Männer an ihrem Penis, was den jüdischen Frauen die politiko-religiös korrekten Geschlechtspartner anzeigt und alle anderen ausschließt.

 

Das eher machtlose kleine Reich zwischen Ägypten, Assyrien und Mesopotamien überlebt nur mit Mühe und durch Zeiten der Fremdherrschaft als Kuriosum einer Religionsgemeinschaft, die eine Zivilisation stabilisieren soll, die aber die Angriffe der Heere römischer Imperatoren nicht überleben wird. Die heiligen Schriften werden erst zweitausend Jahre später als Gründungsmythos eines erneut religiös begründeten Staatsgebildes dienen.

 

Die jüdische Oberschicht gerät damals unter den Einfluss des Hellenismus und die Bevölkerung schließlich unter römische Aufsicht. Unterschiedliche religiöse Kleingruppen bilden sich neben solchen, die die Ausländer wieder militant aus dem Land vertreiben und Überfremdung zurücknehmen wollen. Tatsächlich werden die Juden insbesondere in Palästina zu den wohl aufsässigsten unter den vom römischen Militär unterworfenen Volksgruppen, was schließlich zu ihrer Vertreibung aus Jerusalem und der Zerstörung des Tempels führt.

 

Von einem bei Flavius Josephus, Paulus und dann in den Evangelien erwähnten Jesus ist als historische Person fast nichts überliefert, aber es lässt sich immerhin vermuten, er sei mit etwa dreißig Jahren (von denen wir nichts wissen) durch einen Johannes, der offenbar Menschen am Jordan durch Taufe und Predigt bekehrt, so beeinflusst worden, dass er sein bisheriges Leben aufgibt und als Wanderprediger vor allem in Galiläa, entfernt vom judäischen Kernland, die Menschen aufruft, ihren Besitz und ihre persönlichen Bindungen aufzugeben und ihm als umherziehende Bettler zu folgen, wohl weil man in seiner Nachfolge (als "Apostel" auf griechisch) das nahe Weltenende überstehen und dann in paradiesische Zustände geraten würde.

 

Genaueres kann man nicht wissen, da die Generationen später geschriebenen und dann offenbar von der entstehenden Kirche noch redigierten Evangelien in sich sehr widersprüchlich sind und zudem von haarsträubenden Wundergeschichten durchzogen: Einmal wird die Ehe abgelehnt, einmal für unauflöslich erklärt, einmal wird "Nächstenliebe" bis hin zur "Feindesliebe" propagiert, andererseits werden die meisten Menschen sehr harsch vom kommenden "Himmelreich" ausgeschlossen. Das Judentum soll offenbar verändert, die Bedeutung der Tempelpriester und ihres Kultes, Basis ihres Wohlstandes und ihrer Macht, gebrochen und jede Beziehung zwischen Religion und weltlicher Macht abgeschnitten werden.

 

Offensichtlich ist das Ergebnis seines Wanderpredigertums für Jesus sehr unbefriedigend, die Rede ist nur von "zwölf" Aposteln, die mit ihm ziehen und von wenigen, offenbar gutsituierten Frauen, die ihn bewundern. Wohl um mehr Aufsehen zu erregen, zieht er mit seinen wenigen Anhängern nach Jerusalem und erregt dann, möglicherweise durch Randalieren im Tempel, den Ärger der diesen verwaltenden Priester und anderer fromm-orthodoxer Juden, die beim römischen Statthalter seine Hinrichtung erreichen.

 

Damit hätte sich die Jesusgeschichte eigentlich erledigt, aber der kleine Anhängerkreis verwandelt sie nun, um sich nicht enttäuscht auflösen zu müssen, in eine Christusgeschichte (christos steht griechisch für den hebräischen messias, den Erlöser). Man verkündet seine Auferstehung von den Toten, seine Auffahrt in ein Himmelreich, und, damit das alles für schlichte Gemüter glaubhaft wird, wird aus dem Menschen Jesus nun der leibliche Sohn des (letztlich immer noch) jüdischen Gottes. Er habe versprochen, noch zu Lebzeiten seiner Anhänger zurückzukommen. Möglicherweise hatte Jesus einen väterlichen Gott für seine Gläubigen gepredigt und darum von seinem Vater im Himmel gesprochen.

 

Schon der jüdische und nun viel mehr noch der christliche Gott lebt nicht wie antike Götter auf Erden, auf hohen Bergen oder manchmal auch mitten unter den Menschen. Zeus beispielsweise kopuliert gelegentlich mit attraktiven sterblichen Mädchen und Frauen wie der Io. Himmelreich / Paradies / das Reich des christlichen Gottes ist aber ganz und gar nicht von dieser Welt und in seinem Charakter (und Aggregatzustand) völlig anders. Christen werden so an zwei Welten glauben, eine irdische und zeitlich begrenzte, das saeculum bzw. die saecula, und eine himmlische, nicht mehr durch Zeit und Raum begrenzt.

 

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Eines lässt sich deutlich erkennen: Leute wie der evangelische Jesus oder wie der ganz andere Buddha und ein paar andere hatten ein Bewusstsein für das Unheil, welches Menschen anrichten und waren davon betroffen. Für den überlieferten Jesus war eine ganze (Menschen)Welt so unheilvoll, dass sie verschwinden soll, für ihn und für Buddha ist eine radikale Lebensänderung zugleich die einzige Hoffnung. Damit sie im Interesse der Mächtigen popularisiert werden konnten, mussten beide ihre Substanz verlieren: Man macht nun so weiter wie zuvor und missbraucht die Namen dieser Leute für das genaue Gegenteil dessen, was sie geäußert hatten. Das von vorneherein aus den Interessen von Machthabern heraus entwickelte Judentum und der Islam brauchten keine solche Wende und ihnen fehlt auch bis heute weitgehend jede kritische Selbstreflektion.

 

Frühes Christentum und Kirche

 

Das Christentum entsteht nun aus mehreren Wurzeln heraus: Der "Herr" Jesus kehrt nicht mehr zurück auf Erden, um das neue Paradies einzuläuten, wie das noch Paulus erhoffte. Und je mehr von Generation zu Generation seine Rückkehr auf Erden hinausgeschoben werden muss, desto deutlicher wird, dass man im Kompromiss mit den irdischen Realitäten leben und sterben muss und erst irgendwann nach dem Tod zur "Auferstehung" und dem "ewigen Leben" gelangen kann.

Damit verbunden ist, dass in Ermangelung eines wundertätigen und die rechte Lehre vermittelnden Gottessohnes Menschen treten müssen, die in Konkurrenz zur jüdischen, griechischen und römischen Priester-Rolle und zugleich als Jesus ersetzende Heilsbringer treten.

Die Kirche übernimmt mit zunehmend beamteten Priestern Schritt für Schritt die Erlöserfunktion des Messias. Diese ersetzen dann immer mehr das Gebot Jesu, ihm ihn nachahmend nachzufolgen, und ermöglichen so den "Gläubigen", fast genauso zu leben und zu agieren wie ihre heidnischen Nachbarn: Der Kirchgang und die Unterwerfung unter magische Riten genügen, um Christ zu sein.

 

Was so im Verlauf einiger Generationen nach Jesus entsteht, sind Gemeinde-Versammlungen (ekklesia) mit Priestern (presbyteros) und in ihrer Zusammenfassung Kirche (nach dem Adjektiv kyriakón - zum Herrn, kyrios, gehörig). Ganz im jüdischen, aber auch griechisch-römischen Sinne wird diese entstehende Hierarchie zu einem Männerverein. Die so entstehende Kirche ist ein christliches Spezifikum und in der Menschheit seitdem einzigartig.

 

Kirche ist dabei zunächst das Gebäude und die Gemeinde, die sich dort regelmäßig trifft, um schon bald im "sakralen" und dann auch konsakrierten Raum "geistlicher" (spiritueller und zugleich magischer) Heilsmittel zuteil zu werden. Kirche als Organisation entsteht dann aus der Trennung von Priesterschaft und Gemeinde, wobei den Laien, von griechisch laos, dem Volk, die entscheidenden Rituale nach und nach aus der Hand genommen werden. Dazu kommt die Abspaltung eines monastischen Lebens als Eremit oder dann auch im Kloster andererseits.

Klöster und Klerus gehorchen etwas unterschiedlichen Regeln, mit denen sie aus der Laienschar herausgehoben sind. Gemeinsam ist ihnen idealiter in der Nachfolge Jesu und der Apostel der Verzicht auf persönliches Eigentum, die Keuschheit als Verzicht auf das Ausleben des Geschlechtstriebes und überhaupt ein gemeinschaftliches Leben außerhalb bzw. am Rande der „Welt“, des saeculum. Schließlich gehört dazu bei beiden der bedingungslose Gehorsam entweder gegenüber dem Abt oder gegenüber dem Vorgesetzten in der kirchlichen Hierarchie.

 

Aus Kontakten zwischen den Kirchen-Gemeinden entsteht Kirche aber auch als übergreifende Organisation, in der jeweils pro Region, bald dann je civitas, mit Sitz in deren städtischem Zentrum, ein Aufseher, griechisch episcopos (deutsch später: Bischof), über die ordentliche Amtsführung der Priester und die aktuell gerade korrekte Heilslehre wacht. Diese werden aber immer wieder nicht nur zusammenarbeiten, sondern in gelegentlich massive Konflikte um Macht und Rang treten.

Über ihnen wiederum sitzen bald in den Großstädten des Reiches Metropoliten, aus denen später Erzbischöfe werden, und angesichts der Größe des Reiches dann noch einige wenige Patriarchen, Überväter sozusagen. Im weströmischen Reich ist der Bischof von Rom ein solcher.

Erst infolge der Teilung des Imperiums in ein östliches und ein westliches Reich macht sich der Bischof von Rom unter der dann zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert durchgesetzten Bezeichnung papa zum geistlichen Herrn der weströmischen Kirche, wobei Metropolit und Papa allerdings lange nur eine Art "Ehrenvorrang" (Goetz) innehaben und in Zukunft erst noch entsprechende Befugnisse wird durchsetzen müssen.

 

Begründet wird das alles dann durch das sicherlich neben anderem später eingefügte Jesuswort an Petrus als Auftrag zur Kirchengründung, dem sowohl paulinische Texte wie die Apostelgeschichte mit ihrer Erwartung der Wiederkunft des Herrn widersprechen. Aber da es sich hier um die einzige Rechtfertigung der Macht einer hierarchisch gegliederten Institution handelte, überstieg es wohl das kritische Denkvermögen der Beleseneren in der Kirche und natürlich ihre handfesten Interessen, daran zu zweifeln.

 

Tatsächlich hat wohl der Autor ausgerechnet den ob seiner Gewalttätigkeit von Jesus gerügten Petrus dazu ausersehen, weil sein griechischer Name (petros lässt sich als Fels übersetzen) sich für das Wortspiel eignete, er sei der Fels, auf den Jesus baue:

et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam (…) Et tibi dabo claves regni coelorum, et quodcunque ligaveris super terram, erat ligatum et in coelis, et quodcunque solveris super terram, erit solutum et in coelis (Matthäus XVI,18f: Und ich will dir die Schlüssel zum Himmelreich geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.)

 

Ursprünglich jüdischen Gruppen insbesondere auch der jüdischen Diaspora des römischen Imperiums entstammend, löst sich das Christentum schon bald vom Judentum und breitet sich in kleinen Gemeinden über das ganze römische Reich aus. Die Benennung "Christen" wird den neuen Gläubigen wohl erst von außen zugelegt und dann von den Jesus-Anhängern übernommen, die sich damit bereits von Juden abgrenzen. Das "Christentum" taucht erst im zweiten Jahrhundert als Christianismós in Anlehnung an Ioudaismós und Hellēnismós auf. Im Deutschen wird Christentum als Wort wohl erst im sogenannten hohen Mittelalter geläufig.

 

Bis sich die Kirche im vierten Jahrhundert mit der "weltlichen" Macht verbindet, muss sie erst einmal "Religion" herstellen. Uns fehlt heute eine authentische "Lehre" Jesu und wir wissen darum nicht, wie die paulinische entsteht und dann das Konglomerat der Evangelien, in das die entstehende Kirche bereits deutlich eingegriffen hat.

Des weiteren bedürfen die Gemeinden einer Organisation, die sich der richtigen Lehrmeinung versichert und offensichtlich auch gemeinschaftsbildender Rituale, wie sie die damals konkurrierenden Kulte besitzen. Dazu gehören als Elementaria die Taufe als erste Austreibung des Teufels aus den neuen Menschenkindern und bald auch die Verlagerung des Abendmahles in die Hände von Priestern, die diesem immer magischere Qualität verleihen.

 

Je mehr Menschen sich in christlichen Gemeinden versammeln, desto mehr ignorieren sie die schwer einzuhaltenden jesuanischen Gebote wie die Besitzlosigkeit, die Nächstenliebe und die absolute Friedfertigkeit. Tatsächlich unterscheiden sich viele Christen in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod von ihren "heidnischen" Nachbarn alltäglich nur noch durch den Kirchgang. Dort in der Kirche, zunächst noch kleine, unscheinbare Räume, müssen Priester jene wundersamen Heilsmittel des Jesus der Evangelien ersetzen, und sie tun dies, indem sie nach und nach einen magisch-sakralen Raum schaffen und in diesem mit der von magischer Zauberkraft durchsetzten Wiederholung des Abendmahles samt Verwandlung von Wein in Blut Jesu und Brot in das Fleisch Jesu ein Sakrament neben der Taufe etablieren, auf das dann noch weitere folgen werden, in denen die Gegenwart des Christengottes behauptet wird.

 

Die zeitliche Welt vor der ewigen nach dem Tode ist das saeculum. Das meinte ursprünglich ein Zeitalter, eine Lebenszeit, dann auch ein Jahrhundert, wie es sich im französischen siècle und im spanischen siglo zum Beispiel erhalten hat. Im kirchlichen Sprachgebrauch wird daraus alles "Zeitliche" als "Welt" im Gegensatz zum zeitlos-ewigen Reich Gottes außerhalb der Welt.

So wie nun ein göttliches und ein irdisches Reich (welches das Imperium Romanum ist) gegenüber gesetzt werden, so auch eine "weltliche" Sphäre, in der Jesus kaum mehr eine Rolle spielt, und in der man gehorsamer Untertan der römischen Machtelite ist und sein soll.

 

Diese nächste Etappe wurde vorbereitet durch die evangelisch-jesuanische Aufforderung, sich nicht mit den Mächtigen (in Palästina) anzulegen, da das Himmelreich ja nahe sei. Das verwandeln die Christen im römischen Kaiserreich in die Position fast bedingungsloser Untertänigkeit unter den Machtapparat. Solches wiederum honorieren die Kaiser des 4./5. Jahrhunderts, indem sie die Kirche zunächst als Macht-Partner anerkennen und ihr dann nach und nach erlauben, alle Andersgläubigen zu vernichten. Insofern ist nun das Christentum bereits erheblich rejudaisiert, und diese Entwicklung wird weitergehen.

Es wird nun verkündet, dass die Verteilung von Macht und Reichtum wie die von Ohnmacht und Armut von dem Gott der Kirche so gewollt ist, weswegen sich die Massen, die produktiv arbeiten, ganz wenig haben und ganz offiziell machtlos sein sollen, zur Gänze zu fügen haben.

 

Die neuen irdischen Heilsbringer, die christlichen Priester, sollen sich im Sinne der Glaubwürdigkeit ihrer zunehmenden und exklusiven magischen Kräfte als Mittler zwischen ihrem Gott und den Laien vom immer laueren Christentum wie ihr Vorbild Jesus abheben, vor allem durch Besitzlosigkeit, die durch ein Einkommen kompensiert wird, und durch sexuelle Enthaltsamkeit, eine Art ritueller Reinheit, wobei vor allem letztere (verständlicherweise) in den ersten christlichen Jahrhunderte so sehr schwer fällt, dass sie immer wieder neu und nicht sehr erfolgreich von der Kirche beschlossen werden muss. Dazu erhalten Priester bald eine Tracht, die sie von den Laien auch optisch abhebt.

 

Die Paradiesgeschichte wird nun, etwas anders als bei den Juden, vornehmlich als sexueller Sündenfall gedeutet und der menschliche Geschlechtstrieb als Urgrund aller Sündhaftigkeit. Diesen als Jungfrau, Mönch oder Priester zu unterdrücken, wird zum Kern christlicher Tugend. Damit wird der tendenziell anarchische Charakter menschlicher Geschlechtlichkeit einerseits wahrgenommen, andererseits aber nun das extreme Gegenteil vertreten, eine Art Streben nach seiner Vergeistigung als Form von Sublimation, einer Art idealer Geschlechtslosigkeit.

 

Christentum etabliert sich im griechisch-römischen Raum und in Konkurrenz zu dortigen Kulten und der in oberen Kreisen rezipierten Philosophie. An diese angelehnt schaffen Häuper der Kirche etwas eigenartig Neues, was Theologie heißen wird, eine komplizierte Lehre von Gott, deren verzwicktester Teil darin besteht, dass ihr Gott aus drei Teilen besteht, die aber eines sind: Ihm selbst als Vater, seinem Sohn und einem ominösen heiligen Geist, den die Kirche nun quasi gepachtet hat, sie kann mit seiner Hilfe nämlich nun Verkündigung betreiben.

Dieses Theologisieren aber, bald angereichert mit banalisierten Aspekten griechischer Philosophie, ist nicht nur für fast alle Menschen mehr oder weniger unverständlich, sondern führt zu immer neuen Auseinandersetzungen, die - für eine Religion ungewöhnlich - mit Logik, also Vernunft angereichert werden. Nur so wird am Ende jene Intellektualität bei den Wenigen, die sie beherrschen, zu immer trickreicheren Wendungen in der Entwicklung von Christentum führen.

 

 

Das vierte Jahrhundert

 

"Römer" ist ein kurioses Wort für die im Westen mehr oder weniger romanisierten Völkerschaften der Iberer, Gallier und Nordafrikaner und die nur wenig romanisierten Griechen, Syrer usw. im Osten, und die Übertragung der Benennung der Bewohner der Stadt Rom auf alle Untertanen des Imperium Romanum bleibt eine missverständliche Notlösung.

Nachdem das Reich dieser "Römer" im zweiten Jahrhundert (n.d.Zt.) seine größte Ausdehnung erreicht hat, muss es immer mehr militärische Anstrengungen in die Unterwerfung von sich verselbständigenden Regionen unter teils sogar nach der Gesamtherrschaft strebenden Militärs und auch gegen zunehmende militärische Bedrohungen von außen und dabei von fast allen Seiten unternehmen.

 

Unter Diokletian dienen dazu innere Reformen und die Aufteilung des Imperiums auf zwei Augusti und zwei Caesaren. Diese scheitert zunächst dann an der Machtgier ihrer Nachfolger, unter denen es einem Konstantin gelingt, wieder die Alleinherrschaft zu erringern. Dieser nähert sich der (christlichen) Kirche an und versucht sie als zusätzliches Machtinstrument im Reich einzusetzen. Zudem werden die letzten Reste eines Prinzipats beseitigt und ein immer despotischerer Zwangsstaat errichtet, der im Interesse des Militärs stärker in die Wirtschaft eingreift. Mit der Errichtung einer Dynastie soll die Herrschergewalt gestärkt werden, was aber im 5. Jahrhundert eher zum Verfall führt, da im Westen nun zu viele Kinderkaiser antreten.

 

Christentum erscheint nun als Religion eines kriegerischen Gottes des Schlachtenglücks ganz im jüdischen Sinne. Der evangelische Jesus der Nächstenliebe wird so zum christlichen Gott der Feindseligkeit gegen alle, die sich nicht korrekter weltlicher und geistlicher Macht unterwerfen. Der weithin friedfertige Jesus der Evangelien wird zu einem Kriegsgott der Rechtgläubigen, und vor die Hoffnung auf Erlösung schiebt sich immer mehr die Angst aus der Drohung heraus, ohne die Heilsmittel der Kirche in einer schrecklichen Hölle zu landen.

 

Die hohen kirchlichen Ämter fallen immer häufiger an Mitglieder der römischen Oberschicht, und mit Kaiser Konstantin wird der höhere Klerus eingeladen, Teilhaber an der weltlichen Macht zu sein.

Die kaiserliche Familie und reiche Oberschicht-Leute der Antike versorgen die Kirche seit ihm mit kompletten sakralen Gebäuden („Kirchen“), die über den Gebeinen von Märtyrern errichtet werden, und mit Geschenken. Die Bischofskirche wird so zum Eigentümer an immobilem Besitz und von Geld. Auf der Seite der „weltlichen“ Macht, die sie schützt und verstärkt, droht ihr von nun an „Verweltlichung“.

 

Bischöfe erhalten Privilegien wie das, in der Kirche Sklaven rechtsgültig freilassen zu dürfen, und Priester werden seit dem 4. Jahrhundert einer eigenen Gerichtsbarkeit unterworfen. Es taucht zum ersten Mal der Titel Erzbischof auf. Solche leiten die Synoden in ihrem Bereich und betreiben eine gewisse Aufsicht über ihre (Suffragan)Bischöfe. Bis ins zweite Millennium hinein wird es Konflikte zwischen Erzbischöfen und Suffraganen um die Machtverteilung geben, wie zum Beispiel die zwischen Hinkmar von Reims und den Bischöfen von Laon und Soissons bezeugen.

 

Das Christentum siegt also, wo und indem es seine ohnehin kaum lebbaren  jesuanischen Wurzeln aufgibt, alle radikale Kritik Jesu (am seinerzeit vorherrschenden Judentum) ablegt, aber dabei die Evangelien nicht verbrennen kann. Diese werden in Zeiten einer nachantiken Entalphabetisierung von der Priesterschaft weggeschlossen, nach jeweiligem Zeitgeschmack um-interpretiert und tauchen erst wieder mit evangelischen Erneuerungsbewegungen auf. Für diese wird dann aber die direkte Bezugnahme auf den evangelischen Jesus lebensgefährlich werden.

 

Dafür lässt Kirche sich vom Kaiser auch inhaltlich dominieren, wiewohl der Kaiser zu Lebzeiten nicht einmal getauft ist. Abgesehen von einem kurzen Restaurationsversuch der alten (Staats)Kulte entwickelt sich das nunmehr auf Konzilien inhaltlich dogmatisierte Christentum im 4. Jahrhundert langsam zu einer dominanten und dann massiv unduldsamen Staatsreligion, die beginnt, alle anderen Kulte auszurotten. Dieser gewalttätige und ausgesprochen kriegerische Charakter des Christentums, welcher aber auch gar nichts mehr mit dem Jesus der Evangelien zu tun hat, darin dem des antiken Judentums und des bald aufkommenden Islams recht ähnlich, wird sich bis durch das lange Mittelalter halten und dann seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch ähnlich brutalen Polit-Religionsersatz abgelöst werden.

 

Seit 220 bedroht die Dynastie der Sassaniden in ihrem persischen Großreich das Imperium im Osten, während sich im Norden immer neue germanisch sprechende Volksgruppen bäuerlichen Charakters bilden, die sich schon seit Beginn der Kaiserzeit langsam unter dem Eindruck des attraktiven materiellen Wohlstandes verändern: Sie werden anzivilisiert durch stärkere Differenzierung in arm und reich und bilden vorübergehend Koalitionen unter Heerführern für Raubzüge dort, wo für sie etwas zu holen ist. Grenznah sind Franken und Alamannen, wie sie die Römer nennen, auf rechtsrheinischem Gebiet. Daneben werden die ersten größeren Gruppen in Gallien angesiedelt und immer mehr Soldaten aus solchen Völkern rekrutiert.