INTELLEKT 2: INTELLEKTUALITÄT UND WISSENSCHAFT (1250-1400)

 

Lesen und Schreiben

Studenten / Scholaren

Universitäten

Pariser Reglementierungen

Verwissenschaftlichung (Magie und das Unheil der Vernunft)

Intellektualität und Religion

Recht

Der Literat: Schriftstellerei

Das Amüsiergewerbe

 

 

 

Lesen und Schreiben (gerade in Arbeit)

 

Zwei Dinge vor allem werden die Welt des Schreibens und Lesens erheblich verändern: Der Ersatz des enorm teuren Pergamentes durch das Papier und noch erheblich später der Buchdruck. Das Papier, ein pflanzliches Produkt, gelangt von China über die Islamische Welt nach Spanien und Süditalien und im späten Mittelalter auch über die Erfindung von Papiermühlen und die Verfeinerung von Herstellungsmethoden ins Zentrum Europas, ist aber für unsere Zeit hier noch nicht im christlichen Raum in Gebrauch.

 

Ein Buch aus Pergament wiederum verbraucht die Häute einer ganzen Herde von Kälbern, Ziegen oder Schafen (besser noch Lämmern). Das macht es an sich schon zu einem ungeheurer Wertgegenstand, der noch dadurch erhöht wird, dass ein oder mehrere Schreiber für die Schönschrift mit Feder und Tinte enorm viel Zeit verbrauchen. Bücher gibt es darum in unserer Zeit vor allem in Klöstern und Kathedralen, der Zugang zu ihnen ist also schwierig und extrem beschränkt, und in England vor allem beginnt man sie im späten Mittelalter anzuketten.

Bücher beinhalten darum die biblischen Texte, liturgische Gesänge und andere Texte für den kirchlichen Gebrauch, daneben Heiligenlegenden, aber auch Chroniken und Annalen. Antike Dichtung, Philosophien und die Kirchenväter gibt es in Abschriften.

 

Bis tief ins 14. Jahrhundert kann man bei der großen Mehrheit der Bevölkerung davon ausgehen, dass sie soviel rechnen und lesen kann, wie sie das unbedingt benötigt - und zwar ohne jedes schulische Lernen. Das betrifft auch den Großteil der weltlichen Herren und die niederen Ränge der Geistlichkeit.

 

Schriftkundigkeit, die mit hinreichenden Lateinkenntnissen verbunden ist und möglichst auch wenigstens ansatzweisen rechtlichen Vorstellungen, ist noch bis ins späte Mittelalter hinein professionalisiert und bietet vor allem niederen Klerikern, die im Deutschen dann als scholer bezeichnet werden, einen Karriereweg, - besonders bei engeren Beziehungen zu Mächtigeren. Sie sind meist verheiratet und besitzen nur die niederen Weihen, die sie von den Laien nur geringfügig unterscheiden.

Ein Karriereweg spätestens im 14. Jahrhundert ist in deutschen Landen der des besoldeten Stadtschreibers (scriptor civitatis). Von dort kann dann im 15. Jahrhundert in Trier der Weg bis in das Schöffenamt führen, für das erheblicher Reichtum in der Regel die Voraussetzung ist.

 

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Studenten/Scholaren

 

Der Weg zur Universität Paris entsteht zunächst durch die Entwicklung, dass der gelehrte Unterricht aus den Klöstern an die Kathedralen und damit in die Städte abwanderte. Scholaren sammelten sich um Magister, die nicht nur verehrt, sondern manchmal auch verspottet wurden. Ein Hilarius (von Orléans?) schreibt in seinem Carmen XIV, 'De Papa Scolastico' über einen "scholastischen Papst", in dem man vielleicht Abaelard erkennen mag:

Papa summus, paparum gloria, / papa iugi dignus memoria, / pape plaudit scolaris curia, / pape dari non est iniuria / tort a qui ne li dune.Papam omnis cognoscit regio, / pape seruit scolaris legio, / papam amat affectu nimio, / papa quouis est dignus premio. / tort a qui ne li dune.Papam nouit miles et clericus, / papam tremit Gallus et Anglicus, / papa tutor et custos publicus, / pape donet quisquis est logicus. / Tort a qui ne li dune.Pape uox est dulcis et unica, /papa nouit iocunda cantica, /papam amat turba scolastica, / pape nummi dentur et reliqua. / tort a que ne li dune. // (fol.12v)Papa captus hunc uel hanc decipit, / papa quid uult in lectum recipit, / papa nullum uel nullam excipit, / pape detur, nam papa precipit. / tort a que ne li dune.Pape nichil excludit mentula, / pape puer atque puellula, / pape senex placet et uetula, / pape cibus detur et pocula. / tort a qui ne li dune.

Der höchste Papst, der Päpste Glorienschein, / Der Papst prägt sich so dem Gedächtnis ein. / Dem Papst Applaus! Die Schüler stimmen ein. / Dem Papst sich widmen wird rechtens sein! / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Ruhm ist weit und breit bekannt. / Dem Papste dient jeder Scholar im Land. / Den Papst zu lieben ist als gut erkannt. / Der Papst verdient sich jedes Unterpfand. / Weh dem, der ihm nicht frönt!Den Papst erkennen Pfaffe und Krieger. / Vorm Papst erbeben Brite und Gallier. / Der Papst hilft uns, Beschützer und Wächter. / Dem Papst zahlt Lohn ein jeder Logiker! / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Wort ist voll von süßem Klang. / Der Papst erweckt die Schönheit im Gesang. / Den Papst liebt der Scholar im Überschwang. / Dem Papst verschafft er Geld und Brot ohn’ Zwang! / Weh dem, der ihm nicht frönt! / Des Papstes List schlägt jeden übers Ohr. / Der Papst nimmt jeden sich im Bette vor. / Der Papst verschlingt sie allesamt im Chor. / Dem Papst gib’ dich! Das schreibt der Papst Dir vor. / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Schwanz lässt keine Chance aus. / Der Papst lädt Sohn und Tochter sich ins Haus. / Der Papst schließt Greis und Greisin auch nicht aus. / Der Papst verschmähet weder Trank noch Schmaus. / Weh dem, der ihm nicht frönt! (in RoblHilarius)

 

Dazu schreibt Robl: „Bei den Studentenfesten der damaligen Zeit wurde des Öfteren ein als Magister verkleideter Kommilitone präsentiert - analog zu den Bräuchen der Bakelfeste, bei denen während der Weihnachtsoktav ein Knabenbischof gekürt und zum allgemeinen Spaß mit dem baculum investiert wurde. Diese Feste, die man als Präkursoren des heutigen Faschings oder Karnevals ansiehen kann, waren besonders in den Kathedralstädten Frankreichs in großer Mode. (…) Möglicherweise setzten die Studenten, während sie Hilarius’ Lied skandierten, dem derart karikierten „Lehrer“ eine Nachbildung der Tiara aufs Haupt und sangen um ihn im Kreis, was den die Posse durchziehenden Titel „Scholastikerpapst“ erklären würde.“ (RoblHilarius)

 

Zwei bei Ehlers (Otto, S.83 f) übersetzte Texte belegen, wie unterschiedlich die neuen Schulen gesehen werden. Der Abt Peter von Celle schreibt 1164 an Johann von Salisbury: O Paris, wie geschickt bist du im Fangen und Täuschen der Geister! In dir gibt es Netze der Laster und Fallen des Bösen, in dir durchbohrt der Pfeil der Hölle die Herzen der Naiven …  O gesegnete Schule, in der Christus unsere Herzen unterweist … Dort wird kein Buch gekauft, kein Schreibmeister beschäftigt, es gibt keine täuschenden Disputationen, kein Gewirr von Sophistereien, dort ist die klare Lösung aller Fragen.

Im gleichen Jahr schreibt Johann an Thomas Beckett: Dort sah ich solche Mengen an Lebensmitteln, ein so fröhliches Volk, solchen Respekt gegenüber dem Klerus, die Würde und den Ruhm der ganzen Kirche, die verschiedenen Beschäftigungen der Philosophierenden - ich sah und bewunderte das so, wie Jakob die Leiter bestaunte, deren Spitze bis zum Himmel reichte und auf der die Engel auf- und niederstiegen

 

Um 1225 schreibt Jakob von Vitry über die aus Schülern, Lehrern und Prostituierten gemischte Bevölkerung in Paris (siehe Großkapitel: Körper4). Christlich moralisierend heißt es zudem:

Fast alle Pariser Gelehrten, Fremde wie Einheimische, beschäftigten sich mit nichts anderem als dem, etwas Neues zu lernen oder zu hören. Die einen lernten, um viel zu wissen. Das ist Neugier. Die anderen (lernten), um bekannt zu werden. Das ist Eitelkeit. Wieder andere (lernten), um Geld zu verdienen. Das ist Gier und das Übel der Simonie. Wenige jedoch lernten, um erbaut zu werden und zu erbauen. (Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 7 – Mittelalter (hypotheses.org))

 

Scholaren sind rechtlich ungeweihte Kleriker. Sie tragen eine Tonsur und eine der des Klerus verwandte Kleidung. Dennoch sind sie in einem städtischen Umfeld wohl die am meisten sozialer Kontrolle entzogenen Menschen ihrer Zeit und gerade der Pubertät entwachsende Jugendliche. Diese Ungebundenheit betrifft wohl zu allererst ihre jung erblühte Geschlechtlichkeit, aber auch ihre kritische Distanz zur Kirche. Aus Scholaren werden manchmal umherziehende Vaganten werden, deren antiklerikaler Spott sich dann in Texten wie denen der 'Carmina Burana' zur Gänze entfalten wird.

 

In einem lateinischen Vagantengedicht schwäbischer Scholaren in Paris heißt es in der Übersetzung von Langosch: In das fremde Frankenreich / Ruft das Studium (studia) mich jetzt gleich. / Ich muss wandern, / Lass' die andern / Weinend nun im Rücken. / Ihr Scholaren, klagt mit mir, / Die der nahe Abschied schier / Traurig muss bedrücken. (In Rexroth, S. 237)

 

Geklagt wird gerne über das fehlende Geld, manche müssen bei geistlichen Herren um Stipendien bitten, insbesondere Söhne aus  Familien des niederen Adels, der ärmeren Ministerialenfamilien oder bald auch der bäuerlichen Oberschicht. Knaben aus höherem Adel werden Propsteien zugeschustert, um das Studium zu finanzieren. Otto von Freising erhält seinen Unterhalt aus dem Klosterneuburger Stift und zusätzlich aus direkten Zuschüssen seines markgräflichen Vaters. So jemand reist dann mit Tutor und Bediensteten nach Paris (EhlersOtto, S.39).

 

Universitäten

 

Der Begriff universitas bezeichnet im 12. Jahrhundert eine Körperschaft, die alle Menschen einer Definition zusammenfasst, eine Allgemeinheit oder Gemeinschaft. Solche universitates im akademischen Raum bilden sich um 1200 in Bologna, Paris und Oxford aus dem heraus, was im 12. Jahrhundert als scholae bezeichnet wird, den Gemeinschaften von Lehrern mit ihren Schülern.

 

In italienischen Städten und vor allem in Bologna konzentrieren sich im 12. Jahrhundert immer mehr Lehrer, die sich mit dem Kirchenrecht und vor allem mit dem antiken römischen Recht der Kaiserzeit beschäftigen. Diese römische Antike besaß andere Strukturen, aber dafür eine Form entwickelter Staatlichkeit, an der sich die Machtstrukturen des lateinischen Abendlandes zunehmend orientieren möchten. Solche belesene Juristen werden so zu Dienern der neuartigen Mächte. Als erster näher fassbar taucht zwischen 1116 und 1140 in Bologna ein Irnerius auf, dann Gratian, der im Decretum Gratiani das Kirchenrecht zusammenträgt.

 

Als Friedrich Barbarossa 1155 nach Bologna kommt, legten ihm die scolares, die studium exercere volentes eine Bittschrift in Gedichtform vor, die um Schutz für den Weg von und nach Bologna bittet. Der Kaiser stellt die Scholaren von Bologna unter seinen besonderen Schutz: Aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden (amore scientie facti exules), aus Reichen zu Armen, entäußern sie sich selbst, setzen ihr Leben allen Gefahren aus und erdulden oft von den gemeinsten Menschen unverschuldet körperlichen Schaden. (KellerBegrenzung, S.310) Natürlich werden damit die studentischen Reisewege nicht wirklich sicherer.

Man kann im Nachherein auch sagen, die Herrscher entdecken das Potential des Studiums des Rechtes der antiken Kaiserzeit und möchten es nutzen. Die Privilegierung von Universitäten als ihre Gründungsurkunde schafft ihr somit Freiräume, allerdings nur soweit, wie sie kirchliche wie weltliche Macht nicht bedrohen. Das wird so bleiben. 

 

In Bologna stellt Barbarossa die Scholaren außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit. 1189 verspricht der Rat von Bologna "dem Juristen Lothat, der aus Cremona stammte, ihn nicht durch Eide mehr als üblich an den städtischen Dienst zu binden und seine Lehrtätigkeit weder zu verbieten noch diese zu erzwingen. Lothar seinerseits schwor, nur in Bologna und nirgendwo sonst das Recht zu lehren, niemals den Schulbetrieb der Stadt zu schädigen und den Rat sofort zu verständigen, wenn er von entsprechenden Absichten anderer Lehrer erfuhr; außerdem wollte er sein Fachwissen dem Rat der Stadt sowie den Behörden der Stadtverwaltung zur Verfügung stellen." (Borgolte, S307)

 

Die Studenten bilden bald danach Nationen und dann, "den Zünften oder gar einer Kommune vergleichbar, eine >Universität< unter selbstbestimmter Leitung, eine Körperschaft, die in die Gemeinschaften der >Cismontani< und der >Ultramontani< der von diesseits und jenseits der Alpen Stammenden, gegliedert ist. Sie bestellen und bezahlen die Professoren, die einer strengen Kontrolle unterworfen werden: Wer mit dem Stoff nicht durchkommt, muss Hörgeld zurückgeben, wer nicht mit dem Läuten der Vorlesung begann, erhält einen Abzug.“ (KellerBegrenzung, S.311)

 

1222 kommt es zu Konflikten zwischen Universität und Gemeinde, was zur Flucht eines Teils der gelehrten Gemeinschaft nach Padua und zur Gründung einer neuen Universität dort führt. 

 

Seit den Zeiten Abaelards nimmt die Bedeutung der Kathedralschulen in Chartres, Laon und Reims langsam ab, und zwar in dem Maße, in dem die der Pariser Schulen steigt.

 

Die Pariser Schulen insbesondere auf dem linken Seine-Ufer und der Île de la Cité wachsen im 12. Jahrhundert immer mehr zu dem zusammen, was Rexroth ein "Schulenmilieu" nennt. Ab etwa 1180 werden dann Vorlesungen bekannt, mit denen ein Neuankömmlung sich um ein Magisterium bewirbt, was Rexroth "Antrittsvorlesungen" (in Anführungsstrichen) nennt (S.318) Bald sind nach Schätzungen rund 130 Magister vertreten, die wohl über 3000 Scholaren unterrichten. Paris wird immer mehr auch von seinen Schulen geprägt.

 

Ist die Universität von Bologna wie später auch die von Neapel eine durchaus weltliche Einrichtung, so wird die von Paris mit ihren überwiegend klerikalen Schülern von vorneherein in das hierarchische System der Kirche eingebunden, wobei der Bischof und unter ihm der Kanzler über Lehrer und Schüler „regieren“. Dagegen schließen sich die Professoren um 1201 zu einer universitas der Lehrenden und Lernenden zusammen, für eine eigene Gerichtsbarkeit auch um neue Lehrende berufen zu können und so über die inhaltliche Ausrichtung zu bestimmen. Der Bischof muss sie dann bestätigen. 1200 gibt es dazu das Scholarenprivileg Philipps II., in dem die Studenten der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Die Universität unterstellt sich dem Papst und erhält von ihm 1215 die Bestätigung ihrer Satzungen mit vielen Detailregelungen wie einer Kleiderordnung, einer Liste verbotener Texte oder der Verpflichtung des Scholaren auf einen bestimmten Magister. 

Als klerikale Einrichtung ist die Sprache der Lehre Latein, und ein Mittellatein dürfte wohl auch die Umgangssprache untereinander gewesen sein, - in einer Umwelt, die ein altes Französisch spricht, welches sich schon weit vom Lateinischen entfernt hat.

 

Schon 1208/09 wird in einem Brief von Papst Innozenz III. deutlich, dass die Institutionalisierung der Pariser universitas auch Disziplinierung gegen übermäßige Freiheiten ist. Einige nämlich "trügen unangemessene Kleidung, hielten die gebotene Ordnung der Vorlesungen und Disputationen nicht ein und ignorierten die Memorialgemeinschaft der Kleriker, wenn ein Kleriker gestorben sei." (Rexroth, S.321) Nicht klar ist, wieviel von dieser Ordnung vom Papst aufoktroyiert wird und was sich die Universität selbst als Satzung gibt.

 

1221 taucht die Bezeichnung von der universitas der Pariser Lehrer und Schüler (universitas magistrorum et scolarium Parisiensium) zum ersten Mal auf und 1222 sind die Studenten bereits in Nationen geteilt. 1231 erfolgt die endgültige päpstliche Anerkennung in Gregors Bulle 'Parens scientiarum', die der Universität sogar eine Art Streikrecht zugesteht (Favier) und eine Vielzahl von Einzelheiten festlegt. 

In Bologna wie in Neapel später werden nur die Rechte gelehrt, in Paris dagegen die vier Fakultäten der Artes (Theologen, Artisten, Kanonisten, Mediziner), während das Zivilrecht nach Orléans ausgelagert ist. Der Unterricht findet beim Lehrer zu Hause oder in angemieteten Räumen statt.  Die Hohe Schule wird zum Wirtschaftsfaktor. 

 

Private Investoren und Stifter und Orden errichten bald Kollege für vielleicht fünf oder 10 Studenten, Namensgebend für die Universität wird später die Stiftung des Robert de Sorbon von 1257 für 20 Theologie-Studenten, die Ludwig IX. dann noch um mehrere Häuser erweitert. Bis ins 14. Jahrhundert werden solche Kollege größer. Sie nehmen Stipendiaten auf, erhalten Bibliotheken und werden dann öfter auch Ort von Lehranstalten. Andere dauerhafte Orte der Lehre werden von der Universität erst im 15. Jahrhundert erworben und vorher unterrichtet man oft auch in Kirchen, Kapellen oder im Freien.

 

Um dieselbe Zeit entsteht eine medizinische Fakultät in Montpellier, die 1220 päpstlich verliehene Statuten erhält. Als Juristen und Vertreter der Artes dazukommen, handelt es sich bereits um eine umfassende Universität. Aus Konflikten mit der Stadt und dem Auszug eines Teils der Pariser Universität 1229-31 folgt dann die Entstehung neuer Universitäten in Orléans und Angers.

Eine Besonderheit wird die Gründung einer Universität in Toulouse, die dem dortigen Grafen zur Rekatholisierung des okzitanischen Südens aufgezwungen wird. 

 

Etwa zugleich entwickelt  sich die Frühform einer Universität in Oxford. Im frühen 12. Jahrhundert lehrte dort ein Theobald von Étampes. Um 1180 liest dort Gerald of Wales den Doktoren der verschiedenen Fakultäten und ihren besten Schülern aus seinem Buch über Irland vor (Carpenter, S. 463) Um 1200 gibt es Fakultäten des Rechts, der artes und der Theologie. 1209 kommt es zum Konflikt um die akademische Freiheit, als nämlich ein Student eine Frau tötet und flüchtet und darauf Vertreter der Gemeinde drei seiner Mitbewohner ersatzweise ergreifen und aufhängen. Darauf flüchtet ein Teil der Universität in die Diözese Ely und gründete dort eine neue Universität (Cambridge).

Der Einrichtung wird darauf mehr Selbstverwaltung vom König (John "Lackland") gewährt, die um 1214 in der Einrichtung eines vom Bischof von Lincoln bestellten Kanzlers gipfelt. Als den Studenten dann auch bessere Lebensbedingungen in der Stadt eingeräumt werden, kehren sie zurück. Um 1216 taucht in Oxford die universitas der Magister in den Quellen auf. Der  Kanzler entwickelt sich dabei immer mehr zum Vertreter der Lehrenden und zum juristischen Herrn über die Studenten.

1231 erlässt Henry III Briefe an Oxford und Cambridge, in denen er von Aufmüpfigkeit der Studenten schreibt und diese dadurch beendet, dass jeder Student einem lehrenden Magister direkt unterstellt wird.

Um 1260 kommt es zu einer erneuten Abwanderung von Studenten und Magistern nach Northampton, was der König zunächst unterstützt, was aber dann zu Protesten des Bischofs von Oxford führt. Darauf nimmt Henry III Northampton seinen universitären Charakter und verpflichtet die Magister auf einen Eid, nur noch in Oxford oder Cambridge zu studieren. Wie man sieht, Universitäten sind und bleiben Herrschaftsinstrumente der Machthaber, von akademischer Freiheit kann keine Rede sein.

 

1254 erhebt Alfons X. von Kastilien und Leon, 'El Sabio' (der Weise), eine schon bestehende Schule in den Rang einer Universität. Bei ihm, wie bei Friedrich II., ist die Basis eine gewisse Bildung, Förderung von Literatur und Geschichtsschreibung, aber im Unterschied zum Staufer beschränkt er seine Einrichtung nicht auf das Rechtsstudium.

 

Das Wesen solcher Universitäten besteht vor allem darin, dass nicht mehrere (hohe) Schulen an einem Ort nebeneinander bestehen, sondern zu einer Institution zusammengefasst werden. Diese bildet eine beschworene Einung, die sich mehr oder weniger selbstverwaltet und tendentiell auf Autonomie auch betreffs der Inhalte der Lehre und Forschung besteht. So wie die städtische Kommune als Schwurgemeinschaft ist auch die Universität im Mittelalter eine Besonderheit des lateinischen Abendlandes.

 

Keller fasst Formen von Lehre und Vermittlung so zusammen: „Textanalyse aufgrund gemeinsamer Lektüre, Kommentierung, Eingrenzung und Aufgliederung des durch den Text und seine Konfrontation mit anderen Autoritäten gestellten Problems, argumentative Lösung, Einordnung in das übergreifende System. Fächer und Disziplin differenzierten sich.“ (Begrenzung, S.311) Das heißt, die Autoritäten werden nicht mehr einfach nur rezipiert, sondern argumentativ diskutiert.

 

Eine neue Form von Wissenschaftlichkeit mit philologischen Elementen konstituiert sich, die alle Chancen auf Innovation und Emanzipation vom Hergebrachten hat. Aber wirkliche gedankliche Freiheit wird erst im ganz späten Kapitalismus und nur in wenigen Bereichen möglich sein, jenen nämlich, die außerhalb des akademischen Rahmens nicht mehr wahrgenommen werden.

 

Die Entscheidung Friedrich Barbarossa, das Schwergewicht seines Interesses stärker nach Italien zu verlagern, vertieft das Phänomen einer deutschen "Rückständigkeit", welches in weithin fehlenden unmittelbaren antiken Traditionen seine erste Ursache hat.

Mit dem Aufkommen von Philosophie und Wissenschaften in Westfranzien im 11./12. Jahrhundert wird solche deutsche Rückständigkeit in diesen Dingen bereits deutlich. Der deutsche Klerus bleibt überwiegend deutlich ungebildeter, unbelesener, und es setzt von erlauchten Kreisen wie bei Gerhoch von Reichersberg und anderen eine Art anti-intellektuelle Reaktion ein, die nicht jede Bildung, aber eine allzu selbständiger Geister wie es Abaelard und Gilbert von Poitiers sind, vehement ablehnt. Mit der Verbindung von "Volk", "Nation" und "Staat" wird sich in den romanischen Ländern ein Bild von deutschen Barbaren herausbilden. Wenn Madame de Stael anfängt, dies für die Franzosen zu korrigieren, zeigt das, wie lange diese Vorstellung anhalten wird.

 

Aber es gibt nicht nur einen gelegentlichen Anti-Intellektualismus in deutschen Landen, sondern als Reaktion auf die neue Vernünftigkeit auch dort, wo sie entsteht. Hugo von St.Victor lehnt nicht nur die Gleichwertigkeit heidnisch-antiker Texte mit christlichen ab, sondern rechnet mit einer ganzen Zunft ab: Die Schriften der Philosophen wirken äußerlich durch den Glanz der Beredsamkeit und überdecken wie eine übertünchte schmutzige Wand den Dreck des Irrglaubens; wenn sie einmal den Anschein der Wahrheit vorgeben, mischen sie wie eingerührte Farbe Falsches darunter. (in EhlersOtto, S.72) Wer aus den Bahnen der neu sich entwickelnden Theologie ausbricht, geht in die Irre.

 

Wenn man sich eine Karte der europäischen Universitäten um 1300 anschaut, erkennt man schnell, dass sich unter den inzwischen mehr werdenden keine in deutschen Landen befindet. Bis 1300 gibt es aber rund 13 Universitäten, fast alle im Mittelmeerraum.Dazu gehören inzwischen auch Salamanca, Lissabon und Lérida.

 

Als Karl IV. als böhmischer Landesfürst 1348 die erste in seiner Residenzstadt Prag gründet, begründet er das damit, dass er nicht möchte, dass seine Untertanen weiter zum Studium nach Italien reisen müssen, wobei er insbesondere die Juristen meint.

(...) auf dass unsere getreuen Untertanen, die unablässig nach dem Genusse der Wissenschaften dürsten nicht gezwungen in der Fremde um Brocken zu betteln, im Königreich ihren gedeckten Tisch finden und dass diejenigen, die eine angeborene Feinheit der Anlage zu Ratgebern vorbestimmt, sich wissenschaftlich schulen können und nicht einfach genötigt sind, ja es für überflüssig halten, zur Erwerbung von Wissen den Erdkreis zu durchwandern, fremde Völker aufzusuchen (...) Wir (...) haben beschlossen (..) ein Generalstudium einzusetzen, einzurichten und neu zu schaffen. An diesem Studium soll es Doktoren, Magister und Scholaren geben in jeglicher Fakultät. (in: Monnet, S.45f)

 

Dieser pompös-propagandistische Ton, typisch für die Machthaber des späteren Mittelalters, verdeckt kaum, dass es sich um obrigkeits-staatliche und zugleich klerikale Einrichtungen handelt, die für die Herrscher Beamte, Juristen, Lehrer und Priester ausbilden sollen. Was man damals in Prag für Wissenschaft erklärte, wird deutlich in der Trauerrede des Prager Erzbischofs auf Karls IV. Tod:

Er besaß Sinn für die Wissenschaften. Wie jeder weiß, war er so gebildet, dass er als Gelehrter und Magister der Theologie hätte auftreten können, denn er erklärte die Psalmen verschiedentlich sehr schön, ebenso das Evangelium. (in: Monnet, S.47)

 

Finanziert wird die Prager Universität mit den Einkünften aus zwölf Dörfern in der Umgebung von Prag.

 

Wien, Erfurt und Heidelberg werden im 14. Jahrhundert noch folgen. . Am Ende der Herrschaft Karls IV. werden bereits rund 7000 Studenten eingeschrieben sein, die in vier nationes eingeteilt sind.

 

Aber in der Zahl der Juristen, der für die Machtausübung wichtigsten Berufsgruppe, wird um 1400 Italien an erster Stelle stehen, knapp gefolgt von Frankreich, welches immer noch zehn mal mehr Juristen besitzt als die deutschen Lande (Dirlmeiern, S.93).

 

 

 

Pariser Reglementierungen

 

Im 13. Jahrhundert kommt es zu zwei einschneidenden Entwicklungen. Die eine betrifft Versuche der Kirche, die Kontrolle über die Hochschulen auszuweiten, und die andere den massiv zunehmenden Einfluss der Bettelorden auf Studium und Lehre.

 

Kirche: 1210 spricht eine Pariser Synode ein Verbot aus, die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles oder die Kommentare dazu in Paris öffentlich oder insgeheim zu lesen. Fünf Jahre später wird seine Metaphysik verboten, was Papst Gregor IX. 1231 noch einmal wiederholt.

 

Die Probleme eines wieder erwachenden selbständigen Denkens geraten auf zweifache und sich oft überlappende Weisen in Konflikt mit der Kirche. Da gerät einmal der Rekurs auf vorchristliche Texte von hoher Qualität in Kollision mit der (pseudo)rationalen Konstruktion christlicher Doktrin. Das geschieht zum Beispiel, wenn antike Philosophen das „Eine“ denken und dieses Eine in der Religion dreifach bzw. als Dreifaltigkeit (Trinität) auftritt, was seriöserweise nicht denkbar ist. Oder wenn der judäochristliche Schöpfungsmythos durch die rationalere These von der Ewigkeit von „Welt“ ersetzt wird, die schon für Aristoteles galt und im 12./13. Jahrhundert wieder aufgegriffen wird. Ohne Schöpfung aber kein judäochristlicher Gott und übrigens auch kein arabisch-islamischer.

 

Genauso elementar wird es, den Intellekt im mittelalterlichen Wortsinn als einheitlich und einzig zu denken, und damit auf die Unsterblichkeit der individuellen „Seele“ zu verzichten. Da damit die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert würde, wird sich der Mainstream abendländischen Denkens bis in die frühe Neuzeit öffentlich nicht derart äußern können und auch wenig geneigt sein, sich einen solchen Gedanken überhaupt zu leisten. Immerhin liegt es in der Natur des Menschen, nichts zu denken, was dem eigenen Leben gefährlich werden könnte. Die wenigen Ausnahmen mit tödlichem Ausgang bestätigen die Regel. In Zivilisationen ist ohnehin für die allermeisten Menschen Selbstdenken eine gefährliche Abartigkeit, der ohnehin nicht verfällt, wer die enormen Mühen der persönlichen Befreiung aus der Allgegenwart von der Macht betriebener Propaganda nicht extra auf sich nimmt.

 

Im Konflikt mit dem Bischof von Paris muss die dortige Universität ihre Selbständigkeit im Bund mit den Päpsten behaupten.

1270 verdammt Bischof Stephan von Tempier den Averroismus in 13 "Irrtümern", 1274/77 jede Form von Aristoteles-Anhängerschaft mit 219 "Irrtümern", was sogar den Thomismus des Aquinaten betrifft. Siger von Brabant muss fliehen und erhält sein Denkmal bei Dante. Die Artisten stehen seitdem unter enger Zensur und die Theologen geraten unter engere päpstliche Aufsicht. 

Dafür kann sich von nun an das Studium des Rechts in Paris freier entfalten und wird zum Karriereweg auch für bürgerliche Jugend, weil man so in den Dienst des Königs, des Hochadels, der Kirche und der Städte treten kann. Hier und an den anderen Universitäten entsteht die dienstbare Beamtenschaft für Verwaltungen, mit denen der moderne Staat sich entfaltet: Eine immer weniger politisch-inhaltlich ambitionierte Zwischengruppe zwischen Herrscher und seinen Untertanen, nach oben gehorsam und nach unten Druck ausübend..

 

Bettelorden: Franziskus hatte Gelehrsamkeit auf dem Weg zur Heiligkeit abgelehnt. Das hindert  Franziskaner nach ihm bald nicht mehr daran, sich in die belesenen Diskurse der Zeit einzumischen. Mit Franziskus geschieht sehr früh das, was bei Jesus etwas länger dauerte: Die wesentlichen Positionen werden ignoriert. Die Dominikaner wiederum, bewusst als Predigerorden gegen die Ketzer gegründet, legen von vorneherein mehr Wert auf Gelehrsamkeit.

Neben die hohen Schulen unter der Kontrolle von Kirche oder der etwas offeneren der weltlichen Macht tritt im 13./14. Jahrhundert die „außeruniversitäre“ Lehrtätigkeit wie die des franziskanischen Bonaventura, des dominikanischen Thomas von Aquin oder des Albertus Magnus in Köln.

Nur in Paris versuchen Bettelmönche, sich in die universitären Sphären von Logik und Theologie zu integrieren.

Der englische Scholastiker Alexander von Hales tritt 1236 den Franziskanern bei und behält seinen Lehrstuhl, der dann zu einem franziskanischen wird. Zwei sichern sich etwa in derselben Zeit die Dominikaner.

 

Gegen diese Mendikanten an der Universität wenden sich die übrigen Lehrer 1252 unter der Führung von Wilhelm von Saint-Amour. König und Papst wierum sympathisieren mit den Bettelorden, die inzwischen auch antikaiserliche Werkzeuge sind. Ludwig IX. neigt zu einer Teilung der Universität, wogegen sich Papst Alexander IV. wendet, der Wilhelm sogar die Lehrerlaubnis entzieht. 1257 werden Thomas von Aquin und der franziskanische Bonaventura nur auf päpstlichen Druck hin geschützt. In diesen Konflikt spielt der größere zwischen einem französischen Episkopalismus mit seiner Betonung bischöflicher Eigenständigkeit in eigenen Angelegenheiten und der Unterstützung eines päpstlichen Zentralismus durch die Bettelorden hinein.

Ansonsten findet Konkurrenz und kritische Auseinandersetzung nicht nur zwischen den beiden Orden statt, sondern auch innerhalb von ihnen. Dabei kann es auch mehr und mehr zu Lehrverboten, Verurteilungen und Schlimmerem kommen. Dafür erscheinen nun Texte von Ruteboeuf und Adam de la Halle, die die Bettelorden angreifen.

 

Verwissenschaftlichung (in Arbeit)

 

Bis nach 1240 lebt Leonardo Fibonacci, ein Kaufmann aus Pisa, der bei Reisen in Nordafrika und Syrien die indisch-arabischen Ziffern und damit damals mögliche Rechenoperationen kennenlernt, darüber forscht und das dann auch veröffentlicht. Aus dem arabischen Raum wird auch ein stärkeres lateinisches Interesse an der Geometrie inspiriert.

 

Das Interesse Kaiser Friedrich II. an Mathematik und Geometrie sowie seine persönlichen Beziehungen zu Fibonacci und anderen zeigt, wie der despotische Trend zu neuer Staatlichkeit auf das engste mit dem Aufstieg dieser Wissenschaften und zugleich des Kapitalismus verbunden ist. Die Art, wie sich solche Wissenschaftlichkeit weiterentwickelt, wird nur durch solche Zusammenhänge erklärlich sein.

Die Mathematik hatte eine erste abendländische Blüte in den griechischen Handelsstädten gehabt. Sie war in ihrer Entwicklung gehemmt worden, als damals Handelskapitalien keinen Kapitalismus ausgelöst hatten. Der neue, jetzt stattfindende Anlauf zur Verwandlung von Welt in ein Potential für Kapitalverwertung und Warenproduktion wird zugleich zur Mathematisierung von Welt, ihrer illusorischen Berechenbarkeit führen. Von der Auflösung der Welt als Lebensraum in eine zur Verwandlung von Welt in Formeln kalkulierbare wird sie zu einem technischen Projekt werden, so wie die Menschen darin als neuartige Untertanen in neuer Staatlichkeit.     

 

Wissenschaftlichkeit ist ein letztlich trügerisches Projekt, da es einmal die Wirklichkeit als Welt dem menschlichen Vernunftgebrauch unterwirft, der die göttliche Allmacht in dafür untaugliche menschliche Köpfe versetzt, zum anderen, indem es eine aus Erfahrung stammende (und natürlich immer fragwürdige) Plausibilität durch mathematisierbare Wahrheiten ersetzt, von denen behauptet wird, sie seien "den Dingen" immanent. Damit wird das, was einst als Schöpfung angesehen wurde, nun zum technischen Projekt einer "Natur", die damit gottgleichen Rang einnimmt, ohne dass sie als Subjekt überhaupt erfahrbar ist. Sie bleibt Objekt tendenziell zunehmend irregeleiteter Menschen.

 

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Der Versuch, sich aus den engen Fesseln kirchlicher Dogmatik zu befreien, indem man zunächst seine Gedanken nicht gegen sie, sondern auf Pfade an ihr vorbei richtet, macht deutlich, dass stärker an die Antike anknüpfendes neues Philosophieren im damaligen Wortsinn sich darauf vorbereitet, Aufgaben der Religion zur Welterklärung zu übernehmen. Der Einsatz der Vernunft, also logischer Mittel, macht das Denken zu einem Surrogat für Glauben.

Deshalb nimmt im späten Mittelalter die Rezeption des Ordnungsdenkens des Aristoteles weiter zu. Der Versuch der systematischen Synthese von Religion und aristotelischer Vernunft hat seinen Höhepunkt schon mit Thomas von Aquin, danach bewegen sich Duns Scotus und William Ockham argumentierend in ganz kleinen Schritten dort heraus. Die Betonung der Erfahrung gegen das spekulative Philosophieren beim Machtmenschen Kaiser Friedrich II. wird aber bei der Philosophiererei keinen Nachfolger finden: Sie wird überwiegend in der Selbstverliebtheit des gedachten Wortes verharren. Die Befreiung des Denkens wird jenseits davon und jenseits von den Lehranstalten stattfinden. Dabei wird sie partiell der Selbstverliebtheit des eher einsamen Genius erliegen, da sich ihr kein diskursiver Raum mehr öffnet. Machiavelli wird ein Musterbeispiel dafür als früher neuzeitlicher Denker. 

 

Überhaupt hebt mit den Frühformen von Staatlichkeit politisches Denken an, auch wenn Politik als politeia noch eher in Begriffe wie polizey übersetzt wird. Die spekulativen Konstruktionen eines Dante oder Marsilius von Padua beginnen zwar, das Denken in vernünftigen Argumenten aus den Fängen sich unter die Kirche duckenden Glaubens zu befreien, sie reagieren auch auf Entwicklungen der Wirklichkeit, können sich aber nicht aus einem idealisierenden Menschenbild befreien. Nicht nur gewinnen sie keinen sonderlichen Einfluss, sie müssen sich auch in den Schutz derjenigen Mächtigen begeben, die sie gerne für sich instrumentalisieren.

Das Politisieren jenseits eines auf Erfahrung beruhenden Menschenbildes, welches immer einmal wieder in utopisch-totalitären Unheilskonstruktionen endet, oder aber liebedienerisch den Mächtigen und den Machtstrukturen hinterherläuft, die sie oft auch finanzieren, wird dann im 19. Jahrhundert noch durch das spekulativ durchsetzte Soziologisieren ergänzt werden, dessen individuelle Fundamente oft so wenig offengelegt werden wie seine ideologische Durchsetztheit.

 

Mit dem neuerwachenden Interesse an den Himmelskörpern und der Ordnung, in der sie sich bewegen, kommt es im heutigen Wortsinn nicht nur zu einem Aufschwung der Astronomie, sondern auch der Astrologie, die beide noch eine Einheit bilden. Mit dem seit dem 13. Jahrhundert und dem zweiten staufischen Friedrich häufiger werdenden Amt des Hofastrologen wird deutlich, wie sehr Verwissenschaftlichung und Machtinteressen zusammengehören.

 

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Wenn die allermeisten Menschen bis heute mit Wissenschaften und Wissenschaftlichkeit auch nicht in Berührung kommen und eher mit ihnen auf Kriegsfuß stehen, so gibt es doch Punkte der Begegnung. Mit dem Aufschwung der Mathematik und der Technik beginnt nach dem ersten Maschinenzeitalter der Mühlen nun eines technischer Innovationen, welche den Lebensalltag der Menschen zunehmend verändert. Daraus entwickelt sich ein durchaus neuzeitlicher Technik-Optimismus, der sich seit dem 14. Jahrhundert bei immer mehr Menschen durchsetzt und seitdem jeder kritischen Auseinandersetzung widersteht. Das reicht von der Erfindung der Lesebrille, die sich aber nur wenige Betuchtere auf die Nase setzen können bis zur Erfindung mechanischer Uhren mit ihren Möglichkeiten der Reglementierung von Lohnarbeit. Im 13. Jahrhundert gibt es die ersten Papiermühlen in Italien, gegen Ende des 14. Jahrhunderts verbreiten sie sich nördlich der Alpen, wobei sich Papier aber erst im 15. Jahrhundert verbreiten wird, als nicht mehr Baumwolle, sondern billigere Textilabfälle das Rohmaterial abgeben. Nun beginnen sich erst so richtig die Aktenberge in den Archiven zu stapeln: Die Verwaltung der meisten Menschen durch die zunehmende Zahl der Handlanger der Macht wird immer detaillierter, Staatlichkeit nimmt überhand.

 

Das anhebende späte Mittelalter, in dem der Kapitalismus irreversibel geworden ist, moderne Staatlichkeit sich in einzelnen Gegenden durchsetzt und zugleich, damit untrennbar verbunden, der sich vom kirchlichen Dogma lösende Forschergeist Fahrt aufnimmt, nimmt nun Dämonen, Geister und andere okkulte Wesen stärker in das sich verwissenschaftliche Denken auf, um die der Vernunft nicht erreichbaren Lücken zu schließen. Im verwissenschaftlichten Hexenwahn wird dann Wissenschaft zum ersten Mal ihre mörderische Seite offenbaren, die ihr als ein Aspekt geblieben ist.

 

Es werden im zwanzigsten Jahrhundert die begabtesten und fortgeschrittensten Physiker sein, die den atomaren Suizid der Menschheit möglich machen, der seitdem wie ein bewusst ständig verleugnetes Damoklesschwert über allem komplexerem Leben auf dem Planeten steht. Die nächsten Generationen von Wissenschaftlern werden nichts daraus lernen. Insofern wird der „philosophische“ Aufschwung, der im hohen Mittelalter einsetzt, ein enormer Rückschritt gegenüber allen jenen antiken Denkschulen sein, die Skepsis im weitesten Sinne gegen Gläubigkeit und übelste Formen ideologisierender Geschlossenheit eingesetzt hatten.

 

Wenn Verwissenschaftlichung auch die der Fragestellungen betrifft, auf die es keine Antworten außer Unfug geben kann, dann betrifft dies nicht nur die Fragen, die Kaiser Friedrich II. an seinen Hofgelehrten Michael Scotus stellte, wie die nach dem Ort der Residenz Gottes, nach dessen Verwaltung durch seinen himmlischen Hofstaat, nach den Namen von Geistern und Dämonen und dem Wirken Verstorbener aus einem Jenseits in das Diesseits. (siehe Stürner S. 416 zu Michaels 'Liber introductorius'); es betrifft vielmehr auch die in (pseudo)wissenschaftlichem Gewand auftretenden ideologischen Unterbauungen, mit denen "Geschichte" vorangetrieben wird bis Leute wie Lenin oder Hitler ihr massenhaftes Morden begründen werden.

 

Mit der für die Kirche noch viel bedrohlicheren Trennung beider im Verlauf der frühen Neuzeit wird Astrologie im modernen Sinne dann langsam absinken in die Welten jener, deren psychische Widerständigkeit gegen die Folgen der Verwissenschaftlichung sie bis heute in esoterische Bereiche eintauchen lässt, jene, in denen auch politische Theorien und Ideologieabfälle aller Arten landen.

 

****Magie und das Unheil der Vernunft****

 

Im Kern geht es beim menschlichen Bewusstsein um die Herstellung der Illusion einer stabilen Welt, die sich dem steten Werden und Vergehen entzieht. Nur aus ihr heraus bewältigen wir unseren Alltag. Sie wird wesentlich über Sprache, aber auch über Bilder hergestellt. Aber so wie wir gelegentlich wahrnehmen, dass wir uns selbst in Zeit und Raum bewegen, so wird uns auch sonst punktuell Bewegung bewusst.

Nicht die illusorische stabile Welt, sondern jeder Einbruch der wirklichen, bewegten, alles, was Unruhe ausmacht und in uns auslöst, veranlasst uns, nach Erklärungen zu suchen. Daraus resultiert das, was wir als magisches Weltbild bezeichnen können - eines, welches nach Ursache und Wirkung sucht und das in ein Handeln mit Absicht und Wirkung übersetzen möchte. Magisch ist jede Erklärung von Bewegung, die nicht auf Kenntnis beruht.

Die Alternative sei hier als Wissenschaftlichkeit bezeichnet, die sich auf überprüfbares Wissen bezieht. Sie beginnt überall dort, wo es in frühen Zivilisationen um Machtausübung und Kommerz geht, verbindet sich aber auch dort mit magischen Elementen.

So wie die jüdische Tempelpriesterschaft verlangt auch die Kirche das Monopol über magische Kenntnisse und Rituale. Mehr als die anderen beiden Schriftreligionen ist sie selbst auf Magie und magische Vorstellungen angewiesen, aber da sie mit ihnen so ausgiebig operiert, kann sie die volkstümlicheren unterhalb der kirchlichen Kontrolle bis ins 11. Jahrhundert kaum irgendwo abstellen. Das ändert sich mit der Zeit der Kirchenreform, als die Kirche ihren Zugriff auf die Menschen erweitert und dabei immer strenger dogmatisch wird. Aber ausgerechnet aus ihr heraus erwächst in derselben Zeit mit der Philosophie ein Zweig, der der kirchlichen und der volkstümlichen Magie die der Sprache unter Bedingungen des Vernunftgebrauchs entgegensetzt.

 

Im Kern geht es seit dem 12. Jahrhundert um die Lösung von Wissenschaftlichkeit aus einem religiös aufgeblasenen und verhärteten magischen Weltbild. Dabei kommt es zu einer immer massiveren Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. Während Abaelard im Anschluss an Aristoteles auf magische Momente verzichten kann, gewinnt sie in der Astrologie immer mehr Bedeutung im Zuge zunehmender Textproduktion, - und zeigt deren fatale Seite auf. Mitte des 13. Jahrhunderts veranlasst Alfonso X von Kastilien die Übersetzung eines 'Lapidario', in dem die Eigenschaften von Steinen und Mineralien in Beziehung gesetzt werden zu Einflüssen, die von den "Sternen" ausgehen. Ein anderes von ihm gefördertes Buch beschäftigt sich mit der Vorzeichenlehre.

 

Ganz anders entwickeln nun aber Handel und Finanzen einen auf Empirie beruhenden Vernunftgebrauch, der die Logik des Kapitals zu verstehen beginnt. Kapitalistisches Wirtschaften kennt keine andere Magie als die der Warenästhetik.

Man könnte ganz vergröbernd sagen, dass sich neben der immer dogmatischeren Kirche ein sprachmagisch operierendes Philosophieren als Idealisieren und ein ungebremster ökonomischer Materialismus breit machen, Bewegungen, die parallel bleiben und manchmal ungestört in einer Person nebeneinander existieren können. Alle drei operieren mit dem, was hier als das Unheil der Vernunft benannt werden soll. Dabei handelt es sich um das Verfertigen von Konstruktionen, die bei allen dreien logische Elemente enthalten, deren Voraussetzungen aber unhinterfragt bleiben: Eine unbelegbare jenseitig-überirdische Sphäre reiner Geistigkeit, was immer das sein mag, der Glaube an die Wirklichkeit von Wörter, die bloße Konstrukte des Denkens sind, und der Glaube an die Natürlichkeit des Verwertungszwangs von Kapital.

 

Gerne wird seit einiger Zeit von der Entzauberung der Welt im 16./17. Jahrhundert geredet, die aber, wenn es sie je gegeben hätte, ihre Anfänge im 11./12. Jahrhundert und dabei im Anschluss an antike Vorstellungen gehabt hätte. Was tatsächlich einsetzt, ist eine langsame Entzauberung der Natur durch ihre Vernutzung, die als ihre Beherrschung wahrgenommen wird. Ihr Zauber geht in eine sich rapide ausweitende Warenwelt ein, versinnbildlicht in der immer duetlicher werdenden Macht des Geldes.

Fortschritt in der Natur, ihre Geschichtlichkeit, wird erst im 19. Jahrhundert von ganz wenigen verstanden, während fast alle seitdem überhaupt kein wirklichkeitsnahes Naturverständnis mehr haben. Aber der Fortschritt als technischer, als Zunahme von Geld, Waren und Kapital bekommt seit dem hohen Mittelalter magische Qualitäten, die nun an Faszination jene ablösen, die einst von den Naturkräften ausgingen.

Dem faulen Zauber der sich verallgemeinernden Warenwelt wird im 18. und frühen 19. Jahrhundert mit einer poetisierenden Rückverzauberung der Welt geantwortet werden, ihrer Romantisierung als Ablehnung schnödester Wirklichkeit, einem Zauber, der dann in Kitsch und Schund verenden wird. Der Grundzug von tausend Jahren Kapitalismus aber - die meisten Menschen betreffend - ist Rückverzauberung als magische Besetzung von Warenkonsum.

 

 

Im übrigen wird die winzige Nische von Wissenschaftlichkeit, wie sie auch mein Text hier bejaht, bis tief ins 19. Jahrhundert von einer immer breiteren Front von sich bloß (pseudo)wissenschaftlich gebenden Autoren begleitet werden - die auch heute noch in der Öffentlichkeit überwiegend den Ton angeben. Und daneben existiert wie selbstverständlich die Ansicht, dass moralgesättigte Ideologie überall dort den Ton anzugeben habe, wo es nicht um Mathematik, Naturwissenschaft und Technik geht. Da das auch Schulen und in etwas geringerem Maße Universitäten betrifft, besteht auch in dieser Beziehung kein Grund, auf das Mittelalter herabzuschauen.

 

Intellektualität und Religion

 

Intellektualität soll hier einmal verstanden werden als ein Phänomen Weniger in den antiken Mittelmeer-Zivilisationen und zum anderen als dessen Neugewinnung und Anverwandlung seit dem hohen Mittelalter. Als sich selbst befreiendes Selbstdenken kann es immer nur als Vorgang von Befreiung verstanden werden und ist so abhängig von den jeweiligen Fesseln, aus denen es sich zu lösen gilt. Sie ist so auch immer beschränkt in den Umständen, die sie umgeben und gemeinhin zu ersticken suchen. 

 

Im hohen Mittelalter sind es die Freiheiten, die sich der aufblühende Kapitalismus herausnimmt, indem sie ihm gegeben werden, welche dem Denken bei seiner Befreiung helfen. Die beiden wichtigsten Fesseln sind der erwartete und in der Regel als selbstverständlich gegebene Gehorsam gegenüber der Gewalt der Macht und den ihr innewohnenden Denkverboten, die bis heute die Welt der Menschen weithin erfolgreich beherrschen, und zum anderen der nur allzu menschliche Wunsch, aus Angst Wahrheiten wie den Tod oder das Fehlen einer den menschlichen Gehirnstrukturen entsprechenden Sinnhaftigkeit des Lebens durch Glauben oder andere Formen von Erkenntnisverweigerung zu vermeiden.

 

Im hohen und späten Mittelalter entwickelt sich Intellektualität notgedrungen als ein Denken über die vorgegebene Religion hinaus und an ihr vorbei, anders gesagt, als gedankliche Befreiung von der Macht der Kirche, und sie ist zunehmend von Folter und grausamer Tötung bedroht. Intellektualität ist notwendig immer ein Aspekt von Dissidenz.

Vor dem Christentum bestand abendländische Weltsicht aus der Anerkennung und Erforschung von "Natur"kräften, die in mythischen Gestalten repräsentiert und kultisch verehrt wurden. In den entwickelten Zivilisationen wurden die Kulte in die Machtstrukturen eingebaut. Das Christentum, insbesondere seitdem es zunehmend rejudaisiert wurde, basiert dann auf der Satanisierung der Welt, in der die Naturkräfte walten und der Vergöttlichung eines Jenseits, in dem sie außer Kraft gesetzt sind. Die (Neu-)Entstehung von Intellektualität wendet dem Diesseits ein neues Interesse zu, so wie der Konsumismus einer immer reicher und breiter werdenden Oberschicht zugleich die Anfänge eines Kapitalismus anheizt.

Der Kapitalismus wiederum drängt nicht nur die Reste tradierter (Volks)Kultur zurück, sondern schafft sich immer mehr eigene Räume, in denen er alleine herrscht. Er ist ja Selbstentfesselungskünstler einer menschengemachten zweiten Natur auf der Basis der Kenntnis und Anwendung der Gesetze der vorgefundenen ersten. Die sprachliche Möglichkeit, Natur und Kapital jeweils als Subjekte darzustellen, enthält dabei -  dies ist wichtig anzumerken - ganz offensichtlich die Gefahr, wirkliche Subjektivität zu anonymisieren!

 

Parallel zur Logik des Kapitals lässt sich vermuten, dass zwischen 1100 und 1200 Einzelne imstande waren, sich eines judäochristlichen Gottesbegriffes als Voraussetzung ihres Denkens zu entledigen, auch wenn es keine entsprechenden Texte gibt, die die Betreffenden wohl auch das Leben gekostet hätten. Es waren vermutlich nicht die dem Klerus oder dem Mönchtum angehörenden bekannten Autoren. Aber um 1200 tauchen Quellen auf, die empört von Aussagen über die drei Betrüger Moses, Jesus/Christus und Mohammed berichten, und nach 1240 wird Kaiser Friedrich II. vermutlich fälschlich von der Papstkirche unterstellt, zu denen zu gehören, die so etwas verbreiten. 

Der Staufer betrieb eine Art eingeschränkter Duldung gegenüber Juden und Muslimen, denen er als eine Art Untertanen zweiter Klasse die Ausübung ihrer Religionen zugestand. Überhaupt scheint er in der Tradition normannischer Herrscher in Sizilien Religion und Kirche stärker bzw. rationaler nach ihrer Nützlichkeit für seine Machtausübung und seine Ansätze von Staatlichkeit hin betrachtet zu haben.

 

Der Gleichsetzung der drei vermeintlichen Religionsgründer (als Betrüger) entspricht eine Öffnung bei einzelnen abendländisch-christlich geprägten Intellektuellen seit dem 10. Jahrhundert für von Juden im islamischen  Raum und von Muslimen in die jeweilige Gegenwart transportierte antike Gelehrsamkeit. Ein wenig entsteht so etwas wie eine winzige transkontinentale, an der Mittelmeer-Antike orientierte geistige Gelehrtenrepublik, an der Cordoba, Toledo, Palermo, Salerno und wohl auch Foggia, auf jeden Fall aber auch Paris, Chartres und bald auch andere Orte beteiligt sind. Nicht nur der Betrugsvorwurf an alle drei (Schrift)Religionen. sondern auch und viel mehr noch ihre Beteiligung an der Aufbewahrung und Anverwandlung antiken Erbes relativiert den Absolutheitsanspruch der jeweiligen Religion und macht sie zunehmend mehr bei ersten Einzelnen zur Trägersubstanz für intelligenteres Denken.

 

In diesen Vorgängen wird das Christentum größeren Schaden nehmen als die anderen Religionen, da es mehr als diese Elemente des Unglaublich-Mysteriösen enthält wie die Dreifaltigkeit des einen Gottes, die göttliche Zeugung und Jungfrauengeburt Jesu, die Transsubstantiation in der Messe, die Wundertätigkeit von Reliquien und so manches mehr. War es einzelnen Intellektuellen in der islamischen Welt schon gelungen, grob gesagt zwischen Religion als Glaube für das dumme Volk und freiem Denken des Intellektuellen zu unterscheiden, so verleitete das Unglaubhaft-Mysteriöse speziell im Christentum auch nichtintellektuelle Menschen sicherlich zumindest situativ zum Zweifel an dem einen und anderen. 

 

Wenn Päpste Kaiser Friedrich II. beginnen vorzuwerfen, er bezweifle diese offenkundig unglaubwürdigen Aspekte, dann sind sie der Kirche ebenso offenkundig als solche (die man nur glauben kann) bewusst. Das Volk und insbesondere das entstehende neue Bürgertum, welches sein Bewusstsein und damit seine Welt immer stärker kompartmentalisiert, wird vornehmlich stillschweigend der Abteilung Religion, die institutionell ganz auf die Kirche beschränkt ist, immer mehr Bedeutung entziehen, indem es sie nun unabhängiger von den kirchlichen Institutionen für ihre Bedürfnisse herrichtet und dabei die Kirche hinter sich herzieht. Dieser Vorgang wird erst am Ausgang des Mittelalters (welches genau damit auch endet) abgeschlossen mit dem geistigen Abschluss der römischen Kirche von den außerkirchlichen Entwicklungen und einem diesen Anpassungsprozess nun übernehmenden Protestantismus.

      

Zwei große Erschütterungen werden diese erste Phase der Säkularisierung beschleunigen. Einmal der Konflikt zwischen Papstkirche und weltlicher Macht um den sogenannten Investiturstreit herum und zum zweiten und viel stärker noch der, welcher mit Kaiser Friedrich II. vor allem verbunden ist.

Die Weltuntergangsphantasien, die der evangelische Jesus von älteren jüdischen Texten übernommen hatte, tauchen im Verlauf des Mittelalters immer wieder neu auf, in der wortwörtlichen Akzeptanz des sogenannten Offenbarung (Apokalypse) des Johannes seit dem 12. Jahrhundert wieder virulenter werdend. Wenn der Kaiser 1239 in der Sprache dieser Apokalypse Kaiser Friedrich verdammt, wird die christliche Welt von einem ungeheuerlichen Bruch zwischen kirchenchristlicher Welt und weltlicher Macht erschüttert:

Es steigt aus dem Meer eine bestia voller Namen der Lästerung, die mit den Tatzen eines Bären und dem Rachen eines Löwen wütet und an den übrigen Gliedern gestaltet wie ein Panther sein Paul zu Lästerungen des göttlichen Namen öffnet und nicht aufhört, auf Gottes Zelt und die Heiligen, die im Himmel wohnen, die gleichen Speere schleudert. ( Enzyklika Gregors IX. vom Juni 1239)

 

Was derart Angst machen soll, die Bildersprache romanischer Kleinplastiken mitten in der sich entfaltenden Gotik, wird bei den Gegnern Zweifel an der Autorität der Kirche vertiefen. Und die Möglichkeit des Zweifels, einmal anerkannt, wird die Autoritäten bei Menschen mit der Neigung zum Selberdenken unter der Gegnerschaft zu solchen Kirchenfürsten weiter ins Wanken bringen, denn sie wird nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein.

 

(ff)

 

Recht (in Arbeit)

 

Bekanntlich sind Recht und Gerechtigkeit zwei sehr verschiedene Konzepte. Das Recht legitimiert Macht, die von Herren nämlich, die es durchsetzen und mit Gewalt aufrechterhalten, und die von Kapitaleignern, die für den Ausbau von Reichtum für wenige zuständig sind. Recht ist die Möglichkeit, Gewaltverhältnisse friedlich kaschieren zu können. Als Alternative zu ständigen anarchischen Gewaltausbrüchen wird es im lateinischen Mittelalter und bis heute meist auch von denen akzeptiert, die als 90 oder 99% der Menschen bei der Rechtsetzung nichts zu sagen haben. Erst wo die Gewalttätigkeit von Zivilisierungsprozessen einsetzt, legitimiert sich Recht als Machtmittel von entstehenden Machthabern.

Gerechtigkeit ist ein vorzivilisatorisches Konzept, welches auf dem Doppel von Erfahrung und Tradition beruht. Sie wird nirgendwo in schriftlicher Form als aufokroyiert auftauchen, da Tradition immer auch Veränderung bedeutet. Ihr Wesen besteht in Regeln, die als für möglichst viele zufriedenstellend gelten. Ungerechtes Verhalten ruft dann nach Genugtuung, die Gerechtigkeit wiederherstellt. Als satisfactio zunächst noch ins Mittelalter eingegangen, wird sie im Verlauf von diesem immer mehr durch Strafkataloge abgelöst, die den Mächtigen zu Gute kommen und die Genugtuung der Geschädigten entmaterialisieren: Sie bekommen keine entsprechende Gegenleistung mehr und müssen sich damit abfinden, dass sie (auch hier) nicht mehr zuständig sind. Heutzutage werden die Opfer sogar dazu verpflichtet, die Verwahrung und Alimentierung der Täter mitzufinanzieren, die insgesamt enorme Summen ausmacht. Dabei schützt der Staat die Täter vor den Opfern und nicht umgekehrt. Jede Vorstellung von Gerechtigkeit ist damit inzwischen auf den Kopf gestellt.

 

Bevor es zu allgemeinem Recht kommt, ein Vorgang, der sich bis in die sogenannte Neuzeit hinein hinzieht, sammeln die Mächtigen Rechte (in der Mehrzahl!) an, die oft als Privilegien bezeichnet werden. Zu deren korrekter Niederschrift gibt es immer mehr Notare und zur Durchsetzung neben handfester Gewalt die Advokaten. Die Nutzung beider verlangt (bis heute) einen erheblichen Aufwand an Geld, weswegen Recht nicht nur mit Macht, sondern auch mit Reichtum Hand in Hand geht.

 

Für die deutschen Lande bedeutet das zum Beispiel folgendes: Neben der Trierer Ofizialatskurie betreibt der Erzbischof gegen Ende des 13. Jahrhunderts eine zweite in Koblenz. Diese beiden sind "ein entscheidendes Instrumentarium zur Durchsetzung seiner Herrschaft" mit den Mitteln des Rechtes. In Trier alleine hat der Offizial einen "Stab von schätzungsweise 150-200 juristisch versierten Rechtsverrtetern, Advokaten, Notaren und Mitarbeitern mit engen, sich teilweise überlappenden Verbindungen zu den erzbischöflichen Klerikern und Kaplanen..."(Burgart in: Anton/Haverkamp, S.380) 

 

Neben solchen festangestellten Notaren gibt es die selbständigen, die allen zahlenden Kunden zur Verfügung stehen. Vermutlich unterrichten sie angehende Juristen, die nach der Ausbildung im 14. Jahrhundert vom Kaiser, Papst oder von diesen beauftragten ein Zertifikat erhalten, welches sie zur Ausübung ihres Berufes ermächtigt. 

1381 gründen in Trier 26 Personen eine Juristen- und Notarsbruderschaft als Interessenvertretung.

 

ff

 

 

Schriftstellerei: Der Literat

 

Im 13. Jahrhundert kommt auch das auf, was ich hier einmal als Schriftstellerei in einem engeren Sinne bezeichnen möchte. Es handelt sich um ein gebildetes, aber nicht immer sehr nach Wissenschaftlichkeit strebendes Literatentum, um wenig spezialisierte Autoren, die ein weites Feld mit einem über den durchschnittlichen Anspruch schlichter Unterhaltung hinausgehender Ernsthaftigkeit beackern und dabei "Weltanschauung" verbreiten.

 

Ein früher Protagonist ist der um 1235 auf Mallorca geborene Ramón Lull, der zunächst als Ritterssohn an den Vergnügungen höfischer Gesellschaft am Königshof teilnimmt, um dann in seinen Dreißigern recht plötzlich in christliche Frömmigkeit zu verfallen. Er verlässt Frau, Kinder und Güter und nimmt sich vor, zur Bekehrung von Muslimen zum Christentum beizutragen. Er lernt Arabisch, was er besser beherrschen soll als Latein, lehrt an der Pariser Universität und unternimmt Missionsreisen nach Nordafrika, wo er wenig willkommen ist und auf der letzten laut legendären Berichten gesteinigt wird, und gerade so nach Mallorca gerettet werden kann, wo er an den Verletzungen stirbt.

 

Dieser Raimundus Lull schreibt "über Gott und die Welt", über Philosophie, Alchemie, Astrologie, Medizin und vieles mehr. In einem Buch konfrontiert er einen Heiden (gentil) mit drei Weisen (savis), die ihn jeweils von ihrer Religion und damit von der Existenz Gottes überzeugen wollen, wobei er als Christ relativ offen bleibt. Ein anderer Text erzählt die Geschichte eines Bürgersohnes und einer Adeligen, die sich in einen Bischof und eine Äbtissin verwandeln. Im 'Llibre de meravelles' reist einer umher und erlebt die göttlichen Wunderbarkeiten und menschlichen Schlechtigkeiten der Welt.

 

Solche "gebildeten" Literaten und Allesschreiber dienen vor allem der Popularisierung und Vereinfachung von Kenntnissen. Dabei tritt Lull als (Ver)Mittler zwischen den christlichen, jüdischen und islamischen Welten der Zeit auf. Das betrifft vor allem seine Texte zur Logik mit ihrer Tendenz zum Vernunftoptimismus, in denen er nach Methoden zur Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit sucht.

Mit seinen Texten wird er zu einem Vorläufer von Dante, der Generationen später ebenfalls in der Volkssprache versuchen wird, Summen des bisherigen Kenntnissstandes als Literat zu verbreiten.

 

Andere Literaten bedienen ein gehobenes Unterhaltungsbedürfnis, wie zum Beispiel die Autoren mittelhochdeutscher Rittergeschichten. Der Unterhaltung des englischen Königshofes dient ein Walter Map in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit seinen Geschichten. Entsprechend setzt sich die Volkssprache der weniger Gebildeten als Medium durch. Dabei unterliegt das Okzitanische nach der Annektion durch die französische Krone dem Mittelfranzösischen des Nordens und wird nach und nach verdrängt. Sprache ist Ausdruck und Medium von Macht.

 

Mit Dante tritt die "Literatur" als Dichtkunst in ein neues Stadium. Aus den Banalitäten der Erotisierung des Sexus und der Romantisierung des Rittertums entwächst er in ihre philosophisch durchsetzte Idealisierung, zunächst für ein vornehmes Städtebürgertum mit Adelsanspruch und viel Kapital im Hintergrund, um nach einem gescheiterten Ausflug in die Barbarei der städtischen Politik in die höfische Klientel von norditalienischen Gewaltherrschern zu entfliehen. Dort entsteht in kunstvollen Reimen der gehobenen Volkssprache mit der 'Divina Comedia' der Versuch, einer benannten grauenhaften Wirklichkeit menschlichen Handelns in die begrifflichen Nebel eines summum bonum zu entkommen, dem er notdürftige, scheinbar christliche Züge unterschiebt. Literatur wird von schierer höfischer Unterhaltung in kunstvollen, hochbelesenen Eskapismus veredelt, die sprachliche Begleitung der ersten Hochblüte des Kapitalismus, wie sie sich auch in den Formen der bildenden Künste und der Musik darstellt. 

Nirgendwo wird das deutlicher als am Anfang des 'Inferno', wo der Dichter der grausigen Wildnis der Wirklichkeit in die Dichtkunst entweicht. Vergil wird den Dichter in seiner Dichtung retten. Kunst löst Pholosophie und Religion ab, indem sie sie ersetzt. (siehe Anhang 21 zu Dante).

 

Finanziert von Kirche und weltlichen Machthabern, baut Petrarca die Rolle des lebenslangen erbaulichen Schriftstellers aus, die dann bei Bocaccio die Novelle aus ihren phantastischen in realistische Welten überführt. Diese Literatur ist teuer, da noch der Buchdruck und das Papier fehlen, und sie ist darum nur einer kleinen wohlhabenden Schicht zugänglich. Wenn sie dann viel später erschwinglicher wird, wird sich herausstellen, dass sie weiterhin bei den meisten Menschen auf kein Interesse stößt. Die Faustregel wird bleiben, je minderwertiger Literatur hingeschludert wird, desto größer ihr Leserkreis.

 

Die Verslegende Keisir vnde keisirin über Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kunigunde von Ebernand von Erfurt um 1220/30 ist mit seinen etwa 4700 Verszeilen eines der frühesten Zeugnisse gebildeter stadtbürgerlicher Dichtung.

Neu ist, dass er  mit mine zungen spricht und zwar daz ich diz brêhte in dûtesch rim, nämlich die seiner thüringischen Mundart. Für ihn ist das offenbar ein Erstlingswerk, denn er hat nun ze tihtenne gevangen ane, aber vielleicht ist ihm auch bewusst, dass solch bürgerliche Dichtung überhaupt etwas neues ist. 

 

 

Das Amüsiergewerbe

 

Die Kritik von Kirche und Bettelmönchen am Amüsiergewerbe bleibt bestehen. Insbesondere die Zurschaustellung von Frauen wird weiter kritisiert, sowohl in Schauspielen wie bei Tänzerinnen. Berthold von Regensburg zum Beispiel wendet sich gegen die gumpelliude, giger und tamburer (Possenreißer, Geiger, Trommler) und dagegen, dass sich die Spielleute über die Frommen lustig machen. (Hartung, S.137)

Langsam werden aber kunstvollere Musik und Gesang davon unterschieden und das Besingen von Heldentaten. Verurteilt werden weiter zum Beispiel von Albertus Magnus diejenigen Schauspieler, die nackt herumlaufen, ihre Scham schändlich entblößen und zu schandbarem Tun herausfordern. (in: Hartung, S.141)

Der Graben zwischen Lebenspraxis und kirchlicher Doktrin wird selbst bei den geistlichen hohen Herren immer größer.

 

An den Höfen des lateinischen Mittelmeerraumes und bei den städtischen Reichen und Mächtigen ist das Amüsiergewerbe inzwischen eine unabdingbare Würze des Alltags. Ende des 13. Jahrhunderts legt Jaume II. von Mallorca, Förderer von Ramon Llull, in seiner Palastordnung fest:

An den Höfen des Fürsten dürfen die Spielleute (mimi seu joculatores) sehr wohl verweilen. Denn ihr Tun trägt zur Fröhlichkeit bei, welche die Fürsten eifrig anstreben und ehrenhaft erhalten sollen. Denn durch sie können sie Trauer und Zorn ablegen und sich allen gnädig erweisen. (in: Hartung, S.185)

An den Höfen der Montferrat, Malaspina, Este und Gonzaga mit ihren rauschenden Festen gilt das ohnehin als selbstverständlich. In seiner 'Summa de arte prosandi' kommentiert das Petrus Cantor schon im späten 12. Jahrhundert abwertend:

Ferner versammelt sich alles, was an Völkern, Berufen und Ständen unter der Sonne zu finden ist, an den Höfen der Fürsten wie die Geier beim Aas, und wie die Fliegen folgen sie dem Duft des Salböls; nämlich die Armen, die Kranken (etc. ...) ferner Trossknechte, Spielleute, Tänzer, Lautenspieler, Flötenspieler, Lyraspieler, Trompeter, Hornisten, Schauspieler, Hampelmänner, Taugenichtse Schmarotzer, Betrüger, Possenreißer, Hanswürste (etc., in: Hartung, S. 193)

 

Anfang des 14. Jahrhunderts unterhält eine Matilda ("Makejoy") den englischen Hof, die seit sie dreizehn ist, dort als saltatrix auftritt, also als akrobatische Tänzerin. Man kann erahnen, wie offenherzig ihr Gewand ausgesehen haben muss und welche weiteren Dienste sie bei Hofe sonst noch abzuleisten hat.

 

In den Städten entstehen Tanzhäuser für die wohlhabendere Gesellschaft, manchmal ins Rathaus integriert. In den Dörfern treten Spielleute draußen bei Festen auf. Sie sind so normal wie der Abscheu, mit dem Prediger der Bettelorden ihnen gegenüber treten.

 

Die Scholastik versucht, mit Vernunftkonstruktionen sowohl dem Gewinnstreben in der Kapitalverwertung wie dem Unterhaltungsbedürfnis der Menschen nachzugeben, quasi in ideologischen Rückzugsgefechten.