ZUM BEGRIFF DER SCHWELLENZEIT: KAPITAL UND KAPITALISMUS ZUM ERSTEN (10.JH.) (derzeit in Arbeit)

 

 

Zeiten und Epochen: Das sogenannte Mittelalter

Räume (Der Großraum / Die globale Perspektive)

 

Kapital und Kapitalismus (Vor dem Kapitalismus / Kapitalismus)

Schwellenzeit

Natürliche Voraussetzungen

Kapital versus Lebendigkeit

Zunehmende Entstehung von Kapital: Nachfrage

Handel

Herr und Knecht, Kapital und Arbeit, ländliches Proletariat

Erfolgsprogramm (Widersprüche / Amüsierkonsum)

 

Gewalt, Macht und Herrschaft (Aus Stämmen werden Völker / Staat / Nation)

Freiheit(en)

Weitere schwierige Begriffsbildungen (Politik / Gesellschaft / Revolution)

 

Reichsbildungen:

Das ostfränkische Reich (Kaiser)

Italien

Das westfränkische Reich

England

 

 

 

Zeiten und Epochen: Das sogenannte Mittelalter als Ausgangspunkt

 

Mit der Schwellenzeit ungefähr des 10. Jahrhunderts im lateinischen Abendland lassen wir die Geschichte eines noch frühen Kapitalismus beginnen, weil wir hier die Rahmenbedingungen für das entstehen sehen, was ihn dann später zunehmend ausmachen wird. Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass Geschichte ein Kontinuum mit kleinen und größeren Brüchen ist. So sind dann schon Arbeitsteilung und Markt, das Machtmittel der Schrift, die Etablierung von Religion und Herrschaft und frühere Kapitalbildung zum Beispiel als Vorgeschichte sehr bewusst im Auge zu behalten, damit sie nicht als sogenannte "Selbstverständlichkeiten" einfach ignoriert werden.

 

Fragwürdige Epochalisierung als eine Art Ordnungsfaktor prägt schon das "mittelalterliche" Geschichtsbild, und eine neue setzt sich im 15./16. Jahrhundert durch, die eine Neuzeit von einem "Mittelalter" abtrennt, welches sie zwischen dem fünften Jahrhundert und der damaligen neuen Gegenwart verortet. Der nunmehr zunehmende Fortschrittsoptimismus, eine Art Grundideologie des Kapitalismus, geht davon aus, dass nun erneut eine Blütezeit der lateinischen Menschheit auf eine angenommene Höhe der Antike zu anhebe.

 

Eine solche scharfe Abtrennung einer Neuzeit von einem Mittelalter, von wenigen Intellektuellen betrieben, dürften die meisten Menschen nicht erlebt haben, vielmehr finden die großen Rupturen im 18. und 19. Jahrhundert statt und mit ihnen endet erst eine bis dahin eher kontinuierliche Entwicklung. Hier wird deshalb die "Neuzeit" des 16. bis 18. Jahrhunderts als letzte Phase des Mittelalters betrachtet werden.

 

Immerhin: "Weder Arbeitstechniken noch Lebensstandards oder soziale Schichtungen änderten sich grundsätzlich zwischen 1000 und 1800." (Ertl, S.16) Dasselbe betrifft bis 1648 in groben Zügen die Grenzen der Herrschaften der großen Potentaten in diesem Raum. Und die Quote der Abgaben an Herrscher bzw. Staat bleiben im ehemals lateinischen Abendland noch länger niedrig, bis sie dann in den immer totalitäreren Staaten der letzten rund 150 Jahren massiv anschwellen.

 

Andererseits soll für das lateinische Abendland - und nur für dieses macht es Sinn, diese Epochalisierung überhaupt anzusetzen - die Zeit des 5. bis 9. Jahrhunderts mit seinen Reichsbildungen auf weströmischem Boden, die dann allesamt wieder verschwinden, als eine Art Zwischenzeit betrachtet werden, die ich hier Nachantike nenne und die oft in etwa als Frühmittelalter bezeichnet wird. Germanisch dominierte Heerscharen versuchen in dieser Zeit von den weströmischen Strukturen zu retten, was zu retten ist, bis kaum noch etwas übrig bleibt, während zugleich neue Völkerwanderungen von Arabien aus, von Innerasien her und aus Osteuropa und Skandinavien diesen lateinisch-christlichen Raum immer weiter einschränken und verkleinern.

 

Insbesondere deutsche Historiker haben dann noch ein frühes, hohes und spätes Mittelalter unterschieden, und andere haben sich angeschlossen. Für unsere Zwecke, eine Frühgeschichte des Kapitalismus als zentraler treibender Kraft zu versuchen, bietet es sich an, mit der Schwellenzeit des 10. Jahrhunderts ein frühes Mittelalter beginnen zu lassen, welches irgendwann um 1100 mit einer ersten Trennung von Kirche und Staat und dem damit zusammenhängenden Schub in Richtung Nationenbildung endet, in dem das westliche Kaisertum de facto untergeht und das östliche nunmehr aus allen Himmelsrichtungen bedroht wird.

 

Wenn man ein "hohes Mittelalter" nicht deutschzentriert mit dem Untergang der Dynastie der Staufer beenden will, verliert das Wort jeden Sinn, denn ihm fehlt dann ein Einschnitt hin zu einem "späten". Hier sollen diese beiden "Begriffe" als durchweg fragwürdige Hilfskonstrukte beibehalten werden. Für den Übergang zu einer Neuzeit des 16. bis 18. Jahrhunderts gibt es dann überhaupt keine Zäsuren mehr, denn 1453 liegt außerhalb des hier behandelten Raumes und 1492 findet nichts wirklich neues statt, was deutlicher wäre als das Schwinden des Westkaiserreiches im 12. und 13. Jahrhundert oder als beispielsweise die sich langsam vollziehende Trennung von England und Frankreich.

 

Sobald man anerkennt, dass die treibende Kraft des sogenannten Mittelalters die Entstehung und der Aufstieg des Kapitalismus sind, verlieren diese an der Entfaltung von Herrschaft, dem bisherigen Hauptthema der Geschichtsschreibung, orientierten Begriffe ohnehin ihren Sinn. Aber dazu müsste Geschichtsschreibung erst einmal die Identifikation mit den Machthabern und ihrer Propaganda aufgeben...

 

****

 

Von der Welt ungefähr des 10. Jahrhunderts wissen wir so wenig, weil die Zahl schriftlicher Quellen eher gering ist, ihre Überlieferung ein gutes Stück dem Zufall überlassen war, und das, was erhalten ist, oft nur schwer auf irgendeinen "Tatsachengehalt", also eine Relation zu einer damaligen Wirklichkeit zu überprüfen ist.

 

Man hat geschätzt, dass rund 90 Prozent aller schriftlichen Quellen dess sogenannten Mittelalters erst dem 14. und 15. Jahrhundert entstammen. Dabei kommen die meisten schriftlichen Überreste zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert aus der Feder von Mönchen und Klerus bzw. einer kleinen weltlichen Oberschicht. An direkten Äußerungen der weit über 90 Prozent der übrigen Bevölkerung mangelt es.

 

Dort, wo mehr Kontinuität aus der Römerzeit erhalten ist, wie in Teilen Westfranziens und Italiens, bleibt etwas mehr Schriftlichkeit erhalten, während sie nach Osten und Norden bis auf Kloster und Kathedrale fast völlig verschwindet bzw. nie dagewesen ist. Insgesamt aber handelt es sich um mündlich kommunizierende Welten, und wir wissen fast gar nicht, was damals gesagt wurde.

 

Die Sprache der Kirche und der Verwaltung von Macht und Reichtum ist lateinisch, und das wird durch die Ausbildung von Volkssprachen gegen Ende des 8. Jahrhunderts auch in Gallien, im 9. Jahrhundert in Südgallien und Nordspanien und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts in Italien für die meisten Menschen zur Fremdsprache. Im Ostfrankenreich bilden sich langsam jene Idiome heraus, die gemeinsam als "deutsch" bezeichnet werden. Aber auch hier sind die wenigen schriftlichen Zeugnisse weit vorwiegend auf Latein verfasst.

 

Dabei wird Latein immer mehr - zwar weiterhin lingua franca der Reichen und Mächtigen - zu einer Kunstsprache, dem Mittellateinischen,wobei allerdings das antike Latein auch im wesentlichen als kunstvolle Sprache weniger Gebildeter überliefert ist.

 

 

Räume

 

***Der Großraum***

 

Unser Text hat inzwischen im Schnelldurchgang den Weg von den Besonderheiten der Natur des Menschen, ihrer Bewältigung durch Kultur(en) zu dem Übergang zu Zivilisationen institutionalisierter Macht, zu den städtischen Zivilisationen des Mittelmeerraums, der Bildung eines großen römischen Imperiums und dessen Zerfall im Westteil genommen, um dann die Bildung von zunächst germanisch dominierten Nachfolgereichen zu betrachten, die Ende des 9. Jahrhunderts weithin verschwunden sind, mit der Ausnahme angelsächsischer Königreiche, die erst 1066 untergehen werden. Aber in den Erbteilen dieser Reiche wird Kapitalismus entstehen.

 

Als altes Großreich hat nur der Ostteil des römischen Imperiums überlebt, dessen Versuche, wieder auf den Westen überzugreifen, mit dem Einmarsch der Langobarden in Italien einerseits und der visigotischen Rückeroberung der Region um Cartagena anderseits scheitern. Nur kleinere Gegenden auf der italienischen Halbinsel stehen im Westen noch unter nomineller oder tatsächlicher oströmischer Hoheit. Im südost-europäischen Teil wird Byzanz von Awaren, Bulgaren und anderen Völkerschaften bedroht und gerät unter slawischen Siedlungsdruck, und jenseits von Resten in Kleinasien hat es alle orientalischen und nordafrikanischen Gebiete an die stracks durchmarschierenden Heere des triumphierenden Islam abgeben müssen, an jenes Kalifat, welches nun größtes Reich auf ehedem römischem (und christlichem) Boden ist. Immerhin gelingt es Nikephoros Phokas, Kreta (960) und Kilikien zurück zu gewinnen und Vorstöße nach Syrien zu machen, nach Antiochia und Palästina.

 

Zwischen den derweil orientalisch überformten Sizilien und Hispanien gibt es muslimisch kontrollierte Küstenstädte, Militärstützpunkte und Piratennester im nördlichen Mittelmeerraum. Von Fraxinetum (La Garde Freinet) gelingt es islamischen Herren, im 10. Jahrhundert durch das Rhonetal vorzustoßen und die Westalpen mit dem Pass des Großen Sankt Bernhard zu kontrollieren. Die lateinischen Herrscher sind zunächst zu schwach für Gegenwehr. Als dann auf dem Pass der Abt Maiolus von Cluny auf der Rückreise von Italien gefangengenommen wird und das Aufsehen erregt, beginnt das Abdrängen der Muslime aus den Westalpen.

 

Von den Großstädten im christlichen Raum mit mehreren hunderttausend Einwohnern ist nur Konstantinopel übriggeblieben, das Kalifat hat mit Städten wie Antiochia und Alexandria die übrigen geerbt, unter islamischen Herrschern solche wie Cordoba oder Palermo zu neuer Blüte gebracht und neue wie Bagdad geschaffen. Aber nicht in dieser Welt großer Städte und großer Reichtümer wird der Kapitalismus entstehen, sondern in einer derzeit überwiegend bis fast ganz landwirtschaftlich geprägten Welt, in der außerhalb des Mittelmeerraumes Städte von wenigen tausend Einwohnern wie Inseln in einer agrarischen Welt mit noch oder wieder viel Naturlandschaft dazwischen herausragen, und wo die alten Städte auch im mediterranen Raum massiv geschrumpft sind.

 

Der Kapitalismus entsteht dort, wo das antike Erbe fast aufgezehrt scheint und es entsprechend zu Umbrüchen und Neuanfängen kommt, nicht zuletzt auch im Bereich institutionalisierter Machtentfaltung. Aus dem Zerfall des Karolingerreiches entwickelt sich in den sich wohl sehr langsam so empfindenden deutschen Landen in tastenden Schritten ein neues und neuartiges Königreich, welches sich mit der Eroberung von Teilen Norditaliens zum Kaiserreich aufbläht. Am Ende des 10. Jahrhunderts beginnen die Kapetinger von der Region um Paris aus mit einer Expansion, die hin zu einem französischen Königreich führen wird. Von Norden her erobern christliche Fürstentümer langsam Teile der iberischen Halbinsel, die viel später in einem spanischen und (früher schon) portugiesischen Königreich enden werden. In England findet ein gewisser Neuanfang erst mit der normannischen Eroberung 1066 statt, aber im Osten Europas expandieren bereits kleine Fürstentümer, aus denen sich Königreiche in Polen, Böhmen und Ungarn entwickeln werden.

 

Dennoch behält das vergangene westliche Rom einen gewissen Modellcharakter. Die Verhältnisse sind nicht mehr auf die Gebiete des ehemaligen Westreiches übertragbar, aber es sind immer noch Orientierungspunkte. Tradiert ist die lateinische Sprache, die sich in ein schriftliches Mittellatein wandelt, während sie sich in den "romanischen" Volkssprachen immer mehr regional verändert. Tradiert ist die römische Staatsreligion mit ihrem stadtrömischen Zentrum, welches im 10. Jahrhundert etwas an Bedeutung gewinnt, nicht zuletzt wegen der Aufwertung durch die ostfränkischen Herrscher. Tradiert wird die Aufteilung in Produktion und Handel einerseits und eine Schicht von Herrenmenschen andererseits, die von der Arbeit und den Mühen von Produzenten und Händlern profitieren, sich aber vor allem auch über kriegerische Gewalt definieren.

 

Mit der Zeit der Reichsbildungen des 10. Jahrhunderts wird die Spanne zwischen Antike und Mittelalter beendet. Der Bezug zur antiken Welt, noch in der Zeit Karls d.Gr. deutlich, weicht langsam neuen Ansätzen.

Nicht mehr so sehr institutionalisierte Zivilisation, wie in der Antike, sondern ein Geflecht von persönlichen Beziehungen, in dem ständig Macht und Rang neu und mit Drohgebärden oder Gewalt abgewogen werden, konstituieren das west- und das ostfränkische Reich. Die meisten Menschen sind darin eingeordnet, indem sie ganz unten untergeordnet sind.

 

 

***Die globale Perspektive***

 

Eine Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist notwendig auf das lateinische Abendland konzentriert. Aber sie muss Teile Afrikas und des Nahen Ostens sowie Asiens mit einbeziehen, denn die leisten einen erheblichen Beitrag zum Aufbau von europäischem Handels- und Finanzkapital. Einzig der Doppelkontinent Amerika und Australien bleiben außen vor. Die wohl inzwischen archäologisch belegten Fahrten der Wikinger nach Nordamerika bleiben ohne Folgen bis zum Abenteurer Kolumbus, und die chinesische und japanische Welt trauen sich nicht bis nach Australien vor.

 

Europa ist nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde und dort leben um das Jahr Tausend insgesamt vielleicht 40 Millionen Menschen, während es damals alleine in China rund 100 Millionen sind. Was die Entwicklung großer Städte angeht, ist das lateinische Europa in den letzten 700 Jahren weit zurückgefallen und beginnt sich gerade erst ansatzweise von diesem Schrumpfungsprozess zu erholen. Vielleicht hat Paris derzeit 10 000 Einwohner, Rom nicht viel mehr als 20 000, während Kaifeng und Hangzhou Millionenstädte sind, das islamisch kontrollierte Cordoba um die 450 000 Einwohner hat. (Die Zahlen hier alle nach Hansen).

 

Bis tief ins zehnte Jahrhundert spielen jüdische Händler eine wichtige Rolle beim interkontinentalen Warenverkehr. Sie bereisen beide Frankenreiche, Böhmen und Bulgarien. Ihre Schiffe fahren von der Provence nach Ägypten und über das Rote Meer Richtung Indien. Sie bringen Karawanen von Antiochia nach Mesopotamien, und steigen dann auf Schiffe nach Indien und weiter in den Osten um. Von ihren Stadtvierteln im fatimidischen Ägypten aus, die schon in der Römerzeit bedeutend waren, greifen sie im 10. Jahrhundert auch immer mehr in den Italien-Handel ein. Sie werden noch im 11. Jahrhundert für den Handel wichtig sein, sind aber dann auf arabische, italienische und byzantinische Schiffe angewiesen. (Morissey, S.108f)

 

 

Randgebiete: Kelten, Spanien, Skandinavier, Rus und Byzanz

 

Handel gibt es im 10. Jahrhundert über die drei Kontinente Europa, Afrika und Asien hinweg, die geographisch eng verbunden sind. Der Weg in einen Kapitalismus beginnt aber in einigen Kerngebieten des lateinischen Abendlandes, die eine bestimmte Form institutionalisierter Machtstrukturen, also von Zivilisation erreicht haben. Die in manchem "überlegenen" islamischen Zivilisationen Spaniens und Siziliens sowie die von Byzanz fallen heraus, so wie auch die "unterlegenen" der Kelten, Skandinavier und Slawen, die erst nach und nach unter den Einfluss der Kernregionen gelangen oder aber wie das spätere Russland (und Byzanz) weiter draußen bleiben werden.

 

Kelten waren aus dem einst großen antiken Siedlungsgebiet durch Romanisierung, Anglisierung und Vertreibung zum großen Teil mit ihren Sprachen verschwunden. Geblieben sind sie in Cornwall und zunächst auch noch Devon, in Wales und in Schottland. Überall hier wie in Irland entwickelt sich jene Zivilisierung, die sie nach und nach in einen europäischen Markt integriert, einmal über Christianisierung mit Kirche und Kloster, dann über die Etablierung von Normannen vor allem in Irland, deren Orte später zu Städten werden. Ähnliches wird in Teilen Schottlands unter englischem Einfluss seit dem 11. Jahrhundert geschehen.

 

Die Bretagne wiederum gerät im 9. Jahrhundert bereits unter westfränkischen und im 10. unter normannischen Einfluss.

 

Im 10. Jahrhundert befinden sich Skandinavier und Slawen noch weitgehend außerhalb des seit langem extrem geschrumpften lateinischen Abendlandes. Das nur in geringem Umfang für Landwirtschaft geeignete Skandinavien verleitete schon länger zu Raubzügen und Handel. Die Masse der Menschen sind aber Bauern wie fast überall in Europa, in der Merowingerzeit bereits in anzivilisierte kleine Herrschaften aufgeteilt, die sich zur Zeit der Karolinger in Dänemark bereits zu einem Königtum entwickeln, in dem am Ende des Jahrtausends sich das von Norddeutschland (Hamburg) ausgehende Christentum durchsetzt, welches sich dann als eigene Kirchenprovinz Lund verselbständigt. Um dieselbe Zeit beginnt auch die Christianisierung der Svear, die die Götar besiegen und eine eigene schwedische Reichsbildung beginnen.

 

Während die dänischen Nordmänner einerseits über Südengland und insbesondere das Fankenreich als Räuber (Wikinger) und dann auch bald als Eroberer herfallen,und Norweger vornehmlich das übrige Britannien heimsuchen,

 

durchdringen Skandinavier auch Gebiete der Ostslawen als Händler. Von Birka westlich vom späteren Stockholm aus ziehen sie nach Staraja Ladoga und dann bald die Flüsse, insbesondere den Dnjepr hinauf nach Süden. Seine schlimmsten Stromschnellen hat er bei Kiew, welches zu einem Zentrum der Rus wird. So heißen sie bald, als sie sich an Handelsorten niederlassen, mit den Slawen vermischen und am Ende deren Sprache annehmen.

 

Die Einheimischen, die hauptsächlich von Fischfang und Fallenstellen leben, liefern ihnen Pelze und Sklaven und werden teilweise auch gewaltsam unterdrückt und zu solchen Tributen gezwungen. Der schwunghafte Handel mit Sklaven nach Norden und Süden führt dazu, dass das griechische Wort für Slawe (sklabos) sich als allgemeine Benennung für Sklaven in Europa einbürgern wird.

 

Die nach Skandinavien gelangenden Handelswaren lassen die dortigen Orte zu kleinen Handelsstädten aufblühen, die allerdings kaum mehr als 1000 Einwohner haben. Der andere Weg führt nach Süden ans Schwarze Meer der Rum, wie die Muslime es nennen, also ins byzanzinische Reich nach dem befestigten Cherson (Sebastopol). Über das Schwarze Meer geht es dann in durchschnittlich sechs Tagen nach Konstantinopel und manchmal dann auch bis Bagdad.

 

Hansen spricht "von dem enormen Transfer von Reichtum aus Konstantinopel und der islamischen Welt zu den Rus, mit dem die importierten Pelze und Sklaven bezahlt werden." (S.121) Für sie sprechen die großen Münzfunde in Skandinavien und Osteuropa.

 

Fürst Igor versucht, ein Großreich der Rus aufzubauen und scheitert. Seine Witwe Olga (Helga) übernimmt die Aufgabe und tritt zum byzantinischen Christentum über. Sohn Swjatoslaw erweitert das Reich vom Ladogasee bis zum Schwarzen Meer. Die Hauptstadt Kiew hat um das Jahr 1000 mehrere tausend Einwohner und kann sich mit gleichzeitigen deutschen Städten messen.

 

Halbbruder Wladimir tötet Swjatoslaw und tritt um 988 nun auch zum Christentum oströmischer Machart über. Derweil ist die herrschende Schicht der benachbarten Chasaren jüdisch und etwa um dieselbe Zeit tritt Selschuk am Aralsee mit seinen Oghusen zum Islam über.

 

Viel mehr noch als die Rus trägt das Byzantinerreich an der Peripherie durch Handel zur Entwicklung von Kapitalismus im lateinischen Raum bei. Seine Hauptstadt kann sich an Größe und Reichtum mit den islamischen Metropolen im ehemaligen Imperium Romanum messen. Aber die inneren Strukturen, Weiterentwicklungen aus der klassischen Antike, werden ebenfalls in keinen Kapitalismus führen, sondern in seinen langsamen Abstieg. Zu inneren Wirren kommen zunehmende Angriffe von außen. Im Osten bleibt ihm nur noch Kleinasien. 941 greifen sogar die Rus unter Fürst Igor die Hauptstadt mit einer Flotte an, wie Liutprand von Cremona berichtet. In den nächsten Jahrhunderten wird die Bedrohung dann unter anderem von den Seldschuken, den Normannen und den italienischen Seestädten ausgehen.

 

Aber unter der makedonischen Dynastie (867-1056) kommt es erst einmal zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der verbunden ist mit einem steten Bevölkerungswachstum. Der Fernhandel wie der regionale Handel florieren rund um das Zentrum Konstantinopel, dabei verlagert sich dort wie überhaupt im östlichen Mittelmeer der Seehandel nach und nach auf italienische Schiffe. 992 schließt Basilius II. einen ersten Handelsvertrag mit Venedig.

 

1054 wird es wieder einmal zu einem Bruch zwischen Rom und Konstantinopel kommen. Beide "christlichen" Religionen haben sich wie alles andere auch auseinanderentwickelt, von der griechischen Liturgie über barttragende "orthodoxe" Priester, bis zum mit Hefe gesäuerten Brot bei der Kommunion. In Ostrom gilt das Zölibat darüber hinaus nur für Bischöfe. Diese religiösen Unterschiede helfen bei der Abschottung des Byzantinerreiches von westlichen Entwicklungen.

 

 

Afrika und der Nahe Osten

 

Während sich in Skandinavien eine Schwellenzeit mit einer gewissen Verspätung einstellen wird, werden die Reiche der Rus und der Romania/Ostrom dauerhaft draußen bleiben, und dasselbe gilt ganz massiv auch für Afrika. Dabei hat Afrika ganz massiv zwei Waren zu liefern, und zwar auf direktem Wege in die islamische Welt: Das sind Gold und Sklaven.

 

Zwei Dinge verschränken sich dabei in der Nordhälfte Afrikas ineinander, nämlich der Handel und die Islamisierung.

 

Schwarzafrikanische Sklavenjagd und entsprechender Sklavenhandel hat eine Tradition, die wohl bis in die Antike zurückgeht. Negroide Händler werden etwa ebenso viele schwarze Sklaven in die islamische Welt verkaufen wie später an weiße Händler, die sie über den Atlantik verschiffen. Nach 650 sollen so insgesamt weit mehr als 20 Millionen Schwarzafrikaner bis um 1900 von ihren negroiden Landsleuten eingefangen und verkauft worden sein.

 

Diese Sklaven dienen in der islamischen Welt als Haussklaven, und dabei insbesondere als Eunuchen als Aufseher im Harem. Zu diesem Zweck kastrieren die Sklavenhändler schon junge Sklaven. Deutlich mehr Männer noch landen als Militärsklaven in den Heeren islamischer Herrscher.Als Ibn Tulun im 9. Jahrhundert Ägypten kontrolliert, stehen ihm unter anderem Zehntausende schwarzafrikanische Militärsklaven zur Verfügung.

 

Schließlich dient ein Teil der weiblichen menschlichen Ware in der islamischen Welt auch als Sexsklavinnen. Dafür dienlich sind (bis heute) islamische Gesetze, die z.B. die Kurzzeitehen über Tage oder auch nur Stunden erlauben. Ibn Butlan, auch Verfasser des 'Tacuinum sanitatis in medicina', lobt besonders die versklavten Bewohnerinnen einer Region in Ostafrika, wenn sie denn jung und noch unberührt sind, weil sie in dieser Gegend die Beschneidung praktizieren. Mit einem Rasiermesser entfernen sie die komplette äußere Haut auf der Vulva bis auf den Knochen. (in: Hansen, S.159) Ein Ratgeber für den Sklavenkauf aus dem 11. Jahrhundert besagt u.a. über die Frauen eines ostafrikanischen Volkes: Sie haben einen goldenen Teint, schöne Gesichter, grazile und eine Zarte Haut. Sie geben angenehme Bettgespielinnen ab, wenn man sie aus ihrem Land holt, solange sie noch jung sind. (in: Ertl, S.53)

 

Das islamische Recht erlaubt Sklavenbesitzern Geschlechtsverkehr mit ihrem Eigentum, verlangt allerdings die Legitimierung der Nachkommenschaft, was deren Freilassung nach sich zieht. Dadurch bricht die Nachfrage nach Sklaven nie ab, während in der lateinischen Schwellenzeit der Nachwuchs von Sklaven weiter Eigentum des Herrn bleibt. Entsprechend ziehen in unserer Zeit jährlich Kamelkarawanen von insgesamt über 5000 Sklaven alleine durch die Sahara nach Norden

 

Alt-Simbabwe steigt über Sklaven und Gold zu einer Stadt auf, die in ihrer besten Zeit vielleicht 10 000 Einwohner hat. Es soll pro Jahr etwa eine Tonne Gold gefördert und verkauft haben. Andere Handelsstädte erreichen wenigstens ca. 5000 Einwohner. Daneben errichten "Suaheli" in Ostafrika mit unter anderen Mombasa und Mogadischu bedeutende Handelsstädte bis hin nach Sansibar und bedienen das Rote Meer bis Ägypten und den Indischen Ozean mit Gold, Hölzern und Elfenbein, wobei letzteres bis ins lateinische Abendland gelangt und dort zu handwerklichen Kunststücken verarbeitet wird.

 

Ein zweites auf Gold (von denen Ufern des Senegal) basierendes Reich ist das von Ghana mit Städten wie Djenné, das an Größe die deutscher Städte der Zeit übertrifft. Der Reichtum des Herrschers beruht auf seiner Macht über das Gold, welches über almoravidische Händler Marokkos nach Spanien gelangt.

 

Zwischen dem 7. und frühen 8. Jahrhundert erobern islamische Araber mit dann verbündeten unterworfenen Völkern den Nahen Osten, Ägypten, Nordafrika und den größten Teil Spaniens, bilden aber außerhalb Kernarabiens nur eine dünne Oberschicht. Von den Römern übernehmen sie anders bzw. stärker als beispielsweise die Franken Verwaltung, Steuern und stehendes Heer. Mit der Übernahme einiger der reichsten römischen Provinzen und ihrer Verbindung mit dem Iran und Zentralasien entsteht ein prosperierender Handelsraum mit dem Dinar als gemeinsamer Währung. Bagdad wird im 9. Jahrhundert zur größten Stadt außerhalb Chinas.

 

Während das Christentum zunächst offiziell Besitzgier, Gewinnstreben und damit auch Kapitalbildung eher ablehnend gegenüber steht, hat der Islam damit weniger Probleme, war doch schon Mohammed möglicherweise selbst Kaufmann gewesen.

 

Anders als Skandinavier, Rus und große Teile Schwarzafrikas ist neben Byzanz und dieses überflügelnd die islamische Welt zwischen Bagdad, Sizilien und Spanien im 10. Jahrhundert dem lateinischen Abendland an städtischer Zivilisation, Schriftlichkeit, Handel und technischen Errungenschaften noch weit überlegen. Das Abbassidenreich zerfällt in Teilreiche wie das der schiitischen Fatimiden von Ägypten mit der Neugründung Kairo ("Die Siegreiche"), welches schnell auf eine halbe Million Einwohner anwächst, bald in das Reich der Seldschuken von Bagdad (1055) und das der Almoraviden von Marokko und Spanien.

 

Überall sind die islamischen Handelsstädte an der südlichen Mittelmeerküste Transitorte für den Handel aus Schwarzafrika und ab Alexandria für den mit Asien. In unserer Schwellenzeit lassen sich zunächst Händler aus Amalfi dort nieder und beginnen, den Warentransit ins lateinische Abendland muslimischen Händlern abzunehmen. Zu Sklaven und Gold vermittelt Kairo auch Elfenbein, Kupfer und Bronze nach Europa.

 

Darüber hinaus übernehmen Gelehrte in islamischen Städten griechisches Gelehrtengut und anverwandelt es ins Arabische. Auf diesem Weg wird ein Teil griechischer Gelehrsamkeit nicht über das antike Rom, sondern über die islamische Welt an das lateinische Abendland vermittelt werden. Seit sich im 10 Jahrhundert Medressen entwickeln, Schulen privater Stifter, steigt das Bildungsniveau der dort unterrichteten kleinen Gruppe junger Männer beträchtlich.

 

 

Asien

 

Asien, weitab von den Regionen des lateinischen Abendlandes, in denen Kapitalismus entsteht, ist geteilt in nördliche Steppen- und Wüstenlandschaften vom Kaspischen Meer bis zur Mongolei, die als Handelswege dienen, und in alte Zivilisationen von Persien über Indien bis China, die Rohstoffe und Fertigprodukte anbieten, die teilweise von herausragender technischer Perfektion sind. Geteilt ist der Kontinent auch in drei Großreligionen: Den in unserer Zeit weit vordringenden Islam, den Buddhismus und den Hinduismus.

 

Im Raum des heutigen Usbekistan herrschen die Mitglieder der Saman-Familie, die sich schon im 9. Jahrhundert nur noch nominell den Abbassiden unterstellen. Als kriegerisches Volk machen sie enorme Mengen an Kriegsgefangene, die sie in Bagdad, Kairo und anderswo verkaufen, wodurch sie erhebliche Reichtümer anhäufen. Um den Marktwert der Sklaven zu erhöhen, richten sie sogar eine Schule für Militärsklaven ein (Hansen, S.194). Mit der Hauptstadt Buchara und Samarkand entwickeln sie zwei große und bedeutende Städte.

 

Um 914/943 rebellieren aus Turkvölkern bestehende Militärsklaven gegen den letzten Samanidenherrscher und ein Teil zieht ab nach Ghazna (Ghazni im heutigen Afghanistan). Sie zwingen den dortigen Völkern den Islam auf und errichten unter Sultan Mahmud ein Riesenreich, welches bald über Persien, Afghanistan, das heutige Pakistan und Nordindien herrscht. Ghazna wird mit dem Gelehrten Al Biruni und dem persischen Dichter Firdausi, die beide dorthin ziehen, zu einer Metropole belesener Schriftlichkeit.

 

In Xinjiang, welches riesige Gebiet nordöstlich an Afghanistan und Kaschmir anschließt, etabliert sich eine Karakhaniden-Dynastie, welche den Großraum islamisiert und westlich bis nach Buchara ausdehnt. Wiederum östlich von ihnen etabliert sich ein Reich der Kitan, in dem neben Kitan, Chinesisch, Uigurisch und manche andere Sprache gesprochen wird und wo vorwiegend Buddhismus gepflegt wird.

 

Südlich vom Liao-Reich herrschen die südchinesischen Song-Kaiser, weiter östlich liegt Korea und noch etwas weiter nach Osten Japan, allesamt damals mehr oder weniger buddhistisch. Während die Liao und die Song Handel bis nach Indonesien und Indien und sogar bis in den (von Europa aus gesehen) Nahen Osten betreiben, schließt sich Japan stärker ab, und lässt "internationalen" Handel nur über den Hafen von Fukuoka auf Kyushu zu.

 

Lange vor Europäern benutzen Chinesen um das Millennium den magnetischen Bordkompass. Sie befahren mit dem Seeweg vom Persischen Golf nach Guangzhu (Kanton) eine fast doppelt so lange Strecke wie Kolumbus fünfhundert Jahre später. China liefert per Schiff bis nach Afrika Keramik, Textilien und Waren aus Gold, Silber und Eisen. Insbesondere chinesische Töpferwaren genießen hohes Prestige, udn zwar sowohl kunstvolle Einzelstücke wie Massenwaren in nie dagewesenem Umfang. Insgesamt erwirtschaftet China einen enormen Handelsüberschuss über handwerkliche und manufakturielle Produktion.

 

In der Zeit der lateinischen Nachantike entwickelt sich China zum wichtigsten und am meisten globalisierten Handelsreich der Welt. Guangzhu und Quanzhu sind unter den Song-Kaisern wohl die bedeutendsten der damals bekannten Hafenstädte, beides Millionenstädte wie die Hauptstadt Kaifeng.

 

Zwischen China und Afrika liegen mächtige Reiche wie das der Chola in Südindien, die den Hinduismus verbreiten, buddhistische Klöster plündern und zerstören und bis nach Ceylon vordringen. Ihr Indien treibt Handel über ganz Indien hinaus mit Malaya und Persien.

 

Das Srivijaya-Reich von Sumatra liefert nicht nur den Chinesen Stoßzähne von Elephanten, Hörner des Rhinozeros und Aromastoffe.

Um riesige Tempelanlagen wie das javanische Borobodur konzentriert sich die mächtige Herrschaft der mit den Srivijaya liierte Sailendra-Dynastie mit voll ausgebildeter Marktwirtschaft und hochentwickeltem Handwerk. Reis und Pfeffer werden exportiert, letzterer nach China, und Gewürznelken, Sandelholz und Muskat werden eingeführt. Es gibt zudem regional beschränkten Sklavenhandel.

 

Ein anderes Machtzentrum bildet sich in Kambodscha um die Angkor-Dynastie, die sowohl Buddhismus wie Hinduismus duldete. Solche Tempelanlagen wie Angkor Wat (über 200 Quadratkilometer und wenigstens 800 000 Einwohner) mit ihren für damalige Verhältnisse riesengroßen Städten wären im lateinischen Europa noch lange undenkbar. Zwischen den Herrschaften von Angkor und China herrscht beträchtlicher Handelsverkehr.

 

 

Kapital und Kapitalismus

 

Das Wort Kapitalismus gibt es noch keine zweihundert Jahre, obwohl es in dieser Untersuchung für etwas herhalten soll, was vor rund tausend Jahren entstand. Der zuvor fehlende Begriff verweist darauf, dass es vorher entweder keinen Bedarf gab, etwas begreifen zu wollen, oder aber und wahrscheinlicher, dass Menschen Vorgänge in Gang setzten, die sich zugleich quasi hinter ihrem Rücken vollzogen.

 

Selbst das Wort Kapital taucht erst auf, nachdem es solches schon lange gegeben hat, und fast überall erst Jahrhunderte, nachdem Kapitalismus bereits in großen Teilen Europas seinen Siegeszug angetreten hat. Seine lateinische Wurzel ist das Wort caput, welches für den Kopf bzw. das Haupt steht. Daraus leitet sich capitalis ab, welches man unter anderem mit "hauptsächlich" übersetzen kann. In spätmittelalterlichen norditalienischen Volkssprachen wird dies Wort wieder substantiviert, um von dort dann später in den Norden zu wandern, wo es im Deutschen zum Beispiel als hauptgut auftaucht.

 

In italienischen Städten des späten Mittelalters mit ihrem blühenden Kapitalismus wird es beim Geschäft/Unternehmen die Hauptsache benennen. Diese aber ist das, was nicht die Nebensache ausmacht, nämlich das, was für den persönlichen Konsum abgezweigt und damit dem (eigenen) Geschäft verloren geht, sondern das, was eingesetzt wird, um es zu vermehren, ohne dabei allzu viel physische (bzw. militärische) Gewalt einsetzen zu müssen.

 

Etwas ist soweit mit dem Begriff schon gewonnen: Es gibt Haupt- und Nebengüter. Das lässt sich allerdings im späten Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit etwas unterschiedlich verstehen. Es kann zum Beispiel das Kapital als das Haben, den Besitz im Unterschied zu Verpflichtungen, Schulden meinen. Nun ist Kapital aber dabei nicht irgendein Besitz, sondern nur jenes Gut, welches ausschließlich zu seiner Vermehrung eingesetzt wird. Im 16. Jahrhundert wird dabei im Italienischen zum Beispiel manchmal noch der Besitz von Vieh gemeint, dessen biologische Vermehrung durch Nachwuchs als Zinsen aufgefasst wird.

 

Der oft riesige Grundbesitz eines mittelalterlichen Klosters ist nicht per se Kapital, sondern das wird er zum Beispiel dadurch, dass die in Geld umgesetzten Erträge zum Teil als Kredite ausgegeben werden. Dann wird ein Teil des Geldes, welches abhängige Bauern für ihre frommen Herren erarbeiten, kapitalisiert.

 

Ökonomisch sinnvoll ist ein solcher Kapitalbegriff nur, wenn er sich in Zahlen rechnen lässt, also als Geld aufgefasst werden kann. Kapital tritt dabei nur auf einem Markt (im weitesten Wortsinn) auf. Schließlich wird vom Hauptgut nicht die Qualität vermehrt, sondern die Quantität, der Kapitaleigner verkauft schließlich kein Getreide, um mehr Getreide zu bekommen, sondern einen geldwerten Gewinn. Kapital ist eine quantitative, keine qualitative Größe.

 

Das Wort Kapital oder Hauptgut oder ähnliches verleitet allerdings dazu, sowohl Vorgänge wie Beziehungen unter Menschen darin zu verstecken: Man verdinglicht sie auf diese Weise. Dem werden auch wir nicht ganz entkommen, wenn wir nicht eine völlig neue Sprache erfinden wollen und damit unverständlich werden. Kapital wird also auch in diesem Text in zwei Bedeutungen vorkommen: Einmal als jenes Hauptgut, dessen einziger Zweck seine in Geld rechenbare Vermehrung ist, zum anderen als Vorgang, in dem Geld in Arbeit investiert wird, die es vermehrt. Ich folge hier Karl Marx darin, dass es kein Kapital ohne Arbeit gibt, die es "verwertet". Ich folge ihm allerdings nicht darin, dass Kapital und Arbeit zwei "Klassen" von Menschen ergeben, da diese Idee sich historisch nicht so klar verifizieren lässt, wie er hoffte, heute schon gar nicht mehr.

 

 

Vor dem Kapitalismus

 

Wir reden von Kapital, aber das ist missverständlich, denn dabei handelt es sich um Vorgänge und Einstellungen zu Eigentum, und nicht eigentlich um ein „Ding“. Der Vorgang ist der der Vermehrung oder wie Marx schrieb, der Verwertung von Eigentum (als Kapital) zum alleinigen Zweck seiner Vermehrung. Um das zu verdeutlichen, sei auf einige andere Möglichkeiten, mit Einnahmen umzugehen, hingewiesen: Die eine ist, dass es sofort verbraucht wird und so mehr oder weniger schwindet. Die andere ist die Schatzbildung, bei den germanisch dominierten Nachfolgereichen des weströmischen Imperiums üblich, und zwar bei Königen, Hochadel, Kirche und Kloster. Mustergültig als Königsschatz, der zentralen Insignie solcher Herrscher, wichtig als Krone oder Szepter, wurde dieser in Kriegen zusammengerafft und -geraubt, danach durch Tribute von Unterworfenen vergrößert, und solche Vermehrung mehrte Glanz und Ruhm königlicher Macht. Schätze aus Münzen, Gold und Silber, Perlen und Edelsteinen und Gefäßen dienen aber auch dem Ruhm Gottes und seines Bischofs oder Abtes.

 

Schatzbildung war zudem auch das, was Hunnen, Awaren und manchmal Wikinger betrieben. Was fing man nun mit solchen Schätzen an: Was von ihnen nicht gehortet wird, wird zielgerichtet verschenkt.

 

Bis ins „Christentum“ hinein machten viele solche Völker noch etwas, was jeden Kapitalismus unmöglich erscheinen lässt: Sie gaben zumindest Teile solcher Schätze ihren Reichen und Mächtigen mit ins Grab, wo sie allerdings oft der Grabräuber harrten. Es gab schon damals Gier, aber die Leute machten daraus kein Wirtschaftssystem, sondern entfachten Gewalttätigkeit.

 

Wenn wir uns noch einmal die germanisch dominierten Folgereiche der Nachantike anschauen: Unter denen, die etwas hatten und darum Macht hatten, war zunächst das Schenken, das Darbringen von Geschenken wichtiger als jeder Warenverkehr. Geschenke stellten Freundschaft her, ein eher vorkapitalistisches Verhältnis von Menschen zueinander, welches Kapitalverwertung dann geradezu privatisiert hat – es wird von einer öffentlichen zu einer privaten Bindung, - wenn wir von der bis heute andauernden Korruption einmal absehen.

 

Manche davor liegende Stammeskulturen waren durch ein damit verwandtes Verhalten gekennzeichnet, welches bis ins frühe Mittelalter hineinreichen wird: Gewählte Häuptlinge mussten Talente haben, die dazu führten, dass sie viel besaßen, denn sie mussten soviel haben, dass sie an ihre Leute verschenken konnten. Mit solchen Kulturen des Schenkens wird der Kapitalismus dann im Laufe der Zeit ganz und gar aufräumen, denn das wird für ihn Verschleudern potentiellen Kapitals, also Verschwendung.

 

Kapital gibt es also zum Beispiel schon in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes , - aber eben noch keinen Kapitalismus. Es gibt Eigentum, Kapital, Arbeit, Arbeitsteilung, Geld, Waren, einen Markt bzw. ganz viele Märkte, Landwirtschaft, Handwerk, Produktion, Handel und Konsum von Waren – aber keinen Kapitalismus. Die Masse der vor allem auf dem Lande erwirtschafteten Gelder geht in den Konsum einer kleinen staatstragenden Oberschicht, also nicht in die Hauptsache, sondern die Nebensache eines privilegierten Luxus. Handwerk und Handel können sich bei der Expansion des Reiches immer weniger entfalten, da sie für militärische Zwecke reglementiert und abgeschöpft werden. Kapital macht noch keinen Kapitalismus, nicht einmal viel Kapital. Das wird im Mittelalter des lateinischen Abendlandes anders werden.

 

In diesem letzteren Sinne kann man sagen, dass es in der Antike dieser gerade angedeuteten tausend Jahre bereits insbesondere im Mittelmeerraum einzelne Kapitalisten gab, aber desungeachtet immer noch keinen Kapitalismus, wie er hier um der Klarheit willen definiert werden soll. Das liegt daran, dass einzelne Kapitalisten zwar gewiss wichtig waren, aber atypisch und nicht normbildend, und sie wurden von denen, die die Macht in Stadt und Land hatten, zwar benutzt, aber eher verächtlich betrachtet. Und außerdem - sie wurden nicht konstitutiv für die Reiche, die damals bestanden, sie waren ein Aspekt, der nicht ihr Wesen durchtränkte.

 

Das Ideal, dem die nachkamen, die sich das leisten konnten, war eher der Konsum als die Kapitalbildung. Das hieß, der ausgedehnte Handel, die Produktion von Massenwaren und Luxusgütern, alles das zielte vor allem auf den Lebensgenuss einer Oberschicht ab, deren Basis landwirtschaftlich genutzter Großgrundbesitz war, also eine aristokratische Lebensweise. Es fehlt jenes städtische Bürgertum, aus dessen Reihen die kommen, welche innovativ in größerem Umfang Kapitalverwertung zu einem Selbstläufer machen werden. Im übrigen wird das sogenannte Christentum zwar ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus, in dem, was dann entfalteter Kapitalismus wird, hätte es aber gar nicht mehr so entstehen können.

 

 

Kapitalismus

 

Zu Kapitalismus, so wie er hier verstanden werden soll, wird Kapitalverwertung erst da, wo sie Macht, Weltanschauung und Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der Menschen nachhaltig verändert und beeinflusst, und zwar so, dass das zunächst regional und am Ende weltweit irreversibel wird.

 

Kapitalismus als Dominanz der Kapitalbewegungen zeigt sich an den von ihnen verursachten Veränderungen in allen Lebensbereichen, wie sie das Mittelalter kennzeichnen werden. Persönliche Abhängigkeit wird zunehmend ersetzt durch solche vom Markt, das Warenangebot verändert das Leben, erleichtert es manchmal. Frei eingegangene Arbeit "lohnt" sich mehr, und mehr Menschen stehen mehr Karrieren offen. Dabei werden arm und reich nicht mehr nur nach Geburt, sondern stärker nach eigener Leistung bestimmt, auch wenn der erhebliche Wohlstand weniger auf der relativen Armut vieler beruht.

 

Die politische Macht von Teilen des großen Kapitals in den Städten bricht sich aber dann an der der Fürsten und Könige, die die ganz großen Entscheidungen mit ihrem Umfeld treffen. Aber Fürsten und Könige werden im Verlauf des hohen und späten Mittelalters immer abhängiger von dem, was Kapital erwirtschaftet und was entsprechend Handwerk und Landwirtschaft vorantreibt. Kriege müssen bezahlt werden und werden oft vom Kapital vorfinanziert. Umgekehrt sollen ihre Ziele zunehmend den Bewegungen des Kapitals im eigenen Land dienen. Neben den bisherigen Krieg tritt in ersten Ansätzen der ausgesprochene Wirtschaftskrieg.

 

Das Regieren, Ausüben politischer Macht, soll nicht nur Einkünfte bringen, es kostet auch zunehmend Geld, welches bald nicht mehr primär aus fürstlich-königlichen Besitzungen herrührt, sondern aus der freieren Wirtschaft abgeschöpft wird. Fürsten und Könige in deutschen Landen werden ganze Ortschaften und Städte verpfänden, zudem Rechte, die der Machtausübung dienen, um an Geld des großen Kapitals zu kommen. Regieren wird kreditfinanziert, und durch das spätere Mittelalter werden deutsche Königswahlen vom Kapital finanziert, welches nicht immer, aber oft einen einträglichen Gegenwert bekommt. Italienische Stadtherrschaft wird vom einheimischen großen Kapital über Anleihen finanziert, die wiederum erhebliche Renditen abwerfen.

 

Zur Erfolgsgeschichte des Kapitalismus gehört dabei zu allererst die Beschleunigung einer Bevölkerungsvermehrung bis ins 14. Jahrhundert, wobei dichtere Bevölkerung selbst wiederum eine von vielen Voraussetzungen für Kapitalismus ist. Mehr Menschen können überleben und Nachwuchs erzeugen und letztlich damit den Wohlstand von mehr Menschen über ihnen erarbeiten. Die Welt wird weniger statisch, das Thema schnellerer Veränderung zieht in die überlieferten Texte ein.

 

Die Existenz von Kapital bedeutet also noch keinen Kapitalismus. Er schleicht sich zwischen dem zehnten und zwölften Jahrhundert im Raum des lateinischen Abendlandes ein, zunächst nur an wenigen Orten, breitet sich aus und wird erst bemerkt und noch kaum verstanden, als es bereits keine Umkehr mehr zu geben scheint. Dabei handelt es sich um jenen großen Teil Europas, der sich immer weniger zurecht als Erbe des römischen Reiches sieht und damit auch seiner Sprache, die in dieser Epoche als eine Art lingua franca dient, beim Aufstieg des Kapitalismus aber Schritt für Schritt verdrängt wird.

 

Er wird ein ungeheures Erfolgsprogramm, ungefähr so umwälzend wie die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht und des Handwerks. Die Natur gab zu essen und trinken, und der Kapitalismus wird als zweite, menschengemachte Natur verstanden, so unabänderlich wie die erste und scheinbar genauso die Menschen nährend.

 

Die ökonomische Dominanz der Bewegungen des Kapitals in dieser Zivilisation setzt sich nur langsam, dabei aber unentwegt, durch und wird offenbar im hohen Mittelalter irreversibel, das heißt, die Bewegungen des Kapitals haben sich inzwischen zumindest in großen Regionen soweit etabliert, dass eine Rücknahme ihrer Macht als eine für unerträglich gehaltene Katastrophe angesehen würde.

 

Irreversibilität heißt hier, um ein Beispiel zu geben, dass eine Rücknahme kapitalistischer Verhältnisse die Inkaufnahme eines Massensterbens bedeuten würde und die Mächtigen ihre Macht gekostet hätte. Das ist bis heute so geblieben, nur die Dimensionen haben sich weiter drastisch und beunruhigend vergrößert: Ohne funktionierenden Kapitalismus würden die meisten der Milliarden heutigen Menschen sehr schnell verhungern.

 

Darüber hinaus beeinflussen sie dort die Lebensverhältnisse der meisten Menschen, die zunehmend in die neue Warenwelt integriert werden, die sie meist dankbar aufnehmen. Kapitalismus erzeugt einen Erwartungshorizont.

 

Zwar leben die meisten Menschen auf dem Lande und bewirtschaften dieses. Aber einmal produzieren sie immer stärker für einen kapitalistisch geprägten Markt, und zunehmend nicht nur Lebensmittel, sondern auch Rohstoffe für handwerkliche und auch schon maschinelle Produktion. Und zum anderen werden sie immer stärker auch von der kapitalistischen Entwicklung beeinflusst, sowohl in ihren Arbeits- wie überhaupt auch Lebensverhältnissen.

 

 

Schwellenzeit

 

Kapital gab es in der Antike und dann deutlich weniger in den Jahrhunderten der Nachantike bis in die Karolingerzeit, ohne dass es diese Zeiten stark prägt. Als Handels- und Finanzkapital taucht es in den Händen von Juden, Syrern und Friesen vor allem auf, Leuten am Rande der Machtstrukturen, die ihnen eine gewisse Freiheit im Raum hochgradiger Unfreiheit der meisten Menschen gewähren.

 

Schwellenzeit soll meinen, dass im 10. Jahrhundert jene Schwelle erreicht wird, deren Überschreiten zu dem führt, was hier als Einnistung von zunehmend mehr Kapital im Rahmen der Machtstrukturen bezeichnet wird. Geschichte hält sich natürlich nicht an die Einteilung in Jahrhunderte, und eine solche Schwelle existiert in einigen Gegenden Europas früher, in anderen manchmal erst viel später.

Einnistung soll meinen, dass Kapital ein immer wichtigerer Faktor in der Entwicklung neuartiger Städte wird, wie sie nur in der abendländisch-mittelalterlichen Zivilisation entstehen. Die Schwelle meint den Zeitraum, in dem - im Nachherein gesehen - damit der Ausgangspunkt geschaffen wird, an dem die Bedeutung des Grundbesitzes ganz langsam abnehmen wird und die von Kapital im Aufstieg begriffen ist.

 

Das Entscheidende dabei ist, dass die Art von Städten, die zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert aufkommen, sich von den antiken grundlegend unterscheidet: In den letzteren kontrolliert eine grundbesitzende „aristokratische“ Oberschicht die Stadt, und zwar alleine, während sich in den neuen Städten, die zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert entstehen, Händler und reiche Handwerker mit adeligen Grundherren die Macht teilen werden und sie dann von ihnen in Form von Selbstverwaltung für eine Weile übernehmen. Aber zwischen der Antike und dieser Zeit liegt auch wenigstens ein halbes Jahrtausend.

 

Kapital existiert in dieser Schwellenzeit also als Handels- und daneben auch schon ein wenig als Finanzkapital. Grundlegende Voraussetzung ist die Nachfrage nach Waren und nach Geld, dabei vor allem nach Krediten. Eine solche Nachfrage existiert vor allem bei einer wohlhabenden geistlichen und weltlichen Herrenschicht, die ihren Reichtum aus der Verfügung über die Erträge großer Landgüter bezieht, in denen sie einen Teil der Produkte der ländlichen Arbeit abschöpft und zunehmend auch auf einen Markt bringt.

 

Früheste Ansätze, Kapital in Produktion zu investieren, gibt es im hohen Mittelalter und dann häufiger im späten. Diese betreffen vor allem Tuchproduktion und die Herstellung metallener Waren, inbesondere von solchen für den Krieg. Eitelkeit und Gewalttätigkeit treiben hier die Entwicklung voran. Aber den Batzen der Warenproduktion betreiben Handwerker und Bauern, die produktive Basis von Stadt und Land. Die aber besitzen selten unternehmerisches Kapital, sie arbeiten im wesentlichen, um zu leben, nicht um Gewinne einzufahren.

 

Das wird im wesentlichen bis ins 18. Jahrhundert so bleiben, und sich erst mit der zweiten, umfassenden Industrialisierung nach der ersten im Mittelalter ändern, mit dem langsamen Verschwinden nichtkapitalistischer Produktion und damit des Handwerks und der bäuerlichen Landwirtschaft. In mancher Beziehung geht erst jetzt das Mittelalter zu Ende und mit ihm eine ganze Zivilisation.

 

Zu Bevölkerungsverdichtung, Nachfrage der Profiteure der Machtstrukturen, Karrierechancen jenseits von großem Grundbesitz kommt noch ein weiterer Aspekt: Damit nicht punktuell bloß Gut kapitalisiert wird, um dem baldigen Konsum zu dienen, sondern Kapital, also seine Vermehrung, sinnvoll zu einem lebenslangen Geschäft gemacht wird, muss die Perspektive eines nahestehenden Erben hinzukommen, der das alles übernimmt und auf den zugearbeitet wird:

 

"Blieb das Erbgut zunächst anscheinend im Besitz der Verwandtenfamilie und dann der Seitenverwandten (Brüder und Schwestern), so setzte sich zunehmend ein Erbrecht der Kinder durch, für die der überlebende Elternteil als Sachwalter fungierte." (GoetzEuropa, S.177) Dies ist dann auch der Weg in die agnatische Kleinfamilie.

 

 

Natürliche Voraussetzungen

 

Eines darf allerdings bei all diesen Angaben nicht übersehen werden: Zu der spezifischen historischen Situation und den sich anschließenden Entwicklungen kommen die anthropologischen Konstanten der letzten Jahrzehntausende, oder besser, diese treffen um das erste Millenium auf eine spezifische historische Situation. Anders gesagt: Alles was geschieht, ist in die Naturgeschichte des Säugetiers und Primaten Mensch eingebettet. Zu den Voraussetzungen des Kapitalismus gehören so die auf Überleben und Fortpflanzung angelegte Triebhaftigkeit des Menschen, seine Neigung zu periodischer Gier, zur Eitelkeit, sein Machtwille, seine Tendenz zur ethischen Bindung nach innen und zur Brutalität nach außen, - und nicht zuletzt der Wunsch nach einer trostspendenden Konstruktion von Welt gegen alle Erkenntnis.

 

Und: Es darf auch nicht übersehen werden, dass all das, was Menschen da treiben, von vorgegebenen Bedingungen abhängt, naturräumlichen wie der Vegetation und der damit verbundenen Tierwelt und dem übergeordneten wie dem Klima und dem damit verbundenen Wetter. Kapitalismus entsteht nicht in Wüsten, Steppen oder tropischen Regenwäldern, sondern in einer gemäßigten Zone zwischen der nordwestlichen Mittelmeerküste und England.

 

Gemäßigt heißt dabei aber dennoch, dass das Leben der Nahrungs-Produzenten äußerst mühsam der "Natur" abgerungen werden muss und es dabei Rückschläge gibt. Sturmfluten an der Nordsee reißen frühkapitalistische Städte wie das alte Winchelsea in Südengland in den Untergang und trennen die Nordfriesischen Inseln vom Festland, eröffnen andererseits aber den Aufstieg von Hafenstädten wie Kampen nach dem Aufreißen der Zuidersee oder von Brügge.

 

Flüsse sind besonders dort, wo sie nicht eng von Bergen begrenzt sind, flach, weil sie sich in einem breiten Band in viele kleinere Flussläufe verästeln, und machen so Schifffahrt zu einem Problem. Was für das Meer die Sturmfluten, sind bei den Flüssen und Bächen die immer wiederkehrenden erheblichen Überschwemmungen.

 

Dazu kommen Ernteverluste durch zuviel oder zu wenig Regen, durch Heuschreckenschwärme und vieles mehr.

 

Aber das alles nimmt dem Großraum nicht seine guten Voraussetzungen für die Entstehung von Kapitalismus. Neben dem Klima, dem Boden und dem genügenden Wasser wirkt sich auch der viele Wald als Rohstoff Holz nördlich der Alpen zunächst als Motor aus: Noch vor der Wasserkraft ist Holz die wesentliche Energiequelle des Mittelalters und wird erst im 18. Jahrhundert dann durch Steinkohle abgelöst.

 

Klima: Das 8.-13. Jahrhundert gilt als relative Warmzeit, insbesondere zwischen 950 und 1200. Passend dazu nimmt die Bevöllkerung nach Jahrhunderten der Abnahme wieder zu, zwischen dem späten 8. Jahrhundert und dem Millenium hat sie sich möglicherweise verdoppelt, um dann im 11./12. Jahrhundert weiter zuzunehmen. (GoetzEuropa, S.162)

 

 

Kapital versus Lebendigkeit

 

Kapitalverwertung als Vermehrung geschieht über Produktion, Vertrieb und Verkauf von Waren. Dabei muss ein Gewinn herausspringen, also ein lohnendes 'Mehr' - mehr als geldwertes Kapital eingesetzt wurde. Was für einen Markt produziert wird, hängt an der Verkaufserwartung für das Produkt; wie es produziert wird, hängt daran, wie niedrig der Handel die Kosten drücken, also den Kapitaleinsatz senken kann. Einen anderen Inhalt hat Kapitalverwertung schon damals nicht.

 

Dabei schwindet jede Zielsetzung des Handelns, die sich nicht rechnen, in Zahlen wahrnehmen lässt, jeder Wert, der nicht auf einem Markt zu realisieren ist. Alles andere wird Privatsache, in Fluchträume abgeschoben – die erst im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert dann vom Kapitalismus auch noch fast zur Gänze kommerzialisiert werden. Kapitalismus frisst sich durch die Wirklichkeit der Menschen und ihre naturräumliche Umwelt, drückt allem seinen Präge-Stempel auf und plündert es aus.

 

Kapital hat dabei eine zweite wesentliche Seite: Menschen ernähren sich wie andere Tiere von Pflanzen und Tieren; sie leben, indem sie Leben zerstören und zum größten Teil dabei in Abfall verwandeln, der ausgeschieden wird. Soweit sind sie ein Teil der (lebendigen) Natur. Kapital hingegen beutet lebendige Natur, nicht zuletzt die von Menschen, und darüber hinaus alle erreichbaren Ressourcen der Erde nur dazu aus, um in möglichst großem Umfang tote Gegenstände zu vermarkten oder zu schaffen, Waren, deren einziger Zweck für das Kapital ein geldwerter Gewinn ist, der über die Selbsterhaltung des Menschen weit hinausgeht. Damit ist Kapital nicht alleine: Schon die Despoten früher Zivilisationen betrieben zwecks Machtausübung Naturausbeutung und -zerstörung in großem Umfang. Aber der Kapitalismus der letzten tausend Jahre wird sie darin zunehmend übertreffen und ist inzwischen dabei, den Lebensraum Erde zur Gänze zu zerstören.

 

Verschleiernd wird Kapital mit (dem biologischen Begriff) Wachstum gleichgesetzt, tatsächlich ist dieses in der Natur qualitativ, Kapital als schiere Vermehrung ist aber rein quantitativ zu verstehen. Vielmehr zerstört Kapital das, was wächst, also lebendig ist - und damit die Grundlagen allen Lebens. Kapital ersetzt lebendige Natur, wie noch zu zeigen sein wird.

 

 

Kapitalist

 

Kapitalist werden ist zunächst einmal ein alternativer Karriereweg zu dem der Geistlichkeit und des Adels. Man hat keinen Kriegerstatus und kann also nicht mit unverhohlener Gewalttätigkeit operieren, man entweicht aber dem niedrigen Status der ländlichen und städtischen Produzenten und kommt so im besten Fall zu Geld und zu Bedeutung für diejenigen, die Waren nachfragen.

 

Um Klarheit zu schaffen: Ein Handwerker, der Geräte, Rohstoffe und einen Lehrling hat, Dinge, Waren produziert und verkauft, dabei aber nur auf seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie abzielt, ist kein Kapitalist. Aber in ganz bescheidenem Umfang kann er manchmal, eher selten, ein Unternehmer sein, auch ein „Arbeitgeber“, nicht zuletzt ein Geschäftsmann. Was also macht ihn zum Kapitalisten: Es ist die Einstellung und Möglichkeit, einen Teil dessen, was er hat, wesentlich dafür einzusetzen, es zu vermehren, und zwar nicht, weil ihm noch zwei Kinder geboren werden oder seine verwitwete Schwester auch noch unterstützt werden muss, sondern weil dieses 'Mehr' Sinn der ganzen Unternehmung oder eines Teils von ihr wird. Kapital ist kein Ding, sondern ein Vorgang, in dem es begriffen ist, und das ist der seiner Vermehrung. Es wächst oder es ist nicht...

 

Wichtig ist: Kapitalisten sind nicht sparsam beim Konsum, damit sie in der Not haben, sondern damit sie mehr Kapital bekommen, welches eben noch mehr werden soll. Kapital schwindet aber, sobald es nicht mehr wird, genauer gesagt, es verschwindet dann ganz. Ein kapitalistischer Markt nun aber, wie noch näher zu erläutern sein wird, ist nicht nur einer der Konkurrenz, wie jeder, sondern diese wird zum Schauplatz von Kämpfen um 'alles oder nichts'. Da Kapital per definitionem wächst, ist das Wachstum des einen eben manchmal auch der Niedergang des anderen.

 

Man konkurriert schließlich nicht primär um Qualität, Nützlichkeit oder ähnliches, was Handwerker einer Branche zunächst nebeneinander und sogar in derselben Straße und auf demselben Marktplatz bestehen lässt, sondern man konkurriert um den Markt selbst, jeden verfügbaren Markt. Es handelt sich um einen Machtkampf und im antiken Wortsinn nicht mehr um ein Wirtschaften, eine Ökonomie, oikonomeia, sondern um die Unterwerfung unter ein Prinzip, und unter ein Prinzip: Wachsen oder weichen. Nur wächst dabei nichts Lebendiges, sondern dieses vielmehr wird immer mehr aus der Welt verdrängt, bis am Ende das jetzt bald wohl auch den Menschen blühen wird. So wie beim Essen und Trinken hauptsächlich Urin und Kot herauskommt, so beim Kapitalismus hauptsächlich Geld. Und so sieht denn unsere Welt heute auch aus. Man muss es nur ertragen können, hinzuschauen.

 

Zunehmende Entstehung von Kapital: Nachfrage

 

Karl Marx spricht in kritischer Anlehnung an Adam Smith von einer (sogenannten) ursprünglichen Akkumulation von Kapital, und vertritt die an sich offensichtliche These, sie sei durch Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt zustande gebracht worden. In dem damals beschränkten historischen Horizont seiner drei Bände 'Kapital' trennt er nicht hinreichend klar zwischen der Anhäufung von Eigentum und der von Kapital. Das meiste große Eigentum, welches nach der Antike bis zur ersten Jahrtausendwende angehäuft wird, wird aber nicht direkt der Kapitalbildung dienen, also kapitalisiert werden, sondern dient jener Nachfrage, die Kapital erst entstehen lässt und dieses dann vergrößert.

 

Wenn wir der Frage nachgehen, woher solches großes Eigentum kommt, dann besagte die vormarxsche Theorie, dass es vorwiegend auf Talent und Fähigkeiten beruhte. Inzwischen ist klar, dass es (mit Marx) vor allem auf Gewalt beruht, und oft unmittelbar auf Kriegen und ihren Folgen im Inneren wie im Äußeren.

 

Großes weltliches wie geistliches Eigentum ging entweder aus der Antike in die Zwischenzeit einer Nachantike vor dem Mittelalter direkt über, oder es war Beute aus den Eroberungen und Ansiedlungen germanischer Völkerschaften und Ergebnis daraus hervorgehender Schenkungen.

 

Dieser Reichtum besteht im Frankenreich wie vorher in dem der Römer im wesentlichen aus Großgrundbesitz und daraus resultierender Schatzbildung. Der Reichtum von Bischöfen im Merowingerreich entsteht dann aus Schenkungen vor allem, aber auch aus kriegerischen Aktivitäten. Bei der Kirche ist allerdings der Privatbesitz jener Bischöfe, die ohnehin meist aus schwerreichen Familien stammten, und der für die Kernzeit des Merowingerreiches für einen Bischof Bertram von Le Mans auf 300 000 ha Land in Westgallien geschätzt wird (Brown2, S.127), vom Kirchenbesitz des Bistums zu trennen. Das ist natürlich nichts im Vergleich zu 85 000 Pfund Gold im Jahre 810 im Kirchenschatz des oströmischen Patriarchen von Alexandria.

 

Zum Besitz gehören dann die aufgehäuften Schätze, deren Bedeutung sich am besten an ihren kostbarsten Einzelstücken erkennen lässt, den Reliquienbehältern, die aus sinnlich unscheinbaren und schäbigen Knochen- und Holzstückchen oder Textilfetzen erst etwas hoch wertvolles machen: Reichtum und Heiligkeit fallen nun hier zusammen, so wie bei weltlichen Schätzen Reichtum und Status. Menschen werden bis heute dazu neigen, sinnlich Wahrgenommenes magisch zu überhöhen, um sich an so gewonnener Bedeutung zu laben.

 

Die Entstehung des Kapitalismus lässt sich im Nachherein in Städten wie Venedig oder Amalfi erahnen, ohne das er dort schon eindeutig zu belegen ist. Er wird dort beginnen, wo zunächst die Herrenschicht, dann aber nach und nach im sogenannten hohen Mittelalter immer mehr Menschen von seinen sich etablierenden Strukturen abhängig werden; vielleicht sollte man eher sagen, sich abhängig machen. Dazu müssen diese Herren den Kapitaleignern und dann auch den Warenproduzenten mehr Rechte und Freiheiten einräumen. Aber das 10. Jahrhundert und noch das 11. Jahrhundert im Norden liefert vor allem Voraussetzungen dafür: Erste große Kapitaleigner tauchen auf und gewinnen wirtschaftliche Macht, die sie auch außerhalb des wirtschaftlichen Rahmens einzusetzen beginnen.

 

Große Herren sind weiterhin Bischöfe, insbesondere Erzbischöfe, und manche Äbte mit den teils riesigen Besitzungen ihrer Bistümer und Klöster, aber auch weltliche Große, die mit ihren hergebrachteten Titeln, Aufgaben und Rechten sich über die gewöhnlicheren Herren aufschichten. Über solchen principes, im Deutschen später als Fürsten übersetzt, steht ein König, als Ordnungsfaktor von den Mächtigsten eingesetzt, aber darum auch immer wieder im Konflikt mit ihnen. Von der Kirche wird er auf legendär alttestamentarische Vorbilder wie Salomo und David orientiert, jene, die einvernehmlich mit ihren Priestern das Gesetz des jüdischen Gottes auf Erden verwirklichten.

 

Der Reichtum der Herren, der Nachfrage erzeugt, wird vor allem aus der Nahrungsmittelproduktion abgeschöpft. Dazu kommt die ländliche Rohstoffproduktion für das Handwerk: Wolle, Hanf, Leder, Färbemittel für eine Textilproduktion, und auch wieder zunehmender Bergbau für den steigenden Bedarf an Metallen. Bergbau gab es schon seit mehreren Jahrtausenden, und die Verhüttung von Erzen war seitdem wie dann auch der Schiffsbau eine Ursache für massiven Rückgang von Wäldern. Eine zweite Voraussetzung für nun bald einsetzende frühe Industrialisierung bieten seit der Antike die Wassermühlen, deren Bedeutung im zehnten Jahrhundert zu steigen beginnt.

 

Das Handwerk hatte mit dem Verfall der Städte in der Nachantike diese zunehmend verlassen und war in die ländliche Grundherrschaft integriert worden.

 

Ähnlich wie die Landbewirtschaftung ist Handwerk und übrigens auch zu einem guten Teil der Handel wesentlich in die familia des Herren integriert, ein Stück weit als pariarchalisches Erbe der Antike. Mit dem neuen Wachstum von Städten wird es nach und nach sich auch dort wieder mehr ansiedeln. Von dort war es aber nie ganz verschwunden.

 

Damit der Handel sich "kapitalistisch" und unternehmerisch verhalten kann, muss er sich aus der exklusiven Bindung an Herren lösen, von der fernhandelnde Friesen, Juden und Syrer früher schon mehr oder weniger frei waren. Er muss also mehr dazu übergehen, nicht mehr bloß Aufträge von Herren auszuführen, sondern auch spekulativ für einen Markt einzukaufen, von dem er sich Nachfrage erhofft.

 

Das Geschehen ist viel komplexer als hier bislang dargestellt. Vor allem entsteht zwar Kapital durch die Nachfrage von Herren an freie Händler, aber damit wird daraus noch kein Kapitalismus. Ein weiterer Weg dahin findet sich in der Tatsache, dass es schon früher in Städten und an Klöstern Märkte gab, die nun zunehmend gefördert werden, und auf denen Bauern und Handwerker Überschüsse neben der Selbstversorgung und den Leistungen an Herren anbieten und dafür selbst einkaufen. Auf solchen Märkten kauft auch das Gesinde von Herren ein, die darüber hinaus durch Gebühren, Zölle und andere Abgaben davon profitieren und darum solche Märkte auch fördern.

 

Zwar gibt es in vielen Gegenden noch häufig Tauschhandel, aber Geld gewinnt zunehmend an Bedeutung. "Naturalien" und Geld werden bald als Abgaben an die Herren nebeneinander existieren und denen wird dadurch der Marktzugang vereinfacht.

 

Der Transfer auf dem Lande erarbeiteter Reichtümer der Herren vor allem in die Hände des Handels und nicht primär in die Produktion wird unter den spezifischen Bedingungen des 10. und 11. Jahrhunderts zum Motor für die Entstehung von Kapitalismus. Dazu muss aber mehr produziert werden, und das geschieht aus verschiedenen Ursachen heraus. Das Klima wird günstiger, die Produktivität beginnt langsam zu steigen, zudem wird mehr Land dem Ackerbau vor allem zugänglich macht und so kann sich die Bevölkerung vermehren.

 

Mit dem Bevölkerungswachstum steigt der Zuzug in die Stadt, der alleine Städte wachsen lässt. Das fördert die Spezialisierung im Handwerk dort, Arbeitsteilung also, und die wiederum belebt das Marktgeschehen.

 

Der Weg in den Kapitalismus ist einer des Anwachsens von Produktion und Vermarktung, in dem bald Naturlandschaft und lebendige Natur in ihr schwinden werden. Zunehmende Produktion von Lebensmitteln, Rohstoffen, Halbfabrikaten und gewerblichen Fertigprodukten versorgt dabei vor allem die städtischen Märkte.

 

Was vor allem in den wachsenden Städten langsam zurückgeht ist Selbstversorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Wer kann, kauft zunehmend Bekleidungsstücke ein, für die die Nachfrage offenbar rasch wächst, da es immer mehr Produktion von Textilien, Lederwaren, Schuhen usw. gibt. Dazu kommen irdene, hölzerne und metallene Haushaltsgegenstände und Gerätschaften. Da die weltlichen Herren zugleich Krieger, milites sind und für Kirche und Kloster zusätzlich die Gewalttätigkeit ausüben, kommen Waffen und Rüstungen auf den Markt.

 

Auf allen Ebenen der Herrenschicht der Freien gibt es einen steigenden Geldbedarf für Investitionen in Krieg und Frieden, der bald nicht mehr nur durch den eigenen Grund und Boden gedeckt werden kann, sondern zunehmend durch Abgaben aus Handwerk und Handel. Um diese Einnahmen zu vergrößern, werden beide zusammen mit dem Ausbau von Städten gefördert und den Herren der Städte dafür zunehmend Königsrechte eingeräumt. Bevor sie von diesen Rechten nach und nach an eine kleine städtische Oberschicht vor allem abgeben, um die wirtschaftlichen Erträge in der Stadt zu fördern und sie zudem für ihre Belange einzuspannen, herrschen sie in den Städten durch unfreie Dienstleute, später manchmal Minsteriale genannt.

 

Die Investivkraft der Herren beschränkt sich auf die Erweiterung von Macht und Status mit ihren sichtbaren Zeichen. Es sind die Unfreien und gänzlich Untertanen, die das nicht können, und unter denen sich zunehmend die hervortun werden, die Kapital sowohl anhäufen wie zugleich vermehren möchten, um so einen zweiten Karriereweg neben dem der militia zu finden. Sie werden das im wesentlichen im Einvernehmen mit der Herrenschicht tun.

 

Daneben wollen und müssen höhere Herren ihren Status in Prächtigkeit ausdrücken, wozu zum Beispiel wertvolle Kleiderstoffe, Schmuck und die Ausschmückung ihrer Behausung dienen, aber auch teure Gewürze aus der Ferne.

 

Der Status von Kirche und Kloster, ihrer Herren vor allem, muss ebenfalls nach außen dargestellt werden, und dient offiziell dem Lobe Gottes, natürlich zugleich aber der prachtvollen Selbstdarstellung ihrer Chefs und des Kollegiums, mit dem sie herrschen..

 

Macht und Status haben zwar zunächst auch bei Kirche und Kloster mit Gewalt und den Identifizierungswünschen sich Unterwerfender zu tun, aber letztere werden durch die Ästhetisierung von Macht und Gewalt erleichtert, die sie auch im Frieden sichtbar machen. Schon Konstantin baute den Christen riesige Basiliken, die mächtig wirkten, was die Bischöfe und ihre Christen an ihn band.

 

Die wohl spanische Pilgerin Egeria, die um 385 ins "heilige Land" kam, beschrieb folgendermaßen die Golgathakirche: Der Schmuck ist wahrlich zu wunderbar für Worte. Man sieht nur Gold und Edelsteine und Seide (...) Die Anzahl und das Gewicht der Kerzen, Lichter, Lampen und was sie sonst beim Gottesdienst verwenden ist unvorstellbar (...) Sie sind unbeschreiblich so wie das großartige Gebäude selbst. Es wurde von Konstantin erbaut und (...) geschmückt mit Gold, Mosaik und kostbarem Marmor, so reich wie es das Reich hergab. (so in Brown2, S.53) Was heute typisches touristisches Staunen wäre, war damals fromme Ehrfurcht.

 

Die Merowinger-Könige versuchten mit den antiken Vorbildern soweit mitzuhalten, wie sie konnten. Merowingerkönige und Bischöfe tun es Konstantin im Maß ihrer Möglichkeiten nach. Gregor von Tours schreibt in seinen 'Historiae' über die Kathedrale seiner Heimatstadt Clermont: In ihr ist man der Furcht Gottes inne und einer großen Helligkeit, und die dort beten, bemerken oft, dass ein süßer Duft sie anweht. Ringsum hat das Heiligtum Wände, die mit Mosaiken und vielerlei Marmor geschmückt sind. (II,16) Gesichts- und Geruchssinn verbinden sich zur imaginierten Wahrnehmbarkeit des eigentlich nicht wahrnehmbaren Gottes, was Ehrfurcht hervorruft.

 

Recht bekannt ist die Karriere des Goldschmiedes Eligius zum Hofhandwerker von Merowinger-Königen, dann zum Bischof und schließlich zum Heiligen. In seiner Vita heißt es von König Chlothar (II.): Dieser König nämlich wollte sich einen besonders feinen Sattel aus Gold und Edelsteinen anfertigen lassen. Das Werk erregte die Bewunderung des Königs, und so stellte er für den Gebrauch des Königs viele Gerätschaften aus Gold und Edelsteinen her, und viele Grabmäler von Heiligen aus Gold, Silber und Edelsteinen...(Nonn, S.77)

 

Peter Brown meint, dass Goldschmiede in den germanischen Nachfolgereichen der Antike höher geschätzt wurden als Maler, "denn die magische Kunst des Goldschmieds bestand darin, kostbares Material, Edelsteine, Gold und Silber (…) zu Symbolen der Macht zu verbinden und zu verdichten." (Brown2, S. 341) Die späteren Tafelgemälde werden mit ihrem Goldgrund diesen Effekt fortzuführen versuchen.

 

In den Reliquienbehältern, durchs frühe bis ins hohe Mittelalter die ersten Objekte fränkischer Goldschmiedekunst, gelingt die noch magischere Kunst, den unsichtbaren Gott des armen Jesus kurioserweise im Reichtum gestalteter Kostbarkeit aufscheinen zu lassen. Im Namen dieses evangelischen Rabbis, der vermutlich nach seiner Taufe keine Münzen in die Hand genommen hätte, werden nun Tempel und Kreuzeszeichen und ähnliche christliche Symbole auf Silbermünzen geprägt.

 

Nachdem Bonifatius um 730 die heilige Eiche in Geismar gefällt hat, möchte

er aus England besonders prächtige Bibel-Handschriften mit goldenen Lettern

geschickt bekommen, damit dem fleischlichen Sinn der Heiden Verehrung für die heilige Schrift eingeprägt werden möge. (in Brown2, S.17) In der Regel wurden solche Prachthandschriften allerdings von Mönchen hergestellt, um schon zuvor den "fleischlichen Sinn" der Christen mit einem prächtigen Gott zu betören. Gemeinhin wurde dann gesagt, das mache man zur Ehre Gottes, als ob dieser auch einen solchen fleischlichen Sinn für sehr irdische, sinnliche Werte besäße. Frühmittelalterliche Buchmalerei präsentiert sich zunächst aus warenästhetischen Zusammenhängen noch herausgenommen, da sie zum guten Teil aus den Skriptorien von Klöstern kommt und weder aus Lohnarbeit stammt noch für einen Markt bestimmt ist. Die derart freien Räume betreffen zwar nicht die Inhalte, die vorwiegend an die (religiösen) Texte gebunden sind, aber doch die Gestaltungskunst, die sich aus der Antike heraus entwickelt und langsam auch vom byzantinischen Einfluss löst.

 

Ekkehard von Sankt Gallen lobt um 900 einen Mönch Tuotilo als große Künstlerpersönlichkeit, der ein Kreuz der heiligen Maria … aus dem Gold und Geschmeide wunderbar herrichten ließ. Gold, Silber, Elfenbein sind seine Materialien. (Nonn, S.165) Ein Evangeliar, schreibt derselbe Autor, ließ der Abt von St. Gallen von einem Mönch Sintram schreiben, um den mit seinen Tafeln prunkenden Band mit Hattos Gold- und Edelsteinen zu schmücken. (s.o.S.171)

 

Einige Kirchen werden schließlich immer größer, schmuckvoller, und alle wetteifern um die Prächtigkeit des liturgischen Gerätes. Prächtigkeit gilt für die Adelskirche und das Adelskloster als hohes Gut. Über die adelige Schwester des Bischofs Burchard von Worms heißt es vor 1025 in dessen Vita: Diese Dame (domina) war nämlich sehr begabt für Frauenarbeiten (opera mulieribus) und höchst tüchtig,, und sie hatte für die verschiedensten Textilarbeiten angelernte Frauen (feminas doctas) um sich; in der Herstellung prächtiger Kleidung übertraf sie aber viele Frauen. (Nonn, S.71) Zu so viel aristokratischer Wertorientierung passt am Ende, dass sie Abtissin wird.

 

Vor aller späteren Warenästhetik fallen mehrere Dinge auf: Die ästhetischen Normen, die nach dem Mittelalter für einen neu zu entwickelnden Kunstbegriff auftauchen, scheinen vorläufig kaum eine Rolle zu spielen, und das Niveau antiker Kunstfertigkeit scheint ein Stück weit verfallen zu sein. Ästhetik konzentriert sich auf den Warenwert der Materialien und ihre zusätzliche Möglichkeit, zu glänzen und zu funkeln, wie das bislang für viele Formen der Schatzbildung galt. Bildliche Darstellungen wiederum kämpfen mit den technischen Möglichkeiten und konzentrieren sich stark auf die korrekte Botschaft, die wiedergegeben werden soll.

 

Zusammenfassend ist zu sagen: Herren gelangen zu Reichtum, Bauern und Handwerker vorläufig jedenfalls nicht und auch nicht eine zunächst noch kleine Gruppe städtischer Krämer. Kapital wiederum häuft umfangreicherer Handel an. Daneben kann auch Geld in einzelnen Fällen in Form von Krediten zu optimalen Renditen verliehen werden, wobei sich zunächst noch vor allem reiche Klöster hervortun, zu denen dann später weltliche Finanziers hinzutreten werden.

 

 

Handel

 

Handel entsteht sowohl durch Nachfrage wie durch Angebot, die sich auch gegenseitig beeinflussen. In groben Zügen entsteht dabei ein Gewinn aus der Differenz zwischen Einkauf und Verkauf, wobei aber die Transaktionskosten, die zwischendrin entstehen, abgezogen werden müssen. Dazu gehören vor allem Transportkosten, zu denen wiederum zum Beispiel die Zölle gehören. Des weiteren kommen dazu die Abzüge durch Unbillen der Witterung, durch Räuber und vieles mehr.

 

Im Kern akzeptiert die christliche Doktrin nur Subsistenzwirtschaft, wie sie die Bauern betreiben, deren Überfluss an die weltlichen und geistlichen Herren abgehen darf, weil sie deren leibliches und seelisches Wohl beschützen. Stillschweigend geduldet wird auch, wenn Bauern in geringem Umfang schon mal Überschüsse auf einen lokalen Markt bringen.

Andererseits bedienen sich geistliche Herren und Klöster selbst auf dem Markt und verkaufen dort auch, wobei es im 10. Jahrhundert vor allem um das geht, was für Bauern Luxus wäre. Das wird aber in der Praxis ebenso stillschweigend geduldet.

 

Kritisch gesehen wird so nicht der Handel, sondern wenigstens in der Theorie das enthaltene und nicht so benannte Kapital bzw. der daraus erzielte Gewinn. Dieser entspricht nicht dem Gebot der Caritas, der Nächstenliebe. Weniger sündhaft wird er aber, wenn davon an Kirche und Kloster oder direkt an die Armen gespendet wird. Ansonsten operiert die Kirche mit der Vorstellung eines "gerechten Preises", wobei Mönch Notker ("Balbulus") von St. Gallen allerdings von einem Bischof berichtet, der selbst, als viele Hunger litten, sein Getreide möglichst lange im Speicher ließ, um so einen höheren Preis zu erzielen. Von anderen wird allerdings auch erwähnt, dass sie in Notzeiten Massen von Armen speisen.

 

Handel ist in unserer Zeit vor allem innerörtlicher Kleinhandel und solcher zwischen Stadt und Umland. Damit erreicht er auch die wenigstens 90% kleine Leute, wenn sie denn etwas für Waren erübrigen können. Fahrende Händler scheinen dabei bereits seit langem selbst Nachfrage zu stimulieren, also für ihre Waren zu werben. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts beschreibt Notker ("Balbulus") bereits die Missionierung im Frankenland durch zwei irische Mönche, die mit bretonischen Mönchen ankommen, in Metaphern des Handels:

 

Ohne irgendwelche Waren zum Verkauf vorzuzeigen, pflegten sie der zum Kauf herbeiströmenden Masse zuzurufen: Wer Weisheit begehrt, komme zu uns und empfange sie; denn sie ist bei uns zu haben. Dass sie diese zu verkaufen hätten, sagten sie, um das Volk dazu zu bringen, dass es die Weisheit wie die übrigen Dinge kaufe, oder aber um es durch solche Anpreisung zum Verwundern und Erstaunen zu veranlassen. (in: Ertl, S.200)

 

Man muss also nicht bis ins 13. Jahrhundert eines Bernhard von Clairvaux warten, um Analogien zwischen Verkaufen von Waren und von Religion zu finden. Dieser wird dazu aufrufen, wie ein kluger Kaufmann zu rechnen und sich mit der Teilnahme am (zweiten) Kreuzzug die Rettung der Seele zu erkaufen. Neben dem Anpreisen von Waren spielt auch das Feilschen um den Preis eine wichtige und oft als Spiel auch eher unterhaltsame Rolle und trägt zur allgemeinen Lärmentfaltung bei. Rudolf von Sint Truiden (St.Trond) im Limburgischen beschreibt den Lärm von Pferden und das Geschrei (clamor) von Käufern und Verkäuferin auf dem Markt vor seinem Kloster.

 

Der interkontinentale Handel zwischen Europa, Afrika, dem Orient und Asien war mit dem Ende des Imperium Romanum massiv zurückgegangen; was durch die Zeit bleibt, aber ohnehin nur in kleinen Mengen, ist der Gewürzhandel, der Arabien, Persien, Indien, die Mongolei und China einschließt.

 

Die Seehoheit über das Mittelmeer haben zwar inzwischen muslimische Schiffe, aber diese beliefern auch christliche Häfen. Der interkontinentale Handel mit Luxuswaren läuft weiter über Zwischenhändler aus Indien und direkter aus dem näheren Orient und Nordafrika, allerdings wesentlich schwächer als zur Zeit der römischen Antike. Erst im 11. Jahrhundert werden sich Fernhändler aus unserem Bereich stärker und dann mit Macht daran beteiligen. Andere Luxusgegenstände, oft noch stärker den Status von Kloster, Bischofskirche und Fürsten darstellend, kommt aus europäischer Produktion bei zum Teil außereuropäischen Rohstoffen (Edelsteine, Gold, Elfenbein usw.).

 

Im Kern existiert ein interkontinentales Ungleichgewicht. Es gibt zwei Großräume mit bedeutenden Städten, entwickelter Warenproduktion und einem ausgebauten Handel, nämlich das Reich von Byzanz und das des Islam. Dann gibt es einen im Vergleich dazu unterentwickelten Raum des christlichen Teils Italiens, ein immer noch partiell urban geprägter Raum, und schließlich das große nördliche Hinterland Europas, Natur- und Agrarlandschaft vor allem, welches für Handel und Wandel nur eine gewisse Rolle als Rohstofflieferant spielt.

 

Der Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung sind einmal nominell noch unter byzantinischer Herrschaft stehende Städte wie Venedig und Bari im Osten und Neapel, Gaeta und Amalfi im Westen. Selbständiger entwickeln sich Genua und Pisa, die nach Sardinien ausgreifen, und dann gibt es noch Marseille und Barcelona außerhalb des italienischen Raums.

 

Der ungleichgewichtige Warentausch von Rohstoffen und minderwertiger Massenware gegen relative Luxusprodukte muss von der lateinischen Welt entweder durch Masse ausgeglichen werden oder durch den Abfluss von Edelmetallen. Die Entwicklung in kapitalistische Verhältnisse wird auch darin bestehen, dieses Ungleichgewicht aufzuheben, was vor allem verbesserte Warenproduktion bedeuten wird, und sie wird nach einigen Jahrhunderten die ökonomischen Machtverhältnisse umkehren.

 

Etwas innereuropäischer Fernhandel existiert in nun wachsendem Umfang weiter, der sich zunehmend auf Messen konzentriert. Damit bewegen sich zwei Dinge aufeinander zu: Fernhandel einerseits, wesentliche Chance für die Vermehrung von Kapital aufgrund hoher Renditen, und regionaler und lokaler Handel, mit dem auch Bauern und Handwerker am Markt teilhaben.

 

Beide verbinden sich überall dort, wo Handwerk seine Produktion erheblich steigern kann, und so zunehmend für den Markt produziert. Dazu bedarf es der Hervorbringung von genügend Rohstoffen, einmal aus der Landwirtschaft, zum anderen aus dem damit zunächst zusammenhängenden Bergbau, mit denen dann zunächst handwerklich und mit Mühlen später auch maschinell Halbfabrikate und Fertigprodukte entstehen.

 

Handelsgesellschaften bilden Juden und "Araber" im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. "Die Mudaraba genannte Gesellschaft, bei der ein Investor das Kapital einzahlt und ein Angestellter die Arbeit erbringt, ist bereits im 6. Jahrhundert nachweisbar." (Ertl, S.150)

 

In unserer Schwellenzeit wird zumindest nördlich der Alpen wohl der Tiefpunkt des Zustandes von Straßen und Brücken erreicht. Reisenden fällt es schwer, in den dichten und riesigen Wäldern noch ihren Weg zu finden. Die hölzernen Brücken sind brüchig und von Löchern durchsetzt. (Goetz)

 

 

Herr und Knecht, Arbeit und Kapital, Ländliches Proletariat

 

Nachdem große Teile des antiken Erbes aufgezehrt sind und die Großreichsbildung des Frankenkönigs Karl zerbrochen ist, gerät die Welt der lateinischen Christenheit in vielerlei Hinsicht in Umbrüche und Aufbrüche. Es ist noch zunehmend eine Welt von Herren und Knechten, in der die wenigen Herren über fast das ganze Land verfügen und die vielen Knechte kaum mehr dürfen als darauf arbeiten. Der christliche Gott, der längst immer mehr Züge des alten jüdischen bekommen hat, hat das angeblich so gewollt. Wie bei den Römern bleibt es Herrenrecht, nicht produktiv arbeiten, sich um das Lebenswichtigste mühen zu müssen. Diese Mühe, altdeutsch arebeit, wird zum Los jener meisten, die zugleich am wenigsten zu sagen haben.

 

Die Trennung der Bevölkerung in immer weniger Freie und immer mehr Unfreie erreicht im Verlauf des 10./11. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Nichts weist darauf hin, dass die ländlichen, fast eigentumslosen Massen andere als individuelle Perspektiven haben, die sich selten mit denen ihrer Nachbarn verbinden. Von der Kirche indoktriniert und darauf orientiert, sich mit ihren Herren zu identifizieren, den Rücken gekrümmt von den Mühen des Tages, den Unbilden der Witterung ausgesetzt, werden sie, auf den Boden gebückt oder in die Werkstatt gesperrt das erarbeiten, was in den Reichtum derer mündet, die dann dem Handel mit ihrer Nachfrage Kapitalbildung ermöglichen werden.

 

Die Masse der Menschen, die labor und arebeit und später auch travail betreibt, ist schiere Arbeitskraft, und jenseits davon meist vor allem der Verachtung der Mächtigen und ihrer Propagandisten ausgesetzt, die ihre Abhängigkeit bis hin zu mehr oder weniger fast sklavenartiger Unfreiheit für gottgegeben und weniger fromm gesagt naturgegeben halten.

 

So gut wie nichts ist heute übrig geblieben von den vielen, die die Ernährung der Wenigen betrieben haben. Der Prozess der Zivilisation versenkte fast alle im Dunkel der Geschichte und lässt sie unbeachtet von der Geschichtsschreibung, die sich auf die Welt der Mächtigen konzentriert.

 

Immerhin gibt es in einem Gedicht des Bischofs Adalbero von Laon an König Rotbert (Robert) irgendwann um das Jahr 1000 eine kurze Passage, in der diese Leute vorkommen: Dieses gebeugte Geschlecht von Menschen hat nichts als seine Arbeit. Wer kann ihre Pflichten beschreiben, ihre Mühsal, ihren Einsatz, ihre überaus schweren Arbeiten? Für alle müssen sie die Kleidung und die Verpflegung schaffen, und kein Adeliger kann ohne die Arbeiter leben.

 

Das heißt allerdings nicht, dass der Autor etwas an diesen gottgewollten Verhältnissen ändern wollte, auch nicht auf seinen eigenen Gütern. Er genügt hier nur rethorisch jener christlichen Pflicht des Mitleids, welches damals misericordia heißt, später eingedeutscht als Barmherzigkeit. Sie verpflichtet wie in ihrer säkularisierten heutigen Form der politischen Korrektheit zu nichts als zum Almosengeben.

 

Aber auch aus dieser Art von ländlichem "Proletariat" heraus wird Kapitalismus entstehen. Wir reden im 10. Jahrhundert noch hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht, denn die handwerkliche Produktion ging bislang mehr noch als nur mit dem Schwund an Bevölkerung zurück, und dabei besonders die metallverarbeitende. Genauer gesagt schwindet letztere mit dem Ende des weströmischen Imperiums zunächst fast völlig mit dem rapiden Rückgang des Bergbaus, der bis ins 10. Jahrhundert hinein anhält. Mangel an Gold, Silber, Eisen, Blei und Kupfer wird deutlich. Mitten im 10. Jahrhundert beginnt sich das dann wieder zu ändern.

 

Das im wesentlichen ländliche Proletariat lebt verstreut, in höchstens kleinen Ansiedlungen, vermutlich auch in weitgehender Unkenntnis der Aktionen der Mächtigen, soweit sie nicht augenfällig in ihren Alltag hineinreichen. Weithin gebunden an ihren Ort und ihre Arbeit, erfahren sie davon höchstens, wenn einige von ihnen, eher selten, den manchmal weiten Weg auf einen Markt finden, oder wenn Händler und meist damals noch höhergestellte Pilger durchreisen.

 

Soweit es überhaupt Gefühle von Zusammengehörigkeit gibt, dürften sie über gemeinsame Herrschaft erlebt werden. Dann gibt es da die gemeinsame lokale und regionale Sprache, lokale Kirchen und darüber hinaus in großem Rahmen den Unterschied in romanische und germanische Idiome, neben keltischen, baskischen und slawischen. Während die Groß-Mächtigen im 10. Jahrhundert den Grundstock für das legen, was am Ende zu einer Art Nationalstaaten im lateinischen und griechisch-slawischen Europa wird, dürften die Menschen auf dem Lande davon wenig mitbekommen. Am ehesten entsteht noch ein angelsächsisches Gemeinschaftsgefühl, ansonsten erfährt man Trennlinien dort, wo sie überschritten werden: Beim Einmarsch ostfränkischen Militärs in die italienische Halbinsel, bei den gegenseitigen Aggressionen von Sachsen und ostelbischen Slawen, beim Streitobjekt Lothringen und den Einmischungen sächsischer Kaiser in den Raum westfränkischer Könige sowie an den Grenzlinien zwischen Christentum und Islam, insbesondere auf der iberischen Halbinsel.

 

Erfolgsprogramm

 

Schon der mittelalterliche Kapitalismus ist ein enormes Erfolgsprogramm: Er versetzt eine relativ statische, vorwiegend agrarische Welt in immer schnellere Bewegung, ist selbst bei allen Krisen doch an einem erheblichen Bevölkerungswachstum beteilgt, integriert nach und nach fast alle Lebensbereiche und versorgt die meisten Menschen mit einem steigenden Niveau an Warenkonsum. Große Regionen verstädtern und werden von Städten dominiert. Städte und das Land vernetzen sich, Regionen, ein Netzwerk letztlich kapitalgesteuerter Aktivitäten überzieht einen großen Teil Europas von Skandinavien bis Sizilien, von Katalonien bis ins Land der Rus.

 

Dieser Kapitalismus ist nicht nur die Sache von Kapitalisten, sondern er ist ein Gemeinschaftsprojekt, an dem Adel, Fürsten und Könige ihren Anteil haben, aber auch "kleine" Handwerker, Lohnarbeiter und Bauern. Dabei sieht er in vielem noch sehr anders aus als der vertrautere Kapitalismus seit dem 18./19. Jahrhundert. Die große Mehrheit der Menschen produziert noch Nahrungsmittel auf dem Lande und lebt unmittelbar von ihrer produktiven Arbeit wie die meisten Handwerker auf ihre Weise auch, man kann etwas vergröbert sagen, von der Hand in den Mund. Auch die schon damals wenigen Vertreter des großen Kapitals haben Herren über sich, aber einem Teil von ihnen gelingt es in einem Teil der Städte, wenigstens dort selbst zu Herren zu werden, zu einer neuen Obrigkeit, und schließlich wie Aristokraten zu leben.

 

Aus alledem ergibt sich, dass Karl Marxens so einflussreiche Schematisierung der Geschichte, die von einer den Kapitalismus entwickelnden und tragenden Schicht des Bürgertums spricht und dabei gerne auch von einer späteren bürgerlichen Gesellschaft als kapitalistischer, das Augenmerk eher in eine falsche Richtung lenkt. Die zwei oft heute bürgerlich genannten "Gesellschaften", die städtisch mittelalterliche, die im Prozess der Verstaatlichung untergeht, und die recht andere neuzeitlich-städtische, mit entfalteter Staatlichkeit einhergehend, die im 19./20. Jahrhundert je nach Gegend untergeht, werden zwar beide vom Kapitalismus geprägt werden, diesen aber nie selbst prägen: Kapitalismus genügt immer seinen sehr eigenen Gesetzen, und er kann das nur solange, wie er das hinter dem Rücken fast aller tut.

 

 

***Widersprüche***

 

Das lateinisch-christliche Abendland der Nachantike und des frühen Mittelalters ist eine enorm widersprüchliche Welt, und zweifellos ist es diese Vielzahl von Widersprüchen, die es in eine Offenheit führt, die die Entfaltung von Kapitalismus ermöglichen wird. Als Widersprüche seien dabei die gegensätzlichen Vorstellungen und Tatbestände bezeichnet, die sich eigentlich ausschließen würden und darum nach einer Lösung drängen, und in denen in unserem Raum Kapital als Movens, als das zentrale Bewegende möglich wird und nach und nach die Oberhand bekommt. Im Kern wird verallgemeinerte Kapitalbewegung und Warenwelt diese Widersprüche auflösen, geschlossene und kapitalistisch harmonisierte Welten schaffen, um am Ende sich selbst zerstörend in den Widerspruch zwischen seinen Verheißungen und seiner Lebensfeindlichkeit aufzulösen.

 

Die den Kapitalismus konstituierenden Widersprüche sind alle schon in unserer Schwellenzeit vorhanden. Ein wesentlicher ist der Widerspruch zwischen der evangelischen Botschaft und der Tatsache, dass ihre Grundforderungen von kaum jemandem befolgt und von den meisten alltäglich ignoriert werden. Eine Religion aber, die statt klarer Normen das alltägliche Verhalten immer wieder neu verhandelt, wie es die Kirche tut, wird nach und nach von der Allgewalt eines sich entfaltenden Kapitalismus überrollt werden.

 

Wenn schon die evangelische Botschaft - wiewohl weiter offiziell in Kraft - nicht befolgt wird, auch weil sie ohne Wiederkunft ihres "Herrn" ihre Geschäftsgrundlage verloren hat, dann bleibt doch die kirchliche Botschaft, das Leben soweit als möglich auf eines nach dem Tode hin auszurichten. Das geht aber für alle die vielen nicht, die, und es sind in unserer Schwellenzeit und noch viele Jahrhunderte danach fast alle, tagtäglich mit mühevoller Arbeit der sie umgebenden Natur ihr (Über)Leben abringen und sich zur Gänze darauf konzentrieren müssen. Dies gilt insbesondere auch, da sie die Herren über sich mit ernähren und mit einem gewissen Luxus ausstatten müssen.

 

Es ist auch nicht akzeptabel für diejenigen, die, nun bereits viel weniger Leute, als Krieger in die Machtstrukturen verwickelt sind und zur Belohnung um Einfluss und Wohlstand ringen, etwas, was auch die Herren der Kirche und die Äbte der Klöster betreiben. Sich mit materiellem Wohlstand und möglichst hohem Konsumniveau zu versehen ist offenbar in Zivilisationen ein Grundbedürfnis - ähnlich dem des Auslebens von Aggressionen, welches der christlichen Grundforderung der Nächstenliebe zutiefst widerspricht.

 

Was weniger geschieht, ist, dass man dabei Kompromisse eingehen kann, stattdessen wird das unentwegte Sündigen vom Vergehen bis zum Verbrechen durch kirchlich angebotene Ersatzhandlungen kompensiert. Das entwickelt sich zu einem Markt mit der Ware Erlösung ins Himmelreich und den vielen Waren Vorleistungen, die dafür eingetauscht werden. Dies wird deutlicher, wenn man das nun mittelalterliche Christentum mit Judentum und Islam vergleicht, deren viel praktikablerer und irdischer zentrierter Anforderungskatalog viel problemloser eingelöst werden kann.

 

Offenbar relativ wenig widersprüchlich sind zu dieser Zeit die Verhältnisse zwischen Herr und Knecht, dem ersten Grundprinzip aller Zivilisationen. Der auch in unserer Schwellenzeit durchgängige Gewaltcharakter der Machtstrukturen, in denen sich größere und kleinere Herren, allesamt Krieger, bewegen, veranlasst vielmehr sogar immer mehr freie ländliche Produzenten, ihre bescheidene Freiheit aufzugeben und notgedrungen unter Herren Schutz zu suchen. Freiheit ist in unserer Schwellenzeit kaum noch eine Option für diejenigen, die mit ihrer Arbeit Macht und Reichtum von Herrenmenschen ermöglichen.

 

Gravierende Konflikte zwischen Produzenten und ihren Herren sind wohl eher selten und punktuell und offenbar damals kaum prinzipiell. Das ist ganz anders zwischen Herren sowohl annähernd gleicher wie unterschiedlicher Mächtigkeit. Die Machtverhältnisse in den Nachfolgereichen des römischen Imperiums sind von Anfang an instabil, sowohl zwischen den Königen und den regionalen Machthabern wie zwischen ihnen und den kleinen Herren vor Ort. Es war eben nicht gelungen, inzwischen neue stabile Formen von Staatlichkeit zu entwickeln.

 

Das freie Kriegertum, auf der Verfügung von Grund und Boden und darauf arbeitenden Menschen gegründet, neigt einfach zu sehr zur Erweiterung von Macht und Reichtum, zu denen es sich berufen fühlt. Genau das aber verhindert staatlich definierte Stabilität und führt dazu, dass Einzelne im lateinischen Raum zwar im 10. Jahrhundert nach einer Neudefinition von Königtum suchen, viele aber eher ihre eigene Macht und Herrlichkeit betonen.

 

Besonders deutlich wird das auf lokaler Ebene, wo Grundherren beginnen, ihre Höfe bzw. Gehöfte zu befestigen und von dort aus ihre Macht zu erweitern. Daraus entsteht dann bald das, was wir im Deutschen bis heute Burgen nennen und jene kriegerische Machtelite, die sich nach und nach als neuartiger Adel konstituiert.

 

Widersprüche erzeugen insbesondere hier Konflikte, und wie gewalttätig sie oft ausgetragen werden, erweist sich an der Notwendigkeit der im 10. Jahrhundert aufkommenden Friedensbewegung, die zunächst von der von Gewalt bedrohten Kirche getragen ist und dann von den hohen Machthabern zur Machterweiterung übernommen wird, bis sie 1095 im Aufruf zum ersten Kreuzzug mündet, der Ableitung von Gewalt in den religiös legitimierten Krieg.

 

Für die Herren sind Macht, Reichtum und höheres Konsumniveau die vor allem - aber nicht nur - mit Gewalt gegeneinander zu erringenden Ziele. Streben nach Reichtum, überhaupt nach irdischen Gütern über das Allernotwendigste hinaus als Fixiertsein auf irdische Werte ist laut evangelischem Jesus die wohl größte Sünde, die Erlösung praktisch unmöglich macht.

 

Das Gebot der Nächstenliebe ist beim evangelischen Jesus ganz handfest materiell gemeint. Wer etwas hat, gibt davon dem, dem es fehlt, und zwar als vorbehaltloses Geschenk. Das kollidiert zwar mit dem evangelischen Gebot, arm zu leben, also ohne alles, was nicht unbedingt lebensnotwendig ist, aber die Evangelien versprechen ja das unmittelbar bevorstehende Weltenende.

 

Der Geschäftsmann, der einen möglichst großen Gewinn aus seiner Investition ziehen will, handelt zutiefst unevangelisch. In unserer Schwellenzeit geht es vor allem um Handel dabei, aber auch schon um Kreditgeschäfte. Der Wucher, also das sich Bereichern an der Bedürftigkeit anderer, widerspricht von Anfang an dem Gebot christlicher Nächstenliebe. Das hindert aber niemand in "christlichen" Zeiten daran, Handel zu treiben bzw. zu fördern.

 

In einem Kapitular Karls von 806 heißt es:

 

Wer in der Zeit der Getreidereife oder der Ernte ohne Not Getreide oder Wein kauft - aber mit einem begehrlichen Hintergedanken - zum Beispiel um ein großes Fass für zwei Denare zu kaufen und aufzubewahren, bis man es für vier oder sechs Denare oder noch vorteilhafter verkaufen kann, begeht das, was wir einen unehrenhaften Gewinn nennen. Wenn sie es aber ganz im Gegenteil notwendig kaufen, um es für sich selbst aufzubewahren oder an andere zu verteilen, dann nennen wir das ein Geschäft (negotium). (in Audebert/Treffort, S.49)

 

Wann etwas aber letztlich Wucher als unehrenhafter Gewinn ist und wann ein Preis dementsprechend gerecht (iustus), wird letztlich nach sehr weltlichen Machtinteressen entschieden, und die Begriffe werden immer dehnbar sein und immer dehnbarer werden.

 

Zudem: Neben den Vergnügen von Kampf und Jagd und einem erweiterten Konsum kennen die Herren auch - sozusagen um sich auszuruhen und zu entspannen - friedlichere Vergnügungen. Solche wie Musik, Tanz, professionelles Geschichtenerzählen und Gauklertum teilen sie grundsätzlich mit der ihnen untergeordneten Masse der Produzenten, wiewohl sie sich von deren Amüsement schon alleine dadurch absetzen, dass sie die jeweils Begabteren und Modischeren mit entsprechenden Geschenken besser belohnen können.

 

Die Neigung zum Vergnügen prägt Menschen wohl genauso wie ihre aggressive Grundstruktur. In beiden treten die Menschen aber in massiven Widerspruch zum gewaltfreien und in seinen Kernaussagen allem irdischen Vergnügen abholden Jesus, der in den Evangelien nicht ein einziges Mal lacht, aber unentwegt Ernsthaftigkeit predigt. Seit Tertullian ist die Kirche dann von dem Bemühen erfüllt, die Menschen zumindest von den staatlich arrangierten Vergnügungen der antik-römischen (und griechischen) Städte abzubringen, was aber erst gelingt, als die solche Spaßwelten finanzierende Oberschicht ausfällt.

 

Für den entstehenden neuen Kriegeradel des 10./11. Jahrhunderts gehört das Amüsement als Begleiterscheinung ihres Status so zum Leben wie für die letztlich ohnmächtigen Produzenten auf dem Land und in den wieder auflebenden Städten, für die es an Festtagen Kompensation für die Mühen der Arbeit ist. Mit nicht wenigen der Vergnügungen wie dem Tanz, der Musik und einzelnen Elementen insbesondere von Gauklerinnen ist allerdings auch noch ein erotischer Aspekt verknüpft, der den Widerspruch zum evangelischen und auch noch in unserer Schwellenzeit offiziell kirchlichen Christentum verstärkt.

 

Für den evangelischen Jesus ist der Geschlechtstrieb mit der Heiligung des Menschen in seiner Nachfolge überflüssig geworden: Wozu noch Nachwuchs, wenn das Himmelreich so nahe ist. Und das Lustmoment in der Geschlechtlichkeit lenkt nur von der Vorbereitung darauf ab. Für die Kirche wird so sexuelle Lust Sünde und Enthaltsamkeit der korrekte Weg ins Paradies der Nähe Gottes. Offiziell wird aber, nachdem der Jüngste Tag nicht mehr nahe, sondern immer ferner ist, der Koitus zwecks Nachwuchserzeugung geduldet: Die Kirche arrangiert sich mit der Wirklichkeit und duldet letztlich de facto bis in die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts (und letztlich bis heute) sogar den ausgelebten Geschlechtstrieb ihrer Priester.

 

Die beispiellose Differenz zwischen evangelischem Jesus samt überlieferter Praxis der Apostelgeschichte einerseits und allgemeiner "christlicher" Lebenspraxis andererseits seit der Etablierung einer Kirche begleitet die Geschichte hin zum Kapitalismus durch die Nachantike bzw. das frühe Mittelalter. Sie bedeutet Instabilität, da sie ständigen Diskussions- und Erklärungsbedarf auslöst. Diese Instabilität wird verstärkt durch die Doppelkonstruktion von Kirche als geistlicher und weltlicher Macht. Dadurch ist sie mit der rein weltlichen und zugleich religiös begründeten Macht verschränkt und zugleich in Konkurrenz mit ihr.

 

Die wenigen Menschen von selbstdenkerischer Intellektualität, die die griechische und römische Antike hervorgebracht hatte, sind nicht nur mit dem Rückgang von Belesenheit und Schriftkultur verschwunden, sondern auch mit dem von der Kirche gesetzten und massiv verengten Horizont. Da die römisch-katholische Kirche sich unter dem Einfluss schlecht verstandener und lateinisch übersetzter hellenischer Philosophie (Aristoteles/Platoniker) auf den Weg in die Staatskirche gemacht hatte, bleiben Reste überliefert, die aber nun unter der Voraussetzung des zugleich einen und dreifachen Gottes stehen, über den weltliche und geistliche Macht alleine, und man ist versucht zu sagen nach Belieben, verfügen.

 

Solche der lateinisch-christlichen Welt inhärente Widersprüche zwischen Doktrin und wirklicher Lebenspraxis, immer neu zugedeckt, ermöglichen der Entfaltung von Kapital hin zu einem frühen Kapitalismus Räume, die bereitwillig zugestanden und von diesem gerne eingenommen werden. Es fehlt eben eine konsistente und darum praktikable Ethik als Basis stabiler Verhältnisse.

 

Der wesentliche Motor der Veränderung wird nun Kapitalbildung werden - als alternatives Karriere-Interesse für die, die nicht zur Herrenschicht gehören, und zugleich als eine von diesen Herren für ihre Machtentfaltung geförderte Entwicklung.

 

Möglich wurde das dadurch, dass das Christentum theologisiert, verkirchlicht und zunehmend rejudaisiert wurde und sich so an die Interessen der Mächtigen anpasste. Damit wurde es fast jeder Möglichkeit zur Widerständigkeit gegen all das Neue, welches Kapitalismus hervorbringen wird, beraubt.

 

Hatte sich der evangelische Jesus nur auf wenige Textpassagen der die jüdischen Machtverhältnisse religiös definierenden Schriften vor ihm bezogen und kam letztlich ohne Tempel und Priestertum aus, so wurde bald dann seine massive Kritik am tradierten Judentum ignoriert. Stattdessen wurde nun immer mehr auf jene jüdischen Texte zurückgegriffen, die Herrschaft und Königtum religiös begründeten. Die legendären Salomo und David werden in den neuen Königreichen der Nachantike zu idealen Vorbildern. Im 10. Jahrhundert wird auf dieser Grundlage eine stärkere Sakralisierung des Königtums möglich.

 

Was beim evangelischen Jesus und Paulus wegen der baldigen Wiederkehr des "Herrn" eher als nebensächlich abgetan wurde, die Eigentumsverhältnisse und die Untertänigkeit unter Obrigkeit, wird nun zur Hauptsache: So wie im "Himmel" ein Imperator oder wenigstens König als Herr der himmlischen Heerscharen zunehmend militanter Engel herrscht, so möchte dieser wieder militante Jehova angeblich auch eine entsprechende Ordnung auf Erden. Nur so konnte einst schon das Christentum als Staatsreligion seinen Siegeszug antreten.

 

Anders gesagt, Vorstellungswelten und Wirklichkeit geraten wie in keiner anderen Zivilisation auf parallele Schienen und kollidieren überall dort, wo diese schadhaft werden. Daraus entsteht eine christlich-abendländische Wirklichkeitsfeindlichkeit und Ideologiefreundlichkeit, die seit dem 18. Jahrhundert in immer katastrophaleren Schüben bis in den Untergang dieser Zivilisation zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert führen wird.

 

Das Christentum wird nicht nur in Kernpunkten rejudaisiert, zugleich verschmilzt es auf eigenartige Weise mit Elementen antiker Philosophie. Einerseits verhilft das dem lateinischen Abendland zu immer neuer Ideologieproduktion, die bis heute, dem Beginn des 21. Jahrhunderts, in ein immer geschlosseneres Weltbild mündet, zum anderen wird es im Rahmen solcher Ideologieproduktion zu einer diskursiven Religion, und der Diskurs wird bald Religion und Institution in beispielloser Weise für Veränderung öffnen. Aus der Adaption an die Machtverhältnisse wird dann im Verlauf des Mittelalters auch die an Kapitalinteresse werden, der sich, was nur wenige ahnen, dann am Ende als Totengräber der Religion erweisen wird.

 

Innerhalb der Herrenschicht konkurrieren also zwei Begründungs-Zusammenhänge: Der eine handelt von Reichtum, Macht, Gewalt und Herrschaft auf der Basis der Knechtschaft der vielen, der andere von den Wegen ins Himmelreich und möglichst nicht in Höllenstrafen, wie sie "eigentlich" Reichtum, Macht und Gewalttätigkeit nach sich ziehen, wenn man in die Evangelien schaut, was außer Mönchen und Geistlichkeit allerdings im früheren Mittelalter nur wenige tun, können sie doch schließlich meist nicht einmal lesen.

 

Alltäglich werden geistlicher Anspruch und weltliche Wirklichkeit in den Köpfen der Menschen weitgehend parallelisiert, sie laufen nebeneinander her und begegnen sich dabei dennoch notgedrungen immer wieder, im Besuch der Messe, bei frommen Stiftungen, beim Geben von Almosen, dem Abstellen von Kindern ins Kloster oder bei Bußehandlungen.

 

 

Grundwiderspruch: Amüsierkonsum und Christentum

 

Der offensichtlichste und wohl gravierendste Widerspruch in Nachantike und frühem Mittelalter ist wohl der zwischen kirchlicher Botschaft und der Wirklichkeit eines offenbar weit verbreiteten Amüsiergewerbes.

 

Die antik-römische Zivilisation hatte Kultur in staatliche und private Inszenierungen einerseits und weiter unten angesiedelte Folklore andererseits verwandelt, und beide dann am Ende in ein oft erzwungenes Christentum überführt. Daneben gab es in den Städten eine von den Mächtigen subventionierte Amüsierwelt, in der Verrohung und Verblödung der urbanen Massen in halbwegs geordnete Bahnen gelenkt wurde. Diese Welt des Amüsements schwindet etwas unter den Attacken der mit ihr konkurrierenden Kirche und vor allem wegen schließlich fehlender Geldmittel im Westen.

 

Seitdem konkurrieren zwei Angebote von Erlösung miteinander: Das von der Kirche mit Hilfe der weltlichen Herren verordnete Angebot eines paradiesischen Himmelreiches irgendwann nach dem Tod, welches nicht zuletzt durch die Abwendung von irdischen Vergnügungen erreicht wird, und zum anderen all das, was Vergnügen bereitet und darum für die Masse der mühselig produktiv arbeitenden Bevölkerung Entlastung und Entspannung bietet und für die Herrenmenschen statusgemäßes Amüsement.

 

Es gibt an christliche Feiertage gebundene Feste, in denen sich in Stadt und Land vorchristliche und christliche Elemente mischen. Dazu kommen Feste zu Geburt, Taufe, Heirat und Begräbnis. Es gibt Musik, Tanz, Spaßmacher aller Arten und mündliches Erzählen, wobei diese bei ländlicher und städtischer Bevölkerung und den Herren über sie wohl etwas verschieden sind.

 

Zu unterscheiden ist in die Vergnügen, die man sich selbst bereitet und die zum Teil der Kirche verborgen bleiben, und jene, die professionalisierte Unterhalter und Spaßmacher benötigen. Von Tertullian über Salvian und Augustinus bis zu fränkischen Kirchenversammlungen zieht sich die Liste der Verbote wenigstens für Geistliche, aber in der Antike auch für Weltliche, sich nicht an weltlicher (professioneller) Musik, Tanz und Possenspiel zu erfreuen.

 

554 erklärt der Merowinger-König Childebert:

In den Nächten vor den Feiertagen sind Trunkenheit, Narrenauftritte und weltliche Lieder ebenso wie an den Feiertagen selbst, an Ostern, zur Geburt des Herrn sowie an den übrigen Feiertagen verboten. Auch dürfen sich am Samstag keine Tänzerinnen auf den Höfen herumtreiben. Wir erlauben dies nicht, weil Gott dadurch beleidigt wird. (in: Hartung, S.173)

 

Der "heilige" Bonifatius soll 743 durchgesetzt haben, dass zukünftig in Kirchen keine weltlichen Reigentänze mehr aufgeführt werden sollen und keine Festmähler mehr stattzufinden haben. Solche Verbote weltlicher Musik in Kirchen, von Tanzveranstaltungen usw. setzen sich durch das ganze (kurze) Mittelalter fort.

 

In der Karolingerzeit häufen sich solche Verbote, die offenbar weiter notwendig sind. Das Konzil von Aachen 816 fordert, dass Priester bei Festmählern und Hochzeiten Schauspielen nicht beiwohnen, sondern vor dem Auftritt der Spielleute, der thymelici, sich erheben und das Weite suchen sollen. (in: Hartung, S.126)

 

Zuvor schon formuliert Alkuin:

Das alles verbieten die heiligen Schriften und, wie ich gelesen habe, Augustinus in besonderem Maße: >Weiß denn der Mensch, der den Spielleuten Eingang in sein Haus gewährt, nicht, welche sündigen geistigen Wirrungen hinter ihnen hereindringen?< Aber gerade dies soll er vermeiden, damit der Teufel im christlichen Hause keine Macht finde. (ep. 175)

 

Nur so erfahren wir überhaupt von den Unterhaltungs-Experten dieser Zeit, die offenbar auch Mönche und Priestergemeinschaften erfreuen, weshalb Alkuin an den Bischof von Lindisfarne schreibt: Sie sollen vielmehr in ihren geistlichen Gemeinschaften das Wort Gottes lesen, Es gehört sich, dem Lektoren zu lauschen und nicht dem Musikanten (citharista), den Worten der Kirchenväter und nicht den heidnischen Gesängen. Es ist nämlich besser, die Armen an seinem Tische zu speisen, als Spielleute und sonstige lasterhafte Personen. (ep.124)

 

Und schließlich: Gott zu gefallen und für die Armen zu sorgen ist ein höheres Bestreben als um die Gunst der Spielleute zu buhlen und diese auszuhalten. (ep.281)

 

Zweihundert Jahre nach dem Ereignis berichtet Ekkehard von St.Gallen vom Weihnachtsfest Konrads I. in seinem Kloster im zweiten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts: Gaukler tanzten und sprangen; Musikanten spielten und sangen. (...) Falls das nicht so gewesen sein sollte, gilt es jedenfalls als durchaus möglich.

 

Zeitgenössischer ist die in Gerhards Leben des bald heiligen Bischofs Ulrich von Augsburg enthaltene Beschreibung der Aufhebung der Fastenzeit durch den Bischof am Ostersonntag. Darin heißt es:

Zur angegebenen Zeit erschienen so viele Spielleute, dass sie fast die ganze Empore des Saales füllten, wo sie gemäß ihrem Rang standen; sie führten drei Singspiele auf. (...) Gegen Abend ließ der Bischof sich und denen, die an seinem Tisch saßen, frohgestimmt die Becher reichen und bat alle, gemeinsam den dritten >Minneschluck< einander zuzutrinken. (in Goetz, S.194)

 

Unter Bezeichnungen wie histriones und joculatores tauchen im 9./10 Jahrhundert immer wieder in solchen Texten Spielleute auf, Gaukler, Jongleure und anderes Unterhaltungspersonal, umherziehend, am Rande der bodenständigeren Bevölkerung, ehrlos und darum relativ rechtlos. Einerseits handelt es sich dabei um Leute, die ein Repertoire von Geschichten von antiken und nachantiken Helden vorsingen können, andererseits um Zauberkünstler, Bärenführer, Seiltänzer, Tänzerinnen, Kontorsionistinnen und andere Akrobaten, Feuerschlucker und ähnliche, eine Mischung aus Variété und Zirkus. Ansätze, beides voneinander zu trennen, finden erst im 12. Jahrhundert deutlicher statt.

 

Wie erfolglos solche Ermahnungen selbst bei der hohen Geistlichkeit bleiben, erfahren wir in der Lebensbeschreibung des königsnahen Erzbischofs Bardo von Mainz (1031-51) durch Vulkuld: Er war überaus gütig zu den Spielleuten (joculatores). (...) Er war dazu keineswegs vom Possenreißen angeleitet; es ging ihm lediglich darum, auf die Armut der Bedürftigen bedacht zu sein. (in: Hartung, S.129) Da Bardo schnell für heilig anerkannt wird, dient der Nachsatz dazu, diese Heiligkeit nicht durch sündiges Verhalten zu bekritteln.

 

Gegen Ende des 11. Jahrhunderts erwähnt Adam von Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte zu Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen: Selten ließ er Spielleute kommen, aber zur Ablenkung von Sorgen und Nöten brauchte er sie zuweilen. Gaukler jedoch, wie sie das Volk gewöhnlich mit unflätigen Gebärden vergnügen, verwies er ganz aus seiner Gegenwart. (in: Hartung, S. 178)

 

Dass sich in Wirklichkeit nichts ändert, belegt auch folgende Passage aus einer von Abaelards Theologien, von einem, der selbst in jüngeren Jahren erotisches Liedgut verfasste:

 

Warum rufen die Mächtigen und die Kirchenlehrer zu den höchsten Feiertagen, die eigentlich dem Lobe Gottes geweiht sein sollen, Spielleute, Tänzer, Taschenspieler und obszöne Sänger an ihre Tafel und veranstalten mit diesen tagaus, tagein teuflische Feste und belohnen diese auch noch anschließend mit Geschenken, welche sie aus dem Kirchenbesitz und aus den Spenden für die Armen unterschlagen haben und opfern somit auf dem Altar des Dämons. (Theologia summi boni, in: Hartung, S. 131)

 

Romanische Kirchen in Westfranzien und Nordspanien sind voll von abschreckend gemeinten Kleinplastiken von Gauklern, Meistern artistischer Verrenkungen und sich obszön verrenkender Tänzerinnen. Sehr oft wird offenbar dem professionellen Amüsiergewerbe, und sicher bis heute oft zu Recht, das Aufreizen des Geschlechtstriebes vorgeworfen, etwas, was auch die Tänze der christlichen Welt betrifft wie etwa den Reigen. Besonders gilt dies aber wohl für die professionellen Tänzerinnen der Nachantike und des frühen Mittelalters, von deren Gegnern auf die biblische Salome verwiesen wird, die mit einem massiv aufreizenden Tanz das Haupt des Johannes einfordert. Solche Tänzerinnen verrenken sich zwecks sexuellen Aufreizens, haben einen nackten Oberkörper und werden als Huren betrachtet.

 

Wer immer vom christlichen Mittelalter redet, darf nicht vergessen, dass er damit Anspruch und nicht Wirklichkeit benennt. Und in der enormen und weltweit damals beispiellosen Spanne dazwischen ist viel Raum für die Entstehung des Kapitalismus von seiner Nachfrage- und Konsumseite her.

 

 

Gewalt, Macht und Herrschaft

 

Gewalt, Macht, Herrschaft sind Begriffe, die alle Zivilisationen und auch das 10. christlich-lateinische Jahrhundert beschreiben, auch wenn sie in unseren überlieferten Quellen im wesentlichen in nur halbwegs entsprechenden lateinischen Wörtern und in den entsprechenden Denkstrukturen auftauchen. Durch Moralisierung und noch grobere Ideologisierung werden sie erheblich zeitgebunden. Um sie ansatzweise verständlich zu machen, ist für Gewalt und Macht hinzuzufügen: gegen bzw. über Land, Menschen und lebendige Natur, während Herrschaft bislang solche über Menschen eines bestimmten Gebietes meint. Im Unterschied zur lateinischen Begrifflichkeit einer verdinglichten Welt ("Realität") geben germanische Worte dabei eher eine Welt im Fluss des Werdens und Vergehens wieder (Wirklichkeit), die nicht spezifische Illusionen vernünftig-begrifflicher Klarheit liefert, welche die Wirklichkeit sozusagen kaltstellt.

 

Hier soll Macht den Raum der Möglichkeit ausfüllen, Gewalt den des darauf basierenden Tuns und Machens, und Herrschaft das Institut, die mehr oder weniger feste Einrichtung. In unserer vorkapitalististischen Zivilisation des 10. Jahrhunderts geht es um Macht über die Einheit aus Grundbesitz und Verfügung über untergebene Menschen. Seltene früheste Wurzeln des Kapitalismus, Kapitalbildung durch Händler und Finanziers, tendieren bereits dazu, dieser Einheit zu entschlüpfen und sie dann zu sprengen, sobald Kapital in seinen Bewegungen und Verhältnissen ein Eigen"leben" gewinnt.

 

Herrschaft ist das, was die Herren ausmacht, nämlich letztlich über Gewalt vermittelte Macht über Menschen, die die Herren zumindest zu unterstützen, zu ernähren bzw. zu finanzieren haben. Ähnlich wie bei Wirklichkeit handelt es sich um einen Begriff, der in vielen europäischen Sprachen fehlt, und stattdessen in Formen des Wortes Macht (power, pouvoir, potere, poder) aufgeht. Das macht dort eine entsprechende Differenzierung schwieriger und zeigt, wieweit unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Welten konstruieren. Aber auch in mittelalterlichen deutschen Landen ist "Herrschaft" kein abstraktes Konzept, sondern überall an die konkreten Umstände der Verhältnisse von Herren untereinander und zu Knechten gebunden. (GoetzEuropa, S.285f)

 

 

***Aus Stämmen werden Völker***

 

Die Geschichtsschreibung operiert bis heute oft mit Begriffen, die in ungenierter Unklarheit im Raum der Texte stehen bleiben. Dazu gehören Stamm, Volk, Nation, Staat, Republik, Politik, um nur einige Beispiele herauszuheben. Von ihnen lässt sich nur einer, der Stammesbegriff, mit einer gewissen Klarheit betrachten, was wohl damit zusammenhängt, dass er in vorzivilisatorische Zeiten gehört und dann im ostfränkischen Reich eine neue Deutung erfährt. Nun gehört aber eine geklärte Begrifflichkeit zu den Grundlagen einer textproduzierenden Wissenschaft.

 

Wir müssen uns zunächst einmal dessen bewusst sein, dass beide Wörter, Stamm wie Volk, in ihrer Verwendung hier spezifisch deutsch sind und germanische Wurzeln haben. Sie unterliegen damit dem spezifischen Unheil der politischen Propaganda der jeweiligen Machthaber in der deutschen Unheilsgeschichte, und das bis heute. Mit dem Gift der politischen Korrektheit der letzten Jahrzehnte wird versucht, sie ganz aus der deutschen Sprache zu tilgen, jedenfalls was Deutsche betrifft, deren Existenz im Vielvölkerstaat BRD von den kapitagesteuerten Massenmedien und staatlichen Institutionen inzwischen zunehmend geleugnet wird: "Deutsch" ist inzwischen, wer sich unter die Verfügung des Staates (BRD) begibt.

 

Dabei lassen sich Stämme weltweit durchaus als vorzivilisatorische ideelle Abstammungsgemeinschaften definieren. Mit einem ähnlichen Wirtschaften ausgestattet, besitzen sie einen gemeinsamen Kult oder zumindest ähnliche und eine gemeinsame Sprache oder können sich zumindest sprachlich verständigen. Sie entstehen als ein Phänomen gemeinsamer Kultur. (siehe Großkapitel 'Antike')

 

Mit der Entstehung zivilisatorischer, also institutioneller Machtstrukturen und den Reichsbildungen gehen sie in ihnen auf und verschwinden so. Aus Stämmen werden Völker, deren Gemeinsamkeit vor allem die gemeinsamen Machthaber sind.

 

Das antike Imperium Romanum war ein Staatsgebilde, welches sowohl über die vorgefundenen städtischen Mittelmeer-Zivilisationen wie über Teile von Völkerschaften aufgerichtet wurde, die aus Stämmen gebildet wurden. Bei gemeinsamer Zivilisation war es eher eine Art Vielvölker-Gebilde, welches ohne Zentrale sofort dahinschwand. Die Nachfolgereiche im Westteil wurden dann von sich als Stämme empfundenen, oft kleinen Minderheiten gebildet, von denen eine später einem Königreich seinen Namen geben wird: Westfranzien als spätere France. Die deutschen Lande, immer im Plural, sind zwar das Ostfrankenreich, aber dies nur noch dem Namen nach, seitdem es von sächsischen Hochadeligen als Königen geführt wird. Es ist östlich des Rheins zunächst eher eine Art halbfreie Assoziation von regionalen Machthabern, die sich aus dem entstehenden Adel abheben und langsam dann zu Fürsten werden.

 

Dabei ist darauf zu achten, dass die Stämme, die in das römische Reich einwandern, in ihrer besonderen militärischen Verfasstheit sich bereits von ihren vorzivilisatorischen Ursprüngen deutlich unterscheiden. Als Einwanderer werden sie zugleich zu Eroberern, die mit den Reichsbildungen weiter zivilisiert werden. Außerdem sind einige, insbesondere keltische Stämme vor ihrer Eroberung durch das Imperium Romanum bereits in einem Stadium der Anzivilisierung begriffen.

 

Es beginnen nun wenigstens 500 Jahre eines Verwirrspiels der Bezeichnungen vin Völkern und Reichen. So nennt der bretonische Verfasser einer Vita des heiligen Asketen Samson von Dol. den es von Cornwall am Ende in die Bretagne verschlägt, das Frankenreich Romania.  (Wickham(3), S.150) Noch im 10./11. Jahrhundert wird das Reich der deutschen Lande als Francia bezeichnet (usw.).

 

Das Großreich Karls des Großen benennt sich zwar als fränkisch, ist aber unübersehbar so etwas wie ein Vielvölkerreich mit verschiedenen Volkssprachen und Herkünften. Gemeinsam ist den wenigen Belesenen und Schriftkundigen das Lateinische. Völker meint hier die von den Franken eroberten Leute in Gallien und der italischen Halbinsel, allesamt bereits zivilisierte Untertanen, und die Stammesvölker östlich des Rheins, die nach Möglichkeit fränkisch überfremdet werden.

 

Das riesige Frankenreich besteht im Nordosten aus unterworfenen germanischen Stammesgebieten, im Westen und Süden aus Trümmern des antiken Römerreiches. Darin entwickeln sich mehrere Sprachgebiete, eines wird seine unterschiedlichen germanischen Sprachen unter den Oberbegriff "deutsch" fassen, eine im Norden Westfranziens wird später als langue d'oeil eingeordnet werden, eine südlich davon als langue d'oc, und in Italien machen sich Sprachen breit, die viel später im Norden und in der Mitte der Halbinsel als italienisch zusammengefasst werden.

 

Mit dem westfränkischen, dem ostfränkischen und dem Königreich Italien entstehen dann drei Reiche, welche im Laufe der Zeit neue Völker hervorbringen werden: Franzosen, Deutsche und Italiener, von denen die Italiener erst im 19. Jahrhundert und die Deutschen nie einen gemeinsamen Staat errichten werden.

 

Man sieht auf einen Blick, dass solche Völker neuen Typs unterschiedlich entstehen: England entsteht aus Christianisierung und der gemeinsamen Kirchenorganisation einerseits und andererseits aus einer Entwicklung, die die

angli dauerhaft als pars pro toto etabliert, während parallel dazu sächsische Könige das ganze dann später Engelonde heißende Reich mit seinen Stämmen erobern. Dabei entsteht mit dem Altenglischen eine gemeinsame Sprache. Von 1066 bis ins 13. Jahrhundert koexistieren zwei Völker, das franko-normannische und das englische nebeneinander, bzw. das erste herrscht zunächst über das zweite, bis sie dann mit dem Verlust der kontinentalen Wurzeln vor allem in den unteren Schichten zu verschmelzen beginnen und eine neue Sprache entwickeln, das stark altfranzösisch durchsetzte Mittelenglische.

 

Die Briten, durch die Angelsachsen auf das spätere Wales reduziert, werden von diesen als Grenzbewohner bezeichnet, was sie dann auf Lateinisch zu Wallenses macht. Sie besitzen in groben Zügen eine gemeinsame keltische Sprache und viele Könige, die man zunächst besser als regionale Häuptlinge bezeichnen sollte. Ihr rudimentäres Christentum erlaubt ihnen das Konkubinat mit mehreren Frauen, die Gleichstellung aller Kinder, die leicht zu erreichende Ehescheidung und manches mehr.

Sie werden dann im späten Mittelalter durch weitere Christianisierung und sonstige Überfremdung verändert, schließlich durch Eroberung und Anglisierung unter eine gemeinsame (englische) Verwaltung gebracht, die sie zunächst eher als französisch bezeichnen.

 

Die gälisch sprechenden Leute von Alba, dem Zentrum des späteren Schottland, die Albanaic, werden von außen und lateinisch als Scotti bezeichnet. Mit der Übernahme anglonormannischer Machtstrukturen durch die Könige und immer größere Kreise der zum Teil aus dem Süden einwandernden Oberschicht und die damit verbundene Ausweitung des Reiches wird Scocia zu dem Namen, den sie dann selbst ihrem Land geben.

 

Auf dem Kontinent sind die Verhältnisse noch wesentlich komplexer.

 

Das französische "Volk" wird durch den Machtbereich des französischen Herrschers definiert werden, in dem sich über das Bretonische, das niederdeutsch-Flämische, das elsässische und lothringische Deutsche, die Langue d'oc (das Occitanische) und das Baskische die Langue d'oeil des Herrschers und seiner Untertanen um die Île de France durchsetzen wird. Das geschieht vorwiegend nach Eroberung, aber auch nach "friedlichem" Erwerb, immer aber, ohne die neuen Untertanen zu fragen. Das wird dann auch bis heute so bleiben, wo alle Sprachen außer der der zentralen Machthaber untergegangen sind.

 

Ganz anders ist es mit den Deutschen, die sich ausschließlich über die Sprache definieren, die sie als gemeinsame empfinden, auch wenn sie sich nur schwer alle gemeinsam über sie verständigen können. Deutsche gibt es also nur als Sprachfamilie in der größeren germanischen. Deutsch sein heißt muttersprachlich deutsch reden.

 

Dabei bleibt Ostfranzien für viele noch lange das Ostfrankenreich, und es wird ja auch kein deutsches, sondern ein römisches Königtum erhalten. Und durch das Mittelalter wird es kein "Deutschland", sondern höchstens "deutsche Lande" im Plural geben.

 

Aber die Deutschen grenzen sie ab gegen das ursprünglich nahe verwandte Angelsächsische und die skandinavischen Sprachen, die sich selbst abgrenzen, indem sie anders als die Deutschen regional-ethnisch benannte Königreiche bilden, während es kein Zufall ist, dass die minimale herrscherliche Klammer für die Deutschen ein sich römisch nennendes Königreich bleibt, welches zugleich seit 961 sich Kaiserreich nennt und große nicht deutsch werdende Gebiete einschließt. Auf diese Weise wird das Deutschtum im Laufe der Zeit weite Gebiete im Westen verlieren und durch Eindeutschung von Slawen im Osten gewinnen. Da es keine gemeinsame solide funktionierende herrscherliche Klammer gibt, werden sich deshalb schon im Verlauf des Mittelalters der Südwesten und Süden herauslösen, auch wenn sie sich vorläufig weiterhin als Deutsche begreifen, und der Nordwesten wird ebenfalls ein Eigenleben beginnen und sich nach und nach mit der Abspaltung des Niederländischen aus dem Niederdeutschen nicht mehr als deutsch begreifen.

 

In der Schwellenzeit des 10. Jahrhunderts ist man Deutscher vor allem in den Augen der Nichtdeutschen. Die Leute sind zuerst und hauptsächlich Sachsen, Thüringer, im Westen Franken, wobei hier die Bistümer und die Mittelgebirgs-Flusstäler Regionen bilden; sie werden zwischen Mosel und Metz moselfränkische Lothringer, sie sind im Süden Alemannen, wobei Alemannien noch nicht in Schwaben, Elsass, und (das südliche) Alemannien zerfallen ist, und man ist Bayer, wozu dann zunehmend auch das ganze östliche Alpenland gehört.

 

Aber die Machtstrukturen und die ethnischen (völkischen) fallen auseinander. Sogenannte Stammesherzöge können sonstwo her kommen und definieren sich nicht völkisch, sondern dynastisch, ihre Interessen sind familiär orientiert. Darum werden Stammesgebiete immer weiter zerfallen oder ganz verschwinden, obwohl die Menschen mit ihren Eigenheiten bleiben werden. Das wird seit dem hohen Mittelalter mit den Sachsen und Thüringern geschehen; von den Alemannen grenzen sich die Schwaben aus, und aus diesem wird dann wiederum das (alemannische) Elsaß und noch später Baden ausgegrenzt, bis Schwaben als politischer Begriff an Württemberg abgegeben wird. Bayern wiederum sammelt andere Völkerschaften, die Pfälzer, die Oberpfälzer, die Leute, die später einmal erst Franken heißen und mit den ursprünglichen Franken so wenig zu tun haben wie die Sachsen des späten Mittelalters mit denen des frühen.

Die Mächtigen trampeln über die Völker bzw. Stämme mit ihren kulturellen Resten hinweg, sind die meisten Menschen doch für sie nur Manövriermasse für die eigene Machtentfaltung und den eigenen Reichtum. Erinnerung bleibt aufbewahrt in den Resten der jeweils eigenen Sprache, deren Zerstörung erst mit den Staatsschulen und ihrer Schulpflicht im 19. Jahrhundert massiv einsetzt und heute in ein immer wurzelloseres und inhaltsleereres Denglisch geführt hat, welches allgemeine Verblödung auch in jenen Kreisen befördert, die früher einmal als gebildet galten: Lehrer, Ärzte, Juristen, usw.. Zunehmende Sprachlosigkeit, abnehmendes Ausdrucksvermögen, Reduktion von Welt auf nur noch emotional begründete Namensgebung.

 

In diese Zusammenhänge hinein gehört auch das Kuriosum der Juden in der abendländischen Geschichte. In die Konstruktion eines Tempelkultes, eines Gottes und eines Monarchen gehörte auch der Gründungsmythos eines von dem eigenen Gott erwählten Volkes, welches sich durch religiöse Vorschriften und die Beschneidung der Vorhaut als Erkennungszeichen für die Fortpflanzung von oben verordnet von allen anderen abheben soll. Tatsächlich sind Juden rein religiös definiert und nicht ethnisch, und sie haben ihre Heimat auch bald nicht mehr im Ursprungsland um Jerusalem herum, sondern auch in Äthiopien, im Jemen, in Europa bis zum Kaukasus und selbst in Asien. Dass Hitler ihnen einen Rassebegriff unterschieben wird,´gehört mit zu den Kuriositäten der Weltgeschichte. Wer die Juden für ein Volk hält, müsste gleich auch die Christen und Muslime für ein solches halten.

 

Für die Entstehung eines zivilisatorischen Volksbegriffs nach der Antike sind die Juden aber nicht unwichtig. Unduldsam wie Christen und Muslime, schotten sie sich wie später die von ihrem Ursprung her ethnisch definierten Zigeuner von der Bevölkerung, in der sie oft als Minderheit leben, ab, indem sie ihre Lebensform religiös bzw. ethnisch begründen, was dazu führt, dass Riten und Gebräuche sie von den übrigen Menschen trennen. Sie bilden damit einen eigenen Genpool, in dem sie eigene natürliche Eigenschaften herausbilden, die dann allerdings - je nach Gegend – sehr verschieden sind. Sie integrieren sich in die Machtstrukturen, assimilieren sich aber nicht durch Heirat mit Nichtjuden, was auch von deren Seite nicht erwünscht ist.

 

Die abendländischen Juden des Mittelters aber sind überall im Bewusstsein auch der Christen präsent, da das Christentum seit seiner starken Re-Judaisierung in der Spätantike und dann unter den germanischen Nachfolgereichen den jüdischen Schriften des sogenannten Alten Testamentes immer größere Bedeutung beimisst, und sie - mit besser erzählten "Geschichten" als das Neue Testament ausgestattet - in das alltägliche Bewusstsein der Menschen einziehen und dort so zu Hause sein lässt wie die Traditionen der eigenen Völkerschaften. Indem sie im Abendland nicht nur als Religionsgemeinschaft, sondern zugleich als "Volk" auftreten und entsprechend so auch behandelt werden, wird ein Volksbegriff vorgegeben, der dann auch in die Bibelübersetzungen in die Vulgärsprachen eingeht.

 

Wir haben bis jetzt einen eher neuzeitlichen, immer noch recht unklaren Volksbegriff dem unterlegt, was früh- und hochmittelalterliche Quellen hergeben, ohne ihn so zu benutzen. Stämme als ideelle Abstammungsgemeinschaften mit erheblichen Gemeinsamkeiten, zusammengesetzt aus wirklichen Abstammungsgemeinschaften, aber auch Stämme als wandernde militante Heerscharen, aus mehreren Völkerschaften zusammengesetzt, haben wir Völker genannt, sobald sie einer zentralen institutionalisierten Herrschaft unterworfen sind. Engländer entstehen derart aufgrund des Namens eines solchen Stammes, der Angeln, und aufgrund eines geographisch festgeschriebenen Raumes, England. So wie hier eine kleine Minderheit den Namen für ein entstehendes Volk hergibt, so geschieht das auch, als das Frankenreich in seinem Nordwesten im 10./11. Jahrhundert zu Frankreich wird, dem Land der langue d'oeil, Francia, während der Südwesten dieses Frankenreiches sich mit seiner langue d'oc verselbständigt. Die romanischen Sprachen deuten bereits an, dass sich die kleine Minderheit der Franken dort nicht einmal sprachlich durchsetzen kann. Der Nordosten dieses Frankenreiches, in dem die Franken ein verschwindender Stamm unter bedeutenderen wird, begreift sich zunächst selbst ebenfalls als ein Franzien, was noch bis ins 12. Jahrhundert durchklingen wird, sieht seine Gemeinsamkeit aber nun in der Familie verwandter germanischer Stammessprachen, die allesamt als "völkisch", volkssprachlich eben, bezeichnet werden, diutisc zum Beispiel oder so ähnlich, was in der Neuzeit dann zu "deutsch" werden wird.

 

In den Straßburger Eiden äußerst sich zwar keine Reichsteilung nach Sprachen, aber eine in Reiche, in denen zwei Sprachen dominant sind. Geteilt wird auch nicht exakt nach Sprachgrenzen, neuzeitlich gesprochen, also auch nicht nach Volksgrenzen, aber mit den Grenzen, die gezogen werden, entstehen Völker im neuzeitlichen Sinne.

 

Kurz nach seiner Krönung nennt Otto d.Gr. sein Reich Francia ac Saxonia. Bei Widukind ist von omnis populus Francorum atque Saxonum die Rede. Als Völker werden also noch Stämme aufgefasst, wobei einige von ihnen einfach übergangen werden, wie die Bayern oder die Alemannen.

 

Deutsch werden Leute in den Quellen zunächst von jenen Italienern genannt, die sie auf ihren militärischen Italienzügen kennenlernen, als Vertreter von geistlicher und weltlicher Macht und dann auch als Händler.

 

Wenn im 10. Jahrhundert zunächst aus (dem damaligen) Sachsen und (dem damaligen) Franken heraus geherrscht wird, dann auch deshalb, weil Alemannien und Bayern alte Königsherrschaften sind, als deren Erben nun Herzöge auftreten. Das wird sich erst gegen Ende des Jahrhunderts und dann im nächsten ändern. Bis dahin behalten sich beide Herzöge viele königliche Rechte vor. Dabei vertreten sie nicht irgendwelche Stammesrechte, sondern die Interessen ihrer Familien, was besonders dort deutlich wird, wo es weder alemannische noch bayrische Große mehr sind, die dort herrschen, sondern Mitglieder der Königsfamilie, die so versorgt werden.

Aber Stämme konstituieren sich nur noch als Untertanenschaft ihrer Fürsten auf deren Machtbereich. Und als sich die Sachsen tatsächlich im 11. Jahrhundert noch einmal aufbäumen, dann geschieht das deshalb, weil ihr Adel sich durch zu direkte Königsherrschaft beeinträchtigt sieht.

 

Im späteren 10. Jahrhundert beginnen Vertreter der hohen gallischen Geistlichkeit im Westfrankenreich ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entdecken, welches sie von Ostfranzien trennt. Das hat aber noch wenig mit einem allgemeinen Gefühl von Volkszugehörigkeit zu tun, so wenig, wie davon auch damals in den deutschen Landen zu spüren ist.

 

 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Volksbildung ab dem 10. Jahrhundert nicht vom "Volk", also der Masse der Menschen ausgeht, sondern von den wenigen Mächtigen ganz oben. Das sollte uns aber nicht hindern, entgegen der mit zunehmenden Drohgebärden durch die heutige Obrigkeit und ihre untertänigsten Sprachrohre im Interesse des globalisierten Kapitals durchgesetzte Propaganda von Völkern zu reden, auch wenn diese derzeit systematisch durch die herrschende Neubesiedlungs-Politik mit außereuropäischen Völkerschaften zerstört werden und wohl dem Untergang geweiht sind. Historische Wirklichkeit ist schließlich mehr noch denn je etwas anderes als das, was die Machthaber und ihre in der Regel überwiegend gäubigen Untertanen als solche mit aller propagandistischen Inbrunst ausgeben möchten. Das sahen schon die Menschen im 10./11. Jahrhundert so, die ganz allgemein sich völkisch anders einordneten, als es den Herrschern mit ihren Machtträumen gefiel.

 

 

***Königtum und Staatlichkeit***

 

Im dritten und vierten Jahrhundert teilt sich das "Reich römischer Kaiser", wie es im Neuhochdeutschen viel später heißt, letztlich in einen westlichen und östlichen Teil, wobei der östliche bis 1453, zuletzt arg geschrumpft, überleben wird, während der westliche sich in etwas neuartiges aufteilt: In von germanischen Stämmen dominierte Königreiche, von denen am Ende nur das der Franken überlebt.

 

Oberster Herr in seinem Reich ist der König, der bis ins 10. Jahrhundert und auch noch danach nur sehr eingeschränkte Aufgaben und Möglichkeiten hat, die erst im Laufe der Jahrhunderte mit der Entfaltung von immer mehr Staatlichkeit zunehmen, bis dann Herrscher durch sich immer ungenierter totalitär gebende moderne Staatsgebilde abgelöst werden.

 

Wichtigste allgemein anerkannte Aufgaben damals sind der Schutz nach außen und nach innen, tatsächlich also die Kriegführung nach außen und der innere Friede durch Durchsetzung des Rechtes, also die Einschränkung der Spielräume unterhalb des Herrschers.

 

Die damalige Vorstellung von Recht, also von dem, was allgemein für richtig angesehen wird, sich also bewährt hat und Gewohnheit geworden ist, geht davon aus, dass die christlich gedeutete Weltordnung schon ein Recht enthalte, welches von den Altvorderen her tradiert immer wieder neu hergestellt (reformiert) werden müsse, um erhalten zu bleiben.

 

Diesen Charakter ändert es nur sehr eingeschränkt dadurch, dass es als Volksrecht in der Merowingerzeit in mehreren Reichen aufgeschrieben und so vereinheitlicht wird. Welche Bedeutung das dann in einer immer schriftlosen Zeit bekommt, bleibt für uns heute eher unklar. Rechtswesen und Gerichtsbarkeit bleiben soweit erst einmal weitgehend der mündlichen Sphäre verhaftet.Von daher setzen die Machthaber nach ihrer Auffassung kein Recht, sondern sie beschützen es und setzen es dabei durch. Dennoch gibt es auch ein wenig königliche Gesetzgebung. Tatsächlich wird es dann aber immer wieder auch neuen Verhältnissen angepasst.

 

Was der relativ schrumpfenden Zahl der Freien dabei noch lange erhalten bleibt ist das Fehderecht, also die eigene (auch gewaltsame) Suche von mächtigeren "Freien" nach Recht dort, wo es einem nicht von oben gewährt wird.

 

Recht ist aber auch das überlieferte römische Recht, welches mehr oder weniger daneben weiter existiert.

 

Mehr oder weniger Unfreie fallen da heraus, da sie dem allerdings erst seit dem 11. Jahrhundert aufgezeichneten Hofrecht ihres Grundherrn unterliegen und seiner Gerichtsbarkeit. Geistliche unterliegen dem kirchlichen Recht und seiner Gerichtsbarkeit. Die oft nicht mehr allzu vielen Freien wiederum unterliegen dem Grafengericht. Seit Karls ("des Großen") Zeit finden Schöffen (scabini) das Urteil, welches der Gerichtsherr vollstrecken lässt. Schöffen, Zeugen etc. werden zunehmend auf einen kleinen Kreis von boni homines eingeschränkt. Bevor diese immer wichtiger wurden, spielten Eidhelfer für beide Seiten eine wichtige Rolle.

 

Recht ist in Zivilisationen zentrales Machtmittel von Herrschenden, und es wird in der Rechtsprechung durchgesetzt, die auf der untersten Ebene dem Grundherrn und im kirchlichen Bereich dem Bischof untersteht. Darüber steht das Grafengericht und als höchste Instanz das des Königs. In jedem Fall geht es dabei darum, wie die Interessen von Herren am geschicktesten durchgesetzt werden. Deren oberstes Interesse ist der Friede unterhalb von ihnen, mit dem ihren wirtschaftlichen und militärischen Machtmitteln am ehesten gedient ist. Deshalb ist nach Unterwerfung unter ein Gericht für Freie bzw. Herren der (Interessen)Ausgleich in der reconciliatio, der Aussöhnung das vorzugsweise Ziel, und dazu muss der unterlegene (also schuldige) Teil satisfactio leisten, also Genugtuung bzw. compositio. Funktioniert alles nicht, spricht der König als oberste Instanz bei höheren Herren ein Machtwort seiner Willkür. Bevor später die Strafe immer wichtiger wird, ist also die Buße als Wiedergutmachung, also Schadensausgleich von vorrangiger Bedeutung.

 

Das Recht ist wichtig, weil in einer Kriegergesellschaft, wie sie sich seit dem 5. Jahrhundert überall in Westrom etabliert, und wo Herrentum nicht zuletzt auf kriegerischer Gewalt beruht, welche das professionelle Militär des römischen Kaiserreiches abgelöst hat, - weil in einer solchen Kriegergesellschaft Gewalttätigkeit sozusagen das konstitutive Element der neuen Zivilisation ist. Damit gewinnt das Moment der Ehre eine über das psychische Moment weit hinausgehende Bedeutung: Ehrverletzung macht den Krieger zum Opfer auch zukünftiger Gewalt, wenn die Ehre nicht wiederhergestellt wird. Und gerade deshalb geht es im Gerichtsverfahren unter den Herrenmenschen weniger um exakte Gesetzestreue, sondern um das "Wahren des Gesichtes", denn nur so kann Friede wiederhergestellt werden, manchmal allerdings eben auch nur bis zur nächsten Ehrverletzung

 

Selbst auf unterster Ebene ist der Friede in der familia des Grundherren offenbar auch immer wieder gefährdet, wie man dem Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms von etwa 1025 entnehmen kann, wo es im Paragraphen 30 heißt:

 

Wegen der Morde aber, die fast täglich in der Hausgemeinschaft von St.Peter wie bei wilden Tieren geschahen, weil häufig wegen einer Nichtigkeit oder in Trunkenheit oder aus Übermut einer wie wahnsinnig über den anderen so in Wut geriet, dass im Laufe eines Jahres 35 Knechte von St.Peter unschuldig von Knechten dieser Kirche umgebracht wurden und die Mörder sich dessen mehr gerühmt und gebrüstet haben als dass sie Reue gezeigt hätten. Mörder müssen Wergeld zahlen, und sollen mit glühendem Eisen an der Wange gebrandmarkt werden. (in: Goetz, S.125)

 

 

Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gelingt es im Ostreich einigen Familien, sich, zunächst immer noch als Grafen oder Markgrafen, durch Ansammlung mehrerer Grafschaften und von immer mehr Privilegien von den anderen abzuheben, dabei eben Ämter, Besitz, Klöster, Lehen, Vasallen usw. auf sich zu vereinen. Solche (zunächst noch) Amtsträger ordnen sich dann als Duces bzw. Herzöge von geradezu fürstlichem Rang "Stammesgebiete" zu: Konradiner in Franken, Liudolfinger in Sachsen, wobeiu erst die Billunger nach 953 ein Stammesherzogtum herstellen, die Luitpoldinger in Bayern, Reginare in Lothringen. Den Ottonen wird es im Ostreich einigermaßen gelingen, sie zu königlichen Amtsinhabern zu machen.

 

Im Westreich, wo solche Stammesvorstellungen durch Regionen ersetzt werden, werden sie dort sich verselbständigende principes, Fürsten eben, wodurch die Reichweite königlicher Machtausübung auf die Îsle de France reduziert wird.

 

Die Wirklichkeit von königlicher Macht erweist sich einerseits dort am deutlichsten, wo sie ererbt ist, also in der Dynastiebildung wie sie im Frankenreich den Merowingern, den Karolingern und nach ihnen den Liudolfingern im 10. Jahrhundert im ostfränkisch/deutschen Reich gelingt, während sie im westfränkkischen Reich im 10. Jahrhundert zwischen den Familien der Karolinger und der Robertiner schwankt.

 

Ihre Schwäche erweist sich zugleich darin, dass sie immer auch der Zustimmung der ganz Großen im Reich bedarf, die auch in Ostfranzien nie selbstverständlich ist, und sich in irgendeiner Form als "Wahl" äußert und in je nach Interessen schwankender Loyalität besteht. Stark sind Könige dabei aber nur, wenn sie die Friedenssicherung im Inneren als Durchsetzung praktikabler Entscheidungen auch erreichen, also die Macht dazu gewinnen, und wenn sie nach außen in Kriegen erfolgreich sind. In dieser Stärke erweist sich das, was in germanischer Tradition Heil meinte, und in judäo-christlicher Tradition zum Gottesgnadentum wird,

 

Der König finanziert sich über das Reichsgut, also den dem König zugeordneten Besitz, und durch das Hausgut der herrschenden Familie, oft kaum davon unterschieden. Dazu kommen Steuern, wo möglich Tribute, Gerichtseinnahmen, Heeresgelder, Zölle usw.

 

Herrschaft ist bescheiden im Vergleich zu dem Zugriff, den manche Könige (außerhalb der deutschen Lande) später auf ihre Untertanen gewinnen, und für fast alle Untertanen im Vergleich zu heutigen Staaten oft nur wenig spürbar. Königliche Macht reagiert vor allem, und zwar dort, wo sie es für erforderlich und möglich hält.

Dabei ist selbst die schiere Präsenz der römischen (sächsischen) Könige im größten Teil Alemanniens und Bayern im 10. Jahrhundert im wesentlichen auf Durchzüge nach Italien begrenzt, ähnlich wie westfränkische Könige sich nicht in den Süden ihres (nominellen) Reiches begeben. Erst ab Otto III. werden Bischofsstühle in Alemannien und Bayern mit Mitgliedern der Hofkapelle besetzt, überall nimmt die Privilegierung der Bischöfe (und von Äbten) zu und nun werden Hoftage eben in wesentlich höherem Maße in Bischofsstädten überall abgehalten. Anders als in Westfranzien findet dann spätestens mit Konrad II. der Umritt nach dem Herrschaftsantritt im ganzen Reich statt: Der König herrscht vom ganzen Reich aus im ganzen Reich. (siehe Keller(2), S.53ff)

 

In Urkunden verleiht oder schenkt der frühe ottonische König Reichsgut und Reichsrechte, verwaltet vor allem sein eigenes Gut und trifft Entscheidungen im Verein mit den Großen, indem er zu Reichs- und Hoftagen reist und auch ansonsten sich von Pfalz zu Pfalz begibt.

 

Hohe Ämter werden am Hof angesiedelt und längst nicht mehr von Knechten, sondern von hohem Adel ausgeübt. Gelehrtere Geistlichkeit versammelt sich in der Hofkapelle, die den Schriftverkehr ausübt. Hochadel mit großem Besitz ist insbesondere in Ostfranzien als Grafen mit erheblichen, vom Königtum abgeleiteten Herrschaftsfunktionen ausgestattet, wobei sich mächtige "Grafensippen" entwickeln, die auf Erblichkeit und Machtanhäufung beruhen, auch wenn das alles formell auf Lehen beruht.(Goetz)

 

****

 

Die Mitwirkung der Großen an der Herrschaft schafft ein Mischwesen aus Monarchie und Aristokratie, wobei sich in den nächsten Jahrhunderten außerhalb der deutschen Lande das monarchische Moment - insbesondere in Westfranzien/ Frankreich - stärker durchsetzt. Im 10. Jahrhundert verbindet diese Aristokratie die Ausübung vom Herrscher verliehener Aufgaben, zu denen auch die Heeresfolge im immer stärker berittenen Heer zunehmend mit der Verleihung von Landgütern und anderen Benefizien ("Wohltaten") gehört, wobei sie in der Tendenz werden durchsetzen können, dass das Lehen in der Hand der Familie bleibt, das Amt als Lehen begriffen wird und darum auch erblich wird.

 

Unter dem König stehen also hohe Herren eines sich langsam klarer entwickelnden Adels, der aber noch nicht klar als Stand abgegrenzt ist, und welche erhebliche Teile späterer Staatsgewalt auf sich vereinen. Unterhalb der großen gibt es kleine Grundherren, und diejenigen, die als Abhängige für sie arbeiten, also die meisten Menschen damals, unterstehen ihrer Grundherrschaft. Das ist die große familia, während die kleine wiederum dem Hausherrn untersteht. Kirche und Kloster mit ihren Immunitätsbezirken bilden wiederum aus dem weltlichen Raum ausgegrenzte Bereiche. Alles das zusammen bildet einen Verbund von Personen, die durch persönliche Machtverhältnisse zusammengehören.

 

Staat entsteht daraus überall dort, wo diese Machtverhältnisse immer weniger an die Personen gebunden sind. Erste Elemente davon entstehen im Raum der Städte und der lateinischen Kirche.

 

****

 

Das zehnte Jahrhundert ist in Europa auch Schwellenzeit für jene übergeordneten Machtstrukturen, aus denen später Staaten werden. England wird zum kriegerisch geeinten Königreich. Das Frankenreich trennt sich in drei Königreiche, West- und Ostfranzien und Italien, wobei der Osten dann Italien erneut zu annektieren versucht. Die schwerwiegende Folge wird sein, dass es weder zu einem deutschen noch zu einem italienischen Reich kommen wird - wobei die Möglichkeiten für ein deutsches im 19. und 20. Jahrhundert endgültig verspielt werden, auch wenn es dem Namen nach ein solches bis 1933 (bzw. 1945) als Erbe preußischen Großmachtstrebens geben wird

 

Auf der iberischen Halbinsel bildet sich ein Grundstock christlicher Reiche aus, die beginnen, den Blick auf den von islamisch-orientlischen Herrschern eroberten Süden zu richten. Unter Ausschluss des entstehenden Portugals wird dann im Verlauf des Mittelalters ähnlich wie schon im Visigotenreich ein geeintes spanisches Königreich entstehen.

 

In Skandinavien wird der Keim für ein dänisches Königreich gelegt, in Ost-Mitteleuropa der für Polen, zugleich erst für Mähren und dann für Böhmen, im Südosten für Bulgaren und andere. Ganz im Osten kommt es zu Voraussetzungen für Reichsbildungen von Kiew und Nowgorod aus und zur Herausbildung kleinerer Fürstentümer, in denen Skandinavier (Waräger, Rus) und Slawen in den Städten zu einem Volk verschmelzen werden, im Norden zusammen mit finno-ugrischen Völkern. Es handelt sich um die Vorgeschichte eines zukünftigen Russlands mit noch sehr unklaren Grenzen.

 

Das, was heute bei aller üblichen Unklarheit als Staat bezeichnet wird, ist ein recht modernes und sehr vages Konzept. Das beginnt damit, das stand, stato oder état im Mittelalter andere Bedeutungen hat als heute. Dazu gehören die Unterschiede in den verschiedenen Sprachen.

 

Nach dem Mittelalter hatte sich aus dem lateinischen status der italienische stato entwickelt, eine Form verfasster Macht. Staat (aus dem Lateinischen) und Stand (aus dem Germanischen) sind im sich entwickelnden Französischen beides état. Es gibt den Stand der Ehe, den état als Zustand der Kasse, also den Haushalt des Machthabers und seine Hofhaltung, aber eben auch den geistlichen Stand, den der Freien, die des Adels sind, und den von fast allen, die noch im französischen 15. Jahrhundert aus höfischer Sicht vilains sind, ein Wort, welches ursprünglich die Bauern bezeichnet und bald nur noch den dummen Pöbel bezeichnen wird.

 

Im Englischen kann man sogar state of the art sagen und damit den Zustand eines Gegenstandes auf neuestem Niveau eines gedachten oder propagierten Fortschritts meinen. Im Deutschen konnte man sich noch vor kurzem im vollen Staat präsentieren, also in Festtagsgewand auftreten.

 

Manche Historiker neigen dazu, bereits von den Machtapparaten der Sumerer und der Pharaonen als Staat zu sprechen, also in unserem Sprachgebrauch hier allen Zivilisationen Staatlichkeit zuzusprechen, aber erst mit der gedanklichen Lösung des auf Macht beruhenden Gebildes von der Person des Herrschers bzw. seiner Dynastie entsteht die vor allem politisch verstandene Staatlichkeit als eigenständige Vorstellung. Im später von Historikern so bezeichneten Nationalstaat entwickeln Hobbes und Locke zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen solcher (moderner) Staatlichkeit, eine realistische und eine idealistische, wenn man das vereinfacht so sagen möchte. Die letztere, besser geeignet zum Verschleiern sowohl der Machtverhältnisse wie insbesondere der Unterordnung unter Kapitalinteresse wird sich durchsetzen. (siehe B 1)

 

Es erscheint (mir) sinnvoll, in unserem Zusammenhang einer Entstehungsgeschichte von Kapitalismus einen nicht allzu willkürlichen und doch recht allgemeinen Staatsbegriff auf das lateinische Abendland zu beschränken, und zeitlich als Entstehungszeit auf die Zeit zwischen unserer Schwellenzeit und dem 18. Jahrhundert, in dem er im Vollbild definiert wird und erscheint.

 

Zwischen durch persönliche Herrschaft bestimmten Reichen und Staaten zu unterscheiden, ist nötig für eine kritisch-analytische Geschichtsbetrachtung, deren wesentliches Kennzeichen ihr Unterscheidungsvermögen ist und nicht das Operieren mit unklaren Begriffen, die das Erkenntnisvermögen - oft ganz unbewusst oder aber aus inhärenter Scheu vor Konflikten - beeinträchtigen.

 

Gerd Althoff spricht in einem Buchtitel von den Ottonen und ihrer "Königsherrschaft ohne Staat" (siehe Literaturverzeichnis), Hagen Keller in einem Aufsatz von "Staatlichkeit" in Anführungsstrichen. (Keller (2)). Tatsächlich verschwinden die sehr kleinen Ansätze von "Staatlichkeit" im Reich Karls ("des Großen"), nämlich "Zentralität, Amt, Gesetzgebung, Schriftlichkeit" (Keller(2), S.16) im Verlauf des neunten Jahrhunderts, und das dann auch noch besonders im ostfränkischen Reich. Vielmehr sind die Ottonen um des Machterhaltes willen darauf angewiesen, immer mehr ihrer Machtmittel an den Adel abzugeben und in Westfranzien verläuft all das noch viel drastischer.

 

In der Lebensgeschichte des Johannes von Gorz, den Otto um 956 zum Kalifen Abderrahman III. von Cordoba geschickt hatte, lässt der Autor den Kalifen folgendes zu ihm über Ottos Reich sagen:

 

Er behält die Herrschaftsgewalt (potestas) in seinem Machtbereich nicht sich selbst vor, sondern lässt in weitem Umfang jeden der Seinen eigene Herrschaftsgewalt (potestas) ausüben. Er teilt die Gebiete seines Reiches unter sie auf, gewissermaßen, um ihre Treue und Unterwerfung noch fester zu machen. Doch es kommt ganz anders: Daraus gehen Hochmut (superbia) und Auflehnung (rebellio) gegen ihn hervor. Gerade jetzt ist dies wieder bei seinem Schwiegersohn geschehen, der durch Treulosigkeit (per perfidiam) auch noch den Königssohn auf seine Seite gebracht und eine Art öffentlicher Gegengewalt (publica tirannis) gegen den Herrscher ausgeübt hat, und zwar bis dahin, dass er das auswärtige Volk (gentem externam) der Ungarn zum Plündern durch die Reiche des Königs geleitete.(Deutsch in Keller, S.20, lateinisch S.192)

 

Solche eingeschobene wörtliche Rede ist wie immer entweder nachempfunden oder mehr oder weniger frei erfunden. Es ist hier durchaus möglich, dass der Autor seine eigene Einschätzung wiedergibt und – sicher ist sicher – dem Kalifen in den Mund legt, ohne dessen Ansichten aber dabei total zu widersprechen. Die Kenntnis und Einsicht in das Geben und Nehmen zwischen Monarch und Hochadel dürfte bei einem Despoten in Cordoba eher weniger gegeben gewesen sein.

 

Stattdessen entsteht mit der Gemeindebildung, mit Genossenschaften und Gesellschaften, also mit dem, was sich mit den frühen Ursprüngen von Kapitalismus verbindet, erst seit dem 11. Jahrhundert das, was wir hier ohne Anführungszeichen als erste Elemente einer neuartigen Staatlichkeit bezeichnen können, noch deutlich entfernt von dem, was dann viel später sich immer mehr als Staat entpuppen wird.

 

Ein wenig früher ist vielleicht eine solche Entwicklung in Gemeinden wie Amalfi oder Venedig anzusetzen, (siehe Großkapitel Stadt), aber nicht nördlich der Alpen.

 

 

***Nation***

 

Nation wiederum bezeichnet sinnvollerweise eine ideelle Abstammungsgemeinschaft, die sich gegenüber anderen dadurch auszeichnet, dass sie Eigenes entwickelt, indem sie auf Tradition beruht. Andere Begriffe, die sich damit überschneiden, sind der germanische "Stamm" und die lateinische gens. Bei Beda ("Venerabilis") fallen gentes und nationes um 700 noch in eins, sie sind austauschbar. Sprachlich sind alle drei Wörter von ihren Wurzeln her ohnehin gedanklich eng miteinander verwandt.

 

All das werden aber die Nationalstaaten, die sich im Mittelalter einwurzeln, allesamt nicht. Vielmehr entstehen sie als Herrschaftsbereiche von Monarchen, deren Größe auf Eroberung, Krieg oder Heiratsverbindungen beruht, nicht auf der Basis ethnischer oder sprachlicher Zusammengehörigkeit. Sie entstehen zudem und zum Teil damit verbunden durch Überfremdung von Völkern, denen teils durch die Machtverhältnisse, später vor allem auch durch Übersiedelung und Überfremdung ihre Eigenheiten genommen werden.

 

Nation geht wie Natur auf dasselbe Tätigkeitswort zurück, welches „gebären, erzeugen“ meint. „Geboren“ ist dabei natus, und die natio ist so der Verbund der gemeinsam Geborenen, das, was die Germanen als Sippe und Stamm bezeichneten, die Kelten als Clan. Als die nordamerikanischen Indianer notgedrungen unter übermächtigen Eindringlingen Englisch lernen müssen, nennen sie ihre Stämme auch nations (the Mohawk nation). Solche Nationen haben fiktive Stammväter und/oder ein gemeinsames Totem bw. einen gemeinsamen Kult.

 

In den lateinischen Texten des hohen Mittelalters bezeichnet die natio denn auch die Herkunft eines Menschen, seine Abstammung bzw. Volkszugehörigkeit. Wenn Otto von Freising von Päpsten natione Teutonicus schreibt (Chronik, S. 486), meint er, dass sie deutscher Abstammung bzw. Deutsche seien. Sein Nachfolger Rahewin unterscheidet bezüglich Polens zwischen terra und natio, die Nachbarvölker sind dann gentes vicinae (OttoGesta, S.399, III,1).

 

Durch das 13. Jahrhundert tauchen "Nationen" als Herkunftsgebiete besonders dort auf, wo viele Fremde aufeinandertreffen, so an der Pariser Universität. Hier werden die Studenten in vier Nationen eingeteilt, die der Normandie, der Picardie, von Frankreich und von England/Deutschland. Zu den Franzosen zählen allerdings auch die Spanier und zu den Deutschen die Slawen des Ostens.

 

In Brügge sind die fremden Gastkaufleute ebenfalls in Nationen aufgeteilt, die eigene genossenschaftliche Gemeinschaften bilden. Der deutsche Kaufmann ist dabei in drei Regionen aufgeteilt, und die dritte sind: Gotländer, Schweden und Livländer. Schließlich teilen sich auch die Konzilien in "Nationen" auf.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Nationenbegriff, wie er sich neuzeitlich entwickelt, für die Betrachtung des Mittelalters unbrauchbar ist. Anders gesagt, Nationen sind Vorstellungen, die seit dern Nachantike aus Verwandtschaft hervorgehen bzw. diese erst schaffen. Das Ineinandergreifen von beidem reicht bis ins hohe Mittelalter und wird dann je nach Gegend früher oder später immer mehr davon dominiert, dass Herrscher Nationen schaffen: Nur so sind heute Elsässer Franzosen, Basken Spanier usw.

 

Ein Zusammengehörigkeitsgefühl kann von den Machthabern benutzt werden, spielt aber ansonsten keine Rolle. Zwischen 843 und 936 entsteht nicht, wie Tellenbach meinte, ein "deutsches Reich", sondern es kommt zur Abtrennung eines ostfränkischen von einem westfränkischen Reich, wobei es sich um ein Vielvölkergebilde handelt. Erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts beginnt sich das Ostreich für einige als regnum Teutonicum darzustellen und wird sich dann im 12. Jahrhundert durchsetzen. Vorher sind die Menschen dort eher auf ihre Stämme bezogen, die wiederum nicht immer mit Herrschaftsräumen übereinstimmen müssen, denn die hohen Herren scheren sich nicht um Zugehörigkeitsgefühle ihrer (potentiellen) Untertanen.

 

Die Westfranken wiederum sind seit Chlodwig in einem regnum Francorum zusammengefasst, welches sich im 9. Jahrhundert immer mehr von seinem sich erweiternden Ostteil löst. Die Francia reduziert sich dann auf die Île de France, wird dann im 12. Jahrhundert auf das ganze Westfrankenreich (Gallien) ausgedehnt und erst im 13. Jahrhundert offizieller Staatsbegriff. (GoetzEuropa, S.295) Das wiederum geschieht ungeachtet der Tatsache, dass der Anteil von dann assimilierten Franken in Gallien zwischen vielleicht 10% im Norden und kaum einem Prozent im Süden schwankt.

 

Die Polen sind ein kleiner Stamm, von dem aus eine Herrscherfamilie beginnt, die Nachbarstämme zu unterwerfen und in ihr Reich hinein zu zivilisieren. Die Ungarn sind eine kleine, aus Zentralasien stammende Oberschicht in dem Land, in dem sie sich niederlassen und dem sie seinen Namen und seine Sprache geben.

 

Auf den britischen Inseln entsteht England einmal durch den Raum römischer Herrschaft dort und wird dann danach zum Raum keltisch-angelsächsischer Mischbesiedlung. Dieses Gebiet wird der Normanne Wilhelm erobern und zu seinem Reich mit der altfranzösischen Sprache seiner Herrenschicht machen.

 

 

Freiheiten

 

Das Wort „Freiheit“ hat sich aus der Eigenschaft "frei" entwickelt, die in ein Wortfeld mit Eigentum an sich selbst, Unabhängigkeit, Freundschaft, Liebe usw. gehörte, und entsteht wohl vor dem 10. Jahrhundert. In dieser Zeit meint es wohl zunächst jemanden, der keinen Herrn unmittelbar über sich hat. Dabei ist man selbstverständlich in allen Zivilisationen Herrschaft, wenn auch unterschiedlicher Art, unterworfen.

Schon das zeigt, dass Freiheit erst dort überhaupt erst dort formuliert werden kann, wo sie im Schwinden begriffen ist, also Formen von Unfreiheit konfrontiert ist. Das Wort kann also nur in seinem konkreten Kontext überhaupt verstanden werden und ist als Abstraktion (wie in modernen Verfassungen und Ideologien) ein oft erfolgreicher Täuschungsversuch gegenüber Untertanen aller Arten.

 

Luthers Text 'Von der Freyheyt eyniß Christen menschen' (1520) ist ein Musterbeispiel, denn er formuliert gegen die römische Kirche und ihre Vorstellung von irdischen Leistungen, die das "Himmelreich" ermöglichen sollen, als Gegenposition die Vorstellung von einem (fallweise) gnädigen Christengott, dessen Gnade man vor allem durch den Glauben erringen kann. Freiheit ist also eine innere Einstellung, die vom "Gewissen" geleitet wird. Wirkliche Freiheit im alltäglichen Leben wird dabei rigoros abgelehnt und soll durch Fürsten mit aller Grausamkeit unmöglich gemacht werden.

Damit unterstützt er de facto jene Tendenz größerer Kapitaleigner, sich als Geschäftspartner immer absoluterer (totalitärer) Herrscher zu verstehen, an die das "politische" (weltliche) Geschäft abzugeben ist. Er verstärkt des weiteren die Tendenz eines staatstragenden Bürgertums, sich in die Bereiche gehobenen Amüsiergewerbes, die nun so genannte "Kultur", zurückzuziehen, Das heißt, dass man die (nun auch aktuell und jeweils politisch) korrekte Gesinnung pflegt und ihre gewaltsame Durchsetzung begrüßt. Das wird in den europäischen Gesinnungsterror seit 1789 münden, der inzwischen fast in der gesamten Menschheit alltäglich geworden ist.

 

Kritisch denkende Konservative des 19. Jahrhunderts, gegenüber Abstraktionen mit gesundem Misstrauen ausgestattet, setzen dagegen, dass es nur Freiheit von etwas und Freiheit für etwas geben könne, was uns in unser lateinisches Mittelalter zurückführt, in dem es tatsächlich vor allem Freiheiten, nämlich Privilegien gibt: Freiheit heißt für die, die davon etwas "haben", dass sie wenigstens theoretisch garantierte spezifische Rechte besitzen. Dies sind genau jene, die nach 1789 komplett abgeschafft und nur noch durch widerrufbare Gnadenakte einer totalitären Obrigkeit ersetzt werden können.

 

Damit kommen wir zurück zu unserer Entstehungsgeschichte des Kapitalismus: Damit aus Kapital Kapitalismus werden kann, müssen sich Händler und Handwerker und am Ende auch Bauern davon lösen können, schiere Dienstboten ihrer sich langsam als adelig abschottenden Herren zu sein. Das heißt, sie müssen sich von der ausschließlichen Nachfrage ihrer persönlichen Herren lösen und für die Nachfrage eines Marktes öffnen können.

 

Für die Entstehung eines ersten Kapitalismus unabdingbar ist also eine kaum vorhandene Staatlichkeit, in der das aufkommende Kapital dezentrale Freiräume erhält, so wichtig und mächtig zu werden, dass es sein Interesse mit dem der Herren verbinden und diese nach und nach von seinen Bewegungen abhängig machen kann. Zugleich verlangt es die nicht anders adäquat zu befriedigende Nachfrage der Herren nach Konsumgütern, nach Statussymbolen und nach Kriegsgerät. Freiheit wird dabei immer nur so weit gehen, wie sie zugleich Kapitaleignern und über ihnen positionierten Herren nützt. Der Aufstieg von Reichen neuen Typs wird auch davon abhängen, wie gut sie frühen Kapitalismus nutzen können. Spätestens im hohen Mittelalter werden zum Beispiel Kriege zunehmend nur noch dadurch gewonnen, dass die finanziellen Mittel dafür ausreichen.

 

Der wesentliche Raum der langsam freieren Entfaltung von Kapitalismus oft erst im 11. Jahrhundert wird die Stadt neuen Typs werden, in der sich die Herren mit einer kleinen, frühes Kapital anhäufenden unteradeligen Schicht verbinden und auch das Handwerk und ein zunehmendes Marktgeschehen aus Eigeninteresse fördern.

 

Deutlich voraus gehen dabei die Nordhälfte Italiens und Seestädte südlich davon, sowie einzelne südgallische und katalanische Städte wie Marseille und Barcelona, in denen Herren und Handelskapital notwendige, aber zugleich ungebundene Partner werden. Früher als im Norden wird das dann zu Formen städtischer Selbstverwaltung und dann sogar zur Bildung von Stadtstaaten von kapitalistischem Zuschnitt führen.

 

Unübersehbar ist es der Zerfall des Königreiches Italien seit 875 und der bald darauf nachlassende Zugriff des westfränkischen Königreiches auf seinen Süden, was erste punktuelle Einwurzelung von Kapitalismus fördert.

 

Nur in mittelalterlichen Stadtstaaten wird es dabei gelingen, kurzzeitig Kapitalinteresse und institutionalisiertes Machtinteresse in einer Hand zu vereinigen, aber a la longue wird sich das als nicht praktikabel erweisen, das Staatsinteresse geht an Fürsten und Könige und das Kapitalinteresse bleibt in „bürgerlicher“ Hand. Dabei verändert sich der Begriff von Bürgertum langsam, aber stetig, ohne jemals ausgesprochene Klarheit zu gewinnen.

 

Die Freiräume für Kapital rühren einmal daher, dass die Zugriffsmöglichkeiten von Herrschern bzw. Herren gering sind. Ein Ausdruck davon ist, dass einer Staatsquote wie heute in der BRD von annähernd 50% bestenfalls wenige Prozent damals gegenüber stehen.Sie rühren aber auch daher, dass die Herren erkennen, dass mehr Freiheiten für Kapital ihnen in vielerlei Hinsicht förderlich sind.

 

Das sich verselbständige Kapital, wie auch Handwerk und in zunächst geringerem Maße Landwirtschaft, erhält Freiheiten, auf Märkten zu agieren, und zwar durch Könige, Fürsten, bischöfliche und weltliche Stadtherren. Das heißt aber nicht, dass die hohen Herren nicht fördernd und lenkend eingreifen, mit Zöllen und Mauten zum Beispiel die einen unterstützen und die anderen abschöpfen, mit Geleitrechten, Zollfreiheiten, Handelsprivilegien oder der Verleihung von Stapelrechten eingreifen.

 

Kapital ist nicht an Grund und Boden gebunden und nicht an bestimmte untergebene Menschen. Es übt keine Herrschaft aus, sondern Macht in dem Maße, in dem Menschen sich in Abhängigkeit davon begeben, bis sie ihr nicht mehr entkommen können. Es bedarf des Rahmens von Herrschaft, kann diese aber zunächst und später auch wieder Leuten überlassen, die von seinen Bewegungen abhängig sind. Vorübergehend werden Kapitaleigner in größeren Städten die Macht selbst ausüben, bis sie fest etabliert ist. Erst im späten Kapitalismus kann dieser "politische" Rahmen am Ende ganz in entpersonalisierter Staatlichkeit als politischer Agentur von Kapitalbewegungen aufgehen.

 

Das gibt den Blick vor, mit dem hier auf frühes Mittelalter geschaut wird, eine Zeit noch ohne das, was hier unter Kapitalismus verstanden werden soll, der sich erst im hohen Mittelalter von Region zu Region zu etablieren beginnt, um dann im späteren seine ganze Macht zu entfalten. Kapitalismus ist kein "System", sondern eine Summe von Vorgängen und Beziehungen, die nach und nach Macht entfalten. Sie lösen diejenige Macht ab, die auf der von Menschen über mit Leben erfüllter Erde, über Pflanzen und Tiere und Menschen darauf beruht, und ersetzen sie durch die Autonomisierung der Vermehrung lebloser Dinge zuungunsten allen Lebens außer teilweise dem menschlichen, und zwar in Vorgängen, die sich in einfache Recheneinheiten fassen lassen.

 

Der Kapitalismus entsteht also dort, wo wir es heute auf den ersten Blick am wenigsten erwarten würden, in einer Welt geringer Staatlichkeit, kleiner Städte, relativ geringen Handwerks und Handels und der Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen von Kriegern, Priester-Herren, Äbten, also vor allem schieren Konsumenten. Schwellenzeit ist dabei jene, von der der Schritt hinaus ins Freie auch den ins noch kaum zu erahnende Unheil des Kapitalismus bedeuten wird.

 

 

Weitere schwierige Begriffsbildungen

 

Politik

 

Als weiterer Begriff wäre noch der des Politischen zu klären. Er ist etwa so jung wie der Staatsbegriff. Über das Französische und Englische ins Deutsche gekommen, ohne dass die Wurzel in der griechischen Polis und dem Politischen der Politeia bewusst ist, bezeichnet er dann sinnvollerweise einige nicht gewalttätige oder gar kriegerische Formen der Machtausübung im Staat. Insofern ist er mit dem jungen deutschen Wort zivil verwandt, welches aber ansonsten nicht damit übereinstimmt. Immerhin ist im heutigen Sprachgebrauch ein Zivilist die Bezeichnung für alle, die nicht zum Militär gehören.

 

Wenn wir, um dem Begriff für das Mittelalter einen etwas klareren Sinn zu geben, die Ausübung von Politik von der von Herrschaft zu trennen versuchen, dann gehört er zunächst in den Raum städtischer Zivilisation des Mittelalters. Er beschreibt dann das immer wieder neue Austarieren von Macht zwischen Stadtherr, Kapital und produktiver Arbeit, darüber hinaus aber auch das zwischen Fraktionen des Kapitals und solchen des Handwerks. Damit lässt sich Politik von der Gewalttätigkeit von Fehde und Krieg einerseits und von friedlicheren Außenbeziehungen andererseits zumindest notdürftig scheiden.

 

Bei einer solchen Definition entsteht ein Raum des Politischen in der Stadt dort, wo Kapital und Arbeit (als Handwerk) beginnen, sich aus den familiae von Herren zu emanzipieren und ein Eigenleben zu entwickeln. Davon kann in unserer Schwellenzeit noch kaum die Rede sein. Erst ein sich entfaltender Kapitalismus wird überhaupt einen solchen Raum erzeugen.

 

 

Gesellschaft

 

Gesellschaft benennt vor der immer mehr verschleiernden Sprache des späten Kapitalismus und der zerfallenden Zivilisationen einmal den Vorgang des sich zueinander Gesellens von Menschen, sinnvollerweise von einem Gemeinschaftsbegriff dadurch unterschieden, dass dieser auf deutlich mehr Dauer angelegt ist, wie dies Ehe und Familie zum Beispiel bis ins 20. Jahrhundert hinein waren. In etwa kann man für die Zeiten, als es noch Dörfer gab, von Dorfgemeinschaften sprechen. Des weiteren meint Gesellschaft dann das Institut, welches aus dem Vorgang hervorgeht und welches auf bestimmte, eng begrenze Funktionen beschränkt ist. Da gibt es die Zünfte, Vereinigungen von Kapitaleignern, Firmen, in denen sich Inhaber zusammen gesellen, Jagd- und Hochzeitsgesellschaften und vieles mehr.

 

Die alles vernebelnde Schein-Begrifflichkeit einer Soziologie des 19. Jahrhunderts brach völlig damit und bezeichnete nun den Untertanenverband eines herrschaftlichen oder "demokratischen" Staates als Gesellschaft, damit verschleiernd, dass es sich um aus Gewalt stammenden Strukturen von Unterwerfung handelt: Dieser Sprachgebrauch vernebelt die Tatsache, dass die Menschen längst keine andere Wahl mehr haben, als sich der Staatsmacht zu unterwerfen. Alles andere ist schnell lebensgefährlich. Niemand hat das schöner dargestellt als Traven in seinem 'Totenschiff'.

 

Ursprünge dieses bösartigen Sprachunheils liegen in den Phantasmagorien von "Gesellschaftsverträgen", wie sie schon im 14./15. Jahrhundert sich andeuten und dann zwischen Locke und Rousseau ausgearbeitet werden: Kern der Lüge, die dem zugrunde liegt, ist die Fiktion einer Übereinkunft der Menschen eines Staates, sich zu einem Staatsgebilde zusammen zu gesellen, was selbst in dem Gründungsmythos der Schweiz nur kuriose Legende bleibt.

 

Kein herrschaftliches Reich oder sonstiges Staatsgebilde beruht auf etwas anderem als der Machtanmaßung weniger und dem sich Ducken der meisten. Passend zum Zeitalter soziologischer Nebelwerferei ist der Sozialismus- und Kommunismusunfug desselben Jahrhunderts, welcher die "Vergesellschaftung" des Kapitals, also von Produktion, Handel und Finanzen forderte, was sich am ersten Versuch, das in die Praxis umzusetzen, ab 1917 als extrem brutale Diktatur einer kleinen sich selbst privilegierenden Machtclique erwies, also als räuberisches Verbrechertum in einem nie dagewesenen Maßstab.

 

Was da als Sozialismus bezeichnet wurde, war ebenfalls den Nebeln soziologischer Ideologieproduktion geschuldet: Aus dem Lateinischen über das Französische entwickelt sich nach ersten Entlehnungen im 18. Jahrhundert die Tendenz, das deutsche Wort gemeinschaftlich durch "sozial" zu ersetzen. Schon im 19. Jahrhundert ersetzt es zunehmend dabei in weithin säkularisierten Zusammenhängen christliche Vorstellungen (und seltene Praxis) von Nächstenliebe oder Barmherzigkeit, wobei es den Anschein größerer Rationalität mit sich führte, die aber nirgends begründet war und ist.

 

Tatsächlich gibt es den Socius im Geschäftsleben (und kurioserweise auf dem Motorrad), und es gibt die juristische Sozietät.

 

Hier wird Gesellschaft auf die Phänomene angewandt, bei denen es sich tatsächlich um eine solche handelt, und Untertänigkeit der vielen und Machtvollkommenheit der wenigen werden als solche benannt. Schließlich wird hier auch das Wort Demokratie außerhalb des antiken Griechenlandes immer in Anführungsstrichen vorkommen, gibt es doch danach nirgendwo die Herrschaft eines demos oder Volkes.

 

 

***Revolution***

 

Das letztlich idealistische Geschichtsbild von Karl Marx hatte bei seiner Anhängerschaft leider wesentlich größeren Einfluss als sein kritischer Kapitalbegriff. Das hat wohl seine Ursachen in der Sehnsucht nach einer "Weltanschauung", die Religion in ihrer Wirkmächtigkeit mindestens ersetzen soll. Neben der Idee von Klassen spielen "Revolutionen" dabei eine gewichtige Rolle, in denen eine "Klasse" eine andere ersetzen soll. Im Zuge des zwanzigsten Jahrhunderts wurden dann aus Klassenkampf und Revolution Modeworte einer allgemeinen Geschwätzigkeit, die mit Marx kaum noch etwas zu tun hat, aber den Schick grobianischer Vereinfachung zu haben scheint.

 

Soweit man sehen kann, hat es Klassen, ein griechisches Wort (lateinisch: classis), bei den kriegerischen Schiffsbesatzungen im antiken Athen gegeben, bei der Einteilung in Gruppen im antiken Rom, und dann wird das Wort seit dem 16. Jahrhundert ganz allgemein zum "Klassifizieren" benutzt, zum Beispiel für die Einordnung in Gruppen in der Schule. Die Verhältnisse des Mittelalters oder der Neuzeit sind viel zu komplex und vielfältig, um Bevölkerung einer Gegend oder eines Landes auf Klassen reduzieren zu können. Das betrifft dann die Gegenwart unserer Moderne in ihrer ganzen Komplexität um so mehr.

 

Wo es keine Klassen gibt, gibt es auch keine Revolutionen. Die spätmittelalterlich-lateinische revolutio ist die Umdrehung von Himmelskörpern in der immer wissenschaftlicher werdenden Astronomie. Als man anfing, die politische Machtergreifung selbsternannter französischer Politiker gegen König und Adelsvorrechte als Revolution zu bezeichnen, ein in seiner Wirkung politisch eher vorübergehendes Ereignis, welches keineswegs an einem Punkt so etwas wie Evolution ersetzte, sondern nur durch eine kurze Eruption neuer Machteliten eher Evolution verlangsamte, begann die Neigung, kurze Beschleunigungen eigentlich längerfristiger Entwicklungen besonders dort, wo sie mit brutaler Gewalt betrieben werden, mit dem Modewort zu belegen. Die forcierte Industrialisierung Russlands und Chinas durch den Bolschewismus mit ihren wenigstens jeweils vielen Zehnmillionen von Todesopfern wurden so zu "Revolutionen" hochstilisiert. Seit den 68ern des 20. Jahrhunderts hat das Wort dann Einzug in die Warenwelt gefunden, in der nun jede Modetorheit zur Revolution hochstilisiert wird und selbst sexuelle Verwahrlosung als Revolution gilt.

 

Die Historiker unserer Zeit, modischen Narreteien oft auch nicht ganz abgeneigt, suchen seitdem überall Revolutionen aufzufinden. So hat man die Evolution von Handel und immer weiter gespanntem Warenkonsum zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert gerne schon mal als "kommerzielle Revolution" bezeichnet und den zunehmenden Maschineneinsatz im Verlauf des Mittelalters als "erste industrielle Revolution." Aber selbst das Fabriksystem des 19. und 20. Jahrhunderts ist kein Ergebnis irgendeiner industriellen Revolution, sondern einer Evolution, in der ganz langsam Wind- und Wasserkraft und die im Holz schlummernde Energie durch solche aus Kohle und durch Wasserdampf ersetzt wurde.

 

Das Wort ist ohnehin in der deutschen Sprache überflüssig, da die Wörter Umdrehung und selbst Umwälzung, letzteres im wortwörtlichen Sinne, völlig ausreichen und nicht lateinisch mystifiziert werden müssen.

 

 

Reichsbildungen

 

Mit dem Zerfall der Machtstrukturen, mit denen Karl d.Gr. sein Riesenreich zusammengehalten hatte, geschieht zweierlei vor allem: Einmal zerfällt das Frankenreich in einen westlichen, östlichen und südlichen Teil, bevor die beiden letzteren durch ein deutsch dominiertes neuartiges Kaiserreich neu verklammert werden. Zum anderen entwickelt sich aus der von Historikern heute so genannten karolingischen "Reichsaristokratie" eine immer mächtiger werdende Oberschicht aus Erzbischöfen, Bischöfen und weltlichen Großen, die als Herzöge bzw. duces, als Markgrafen und Grafen auftreten. Während diese principes im Westen und Osten königliche Macht einschränken und sich mit Königen in Herrschaft teilen, steigt eine darunter situierte grundherrliche Schicht wohlhabender Großer (vavassores) in der Nordhälfte Italiens auf, um schließlich diesen Trägern alter Titel gleichrangig zu werden.

 

Es gibt keine Staatlichkeit, welche einen einheitlichen Blick auf die entstehenden Reiche werfen lässt, und keine einheitliche Begrifflichkeit für die vielfältigen und zumindest regional unterschiedlichen Machtverhältnisse. Geistliche Autoren fangen zwar an, die Verhältnisse gedanklich zu ordnen, bleiben dabei aber bei idealen Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist von einer schwer zu überschauenden und oft auch mangelhaft überlieferten Vielfalt.

 

Nur eines ist klar: All die wenigen, die die Macht haben, mitzuentscheiden, bejahen eine königliche Zentralinstanz und damit Reichsbildung, obwohl sie ihre Eigeninteressen dafür einsetzen, zugleich möglichst viel eigene Macht herauszuschlagen. Dabei geht es außerhalb Englands nicht um ethnisches Selbstverständnis, obwohl dieses nach und nach vorsichtig hineinzuspielen beginnt, sondern um eine ordnende Klammer, die die konfliktierenden Interessen der vielen Mächtigen in einen Rahmen bringt und in ein dazu zu entwickelndes Regelwerk einbettet. Zugleich geht es darum, Machtverhältnisse von einer Zentrale ganz oben her zu legitimieren, um so möglichst Gewaltverhältnisse als gerechtfertigte Beziehungen sehen zu können. Dazu passen Monarchien und eine monarchisch strukturierte Religion und Kirche.

 

Das neue Königtum, welches nun in vielfältiger Ausformung entsteht, ist eine der Besonderheiten, welche das lateinische Abendland auszeichnen werden. Es ist nirgendwo eine Tyrannis oder Despotie, nirgendwo an religiöses Recht gebunden, sondern an ein eigenes weltliches, und es bezieht seine Berechtigung zwar bald propagandistisch aus göttlicher Erwähltheit, aber tatsächlich aus der Zustimmung der Großen im Lande.

 

Recht ist Gewohnheitsrecht, zum Teil altes ethnisches, zum Teil im Süden des lateinischen Europas auch altes römisches. Im Rahmen dieser tradierten Rechtsnormen stehen an viele einzelne Personen verliehene Privilegien, deren Vielfalt kaum einen einheitlichen Blick erlaubt.

 

Durch Heirat und mit militärischen Mitteln wird versucht, das wirtschaftliche Potential zu erweitern. Dazu gehört das Einholen von Recht durch das Fehdewesen. Wer sich in seiner Ehre (honor) getroffen fühlt oder das wenigstens vorschieben kann, greift zu den Waffen und dem eigenen Gefolge und führt seinen privaten Kleinkrieg. Man kann davon ausgehen, dass der im 10. Jahrhundert ziemlich häufig ist, und die Könige in West- und Ostfranzien müssen damit leben. Wenn am Ende des nächsten Jahrhunderts Heinrich IV. zum ersten Mal einen allgemeinen Landfrieden für sein Reich ausruft, wird das nur bescheidenen Erfolg haben, - und legitime Fehden bleiben weiter erlaubt. Man darf dabei nicht vergessen, dass selbst innerdeutsche Kriege zwischen Fürstentümer noch im 19. Jahrhundert stattfinden.

 

Die kleinen wie die großen weltlichen Herren besitzen wirtschaftlich definierte Macht nur als Krieger, die jeweils auf Basis von militärischen Gefolgschaften Macht halten und ausbauen (oder verlieren) können. Geistliche Herren, denen persönliche Gewaltausübung verboten ist, delegieren diese an weltliche. Große Herren und Könige genießen militärische Gefolgschaft auch auf Basis ihres "Amtes".

 

Kleine Kriege finden als grundsätzlich legitime Fehden innerhalb des Adels statt, große führen Könige und Fürsten. Sie begründen ihr "Amt", ihre institutionalisierte Macht genauso wie die Pflicht, auch wieder Frieden zu schließen. Dabei ist es oberste Pflicht der Könige, Frieden im Inneren zu besorgen und Kriege nach außen zu leiten.

 

****

 

Ein sogenanntes Mittelalter, wie man es zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert zu erkennen meint und zu nennen beginnt, als man sein Ende bekundet, hat seine Frühzeit mit der Entstehung der neuen Reiche. Aber es würde, wenn man den Begriff für Italien und Südgallien ebenfalls anwenden wollte, dort zum Beispiel etwas anderes bedeuten. Hier haben die Städte (civitates) größere Bedeutung behalten und können den Adel stärker integrieren. Die Schriftlichkeit bleibt höher entwickelt, der Handel gewinnt nach dem Einbruch des Islam früher wieder an Bedeutung.

 

Etwas anderes gilt es aber ganz besonders hervorzuheben: Die Reichsbildungen der Schwellenzeit sind untrennbar mit dem lateinischen Christentum verbunden, also der Etablierung der römischen Kirche mit ihren Institutionen als Instrumenten von Herrschaft. Der römisch-christliche Zentralismus und sein relativ hoher Organisationsgrad, überhaupt eine vereinheitlichte Kirche als Besonderheit werden eine wesentliche Grundlage dieses neuen Königtums, wie sich im westfränkischen wie im ostfränkischen Reich erweisen wird.

 

Kirche ist seit dem 4./5. Jahrhundert, und nun noch viel mehr, nicht nur durchaus weltlich orientiertes Machtinstrument, sondern auch einwichtiges ideologisches Standbein weltlicher Macht. Paulus hatte Christen aufgefordert, der damaligen weltlichen Macht gehorsamer Untertan zu sein, wobei er noch von der baldigen Wiederkunft seines Herrn überzeugt war. Als dieser nicht wiederkommt, ändert sich an der Forderung nichts. Im 10. Jahrhundert wird Thietmar von Merseburg erklären: Jede Herrschaft dieser Welt stammt von Gott, und wer sich gegen sie erhebt, vergeht sich an der Majestät Gottes. Otto von Freising und viele andere werden das solange wiederholen, bis weltlicher orientierte Staatsformen an die Stelle Gottes die sehr menschliche Regierung oder die Verfassung oder beliebige idologische Konstrukte setzen werden.

 

Dort, wo erst Romanisierung und dann Verkirchlichung weit fortgeschritten sind, wie in Gallien, sind darüber völkische Strukturen weitgehend untergegangen. Wo der Vorgang der Zivilisierung noch anhält, wie im größten Teil des römisch-deutschen Reiches, werden für die Zukunft Reste erhalten bleiben, die allerdings langsam immer weniger mit den Grenzen von Herrschaften übereinstimmen werden.

 

Die Stammesstrukturen der Nordwestslawen zwischen Polen und dem römisch-deutschen Reich schwinden mit der Zerstörung ihrer "heidnischen" Kulte wie erst um 1125 bei den Liutizen. Sie schwinden Mitte des 12. Jahrhunderts bei den später schwedischen Svear mit ihrer Kultstätte von Uppsala und mit der Zerstörung der Kulte der Pruzzen und Litauer im 13. Jahrhundert. In Island setzt diese Entwicklung schon nach 1000 mit der Christianisierung durch den norwegischen Herrscher ein.

 

 

***Das ostfränkische Reich***

 

Im ostfränkischen Reich, in dem die „Franken“ räumlich und bevölkerungsmäßig eine Minderheit sind, stellt sich möglicherweise bei den weltlichen und geistlichen Großen der inzwischen herausgebildeten Stämme neuen Typs, den eroberten Völkerschaften des alten Frankenreiches zusammen mit den theodisc sprechenden Ostfranken wohl ein in den erhaltenen Texten nicht näher erklärtes Gemeinschaftsgefühl heraus, welches dazu führt, dass sie sich nach dem Aussterben ihres Karolinger-Zweiges nicht an die westfränkischen (weithin romanisierten) Karolinger um eine Herrschaftsübernahme wenden, sondern sich auf einen der Ihren einigen, den fränkischen Herzog Konrad (911-18). Dieser hatte sich gegen die anderen mächtigen Adelsgeschlechter, vor allem die fränkischen Konkurrenten der Babenberger-Familie und die sächsischen Liudolfinger behauptet und die Nähe zum König gesucht und gefunden.

 

Mit der Entscheidung für Konrad stellen sich die Lothringer, kein sich ethnisch begründendes Stammesgebiet wie Alemannien, Bayern oder Sachsen, unter die Oberhoheit des westfränkischen Karolingers Karl („des Einfältigen“). Lothringen ist eines der Reste des 843 geschaffenen Mittelreiches, welches nach seinem ersten König als Lotharingien bezeichnet wurde, und welches romanisch und germanisch sprechende Volksgruppen umfasste (es reichte am Anfang von Rom über die Provence bis nach Flandern).

 

Die Bildung der neuen Reiche wird auf die Dauer Besitzungen und Verwandtschaften zerschneiden. Es handelt sich beim Besitz wohlhabenderer Herren um Streubesitzungen, die sich über das ganze ehemalige Reich Karls des Großen verteilt hatten. Adelsfamilien heiraten zudem zunächst weiter über neue Reichsgrenzen hinweg und verklammern so vor allem vorläufig noch Gallien und Germanien. Seit Karl der Große Franken als Verwalter seiner Herrschaft nach Nord- und Mittelitalien schickte, die sich dort einwurzeln und dann romanisiert werden, gibt es solche Bindungen auch dorthin.

 

Die Macht der Karolinger basierte nicht zuletzt auf ihrem ursprünglichen enormen Grundbesitz. In den Nachfolgereichen mit abschwächender Königsmacht geht dieser ein gutes Stück weit verloren. Die ostfränkischen Könige basieren vorwiegend auf eher überschaubarem Familienbesitz und einem Resterbe königlichen Besitztums aus der Zeit zuvor. Das Königsgut in Alemannien und Bayern ist dabei zur Gänze verloren. Daraus folgt vorläufig „das nahezu völlige Fehlen herrscherlicher Tätigkeit im Bereich dieser Herzogtümer.“ (Althoff/Keller, S.212) Während Konrad I. auf fränkischen Familienbesitz aufbauen kann, besitzen die seit Heinrich I. königlichen Liudolfinger immerhin reichen Besitz am Westharz und westlich davon (Gandersheim, Grone usw.).

 

Auch die Ansätze von Staatlichkeit, die der große Karl entwickelt hatte, Befehlsgewalt durch Kapitularien und über Synoden, Einsetzung von Grafen und deren Kontrolle durch Königsboten, all das auf gewaltigem Krongut basierend, sind verschwunden. Verwaltung über Schriftlichkeit findet zunächst kaum noch statt.

 

Die Entstehung der Machtposition der inzwischen mächtigen Herzöge liegt weithin im Dunkeln, hatte jedenfalls die Schwäche des Königtums und ihre Unfähigkeit, äußere Feinde abzuwehren, zur Voraussetzung. Stämme als sich ethnisch definierende Zusammenhänge hatten sich im Kontakt mit den erobernden Frankenherrschern als regna, Herrschaftsräume verfestigt. Die Position des Herzogs, dux, ist aber dabei nicht ethnisch definiert, sondern in ihrem Rang und Prestige gegenüber dem König einerseits und den Großen im Herzogtum andererseits. Insofern lässt sich auch die Einsetzung der vielen Söhne, Enkel und Urenkel Heinrichs I. in Schwaben, Bayern, Kärnten und Lothringen als nicht ungewöhnlich ansehen. Als Nebeneffekt werden sie dabei den Königen in Sachsen und Franken nicht ins Gehege kommen. (Keller, S.69ff) Mit der Einsetzung von Herzögen durch die Könige erhalten ihre Positionen schließlich Amtscharakter, auch wenn diese dann im Laufe der Zeit erblich werden.

 

In die Reihe der Fürstentümer steigen unterhalb bzw. neben der herzoglichen Ebene Markgrafen an den Grenzen Ostfrankens / der deutschen Lande auf.

 

Es existiert insgesamt eine großgrundbesitzende und kriegerische "adelige" Herrenschicht, aus der die geschätzten gut 200 Personen hervorgehen, die Historiker heute als "deutsche" Führungsschicht des 10. Jahrhunderts bezeichnen. Sie gewinnen Reichtum und Macht auch dadurch, dass sie verliehenes Gut und Amt als erblich ansehen, was geduldet wird, um ihre Treue zu erhalten. Bei Keller heißt das, "dass trotz des rechtlichen Charakters des Lehnsverhältnisses in ihm kaum noch institutionelle Garantien liegen, sondern dass sein Funktionieren als Treueverhältnis weitgehend von der aktuellen Gestaltung personaler Beziehungen abhängig geworden ist." (S.16) Diese Oberschicht heiratet untereinander und schließt sich so immer weiter ab. (Althoff S.239)

 

Die Herrenschicht außerhalb fast jeder Form von Staatlichkeit regelt ihr Leben im wesentlichen selbst, wobei sie gemeinsame Vorstellungen von Ehre (honor), Rang und Status weiter entwickelt. Werden sie verletzt, gibt es das Recht auf den bewaffneten Konflikt und zumindest bis tief in die Zeit der sächsischen Könige ganz selbstverständlich auch gegen den König selbst als obersten Edlen.

 

Zudem sind da die Erzbistümer und wichtige Bistümer von enormer auch weltlicher Macht. Indem die sächsischen Könige diese zunehmend mit ihren Verwandten und Vertrauten besetzen und materiell immer besser ausstatten, können sie bei ihnen auf militärische Gefolgschaft und gastliche Aufnahme bei ihrer Reisetätigkeit hoffen. Geförderte Verbündete können aber natürlich auch zu Konkurrenten um die Macht werden. Unter dem zweiten und dritten Otto entwickelt sich durch königliche Besetzung von Bischofsämtern aus der Hofkapelle immer mehr das, was Historiker dann als Reichskirchen"system" bezeichnen.

 

Wesentlich für die Entstehung des Kapitalismus wird, dass Status und Rang nicht nur als kriegerische Macht, Macht über Menschen und Grund und Boden auftreten, sondern sich in Statussymbolen als Reichtum äußern. Dabei gehen Kirche und Kloster mit ihren goldenen, silbernen und mit Edelsteinen verzierten heiligen Gegenständen voran, bei denen es vor allem blitzen und funkeln muss.

 

Bild

 

Daneben spielen in einer fast schriftlosen Welt symbolische Handlungen eine wichtige Rolle, Unterwerfen als Kniefälle, das sich flach auf dem Boden Prosternieren, oder die Rituale der Aufnahme in die Huld des Mächtigeren. In der Regel werden solche Vorgänge vorbesprochen und dann öffentlich inszeniert, was ihnen fast Urkundencharakter gibt, wenn auch mit tatsächlich beschränkter Gültigkeit.

 

Unter dieser geistlichen und weltlichen Herrenschicht und in den kleineren Grundherrschaften gehen dann in einer gemeinsamen Schicht mit Sklaven und persönlich abhängigen Landbewohnern jene Reste freier Bauern auf, die Schutz suchen vor den verheerenden Einfällen von Normannen, Ungarn oder Slawen oder von Adeligen aus der Nachbarschaft. Im 9. Jahrhundert gewinnen sie erste Ansätze von „Rechtssicherheit“ über ihren Status (Althoff/Keller S.228) und in ersten Einzelfällen einen gehobeneren Status über Dienste für ihre Herren, die solche „Ministeriale“, Dienstleute, dann manchmal in Wohlstand und viel später sogar in den Adelsstand erheben werden.

 

Rechtlich genauso in die Familien der Herren eingeordnet sind die wenigen produktiv arbeitenden Stadtbewohner, die bei allgemeiner Bevölkerungszunahme und anfangender Landflucht langsam zu einer stärker wahrnehmbaren Gruppe werden. Herrschaft über sie, manchmal über den Herrn ihrer familia hinaus, übt der Stadtherr aus. In Städten, die noch in der Regel Bischofsstädte sind, ist das der Bischof selbst, der geistlich und zum Teil weltlich über seine Diözese herrscht.

 

Könige sind als oberste Kriegsherren einerseits weiter auf persönlich untergebene Vasallenkrieger angewiesen, die kleine militärische Einheiten führen, wie ebenso die Herzöge, Markgrafen, die Bischöfe und großen Äbte unter ihnen, andererseits aber auch auf deren Heeresfolge, die erst in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts stärker durchgesetzt wird. Dabei bilden bischöfliche Gefolgschaften die Masse des königlichen Heeres, dessen Kern schwerbewaffnete Panzerreiter sind.

 

Könige sind zugleich oberste Entscheider über Recht und Unrecht dort, wo sie sich durchsetzen können. Das Recht wird aber nicht nach irgendwelchen „Gesetzen“ gesprochen, sondern als Versuch, durch Verständigung Frieden im Inneren herzustellen, wobei ein auf Traditionen und Konventionen sich berufendes Gewohnheitsrecht gilt. Erst, wenn das nicht mehr hilft, kommt es zur blanken Gewalt. Könige versuchen das zu vermeiden, da sie sich in einem fast permanenten „Kriegszustand“ nach außen befinden, zumindest im kriegsfreundlichen Sommerhalbjahr, und der Großen für ihre Heerzüge bedürfen.

 

Recht ist einmal das Volksrecht der verschiedenen Stämme, ius der gentes. Wenn der König mit seinen Getreuen über hohen Adel zu Gericht sitzt, wo auch immer im Reich, hat er dieses traditionelle Recht zu beachten. Insbesondere die Sachsen legen darauf sehr lange Wert, wie unter anderen Thietmar von Merseburg berichtet. Unterhalb davon existieren die einzelnen Rechtsvereinbarungen und Rechtsetzungen in den einzelnen Grundherrschaften und in der Summe solcher in der Hand eines Herrn. Erst im 11. Jahrhundert beginnt der Emanzipationsprozess einzelner "Bürger" und "Bürgergruppen" in den Städten und dann auch von Bauern in entstehenden Dorfgemeinschaften. Oberhalb steht angestammtes königliches Recht als Ausdruck seiner Machtvollkommenheit. In deutschen Landen muss dieses zusammen mit den mächtigen Fürsten entwickelt werden, und seine Interpretation hängt nicht zuletzt mit der Stärke königlicher Persönlichkeiten zusammen.

 

Königliches Herrschen als Regieren ist der stete Versuch der Konsensbildung mit Großen im Reich und findet in allen Konfliktfragen im Geheimen statt, so dass wir davon erst erfahren, wenn entweder ein Konsens bereits gefunden und dann öffentlich inszeniert nachberaten wird oder wenn ein Dissenz dazu tendiert, in Gewalttätigkeit hinein zu führen. Dabei bestimmt der König die Themen und die Rede geht dann zunächst an den Ranghöchsten. Eine "kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit war mit der Ehre der Beteiligten nicht vereinbar." (Althoff(3), S.17) Eingebunden in Entscheidungen sind dann diejenigen, die an ihr beteiligt waren. Wir haben es also im sogenannten römischen Reich der Deutschen wie in dem des entstehenden Frankreich zunächst nach antiken Schemata mit einer Mischform aus Aristokratie und königlicher Herrschaft zu tun.

 

König Konrad wird von wenigen Fürsten "gewählt", Heinrich I. von Franken und Sachsen auserkoren. Heinrich selbst wiederum designiert Sohn Otto, der dann auch zum Thron erhoben wird. Nachdem Otto das monarchische Prinzip gegen seine Brüder durchgesetzt hat, designiert er unangefochten Sohn Liudolf, den er zuvor mit der Tochter des sohnlosen Hermann von Schwaben verheiratet hatte. Er wird 950 Herzog von Schwaben, stirbt aber schon wenige Jahre später. Vor seinem zweiten Italienzug lässt dann Otto seinen Sohn Otto (II.) zum Mitkönig und damit Nachfolger machen - und dann auch zum Mitkaiser. Nach dem Tod des Vaters findet für den Sohn dann nur noch ein förmlicher Huldigungsakt statt. 983 kann der zweite Otto seinen dreijährigen gleichnamigen Sohn zum Mitkönig machen, der dann in Aachen geweiht wird.

 

Mit dem ersten Otto beginnt eine intensivere Sakralisierung des Königtums, welche sich schon in der Rolle des Erzbischofs bei der Thronerhebung ausdrückt, aber danach auch in intensiverem religiösem Engagement, zudem dann demonstrative Akte und Zuschaustellungen von Frömmigkeit" gehören.

 

Nach der Krönung wird das Gebiet königlicher Hoheit in einem Umritt „besichtigt“ und die Huldigung entgegengenommen. Im 10. Jahrhundert findet diese erste Rundreise zunächst nur in Sachsen und Franken statt, bis dann am Ende der Ottonenzeit Herrscher genauso auch in Schwaben und Bayern präsent sind.

 

Ohne Hauptstadt, also ohne geographisch fixiertes Zentrum, wird königliche Herrschaft dann auch weiter auf Reisen ausgeübt, vor Ort, und zwar nicht nur für das jeweilige Gebiet, sondern theoretisch das ganze Reich. Der erste Konrad stützt sich dabei auf Bistümer (die alten lothringischen sind erst einmal verloren), die seines Schutzes bedürfen, und versucht zudem mehr Reichsabteien für sich zu gewinnen. Man kommt zu ihm, so wie er in die Nähe seiner Fürsten kommt. Schriftlichkeit spielt zunächst keine große Rolle mehr bei der Ausübung von Herrschaft.

 

Die Könige reisen mit Kapelle, seit Heinrich I. auch mit daraus entstehender Kanzlei, dem Personal und Gefolge, seit Karl d.Gr. und noch unter Heinrich I. von einer ihrer befestigten Besitzungen (dem palatium oder Pfalz) zur nächsten und beköstigen „Hof“ und Gäste aus denselben.

 

Aus der mit ursprünglich geistlichen Aufgaben betrauten Hofkapelle fällt erst einmal, ebenfalls unter den Ottonen, das Notariat heraus, die Schreibkunst der zunehmend hochadelig-geistlichen Notare. Dabei wird bald immer mehr eine Art weltliche Kanzlei ausgegliedert, die Ansätze von Verwaltung betreibt. Zu Kanzlern werden dann mächtige Erzbischöfe wie die von Köln und Mainz gemacht. Die Fürsten unterhalb des Königs entwickeln später nach und nach ähnliche Hofkapellen und Kanzleien. Im 10. Jahrhundert ist also insbesondere in Italien bei einem Teil des Hochadels noch Schreib- und Lesekunst vorhanden, die danach erst einmal an Experten abgegeben werden wird.

 

In diesem Jahrhundert werden, nachdem die Herrscher immer größere Teile des Kroneigentums und Familienbesitzes an geistliche und weltliche Große verleihen oder verschenken, um sich ihre Freundschaft und Gefolgschaft zu sichern, die Pflichten der Gastgeberschaft insbesondere an geistliche Magnaten übertragen, als servitium regis, Königsdienst. Was ihnen vom König gegeben wurde, sollen sie an ihn auch wieder zurückgeben, wenn er sie mit seinem Besuch beehrt. Das konnte allerdings, wenn regulär hunderte und bei großen Hoftagen Tausende zu Gast waren, eine enorme Belastung werden.

 

Herrschen auf Reisen ist auch Leben auf Reisen. Ein Familienleben sesshafter Menschen findet nicht statt, die Königskinder werden zur Erziehung weggegeben, und auch die Gemahlinnen der Könige sind nicht immer dabei, Geliebte oder inoffizielle Nebenfrauen werden dabei unter dem Einfluss des Bündnisses Kirche - weltliche Macht nur noch stillschweigend geduldet.

 

Wir sind an den Wurzeln für jene Vorformen von Staatlichkeit angekommen, aus denen sich der „politische“ Rahmen für die Entwicklung von Kapitalismus ergeben wird, der zwar Ansätze von Staatlichkeit benötigt, aber keinen starken Staat, wie er dann später zunehmend auftreten wird. Die Schwäche der Monarchien, die sich nun entwickeln, liegt in dem Fehlen einer Verwaltung, eines Apparates, mit dem Herrschaft ausgeübt werden kann, anders gesagt, an der fehlenden Reichweite und Intensität von Herrschaft. Stattdessen müssen Herrscher Verbündete suchen, „Freunde“, Getreue, an die dezentral Aufgaben delegiert werden.

 

Zunächst einmal müssen zwischen Konrad I. und Otto I. die selbstherrlich gewordenen Stammesherzogtümer der Konradiner, Liudolfinger, Liutpoldinger und der Reginare Lothringens in ein gemeinsames Reich integriert werden, was Konrad nicht gelingt und zu seinem Scheitern beiträgt. Insbesondere verliert er den Einfluss auf Lothringen.

 

Heinrich I. gelingt es im Verlauf seiner Regierungszeit, einen von ihm abhängigen Herzog Hermann in Schwaben durchzusetzen (926) und sich Arnulf von Bayern zu unterwerfen, obwohl er in beiden Herzogtümern nicht interveniert. Zudem kann er in westfränkischen Thronkonflikten 925 Lothringen zurückgewinnen, welches sich im Laufe der Zeit in Nieder- und Oberlothringen aufspaltet und weiter wenig inneren Zusammenhalt besitzt.

 

Sohn Otto wird schließlich erfolgreich als Nachfolger designiert. Der muss zwischen 936 und 941 erst einmal einen gangbaren Weg finden, um die Herzogtümer unter seine Hoheit zu bringen und zugleich seine Verwandtschaft abzufinden. Es gelingt dann dadurch, dass er beides miteinander verbindet, wozu auch Heiratspolitik gehört. Otto II. führt das fort, wobei er Heinrich den Stolzen unterwirft und Bayern unter Abtrennung Kärntens an den Schwabenherzog anbindet, ohne selbst Einfluss auf die Interna nehmen zu können.

 

Königliche Hoheit über diese Fürstentümer besteht entweder darin, diesen Herzögen einmal Verpflichtungen wie die Heeresfolge und die gelegentliche Anwesenheit und Mitarbeit bei königlichen Hoftagen und Festen aufzuerlegen, oder aber darin, die Herzogtümer mit dem König verpflichteten Getreuen zu besetzen bzw. sie ganz unter königliche Regie zu stellen. Solche Hoheit muss immer wieder neu durchgesetzt werden, denn die Fürsten haben die Möglichkeit, sich königlichen Entscheidungen zu widersetzen, was zu kriegerischen Konflikten führen kann und oft auch führt.

 

Auf der Suche nach dem, was das eigentlich ist, dieses Reich der sächsischen Könige und Kaiser, fällt zunächst einmal seine Undefiniertheit auf, wenn man es mit heutigen Augen betrachtet. Es gibt kein klares Staatsgebiet, sondern einen Bereich, der der Hoheit des Königs untersteht. Diese Hoheit muss nach innen stets und überall durchgesetzt werden, wenn sie nicht gerade einmal irgendwo eine Weile Bestand hat. Dazu braucht der Herrscher Mitglieder des Hochadels, die sich ihm unterwerfen und seine Hoheit samt seinem Schutz anerkennen. Tun sie das, sind sie ihm gegenüber zum Dienst verpflichtet, und der wichtigste ist der, an der Spitze von Kriegern mit ihm dorthin zu ziehen, wo der Herrscher seine Macht mit militärischer Gewalt demonstrieren oder durchsetzen will. Dieser wichtigste Dienst darf nicht, kann aber manchmal verweigert werden, wie sächsische Große Heinrich II. in seinen Kriegen gegen Polen und Böhmen demonstrieren, oder wenn sie sich weigern, mit den königlichen Verbündeten, den nichtchristlichen Liutizen gemeinsam zu kämpfen.

 

***********

 

Frieden wahren heißt abschrecken, mit militärischen Drohgebärden wie Heerzügen, oder aber mit regulären Kriegszügen: Man verheert und verwüstet Landschaften, um die Lebensgrundlage des Gegners zu vernichten, man versucht seltener, befestigte Orte mit „Kriegsmaschinen“ einzunehmen, und noch seltener kommt es zu direkten Konfrontationen, Gefechten, oft in eher kleiner Besetzung. Dabei wird mit Lanzen durchbohrt, mit Schwertern werden Schädel gespalten oder Gliedmaßen abgetrennt, Pfeile treffen aus dem Hinterhalt.

 

Es beginnt jener Rüstungswettlauf, erst ganz langsam, der zu einem der beiden Konsum-Motoren des Kapitalismus werden wird, zunächst vor allem, indem Schutzanzüge gegen die Waffen des Gegners entwickelt werden, erst aus Leder, dann aus Kettengliedern, und im hohen Mittelalter dann aus Panzerplatten.Solche Ausstattung für die Gewalt zu Pferde kann sich nur noch ein entsprechender Kriegeradel leisten. Bauern werden nur noch ausnahmsweise einmal mobilisiert.

 

Edle Krieger führen Krieg mit in der Regel unedlen Mitteln, die sie sich manchmal gegenseitig vorwerfen. Dazu gehört der Hinterhalt, jede Form von List, von Täuschung und Betrug. Menschen benehmen sich ganz offen gegeneinander wie Raubtiere auf Nahrungssuche. Motive sind Ruhm und Ehre, aber vor allem Gier nach Beute. Der besiegte Feind, die eingenommene Burg oder Ansiedlung sind in der Regel zum Plündern freigegeben. Im zehnten Jahrhundert spielt dabei zunehmend Geld eine wichtige Rolle. Gefangene werden, wenn wohlhabend oder „edel“ genug, als Geiseln betrachtet, für die man Geld einlösen kann.

 

Wenn man die Klassiker der Geschichtsschreibung für die nun folgende Zeit sächsischer Könige und Kaiser liest, Widukind von Corvey und Thietmar von Merseburg, fallen einem spontan die Stichworte Macht, Krieg und Gewalt ein. Das hat natürlich schon alleine damit zu tun, dass die beiden wie auch ihre Kollegen ihr Interesse auf die(se) Taten der Großen konzentrieren, und die sind Teil einer Kriegergesellschaft, die von diesen drei Faktoren bestimmt wird. Da müssen unentwegt Könige ihre Macht gegen den Adel durchsetzen, der wiederum mit Gewalttätigkeit und Verständigungsversuchen untereinander beschäftigt ist, und sie sind nach außen mit einem schnellen Wechsel zwischen Krieg und Frieden befasst.

 

Diese Welt ist instabil und darum kriegerisch, und der Satz lässt sich auch umkehren. Nach außen wird das für das entstehende Reich der Deutschen leicht deutlich: Es hat keine klaren Grenzen, da es von den Großen und Mächtigen weder ethnisch noch naturräumlich definiert wird – so wenig wie jedes andere europäische Reich dieser Zeit. Und das bedeutet eine stete Abfolge von Kriegen, wobei durch die ganze Zeit die Zwischenräume von „Frieden“ nichts anderes sind als Momente der Erschöpfung vor neuem Gewaltausbruch.

 

Im Westen gelingt es Heinrich I., Lothringen an sein Reich zu binden, wobei er das Elsass abspaltet und an Schwaben gibt. In der Krisenzeit muss Otto I. um Lothringen gegen den westfränkischen König kämpfen, und hat 942 dann Erfolg damit. 948 kann er sogar zwischen dem König Ludwig und Hugo ("dem Großen") in Ingelheim vermitteln.

 

Als der Sachse Heinrich die slawischen Daleminzier bedrängt, rufen diese 906 die Ungarn zur Hilfe, was dazu führt, dass ihr Gebiet von nun an zum ungarischen Aufmarschgebiet in den Westen wird. Dies wiederum gibt den Kämpfen sächsischer Heere im Osten eine zusätzliche Bedeutung. Konrad und zunächst auch Heinrich I. scheitern an der Ungarn-Gefahr. Zwischen letzterem (933 mithilfe einer Art Militarisierung des Reiches) und Otto I. wird die Ungarn-Gefahr abgewendet, was 955 mit der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg dann auch endgültig gelingt.

 

Im Südosten und Osten wird das Reich darauf nach und nach seinen Einfluss ausdehnen, weil die Nachbarn dort slawische Stammeskulturen am Übergang in einen zivilisierten Status sind, die missioniert und damit auch ansonsten überfremdet werden können. Kriegerisch wie die vor noch nicht langem zwangs-christianisierten Sachsen, neigen Slawen östlich der Elbe wie diese zu Raubüberfällen, die zunehmend im Namen von Kult bzw. Religion legitimiert werden. Die sächsischen Großen sind dabei daran interessiert, von den heidnischen Nachbarn Tribute und Abgaben und damit eine gewisse Oberhoheit zu erzwingen, und zwar mit erheblicher Brutalität. Und in den (lateinischen) Texten der zu Deutschen zusammenwachsenden Völker sind sie vorwiegend Barbaren, Ausdruck von Verachtung, wie sie schon Griechen und Römer kannten.

 

Gegen die Ungarngefahr richtet Otto I. Marken von der Unterelbe bis zur Saale ein. 937 gründet Otto I. ein Kloster in Magdeburg und richtet 948 zwei Bistümer in Brandenburg und Havelberg östlich der Elbe. 968 wird Magdeburg zum Erzbistum, dem auch die neugegründeten Bistümer Merseburg, Meißen und Zeitz unterstellt werden. 983 gelingt es den ostelbischen Slawen, den deutschen Einfluss durch einen großangelegten Aufstand wieder und für lange Zeit bis auf den sorbischen Raum bis an die Elbe zurückzudrängen. In der nächsten Zeit kommt es zu brutalen Überfallen in slawisches Gebiet, die von Sachsen und Meißen aus geführt werden.

 

Aus einer Art Stammeskulturen werden im Osten an Punkten der Verdichtung von Macht Kerne für Reiche, die nicht wie einst bei Germanen aus mehr oder weniger kriegerischen Wanderungsbewegungen entstehen, sondern eben erst deutlich danach, aber eben auch aus Kontakten mit Zivilisation, wie zum Beispiel schon in der Karolingerzeit Großmähren, wo eine Familie mit Christianisierung und Verbindung mit den östlichen Karolingern Fürstenstatus erreichen.

 

Schwierig bleibt zunächst das Verhältnis zu den slawischen Nachbarn in Böhmen, wobei sich mit Böhmen und Polen zwei neue „christliche“ Reiche herausbilden, die wiederum gegenseitig kriegerisch ihre Grenze zu bestimmen suchen, während die Westslawen zwischen Reich und Polen langsam in eine bedrohliche Situation kommen. Um das Handelszentrum Prag (wie um Brandenburg) bildet sich das Zentrum einer Fürstendynastie, die sich aus der Unterwerfung unter den ostfränkischen König immer einmal wieder zu befreien sucht.

 

Im Norden gilt es, sich zunächst der ("heidnischen") Wikinger und Normannen und ihrer Piraterie zu erwehren, die dann durch die Bildung zunächst instabiler skandinavischer Herrschaftsräume abgelöst wird. Heinrich I. gelingt dann am Ende seines Lebens die Unterwerfung der Dänen, deren Christianisierung nun einsetzt. Otto I. kann drei dänische Bistümer, darunter Schleswig, dem Erzbischof von Hamburg/Bremen übergeben. Otto II. muss dann erneut gegen die einmarschierenden Dänen kämpfen, die sich Norwegen einverleibt haben.

 

Kriege werden meist nicht erklärt wie viel später, sondern sie bestehen aus Heerzügen, Drohgebärden, relativ wenigen herausragenden Schlachten, und finden vor allem als Verheerung und Verwüstung des Landes statt. In die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen nach außen hinein interagieren die Kämpfe adeliger Familien miteinander und mit den Königen. Am deutlichsten sichtbar wird das einmal in Lothringen, wo die stete Wahl zwischen West- und Ostreich solche adelige Sippschaften und Bündnisgruppen besonders mächtig macht, und zum anderen in Sachsen, wo Familien und Gruppen der Großen ihre eigenen Kämpfe und Bündnisse mit den Slawen östlich der Elbe austragen. Das Besondere Bayerns wiederum ist seine Expansion nach Süden und Südosten, die dann in der Ausgrenzung Kärntens und dann Österreichs und überhaupt des Alpenraumes beendet wird.

 

 

***Kaiser***

 

Südlich der Alpen ist Heinrich I. nicht präsent. In einem ersten Heerzug dorthin wird Otto I. 951 nicht nur Gemahl der Königswitwe, sondern auch König der Langobarden. Offenbar will er schon da vergeblich vom Papst die Kaiserwürde erlangen.

 

Zunächst ist das regnum, welches mehr oder weniger Italia meint und als das der Langobarden bezeichnet wird, formell von einem Reich der Teutonen bzw. offiziell der Franken abgetrennt, und die Grenze einigermaßen eine zweier Völker. Dabei ist der „deutsche“ König der Langobarden in Italien immer nur soweit präsent, wie seine Truppen in hinreichender Zahl anwesend sind und er königliche Amtsträger benutzen kann.

 

Hingegen wirkt das seit 924 vakante Kaisertum von 962, welches durch päpstliche Krönung und religiöse Weihe immer wieder neu zu erwerben ist (und darum zugleich auch durch Kriegszüge) als Klammer, und der Drang deutscher Könige zum Kaisertitel wird diese Klammer immer wieder neu erstehen lassen. Während die Geschichtsschreibung nun anfängt, das Kaisertum als Errungenschaft zu preisen, lässt es sich doch zugleich auch als desaströse Einrichtung sehen: Es zwingt mit der immer wieder neuen aufwendigen Herstellung der dann doch nur zeitlich wie räumlich punktuellen Kontrolle über die Nordhälfte Italiens zum Verbrauch enormer Ressourcen an Menschen, Geld und Material, die aus deutschen Landen abgezogen werden. Dazu kommt die Tendenz zu inneren Wirren und zentrifugalen Tendenzen nördlich der Alpen bei den im 10. Jahrhundert zum Teil langen Abwesenheiten der Kaiser. Und die implizierte Aufwertung des Papsttums wird sich am Ende notwendigerweise in dessen besonderer Feindseligkeit gegenüber deutschstämmigen Königen und Kaisern erweisen.

 

Otto II. versucht dann, auch Venedig und Süditalien in sein Reich einzubeziehen, was aber am Ende nicht gelingt. Auch Versuche unter ihm und seinem Sohn, Süditalien zu erobern, scheitern blutig. Derweil aber werden von den späteren Ottonen immer ungenierter befreundete Päpste eingesetzt, die es aber schwer haben, sich ohne kaiserliche Anwesenheit zu halten. Diese ergibt sich dann, als Otto III. beginnt, seine beiden Reiche von Italien aus zu regieren und dabei mit seinen Päpsten Hand in Hand arbeitet.

 

 

Beide Kaiser sind "römisch", beziehen sich also auf das Kaisertum eines Augustus oder eines Konstantin. Ansonsten ist ihr Amt aber hochgradig verschieden. Während der römische und griechisch gewordene Kaiser des Reiches von Konstantinopel/Byzanz in unmittelbarer Tradition der antiken Imperatoren steht, und den Anspruch auf ein ungeteiltes Römerreich insbesondere in Italien aufrechterhält, beruht der Westkaiser auf der Fiktion einer Übertragung des Imperiums auf ihn - wenigstens für das Westreich. Tatsächlich greift er noch bis ins 11. Jahrhundert in Konflikte in Westfranzien und noch länger im Osten der deutschen Lande ein und versucht, die Nordhälfte Italiens wenigstens ansatzweise immer wieder unter seine Kontrolle zu bekommen, aber seine tatsächliche Machtbasis bleibt auf Ostfranzien bis in die Alpen beschränkt.

 

Während der Ostkaiser tatsächlich ein Kaiserreich beherrscht, welches auch nach dem Ende der germanisch dominierten Völkerwanderungen von anderen bedroht wird, aber bis 1204 bei allen Veränderungen einigermaßen intakt bleibt, dient das eher fiktive der Westkaiser hauptsächlich dazu, die Macht der römischen Könige deutscher Abkunft durch zusätzliche Einkünfte aus Norditalien zu steigern und durch Konzentration deutscher Großer unter königlich-kaiserlichem Befehl zum Zweck der Kriegführung im Süden vor allem.

 

Tatsächlich wird das "deutsche" Kaisertum dazu führen, die Macht der deutschen Könige zu schwächen, einmal durch die Abhängigkeit von willigen Päpsten und den Konflikt mit nicht willfährigen, denen sich deutsche Fürsten aus Eigennutz anschließen, zum anderen durch den maßlosen Aufwand, mit dem immer wieder kaiserliche Verwaltung wenigstens in Teilen Norditaliens hergestellt werden muss, was dann gegen Ende des 12. Jahrhunderts zur Gänze scheitern wird.

 

Von heute aus zumindest wird deutlich, dass ein Westkaisertum ohne Hauptstadt und solide militärische Basis, mit schwacher Finanzierung und ohne eigentliche Verwaltung an Überdehnung zugrunde gehen wird. Man kann als (politisch korrekter) Historiker den sich daraus ergebenden spezifisch deutschen, aber auch den italienischen Sonderweg begrüßen, aber wer nach 1945 zurückschaut, kann auch etwas ganz anderes darin erkennen.

 

1101 wird Kaiser Otto III. von den Römern aus ihrer Stadt vertrieben und stirbt bald danach. Erst 1014 wird König Heinrich II. auf einem zweiten "Italienzug" die Kaiserkrone erlangen, die aber nie mehr die Substanz erhalten wird, die Otto noch angestrebt hatte.

 

 

***Italien***

 

Während das ostfränkische Reich, welches noch Otto von Freising in der Mitte des 12. Jahrhunderts als solches sieht, ein Königtum als gemeinsame Klammer aller deutsch sprechenden Menschen hat, mit Romanen und Slawen an den Rändern, ist die italienische Halbinsel nach dem Ende des weströmischen Reiches auseinander gefallen. Die Osthrogoten halten den größten Teil nur lose und kurzzeitig zusammen, und ein langobardisches Königtum kontrolliert vor allem den Norden, während im Süden sich selbstständige langobardische Fürstentümer breitmachen und ganze Regionen byzantinisch bleiben. Die fränkische Eroberung ändert an dieser Zweiteilung wenig, wobei Sizilien längst unter nordafrikanisch-islamische Herren geraten ist.

Eine Sonderrolle nimmt Rom mit dem Papsttum ein, welches Ansprüche auf ein größeres Territorium erhebt.

 

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts versuchen wie in den Jahrzehnten zuvor wechselnde Könige/Kaiser lockere Herrschaft über den Norden Italiens auszuüben. Ab 899 und bis nach 950 überfallen ungarische Reiterscharen die Osthälfte Norditaliens, während im Westen Sarazenen von ihren Stützpunkten in der Provence das Piemont bedrohen. Lamberts Nachfolger Berengar von Friaul scheitert militärisch dabei, sein Reich zu schützen und fördert darum den Bau von Mauern und Kastellen, die allerdings in "privater" Initiative entstehen. Auch ansonsten ist er gezwungen, immer mehr königliche Rechte und Machtbefugnisse wegzugeben, um seinen königlichen Status aufrecht zu erhalten. Aber die Macht teilen sich zunehmend Laienadel auf dem Lande mit Gerichtsrechten und Bischöfe in den Städten, die allerdings mit dem städtischen Adel kooperieren müssen. Dennoch lässt sich Berengar 915 zum Kaiser krönen.

 

Als Berengar 920 ungarische Söldner ins Land holt, um sein Heer zu verstärken, nutzen das italienische Große im Nordwesten, um König Rudolf II. von Burgund zu rufen. Berengar wird besiegt, und 924 brennen Ungarn Pavia nieder. Im selben Jahr wird er ermordet, aber italienische Große wenden sich nun gegen Rudolf und vertreiben ihn. Vorläufig gibt es unter dem römischen Stadtpräfekten Alberich keine Kaiser mehr, dafür gibt es alleine zwischen 882 und 914 fünfzehn Päpste und danach solche, die Alberich einsetzt.

 

926 holen sie den Markgrafen Hugo von der Provence/Vienne, der später Sohn Lothar zum Mitherrscher macht und überhaupt versucht, durch die Besetzung von (Mark)Grafschaften und Bischofsämtern mit Verwandten zu herrschen. 932 verheiratet er sich mit der in Rom herrschenden Marozia, deren Sohn Alberich sie aber aus Rom vertreibt.

 

Ein Versuch des bayrischen Herzogs Arnulf 934, auf Einladung von Bischof und Graf von Verona den italienischen Königstitel zu erringen, scheitert militärisch. Bischof Rather muss zum ersten Mal ins Exil. Hugos Herrschaftsversuche werden offenbar immer gewalttätiger.

 

Markgraf Berengar von Ivrea rebelliert 940 gegen Hugo, scheitert und muss in die deutschen Lande fliehen. 945 marschiert er mit deutschem Militär in Norditalien ein, wobei immer mehr Bischöfe und weltliche Große zu ihm überlaufen. 947 stirbt Hugo, und Berengar kämpft weiter gegen Hugos Sohn Lothar, der 950 stirbt, was Berengar die Königskrone bringt.

 

Als Lothars Witwe Adelheid, Tochter des burgundischen Welfen, sich weigert, Berengars Sohn Adalbert zu heiraten, wird sie in einen Turm eingesperrt, kann entkommen und König Otto um Hilfe anrufen, was sich König Otto zunutze macht, um einzumarschieren, die junge Königswitwe Adelheit zu "retten", und dann bis hinunter nach Rom durchzumarschieren.

 

Es kommt zu der fast stillschweigenden Übernahme des langobardischen Königstitels und 962 des Titels eines Kaisers. Wesentliches Herrschaftsinstrument ist dabei die Überlegenheit der "deutschen" Armee, wenn sie denn einmal auftaucht.

 

Im Norden Italiens setzt sich im Verlauf des Jahrhunderts die Tendenz durch, königliche Herrschaft wie auch nördlich der Alpen zunehmend auf die Bischöfe zu stützen, und nur noch in wenigen Gegenden auf Markgrafen wie die Canossa und einzelne Hochadelige wie die Obertenghi, während die ursprünglich fränkischen Grafen ein Eigenleben führen und an Bedeutung für die Könige verlieren. Überall herrscht Eigeninteresse vor dem königlichen vor, in Dörfern, Städten, bei Bischöfen und entstehendem Adel. Nach Kaiser Ottos Tod 973 tauchen seine Nachfolger erst 996 wieder auf und finden dort ein stark in Städte und Regionen zersplittertes Reich vor.

 

In den neuziger Jahren baut Markgraf Arduin von Ivrea seine Macht insbesondere gegen Bischöfe aus. 998 lässt ihn Otto III. verurteilen und entmachten.

 

1002 stellen italienische Große Arduin von Ivrea als König auf. Ein erster Versuch eines Heers deutscher Großer gegen ihn scheitert. 1003/04 besiegt ihn dann Heinrich II. persönlich und lässt sich in Pavia zum 'König der Langobarden' krönen.Als Reaktion darauf rebellieren die Einwohner Pavias und Heinrich lässt Teile seiner Hauptstadt niederbrennen, um dann nach Norden abzuziehen.

Als die Einwohner von Pavia 1024 die Königspfalz niederbrennen, schwindet auch noch das letzte Symbol von Königsmacht in Italien.

 

Unter Ottos I. Nachfolgern wird der Versuch gemacht, auch Süditalien zu erobern, was aber an den Sarazenen, Byzantinern und der fehlenden Bereitschaft langobardischer Fürsten scheitert, sich dauerhaft unterzuordnen.

 

Die Halbinsel mit ihren nahen großen Inseln ist also unter Herren von ganz unterschiedlichen ethnischen Wurzeln und Rechtsvorstellungen aufgeteilt, römischen, langobardischen, fränkischen, dann ostfränkischen, oströmischen und nordafrikanischen.

 

 

***Das Westfranken-Reich***

 

Das Westfranken-Reich wird vom Namen her das Erbe der Francia antreten, aber die einzige Klammer ist zunächst die, westlicher Erbe der Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts zu sein. Schon seit den Karolingern entwickeln südliche Regionen ein Autonomiebedürfnis. Vor der Teilung in ein West- und ein Ostreich und ein sich davon lösendes Italien war das gallorömisch-fränkische Merowingerreich bereits in einen Nord- und Südteil unterschieden, dessen Grenze in etwa die Loire bildete. Zwei romanische Großdialekte werden gesprochen, die langue d'oeil im Norden und die näher am Lateinischen bleibende langue d'oc im Süden, die im Laufe der Zeit immer weiter südlich abgedrängt wird.

 

Wie in Italien war auch im Süden Galliens die Kontinuität römischer Strukturen stärker geblieben und französische Könige werden ihn erst im Zuge der Vernichtung der sogenannten Katharer sich einverleiben können.

 

Neben diese Zweiteilung tritt eine Vielzahl von Fürstentümern, die sich zwar zumindest nominell dem König unterordnen, tatsächlich aber immer ungestörter ihre Eigeninteressen vertreten. Sie sind nicht ethnisch begründet, sondern schaffen sich eigene Regionen durch Ausweitung von Familienbesitz und Hoheit. Unter ihnen zerfallen besonders in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Regionen in lokale Burgherrschaften.

 

Einen Fremdkörper stellt die Normandie dar, jenes Gebilde, welches der französische König den Normannen zur Verfügung stellt. Ein weiterer ist die Bretagne mit ihren keltischen Besonderheiten. Umstritten ist zunächst (Rest)Lothringen, welches dann an das Reich der Sachsenkönige fällt. Im späteren 9. Jahrhundert entstehen Hoch- und Niederburgund neu, vereinigen sich 933 zum Arelat, und dieses nähert sich unter Konrad I. (937-93) etwas dem römisch/deutschen Reich an.

 

Vom Loireraum bis zum Mittelmeer und den Pyrenäen führen also Herrschaften ein Eigenleben so wie im Norden die Bretagne und die Normandie.

 

Das (schwache) Königtum ist umkämpft insbesondere zwischen der immer schwächer werdenden Familie der Karolinger und den aufsteigenden Robertinern. Das Ostfrankenreich entwickelt sich zur überlegenen Macht, die gelegentlich in die inneren Konflikte im Westreich eingreifen und dort ihre Interessen vertreten kann.

 

Um 840 kommt ein Robert ("der Tapfere") vom Rheingau aus an den Hof Karls ("des Kahlen"), wo er palatinus wird. Er zeichnet sich als Heerführer des Königs gegen Bretonen und Normannen aus. 888 wird sein Sohn Odo westfränkischer König bis 899, und dessen Bruder Robert wird Graf von Paris. Nach Odo kann sich der Karolinger Karl ("der Einfältige") mehr oder weniger durchsetzen, auf den die Ansiedlung der Normannen 911 zurückgeht. 922 wird Karl von den Großen abgesetzt und Robert wird König. Sein Nachfolger wird sein Schwiegersohn Rudolf I. von Burgund (923-36).

 

Mit dem ersten König aus dem Haus der Robertiner (später: Kapetinger) beginnt die Abkapselung des Westreiches vom Ostreich Fahrt aufzunehmen. Da aber anders als dort oder in England die Herrschaft über das Reich nur eine nominelle ist, es also überhaupt erst hergestellt werden muss, werden im 10. Jahrhundert die ersten Funken von etwas geschlagen, was viel später sich zur Flamme eines allerdings vorläufig noch diffusen Nationalgefühls entfalten wird.

 

936-87 regieren Karolinger in unmittelbarer Folge. Der Robertiner Hugo als dux Francorum kontrolliert fast gleichgewichtig zum König das Zentrum des Westfrankenreiches, während die Fürstentümer faktisch unabhängig sind.

 

Hugo Capet, der erste Kapetingerkönig im entstehenden Frankreich ab 987 hat fast nur noch Besitzungen und Einfluss rund um Paris.

 

 

***England***

 

Die Reichsbildung hin zu einem Königreich England geschieht im Abwehrkampf gegen die Wikinger bzw. Nordmänner unter der Führung südenglischer Sachsenkönige. Dabei entwickeln die Könige im 10. Jahrhundert ein stärker durchverwaltetes Reich als die Nachbarn auf dem Kontinent zur selben Zeit. Es wird in Grafschaften, die shires aufgeteilt, und die werden königlichen "Beamten", sheriffs, unterstellt. die für Gerichtsbarkeit und Heeresaufgebot zuständig sind.

 

Es kommt zu Versuchen, eine lockere Oberhoheit über Cornwall, Wales und Schottland herzustellen, die allerdings ihren keltischen Charakter vorläufig beibehalten.

 

Gegen Ende des ersten Jahrtausends nehmen die dänischen Angriffe wieder zu und werden mit großen Tributzahlungen abgewehrt, die durch eine Art Dänensteuer eingetrieben werden.

 

****

 

Die drei Reiche England, Ostfrankenreich und Westfranzien werden durch die Hoheit von Königen zusammengehalten, die sich dadurch ethnisch definieren, dass sie einen jeweils längst historisch gewordenen Stamm über die anderen setzen: Die Angeln und die Franken. In deutschen Landen kommt es dann zu der Kuriosität, dass sächsische Große ein fränkisches Reich regieren, welchem die fränkischen Kernlande im ehemaligen Gallien zu einem guten Teil abhanden gekommen sind.

 

Darüber hinaus definieren sie sich weiter religiös und sakralisieren darum das herumreisende Königtum zunehmend. Ansätze von Verwaltung durch Instanzen mit ansatzweisen Verwaltungsaufgaben gibt es dezentral am ehesten in England, während die Könige in Ost- und Westfranzien einen königlichen Hof in wechselnder Besetzung unterhalten, die curia, und als solideren Kern die von hochadeligen Geistlichen besetzte Hofkapelle, die auch Notariatsaufgaben erledigt, woraus später die Kanzlei entstehen wird.

 

Das römische Imperium der Kaiserzeit basierte auf seinem professionellen militärischen Potential, und diesem vor allem diente eine umfassende Besteuerung, die das ganze Reich prägte. Die neuen, germanisch dominierten Reiche übernommen zunächst diese Besteuerung, soweit ihr Instrumentarium dafür noch reichte, aber die Steuerquote sank recht schnell von etwa 20% auf 10%, bis dann zuerst die Langobarden eine allgemeine Besteuerung ganz aufgaben. Die neuartigen Krieger versorgten sich selbst über ihre Ländereien, und Ausgaben für eine Verwaltung gab es kaum noch, weil diese auf ein Minimum geschrumpft war. "Auch das Karolingerreich beruhte nicht mehr auf Besteuerung, sondern auf Einkünften aus Grundbesitz." (Gilomen, S.13)

 

Finanzieren tut sich das Königtum also weiter im 10. Jahrhundert über den Familienbesitz und Königsgut; die Versorgung des reisenden Hofes vor Ort wird von Königspfalzen und in deutschen Landen wie im vom Norden besetzten Italien durch Bischöfe geleistet, die dem Königtum durch immer bessere Ausstattung eng verbunden werden. Auf Reisen wird auch vor Ort durch Anwesenheit von Großen Hoheit demonstriert. Überhaupt besteht aller Reichtum aus den angeeigneten "Überschüssen" der Bewirtschaftung des Bodens.

 

Der König spricht Recht in bedeutenden Angelegenheiten, entscheidet manchmal in Konflikten der Großen, vertritt das Reich nach außen und führt darüber hinaus Heerzüge an, führt also Krieg. Dazu führen ihm die Großen, aber nicht immer alle, und vor allem sind es die Bischöfe, militärische Kontingente zu.

 

Während der Einfluss des englischen Königs sich weithin über die Grafschaften erstreckt, und der des westfränkischen nur wenig über seine Krondomäne hinausgeht, schwankt der des ostfränkischen je nachdem, wo er sich wie im Reich durchsetzen kann. Jedenfalls ist er de facto oft auf eine Art Mitregierung der Großen angewiesen, auf die er zu hören hat, auf Konsensbildung also.

 

Die Reiche (bis auf ansatzweise das englische) funktionieren also nicht über Institutionen, Ämter, sondern über mehr oder weniger hierarchisch gegliederte Beziehungen von Personen, Familien, die oft nicht sehr stabil sind und das nicht einmal bei der Bindekraft von Verwandtschaft. Diese Instabilität erweist sich in der häufigen Gewalttätigkeit der Herren im Inneren der Reiche wie in den vielen Kriegen nach außen, immer noch zentrale Rechtfertigung von Herrschaft