ANHANG 22: Abaelard und Heloysa

 

 

1 Abaelard und Héloise 

2 Der Weg zum Magisterium

3 Verführung

4 Kleriker und Kanoniker 

5 Ehe 

6 Katastrophe 

7 Saint Denis

8 Paraklet 

9 Heloysas Briefe

10 Quanta Qualia

20 Abaelards Prozess und Ende

 

 

 

1 Abaelard und Héloise

 

Ganz weltlich stellt sich die Liebesbeziehung zwischen dem Pariser Gelehrten Abaelard und seiner Schülerin Heloisa dar, die zunächst in ihrer Schwangerschaft und Unterbringung im Kloster und seiner Kastration und Zuflucht ebenfalls im Kloster endet. Der von Bernhard gehuldigten mystischen Liebe, die ein Abglanz seiner Liebe zur Gottesmutter ist, einer überaus intensiven Marienmystik, steht in jenem Paris, in dem sich Schulen bald zur ersten Universität zusammenschließen, eine ganz sinnlich-irdische gegenüber, zugleich ein rationalistischer Konterpart zu Bernhard. Auf dessen Veranlassung wird es später zu einem heftigen Häretikerprozess kommen, unter dem Abaelard sehr zu leiden haben wird.

 

In 'Sic et non' verweist Abaelard darauf, dass eine wortwörtliche Akzeptanz heiliger Schriften nicht möglich sei, weil sie ja und nein enthielten, also widersprüchliche Aussagen. Erst in einer spekulativ textkritischen Analyse könne ein Wahrheitsgehalt, etwas „richtiges“ aus ihnen entnommen werden. ... denn durch den Zweifel kommen wir zur Untersuchung und durch die Untersuchung erlangen wir die Wahrheit (Prolog zu 'Sic et non'). Damit entwickelt er reflektierend die dialektische Struktur der Scholastik weiter, ohne die alles spätere abendländische Philosophieren nicht möglich sein wird. Dass Wahrheit dann nur noch bei Gott ist, bedeutet, dass Menschen sich ihr nur annähern können.

 

In seiner Theologie führt er den Gedanken aus, dass alles, was „es gibt“, der menschlichen Vernunft zugänglich sei, sogar das logische Kuriosum der Trinität, in dem die der Vernunft an und für sich ebenso wenig zugängliche Gottessohnschaft Jesu eingebettet wurde. Bernhard von Clairvaux, der Vertreter des sublim-mystischen Eros der Gläubigkeit wird entdecken, dass damit die zentralen Gefühlswerte des katholischen Mysteriums, wie es die römische Kirche entwickelt hatte, einer destruktiven Betrachtung ausgeliefert werden. 

 

Aber in diesem Kapitel soll es um den Menschen Abaelard gehen, also einmal um den Intellektuellen und sein Mädchen, und dabei andererseits und zugleich um die Verwandlung von Heloise in eine leidenschaftliche Frau, um die Machtspiele sinnlicher Liebe und um deren wirkliche, nicht nur literarische Transformation und um jene Versuche der Sublimation, in denen ausgerechnet die Frau, Héloise, Elemente des Minnesangs vorwegnimmt und auf einer ganz anderen Ebene die Übung, die Ermengard und Bernhard (von Clairvaux) miteinander betreiben, aufnimmt und zuspitzt.

 

Bevor die Geschichte erzählt wird, hier folgender Satz wie ein Paukenschlag aus dem dritten Brief von ihr an ihn: Wenn man meine Keuschheit rühmt, so deshalb, weil man meine Heuchelei nicht sieht. Der wirklich moderne Mensch in dieser Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau ist die Frau. Was in beiden Hadlaub-Liedern der Manesse-Handschrift das feine Gerüst der hohen Minne zerbricht, ist eine Frau, die partout den Posen des Liebenden nicht entgegenkommen möchte. Mit Héloise ist es eine Frau, die die sinnliche Liebe nicht hinter der himmlischen verstecken möchte und eben auch nicht kann. Zugleich ist es die Frau, die in ihrer Sublimierung ihre persönliche Emanzipation begreift.

 

Die Geschichte von Abaelard und Héloise beginnt mit seiner frühen Karriere als Intellektueller. Die wichtigste Quelle ist sein "Trostbrief" an einen wohl imaginären Freund, in dem er sein eigenes Leben bis ins höhere Alter von etwa fünfzig als eine einzige Leidensgeschichte beschreibt, bei der man sich gelegentlich bis in wörtliche Formulierungen an Rousseaus 'Confessions' erinnert fühlt. Diese erste sehr persönlich wirkende Autobiographie des Mittelalters wird entsprechend manchmal auch mit 'Historia calamitatum' betitelt.

 

Zunächst etwas grundsätzliches zu diesem Text mit der Frage: Für wen und mit welcher Absicht wurde die 'Historia Calamitatum' samt den Briefen etc. geschrieben?

 

Um sich damit zu beschäftigen, ist zunächst zu klären, wer das alles geschrieben hat. Nach Lektüre all der merkwürdigen Konstruktionen, die seit über hundert Jahren unterstellen möchten, dass die angegebenen Autoren nicht die „wirklichen Autoren“ sind, bleiben mir nur zwei Feststellungen: Es gibt weder inhaltlich noch formal auch nur den geringsten Grund, nicht anzunehmen, dass die Texte von den beiden sind. Das aber wird sich wohl nie mehr positiv beweisen lassen. Wann, von wem und in inwieweit sie zu jenen Handschriften zusammengestellt und vielleicht redigiert wurden, die überliefert sind (samt der Vorlage für Jean de Meung und der Handschrift, die Petrarca vorlag) wird sich nicht mehr belegen lassen. Auch meine Ansicht bleibt nichts als eine begründete Annahme. Eine „Echtheits“debatte jenseits davon krankt seit langem an der Vorstellung, es könne nur echt sein, was in den Kopf des jeweiligen Debattierers hineingeht. Und sie krankt an einer Neigung, Details aus dem Zusammenhang zu reißen, um damit im akademischen Streit Argumente zu gewinnen.

Zuzustimmen ist hingegen der Zusammenfassung von Rexroth: "Dass die Briefe nicht in der überlieferten Form hin- und hergelaufen sind, dass sie wohl eher im Rahmen der Briefsammlung sehr sorgfältig redigiert, vereinheitlicht und aufeinander abgestimmt wurden, ist angesichts der zahlreichen Verschränkungen und Querbezüge, insbesondere aber wegen des ausgeklügelten narrativen Spannungsbogens, den sie beschreiben, naheliegend." (Rexroth, S.165)

 

Jenseits von Klöstern, zuallerst denen, über die Heloysa Autorität ausübte, konnte sich die Textsammlung nur an die wenigen richten, die (Latein) lesen konnten. Um 1135 waren das im wesentlichen höhere Kleriker, die wenigen Gelehrten und solche Mönche und Nonnen, die sich an schwierigere lateinische Texte trauen konnten. Da nur wenige Handschriften erhalten sind, ist für das 12. Jahrhundert mit einer kleinen Leserschaft selbst unter dem kleinen angegebenen Adressatenkreis zu rechnen. Wiewohl Abaelards andere Schriften verboten und verbrannt werden, sind von ihnen doch wesentlich zeitgenössischere Abschriften über Europa verstreut vorhanden.Texte wurden damals nicht publiziert, sondern abgeschrieben und an Freunde verschenkt.

 

Da alle die hier zusammengefassten Texte kaum ein direktes Echo im 13. Jahrhundert hatten, und der erste Hinweis auf dieses „Paraklet-Buch“ weit über hundert Jahre später erst in der eigenwilligen Übersetzung von de Meung ins Mittelfranzösische da ist, liegt es nahe, zu vermuten, dass das alles abgesehen vom Parakletkloster höchstens für Freunde und Bekannte bestimmt war. Und im Parakletkloster höchstens für enge Vertraute der Heloysa, es handelt sich nicht um Texte für übliche Nonnen.

 

Thematisch konzentriert sich alles einmal auf Abaelards Leben mit den wenigen, Heloysa betreffenden Einsprengseln, und dabei vor allem auf seinen Streit mit anderen Magistern und kirchlichen Autoritäten. Soweit wäre dies die 'Historia' als Rechtfertigungsschrift (eine Trostschrift, wie der Anfang vorgibt, ist es ohnehin ganz und gar nicht).

Das zweite Thema ist Liebe und Sexualität mit einer ihrer Zeit literarisch weit voraus entwickelten weibliche Stimme, wie sie erst Jahrhunderte später wieder auftaucht. An dieses Thema angelehnt ist das der Ehe, insbesondere der Verbindung von Ehe, Kleriker-Existenz und Gelehrsamkeit.

Das dritte und zweifellos als wichtig behandelte Thema monastischen Lebens, am Beispiel des Nonnenklosters abgehandelt, findet, soweit sichtbar, überhaupt das geringste Echo. Dabei ist nicht unwahrscheinlich, dass das Kloster der Heloysa das unmittelbare Zielpublikum des ganzen Textes darstellt.

 

Als Abaelard stirbt, so sieht es wenigstens aus, scheint nichts von diesen Texten an irgendeine Öffentlichkeit gedrungen zu sein. Der Brief des Petrus Venerabilis an Heloysa mit seinem hohen Lob auf die Äbtissin und seinem freundlichen Bericht über die letzte Lebenszeit Abaelards wäre (als bewusst öffentlicher) niemals möglich gewesen, hätte er vom Inhalt irgend etwas gewusst. Es gibt die These, Chrétien de Troyes habe die Briefe gekannt. Als Nachbar des Paraklet-Klosters am Hofe von Marie de Champagne in Troyes ist das nicht ausgeschlossen, aber es bleibt eine vage Vermutung. Das Paraklet-Kloster war nur rund 8 km von Nogent-sur-Seine entfernt und von dort gingen Wege (die ab hier schiffbare Seine zum Beispiel) direkt nach dem nahegelegenen Troyes, einem wichtigen Messeplatz - und nach Paris. Darüber hinaus gibt es keinen Hinweis, die Paraklet-Texte seien vor der Übersetzung durch de Meung irgendwo bekannt gewesen.

 

Die, wenn überhaupt, geringe Verbreitung von Abschriften spricht gegen eine Manipulation der Texte und der Textzusammenhänge für eine entsprechende Öffentlichkeit. Die einzelnen Texte stellen für sich auch, jenseits des unmittelbaren personellen Kontextes, keine für Außenstehende geeignete Abhandlungen thematischer Art dar. Die sprachlich-literarisch (rhetorisch) gelungensten Texte, die beiden ersten Briefe von Heloysa, sind situativ und personell bezogen: Heloysas Liebe begründet sich aus der für sie präsenten Ausnahmepersönlichkeit eines Gelehrten, wie es damals in ganz Europa wohl kaum 20 oder 30 gab, und keinen mit seiner funkelnden Brillianz. Und ihr Text basiert auf ihrer für ein Mädchen, und dann eine junge Frau ganz außergewöhnlichen Belesenheit, Klugheit und Sensibilität. Beide sind sich dieser besonderen Situation unentwegt bewusst.

 

Nirgendwo verallgemeinern sie über sich hinaus, bis dann Abaelard auf den zweiten Brief der Priorin / Äbtissin hin seine ganze gelehrte Überredungskunst aufbietet, um sie vergebens mit ihrer Rolle zu versöhnen. Alle die vielen gelehrten Zitate begründen keine Haltungen, Ansichten oder Verhaltensweisen, die über ihre Ausnahmesituation hinausreichen. Das eben, dieses weithin durchgehaltene persönliche Moment macht den Ausnahmecharakter der Texte aus, die, in ein helleres Licht der Öffentlichkeit geraten, enormes Aufsehen erregt hätten.Die gelehrte Zitiererei beginnt laut Abaelard mit ihr: Als sie gegen die Ehe mit ihm argumentiert. Ihre stoisch beeinflusste Interpretation der christlichen Autoritäten will an keinem Punkt auf allgemeine Verhaltenspositionen eingehen, sondern rechtfertigt ausschließlich ihre persönliche Haltung.

 

Die vielleicht latent von misogynem Vorurteil getragene Interpretation ihrer Texte als von ihm beeinflusst (oder gar geschrieben), die durch nichts begründet werden kann (genauso wenig wie eine Haltung, sie hätte seine Texte beeinflusst), ist absurd angesichts ihres besseren Stils und ihrer intellektuelleren Höhe und Konsistenz. Wenn Jean de Meung über sie schreibt, mais je ne crei mie, par m'ame, qu'onques pius fust nulle tel fame (aber ich glaube nicht, bei meiner Seele, dass es seitdem jemals wieder eine solche Frau gegeben hat), dann hat er recht, was immer ihn an ihr interessierte. Literarisch gehören ihre beiden Briefe zum besten, was Frauen und Männer im Hochmittelalter zustandegebracht haben. Hier ein Gedicht eines Anonymus aus dem Kloster Fleury , welches deutlich macht, wie die Geschichte der beiden öffentlich tranportiert wurde

 

Parisius Petrus est velata matre profectus.

Necnon velata crudelis amica redibit

Sponte parens invita quidem velatur amica, (sponte - invita)

Conveniens erat hoc anui que corpore friget (anus = alte Frau)

Damnosum tenere minus or(r)endeque puelle

Quam facies multis, que philosophia puellis (wie schön war sie eigentlich?)

Pretulerat cunctis qua sola Gallia pollet. (durch sie erst galt Gallien etwas... )

 

Deseruisse tamen tulit hanc crudelis amicus (hat er sie „verlassen“?)

Siquis non quod amet, sed ametur dicat "amicus":

Desertam ius(s)it velari. Paruit illa,

Nec quid amor possit non implevisse marito.

 

Ornavere due te quondam, Gallia, gemme:

Mathias consul philosophusque Petrus.

Militio decus hic, cleri lux extitit iste.

Plaga tibi gemmas abstulit una duas,

Invida sors summos privat genitalibus ambo.

 

Dispar causa pares vulnere fecit eos,

Consul adulterii damnatur crimine justo,

Philo(so)phus summa prodicione ruit. (Verrat?)

Philo(so)phum monachis adiuncsit plaga pudenda (wegen der Schande wird der Philosoph Mönch)

Et studium dempsit, philosophia, tibi. (den Eifer genommen?)

 

Adam, Samsonem, Salomonem perdidit uxor.

Additus est Petrus - clade ruit simili,

Publica summorum cladis fuit ista virorum.

 

Sola tamen Petri conjux est criminis expers.

Consensus nullus qui facit esse ream. (sie ist unschuldig)

 

Tres ex condicto dixere ruamus in unum

Et triplici captum fune ligemus unum. (er weiß, wie es geht...)

 

Aut me cecatum furor excusabit amoris,

Aut reus immense prodicionis ero,

Omnia preter te michi tradidit hospes supellex (allen Hausrat von wem?)

Nil volo preter te nec Ioseph alter ero! (Er möchte kein Joseph werden)

 

Rem monachi Roberti tenes, si nomen aborres. (Robert d'Arbrissel?)

Aut vero gaudes nomine canonici?

Orret, ni fallor, tibi, frater, sola cuculla.

 

Ut caput inspicerem tocius religionis

Romam perexi cumque videre Petrum.

Obtarem, si modo catedram jam alter habebat.

 

Scortator monachus justus reputatur apud nos,

Quod Sodomitarum copia multa facit.

 

Si tibi non esset mundi contenptus habendus,

Petre, quid es monachus, es, quia philosophus.

Constat philosophos hoc contenpsisse priores,

Quod prius ammonuit ipsa Sophia suos. (Philosophie fordert mönchisches Leben)

 

Nec catus in nitida servari pelle valebit

Nec mulier cultus si preciosus erit.

Saepe, soror, rogo te, preciosas spernere vestes

Quas cui nupsisti non amat, imo vetat.

Verus hic est agnus, agninas appete vestes,

Ut sponsum vestis exprimat ipsa suum. (Jesus liebt keinen weiblichen Schmuck)

Indutam Christum te monstret vestis amica.

Agnus hic est, agni pellibus indue te. (Kleidung aus Lammfell)

Arha Dei virgo est celesti dedita sponso, (Jungfrau als Altar Gottes)

Texta minus caris est pellibus arca fuit,

Scilicet his que protegerent non que decorarent,

Que pacientes sint pulveris et pluvie.

 

(Text-Quelle: http://www.abaelard.de/abaelard/Main.htm)

 

Auch die Chronik von Tours (um 1220 geschrieben), macht deutlich, was allgemein bekannt war, und dass nichts aus dem Komplex der Paraklet-Texte nach außen gedrungen war: Er hatte nämlich in der Gegend von Troyes ein Kloster (cenobium) errichtet, auf einer Wiese, wo er bereits früher Vorlesungen gehalten hatte. Dieses hatte er Paraklet genannt. Dort versammelte er sehr viele Nonnen und er gab diesen eine gottesfürchtige Frau, seine vormalige Gattin, die in der lateinischen und hebräischen Sprache ausgebildet war, als Äbtissin. Sie war gerade ihm so in Freundschaft verbunden, dass sie ihm auch nach seinem Tode in beharrlichen Gebeten eine große Treue bewahrte. Und so ließ sie seinen Leichnam von dem Ort, wo er bestattet worden war, zu besagtem Kloster überführen.

 

*****

 

Gleich mit den ersten Zeilen der Historia werden wir in einem einfachen Beispiel daran erinnert, wie problematisch es für uns Heutige ist, etwas zu verstehen, was sich einer antiken Sprache bedient, um eine mittelalterliche Welt zu beschreiben. Zunächst stammt er aus einem oppidum, welches palacium heißt. Ein „oppidum“ wäre eine kleine Stadt, dies Le Pallet ist aber eine Art Dorf. Dafür hat er aber kein Wort, das mittellateinische villagium würde ihn unter den ländlichen „Pöbel“ einreihen und überhaupt entsteht wohl ein Wort für das, was wir heute unter Dorf verstehen mögen, selbst in der Volkssprache erst Jahrhunderte später: le village. Das frühe Mittelhochdeutsche kennt zwar schon das dorp, aber dies ist noch kein „Dorf“ in unserem Sinn, etwas was zudem gerade derzeit wiederum mit dem Verschwinden bäuerlicher Landwirtschaft völlig der Vergangenheit anheim fällt.

 

Indem er den Weiler Le Pallet, aus dem er stammt, mit der latinisierten Form „Palast“ belegt, wertet er ihn auf. Der Grund wird wenig später deutlich, wo er von der „Schwertleite“ seines Vaters redet, der das cingulum bekam, also den Schwertgurt. Der Vater ist damit Ritter. Teil der militia, und steht über dem populus.

 

Die nächste Stadt, nämlich Nantes, kann er nun nicht mehr anders als mit dem Wort erwähnen, welches die lateinische Antike Rom vorbehalten hatte, urbs. Das, was wir heute als Landschaften, Gegenden bezeichnen, ist etwas, wofür ihm ebenfalls kein adäquates Wort zur Verfügung steht, und also redet er (eigentlich anachronistisch) von provincia(e) als den Gegenden, durch die er wandert, nachdem er auf das Erbe und den Ritterschlag verzichtet und beim studio litterarum zuhause ausgelernt hat. Irgendwann nach seinem Ableben wird die westfränkische Volkssprache für die Gegend außerhalb der größeren Städte und um sie herum von province reden, womit dann aber in der langue d'oeil, dem zukünftigen Französisch, nicht mehr das gemeint ist, was Römer unter Provinz verstanden.

 

Er verschweigt zunächst hier, dass er im Hoheitsgebiet des Herzogs der Bretagne groß wird, denn die noch ihrer Kultur nachhängenden Bretonen sind Kelten, Barbaren, Menschen ohne Zivilisation. Er verschweigt auch, dass sein Weiler an der Grenze zum Poitou liegt und sein Vater wohl ein Poitevin war, also einem Kernland der höfischen Kultur und der entstehenden Troubadourlyrik entstammt und kein Bretone ist. Das ist eine Welt, die er mit seiner „Bekehrung“ verlassen hat, lange, bevor er sein Leben aufschreibt. Schließlich verschweigt er, dass er auf dem Weg nach Paris für mehrere Jahre beim großen Magister Roscelin landet.

 

Davon erzählt uns Otto von Freising in seinen 'Gesta Friderici'. Otto war Mönch, Erzbischof und Vertrauter von Friedrich I. Barbarossa und schenkt Abaelard erstaunlich viel Aufmerksamkeit in seinem Bericht von den Taten Friedrichs: Zuerst hatte er Roscelin als Lehrer .. der der erste unserer Zeit war, der den Nominalismus in die Logik einführte. Gemeint ist, dass er im Anschluss an Aristoteles die Vernunft bewusst unter der Prämisse betrachtete, dass sie nur in Sprache auftritt bzw. wahrnehmbar ist.

 

Otto wiederum verschweigt aber - vielleicht freundlicherweise - , dass Roscelin 1092 auf einem Konzil der Häresie angeklagt war, also der beharrlichen Verbreitung falscher Ansichten die Religion betreffend, und gezwungen gewesen war, nach England zu fliehen, von wo ihn Anselm von Canterbury vertreibt. Aber nicht nur deshalb war es nützlich, seinen Namen auszulassen, sondern auch, weil Roscelin und Abaelard später Feinde werden, die sehr gehässig miteinander umgehen.

 

Auf einem Manuskript von Abaelards Ethica, das im Kloster Prüfening bei Regensburg vor 1165 geschrieben worden war, steht folgendes geschrieben: Primum grammatice et dialectice hinc divinitati operam dedit sed cum esset inestimande subtilitatis inaudite memorie capacitatis supra humanum modum auditor aliquando magistri Roscii cepit eum cum exfestinucatione quadam sensuum illius audire attamen imperavit sibi ut per annum lectionibus ipsius interesset... (Zuerst studierte er Grammatik und Dialektik, dann wandte er sich der Gotteslehre zu, aber da er von unermesslicher Intelligenz, unerhörtem Gedächtnis und übermenschlicher Auffassungsgabe war, verlor er einst als Hörer des Meisters Roscius die Aufmerksamkeit beim Zuhören. Trotzdem befahl ihm dieser, noch für den Rest des Jahres seinen Vorlesungen beizuwohnen...)

 

Roscelin war wegen Teilen seiner Lehre aus England in die Touraine geflohen, dem Gebiet zwischen dem um Orléans gelegenen Teil der Domäne des Königs von Francien und Maine, welches anglonormannisch kontrolliert war. Demnächst wird Fulko le Réchin sie übernehmen, der sich als Gegner sowohl der „Engländer“ wie der „Franken“ sah.

 

2. Der Weg ins Magisterium

 

Abaelard verzichtet auf eine ritterliche Kriegerausbildung und damit auch auf sein Erstgeburts-Erbe, welches er seinem jüngeren Bruder überlässt, offenbar aus Wissensdurst. Nachdem er zu Hause ausgelernt hat, muss er sich irgendwann in den 90er Jahren des 11. Jahrhunderts den aktuellen Stand der Gelehrsamkeit dort erwerben, wo er vor Ort zu finden ist. Offenbar hat sich bis aufs Land in der Bretagne bereits herumgesprochen, dass es eine neue, von Klöstern und selbst von Kathedralschulen unabhängige neue Art von Gelehrsamkeit gibt.

 

Das Ziel seiner Existenz als wandernder Scholar wird es wohl gewesen sein, ein Auskommen als Magister zu finden, also als Lehr-Meister, eine wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen schon ins Althochdeutsche. In Westfrancien wird daraus der maiestre und rund hundert Jahre nach Abaelard der maître.

 

Ein Gedicht vielleicht über den jungen Abaelard stammt von Balderich (Baudri) von Bourgueil. 'Ad puerum mirandi ingenii' (An einen hochbegabten Knaben) ist ein Text, in dem manches auf den jungen Abaelard passt, als der herumziehender Scholar im Bereich der Loire ist:

 

plurima fama refert quibus ut credamus oportet /Vieles berichtet das Gerücht, dem es sich ziemt zu glauben,

et procul a vero plurima fama refert / vnd viel Gerücht ist weit von der Wahrheit entfernt. fama quidem nostra Petre te celebravit in aure / Ein Gerücht preist dich uns, Peter, goldglänzend.

o utinam sic te res faciat celebrem / Oh mögen dich Tatsachen so vielgerühmt machen! o utinam de te nil rumor dixerit anceps / Oh möge kein Gerede über dich zwiespältig sein!

sis talis qualem te mihi fama refert / So seist du so, wie mir dein Ruhm dich darstellt.

non natura tibi sed naturae moderator / Nicht die Natur selbst, sondern der, der sie leitet, quod sic mirandum praestitit ingenium / hat dir den bewundernswerten Verstand gewährt.

effugit illa tuum tantummodo littera pectus / Es entströmt deiner Brust jene Literatur, quam non doctorum spiritus exposuit / die nicht einmal der Geist der Gelehrten darbietet. quod stilus ipsorum scrutari non dubitavit / Was der Stift jener nicht zögert herauszubringen,

tu quoque scrutaris pervigili studio / das erforschst auch du in wachsamem Eifer.

quod legis aut audis memori sic mente retractas / Was du auch liest oder hörst, du prägst es dir so gut ein,

ut recitantem te nil queat effugere / dass dir beim Vortragen nichts entgeht.

si placeat metricis alludere cuilibet odis / Wenn es jemandem gefällt, mit Oden zu spielen,

odis alludis cuilibet egregiis / du schaffst ihm spielend hervorragende Oden.

sicut et audivi jamjam facundia tantum / Wie ich auch schon eine Redegabe hörte,

ut vivas Ciceronem tibi suppetitat / dass du sogar an Cicero heranreichst.

miror et est mirum quod in his sic enituisti / Ich wundere mich und es ist ein Wunder, worin du so glänzt,

rursus et in multis quae locus hic reticet / auch in vielem, was dies Gedicht hier verschweigt.

immo quod aetatem teneram sic exuperasti / vielmehr übertriffst du dein zartes Knabenalter derart,

ut juvenis canos jam doceas homines / dass du noch jung den Menschen schon Standarde setzt.

hos aetas aditus si centenaria posset / Wenn man hundertfaches Alter annähme, impetrare sibi grande quidem fuerat / wäre es groß, so etwas zustande zu bringen. melodum cithara vel jam quindennis adeptus / Das Lautenspiel meisterst du schon mit fünfzehn

es bona tot pariter, Petrule, dante deo / so viele Güter hat dir Gott zugleich gegeben, Peter.

quippe tuis meritis non debes id reputare / Freilich darfst du dies nicht deinen eigenen Verdiensten anrechnen,

sed sua qui gratis dat, dedit, atque dabit / denn derjenige, welcher das Seine unentgeltlich gibt, hat es dir bisher gegeben.

ipse nec invideo nec iniqui garrio more / Ich gönne es dir und schwatze dabei nicht einfach nur,

sed grate gratias immolo reddo deo / sondern ich danke Gott in dankbarem Opfer;

laetor et exulto, congaudeo suscipienti / ich jauchze und bin außer mir vor Freude, wenn er es annimmt,

et dico danti gloria summa deo / und ich spreche dem gebenden Gott höchste Ehre zu. tu quoque cui vel quem cantat mea pagina praesens / Auch du, den meine Schrift lobpreist

assenti mecum dicque deo quod ego / stimme mir zu und preise Gott wie ich.

extolli noli neque praestes laudibus aurem / Werde nicht überheblich und leih dein Ohr nicht dem Lob;

quatenus ipsa tuis attribuas meritis / schreib es nicht deinem Verdienst zu.

suscipe dona dei gratanter gratificando / Nimm es dankend auf als Gottes Geschenk, ipsum te gratis qui dedit ista tibi / welches er gerade dir unentgeltlich gegeben hat.

sic etenim faciens non spernes simpliciores / So nämlich sieht du nicht auf einfachere Menschen herab

tu quoque provectu supplice proficies / und schreitest auch demütig aufstrebend voran.

 

Natürlich erfahren wir bei einem Gedicht von Baudri de Bourgeuil mehr über ihn als den Gegenstand des Gedichtes. Der geistliche Herr ist ganz konzentriert darauf, in Form wie Inhalt die klassisch-römische Antike wieder aufleben zu lassen. Der Gott des Gedichtes ist auch nicht spezifisch christlich, sondern eher heidnisch-römisch, ist er doch einer, der die heidnisch-römischen Talente schätzt und sind es doch die Musen, die den jungen Peter küssten und keine christlichen Engel.

 

Ein Magister lebt zunächst von den Zahlungen seiner Schüler, und Zeile 210f seiner Historia schreibt Abaelard, dass er kurz vor der Bekanntschaft mit Héloise sehr viele Schüler in Paris hatte, die ihm Ruhm (gloria) und lucrum, also Gewinn, Profit einbrachten, an pecunia nämlich, an Geld. Ruhm und Geld hingen zusammen, denn Schüler gewann man inzwischen auch auf dem freien Markt der Gelehrsamkeit.

 

Ganz frei war dieser Markt allerdings nicht. Es bedurfte möglichst eines Gebäudes, eines ausgestatteten Scriptoriums, einer Schreibstube plus Bibliothek, um erfolgreich unterrichten, schreiben und publizieren zu können. Publizieren hieß, (Ab)Schreiber und Pergament für kostspielige Abschriften zu haben. Zudem war es sinnvoll, sich unter den Schutz eines waffengewaltigen Adeligen zu stellen. Einen solchen gewann Abaelard möglicherweise in der Person von Stephan (Étienne) von Garlanda (Garlande), einem der Archidiakone der Pariser Diözese und bald Kanzler und Heerführer des Königs – einem Mann also, der geistliche und weltliche Macht in seiner Hand vereinigte.

 

Eine Art gesicherte Existenz war zudem nur im direkten Umfeld der Kathedralen möglich, wo man Magister allerdings nur sein konnte, wenn man in den untersten Kreis des kanonischen Klerus aufgenommen wurde und oft dadurch eine „Pfründe“ bekam. Das ist die Eindeutschung von praebenda, einer Schenkung zum Zwecks des Unterhalts. Ursprünglich war das ein Einkommen aus Grundbesitz, später wurde dies in eine regelmäßige Geldzahlung umgewandelt, also eine Art Gehalt. Die moderne Bedeutung des Wortes „Gehalt“ als einer Besoldung setzt sich im deutschen Sprachraum aber erst mit dem Beamtenapparat der Fürsten des 18. Jahrhunderts durch.

 

Der niederste Klerus bis hinauf zur einfachen Priesterschaft geriet damals unter den Druck der Kirchenreform, die schon Mitte des 11. Jahrhunderts begann, die Ehelosigkeit und „Keuschheit“ dieser Leute mit Macht durchzusetzen. Robert d'Arbrissel, selbst Priestersohn, verlässt offensichtlich im Zuge dieser Bewegung seine Frau, für den ganz niedrigen Kleriker Abaelard und seine Heloysa wird das Thema – allerdings unter sehr persönlichen Gesichtspunkten - zum Bruchpunkt ihrer Lebensgeschichte werden. 

 

Der Weg hin zum Magisterium in den Mauern des Dombezirks von Notre Dame auf der Île de la Cité war geprägt von ständigen Konkurrenzkämpfen mit Magistern in der Provinz, bei denen Abaelard lernte und denen er Schüler abzuwerben versuchte. Von ungetrübtem Selbstbewusstsein, hielt er sich bald für den Besten und warf den Konkurrenten invidia, Neid vor, den sein Ruhm, gloria, entfachte.

 

Summa petit livor, perflant altissima venti, zitiert Abaelard in seiner 'Historia' die 'Remedia Amoris' des Ovid, „der giftige Neid erstrebt das Höchste, und um den Gipfel wehen die Winde“. Gemeint ist der Konkurrent Wilhelm von Champeaux, dem Leser wird unterstellt, er kenne den Fortsetzungssatz etwa zwanzig Zeilen später: Platze, gefräßiger Neid! Groß ist schon jetzt mein Name...

 

Dagegen steht der Brief eines Studenten aus dem um 1125 zusammengestellten Codex Udalrici, in dem es über Wilhelm heißt: Wenn wir seine Stimme hören, glauben wir nicht einen Menschen, sondern einen Engel vom Himmel (quasi angelum de caelo) zu vernehmen; denn die Lieblichkeit (dulcedo) seiner Worte und die Tiefe seiner Gedanken übersteigt das menschliche Maß. (In: Bumke, Band 1, S.98)

 

Hatte das frühe Mittelalter die schiere Darlegung der alleinseligmachenden Wahrheit in den Mittelpunkt gestellt, so stellt die Frühscholastik jetzt fest, dass es einen vernünftigen Weg in ihre Nähe gibt, der erst herausgefunden werden muss. Der Weg führt über die disputatio, das Streitgespräch, wie Abaelard gleich am Anfang seiner 'Historia' schreibt. Dabei sind die dogmatischen Endergebnisse durch das Credo als selbstverständlich vorgegeben.

Um 1100 ist Abaelard Schüler von Wilhelm von Champeaux, Archidiakon und Lehrer an der Kathedralschule in Paris. In Melun, ganz in der Nähe, begründet der junge Mann dann wagemutig eine eigene Schule unter Störversuchen Wilhelms. Bald zieht er mit ihr nach Corbeil um, wo wegen der Nähe zu Paris sich meiner Angriffslust gewiss mehr offene Flanken zum Streitgespräch boten (Historia). Das Ergebnis dieser anstrengend-schnellen intellektuellen Karriere ist wohl ein psychischer Zusammenbruch, den er als Überarbeitung benennt. Er kehrt für mehrere Jahre in sein Elternhaus zurück. Philosophieren neigt dazu, den übrigen Menschen vom denkenden abzuspalten und so psychische Probleme eher zu verdecken als zu bearbeiten - bis sie sich dann Bahn brechen..

 

Um 1108 widerlegt (refellere) Abaelard in Paris einen Satz (sententia) des Wilhelm im Universalienstreit und erringt einen „Sieg“. Wilhelm verliert viele seiner Schüler, behauptet Abaelard, und er soll auch verhindert haben, dass er eine Stelle an der Domschule erhält.

Durch diesen Vorfall wurde meine Schule innerlich kräftig und bekam einen solchen Namen, dass alles in ihr zusammenströmte, was zuvor auf unseren gemeinsamen Lehrer Wilhelm geschworen hatte und ein Todfeind meiner Schule war. Sogar Wilhelms Lehrer auf den Pariser Lehrstuhl bot mir sein Katheder an, um im gleichen Hörsaal mit den anderen bei mir zu hören, in dem zuvor unser gemeinsamer Lehrer Wilhelm so geglänt hatte. Ich leitete das logische Studium noch gar nicht lange, als Wilhelm vor Neid geradezu krank wurde und sich in seinem Schmerz unsagbar verzehrte.

 

Abaelard geht wegen des Drucks, den Wilhelm tatsächlich auf ihn ausübt, zurück nach Melun und dann, so sieht er es, unter dem „Neid“ des Wilhelm zum Mont Saint-Geneviève, wieder auf der rive gauche von Paris. Nun verschwindet Wilhelm mit Schülern in die gelehrte Eremitage von St.Victor. Abaelard greift jeden Konkurrenten an und beklagt sich unmittelbar danach über seine „Verfolgungen“, denen er darauf ausgesetzt ist. Dann kommt die Geschichte mit Heloysa in mittleren Jahren.

 

Frank Bezner spricht ebenso anachronistisch wie ich weiter oben beim anderen Aspekt von „der Soziopathie Peter Abaelards“. (In: Abaelards „Historia calamitatum“. Hrsgg. Von D.N. Hasse. Bln/NY 2002, S.157) Das ist gewiss überzogen, aber wohl auch nicht ganz falsch.

 

Indem Abaelard sich in jungen Jahren gegen eine ritterliche und für eine Gelehrten-Ausbildung entscheidet, wird ihm nichts von seiner männlichen Aggressivität und Gewaltbereitschaft genommen; er muss sie nun nur anders ausleben. In seiner 'Historia calamitatum' erzählt er von der fast lebenslangen verbalen Kriegführung eines Gelehrten mit seinen Kontrahenten.

 

Michel Foucault beschreibt das in seinem Nietzsche-Kapitel in 'Von der Subversion des Wissens' so: Die Hingabe an die Wahrheit und die Strenge wissenschaftlicher Methoden? Sie sind aus der Leidenschaft der Gelehrten entstanden, aus ihrem Hass aufeinander, aus ihren fanatischen und ständig erneuerten Diskussionen, aus dem Bedürfnis rechtzubehalten – aus langsam im Laufe persönlicher Kämpfe geschmiedeten Waffen. (...) Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des anderen. (FFM, 1987, S.71)

 

Polemos pater, sagt Heraklit, und Nietzsche spricht vom Willen zur Macht.

 

Abaelard heißt ursprünglich einfach Peter, lateinisch Petrus, wie er im vulgar-romanischen Idiom seiner Herkunft heißen mochte, bleibt unbekannt. Familiennamen oder gar drei Namen wie im alten Rom gibt es nicht. Der zivilisatorische Hintergrund dafür ist verloren gegangen. Aber als verbal-kriegerischer Star in den Manegen der Gelehrsamkeit taucht er als Abaelard(us) auf, ein Spitzname unbekannter (bretonischer?) Herkunft. Heloysa wird ihn in ihren Briefen so nennen. Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, für den Abaelard unter anderem ein Faustpfand in seinem Kampf mit den Zisterziensern unter Bernhard von Clairvaux ist, nennt ihn in seinen Briefen Petrus Abaelardus.

 

Als Abaelardus ist er aber nicht irgendein Peter oder Petrus unter vielen, sondern der ganz besondere. Ähnlich werden sie mit ihrem Sohn verfahren, als sie ihn Astrolabius nennen.

 

In der 'Vita Gosuini' beschreibt sein Biograph, wie der junge Goswin, zukünftiger Prior von Saint Médard, um 1112 den Lehrer Abaelard auf dem Mont Saint Geneviève erlebt hat. Damals hatte Magister Peter Abaelard viele Studenten um sich geschart und nutzte die öffentliche Schule im Kreuzgang (in claustro) von St.-Geneviève. Dieser war zwar von vortrefflicher Wissenschaft (probatae quidem scientiae) und von erhabener Beredsamkeit, aber er erfand auch unerhörte Dinge und vertrat neue Lehren. Einer muss dabei das negotium des adversus eum disputandi übernehmen, also die Gegenposition zu ihm. Goswin wird zum Sprecher einer Gruppe von „Vernünftigen“, die Abaelards „Neuheiten“ kritisieren.

 

Doch Meister Joscelin, welcher später Bischof von Soissons wurde, wollte dies, da er Goswin überaus schätzte, verhindern und riet ihm deshalb von einem derartigen Aufeinandertreffen ab: Meister Peter sei, so sagte er, kein Diskussionspartner (disputator), sondern vielmehr ein alberner Haarspalter (cavillator) und ihm liege mehr an der Rolle eines Spielmannes (ioculator) als an der eines Gelehrten.

In seinen 'Gesta Friderici' bestätigt Otto von Freising das: Inde magistrum induens Parisius venit, plurimum in inventionum subtilitate non solum ad phylosophiam necessariarum, sed et pro commovendis ad iocos hominum animis utilium valens. Das grundlegendes, Sprache reflektierendes Philosophieren unterhaltsam nahegebracht werden kann, mit Witz und Scherzen durchsetzt, wird von seinen Gegnern wohl mit Misstrauen gesehen.

 

So scharte Goswin einige Gefährten um sich und stieg auf den Genovevaberg hinauf, so wie einst David zum Kampf mit Goliath (David cum Goliath duello conflicturus) ... Damit ist das Bild da, welches auch Bernhard von Claivaux um 1140 in seinem Kampf gegen Abaelard einsetzen wird: er der kleine David, Abaelard der Goliath (golias).

 

Als Goswin also am Ort des Wettstreites (ad loco certaminis) angelangt war, also dessen Schule betreten hatte, fand er ihn bei der Vorlesung; er war gerade damit beschäftigt, seinen Studenten die neuen Lehren aufzunötigen. Sofort aber, als der Ankömmling zu sprechen begann, senkte Abaelard seinen grimmigen Blick auf ihn. ... Er war blass und von gefälligem Aussehen, aber auch schmächtig und nicht von großer Gestalt.

 

Abaelard möchte, so der Autor seiner Vita, Goswin nicht reden lassen. Da wiesen seine Studenten, die den jungen Burschen schon genügend kannten, Abaelard daraufhin, er solle sich einer Antwort nicht verweigern. Jener sei ein scharfsinniger Diskussionspartner, der sich bereits große Verdienste in der Wissenschaft erworben habe. Es sei nicht ungeziemend, sich auf eine derartige Diskussion einzulassen; am ungeziemendsten jedoch sei es, ihn weiterhin derart zu verachten. Erst darauf gibt Abaelard laut Text klein bei.

 

Goswin redet dann laut Biograph folgendermaßen: ...ergriff Goswin die ihm zuteil gewordene Gelegenheit und formulierte einen so kompetenten Einwand, dass seine Wortwahl keineswegs oberflächlich und geschwätzig wirkte, sondern wegen ihrer Gewichtigkeit die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Dieses annehmend und jenes bestätigend, und durch seine Bestätigung einem weiteren nicht völlig widersprechend – denn er übersah keineswegs seine Subtilitäten - bis die listigen Auswege seinem Gegner allesamt abgeschnitten waren und Abaelard schließlich zugeben musste, was nicht völlig mit der Vernunft im Einklang stand (quod non esset consentaneum rationi).

 

In diesen mehr als zwei Jahrzehnten des Kampfes, des Lernens und Lehrens, kehrt er zweimal in die Heimat (patria) zurück. Einmal um 1105-08, weil ihn „übermäßiges Studieren“ krank gemacht hatte (ex immoderata studiis afflictione correptus infirmitate coactus sum repatriare), einmal um 1112, als seine Eltern sich entschließen, ihren Lebensabend in Klöstern zu verbringen.

 

1113 taucht er zwecks Theologiestudiums in Laon auf, wo seit drei Jahren die Kommunalbewegung unterdrückt wird, zugleich aber auf zweischneidige Weise mit Thomas von Marle aus dem Hause Coucy einen Bundesgenossen gegen Bischof und König hat. Einerseits gibt es viel von Anselm von Laon zu lernen, andererseits ist Abaelard als möglicher Schützling von Étienne de Garlande auch ein möglicher Gegner des Herrn von Marle. Auch mit dem berühmten Anselm, dem Bibelkommentatoren, überwirft sich unser Peter, wohl auch, weil er anfängt, selbst Theologie anzubieten. In der Historia steht das so:

Ich besuchte also die Schule dieses alten Mannes (!), der freilich seinen Namen mehr einer langjährigen Routine zu verdanken hatte, als seiner Begabung (ingenium) oder Gedächtniskraft. Wer in irgendeiner Frage unsicher an seine Tür klopfte, um ihn aufzusuchen, der kehrte noch unsicherer zurück. Bewundernswert war er zwar in den Augen von Hörern, aber ein Nichts (!) im Anblick von Fragern. Er verfügte über eine ungewöhnliche Redegewandtheit, aber sie war gedankenarm und vernunftleer (sensu contemtilem et ratione vacua (sic!). Das Feuer, das er entzündete, füllte sein Haus nur mit Rauch, statt es zu erleuchten. (Übersetzung hier von Krautz, 1989)

Das, so viel später im Rückblick geschrieben, zeugt von Undank, Eitelkeit und Gehässigkeit. Als Abaelard mit seiner Vorlesung über die Exegese des Ezechiel zu erfolgreich ist, wird er vom alten Anselm vertrieben.

 

Um 1114 ist er dann führender Magister an der Kathedralschule von Notre Dame, erfolgreich, berühmt, wohlhabend. Er wird zum weithin bekannten Autor. Im vierten Brief nennt ihn Heloysa te quidem Parisiis scholis praesidente. Das würde ihn zum Haupt mehrerer „Schulen“ machen, scheint mir aber ähnlich wie bei anderen Äußerungen von ihr eher eine rhetorische Steigerungsform zu sein, die ihre Bewunderung ausdrückt.

 

Das Maß seiner Berühmtheit beschreibt Fulko von Deuil in seinem „Trostbrief“ an Abaelard als Erklärung seines Hochmutes (superbia) und Voraussetzung seines tiefen Falls:

 

Affluentissime tibi paulo ante mundi hujus gloria blandiebatur, et te incertis fortunae casibus esse obnoxium non sinebat advertere. Roma suos tibi docendos transmittebat alumnos, et quae olim omnium artium scientiam auditoribus solebat infundere, sapientiorem te se sapiente transmissis scolaribus monstrabat. Nulla terrarum spatia, nulla montium cacumina, nulla concava vallium, nulla via difficilis licet obsita periculo et latrone, quominus ad te properarent retinebat. Anglorum turbam juvenum mare interjacens et undarum procella terribilis non terrebat: sed omni periculo contempto, audito tuo nomine, ad te confluebat. Remota Britannia sua animalia erudienda destinabat. Andegavenses eorum edomita feritate tibi famulabantur in suis. Pictavi, Wascones et Hiberi, Normannia, Flandria, Teutonicus et Suevius tuum calere ingenium, laudare et praedicare assidue studebat. Praetereo cunctos Parisiorum civitatem habitantes, et intra Galliarum proximas et remotissimas partes qui sic a te doceri sitiebant, ac si nihil disciplinae non apud te inveniri potuisset. Ingenii claritate, et suavitate eloquii, et linguae absolutioris facilitate, necnon et scientiae subtilitate permoti, quasi ad limpidissimum philosophiae fontem iter accelerabant.

 

(Auf das Verschwenderischste wurde dir noch vor kurzem geschmeichelt durch den Ruhm dieser Welt und das ließ nicht das Verständnis zu, dass du den Wechselfällen des Schicksals unterworfen bist. Roma schickte dir seine Schüler zur Unterrichtung und sie, welche einst das Wissen in allen Künsten den Hörern einzuflößen pflegte zeigte mit der Übersendung seiner Scholaren, dass du weiser seiest als sie selbst. Keine noch so weite Entfernung, keine Berggipfel, keine Talsenken, kein schwieriger Weg, gefährlich und von Räubern bedroht, hielt die ab, die zu dir eilten. Die Schar der jungen Engländer schreckte nicht das dazwischen liegende Meer und der schreckliche Aufruhr der Wellen: Stattdessen verachteten sie jede Gefahr, hörten deinen Namen und strömten zu dir. Die entfernte Bretagne bestimmte dir ihre Menschen zur Ausbildung zu. Die Leute des Anjou boten dir, nachdem sie erst kurz zuvor ihre Wildheit bezähmt hatten, die Ihrigen an. Die Menschen aus dem Poitou, der Gascogne, die Iberer, die Normandie, Flandern, der Teutone und der Schwabe, sie alle bemühten sich fleißig, dein Genie zu entflammen, zu loben und zu verkündigen. Dabei übergehe ich alle Bewohner der Stadt Paris, und die ganz nahe oder auch ganz entfernt in Gallien wohnenden Leute, die so danach dürsteten, von dir unterrichtet zu werden, als wenn die Ausbildung nur bei dir hätte gefunden werden können. Bewegt durch die Klarheit deines Verstandes, durch die Sanftheit deiner Rede, durch die Gewandtheit deiner vollendeten Formulierung, außerdem durch die Genauigkeit deines Wissens, eilten sie wie zur klarsten Quelle der Philosophie.)

 

Der große rhetorische Schwung dieses Absatzes sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier nicht schmeichelnd übertrieben wird, sondern die Höhe des Absturzes Abaelards aufgezeigt und ihre Enormität betont werden soll. Im Kern wird es wohl so gewesen sein, wie Fulko es beschreibt: Berühmte Schüler Abaelards waren unter anderen Johann von Salisbury, Otto von Freising und vielleicht Arnold von Brescia, und das „von“ ist auch hier kein Adelstitel, sondern die Herkunftsbezeichnung in Ermangelung eines Eigennamens.

 

Ab Zeile 217 der 'Historia' beschreibt Abaelard zunächst seine beiden Hauptlaster und danach in zwei Kapiteln seinen tiefen Fall, womit die „Geschichte“ mit Heloysa gemeint ist. Die beiden Laster sind die luxuria und die superbia (der Hochmut), wir bleiben bei dem ersten.

 

Der lateinische luxus, den Humanisten im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache bringen, hat seinen sexuellen Urgrund in der Vorstellung überbordender Geilheit und Fruchtbarkeit, meint dann bei Menschen verschwenderische Üppigkeit und Prächtigkeit. Die luxuria betont die menschliche Genuss-Sucht, der keine Zügel mehr angelegt werden. Im christlichen Mittelalter wird daraus das Laster der Wollust (voluptas), die allerdings in den deutschen Volkssprachen als wohlige Lust durchaus noch positiv aufgefasst werden konnte.

 

Beim niederen Kleriker Abaelard ist die luxuria ganz auf den sexuellen Bereich konzentriert. So schreibt er: Vom Erfolg verwöhnt, verweichlicht (enervat) durch fleischliche, verführerische Verlockungen (per carnales illecebras), beginnt er die Zügel des (sexuellen) Begehrens zu lockern (frena libidini coepi laxare), sein Leben versinkt im Schmutz, der immunditia vitae, er ignoriert die Tatsache, dass Philosophen und insbesondere Theologen (divini) continentiae decore maxime polluisse, also ihre Geltung durch die Zierde der Enthaltsamkeit erlangten. Der kritische Logiker und Dialektiker wird hier (im Nachhinein) zum Moralisten, wie man sieht. Zyniker mögen sagen, das erreichte seine bald grausam ausgeführte Kastration. Abaelard schreibt im übrigen hier schließlich viele Jahre nach den Fakten.

 

Kurz nach seiner gewaltsamen Kastration aber enthält der Brief von Fulko von Deuil Andeutigungen, Heloysa sei nicht die einzige bzw. erste gewesen, sondern nur die, bei der sein Lebenswandel öffentlich wurde:

 

Nam illud, quod sic te, ut aiunt, pracipitem dedit, singularum scilicet feminarum amorem, et laqueos libidinis earum, quibus suos capiunt scortatores, melius mihi videor praeterire, quam aliquid dicere quod ordini nostro et regulae nostrae religionis non concordet : quandoquidem sermo de talibus saepe magis soleat nocere bonis, quam prodesse.

 

(Denn jenes, was dich - wie man sagt - so hat abstürzen lassen, die Liebe zu allerdings einzigartigen Frauen und die Fallstricke ihrer Begierde, mit denen sie ihre Dirnenjäger fangen, übergehe ich - so scheint mir - besser, ebenso wie etwas zu sagen, was mit unserem Orden und unserer geistlichen Regel nicht im Einklang steht: Wo doch die Rede von solchen Dingen mehr den Guten zu schaden als zu nützen pflegt.)

 

"Wie man sagt", heißt, er weiß es nicht selbst, er hat es nur gehört. Aber Fulko von Deuil scheint alles in allem gut informiert und er ist in der Nähe. Der Versuch, Abaelard um der Einzigartigkeit der Liebesgeschichte willen reinzuwaschen, zum Beispiel von Gilson betrieben, ist so unglaubwürdig wie umgekehrt die Behauptung, diese kurze Stelle mit der amor singularum feminarum hätte Beweiskraft. Fulko ist der einzige, der sich dahingehend äußert, soweit die Überlieferung reicht. Und die laschere Zügelung des Geschlechtstriebes, um einmal eine handfestere Formulierung zu wählen, kann sich unmittelbar auf Heloysa beziehen oder auf eine Einstellungsänderung schon vorher. Immerhin ist der Mann, der sagt, sich von Prostituierten ferngehalten zu haben und kaum Kontakt zu ehrbaren Frauen gehabt zu haben, inzwischen um die vierzig.

 

Jahrhunderte später wiederum würde eine Heloysa eine derartige Wertung ihrer Verführung zu erotischen Lustbarkeiten durch den Liebhaber wohl als eine Verletzung ihrer Gefühle betrachten. Aber sie ist, wie man bald sehen kann, von einem anderen Kaliber. Und so kann er ungeniert schreiben, dass sein tiefer Fall (in die Arme seiner Schülerin) etwas damit zu tun hat, dass er ahnungslos war: Ihn hatte vor dem Schmutz der Huren geekelt (scortorum immunditiam abhorrebam) und auch mit anderen Frauen hatte er kaum Gelegenheit zum Umgang gehabt: Heloysa war die günstige Gelegenheit, die occasio.

 

Damit fehlt der nun folgenden Liebesgeschichte jede Grundlage für romantische Ausschmückungen. Anderthalb Jahrzehnte später reagiert Heloysa auf die kalamitöse Lebensgeschichte des geliebten Meisters und fragt ihn, ob er sie jemals ernstlich geliebt habe. Seine Antwort: Ich befriedigte an dir meine erbärmlichen Begierden, und das war alles, was ich daran liebte. Sie umgekehrt erwähnt in einem Brief an ihn, er habe sie mit seinen Briefen überschwemmt, als du es vor langer Zeit gewohnt warst, mich um der schändlichen Lüste willen aufzusuchen.

 

Was ist das also für eine merkwürdige Liebesgeschichte, die im Rückblick so viele unerfreuliche Gedanken auslöste?

 

3. Verführung

 

In dem Teil des 'Roman de la rose', der von Jean de Meung stammt, wird Heloysa als Gegnerin der Ehe und Vertreterin der „freien Liebe“, also des Eros als Aventiure gefeiert. Das ist so richtig wie falsch, besser gesagt, es trifft den Sachverhalt nicht so ganz.

 

Verblüffend ist schon der Anfang der Beschreibung der Affaire durch Abaelard: In der civitas Parisius gibt es eine junge Frau, eine adolescentula, mit Namen Heloysa, die bei ihrem Onkel, dem Kanoniker Fulbert wohnt. So recht klar wird ihr junges Alter nicht, denn kurz darauf nennt er sie puella, also Mädchen. Stutzig macht aber folgender Satz: Quae cum per faciem non esset infima, per abundantiam litterarum erat suprema. (Zeile 246/7)

 

Der Satz ist natürlich inhaltlich einer rhetorischen Figur geschuldet, non esset infima (sie war nicht die geringste) – erat suprema (sie war die höchste). In den Superlativen zu (non) inferior und superior stecken aber ihr Aussehen und ihre Bildung. Da nun die Höhe ihrer Bildung auch noch durch abundantia verstärkt wird, den Überfluss, das Übermaß, kommt man fast nicht umhin, den Satz in etwa dahingehend zu übersetzen, dass sie zwar nicht ganz übel aussah, aber ihre Reize vor allem in ihrer Gelehrsamkeit steckten. Facies kann das Gesicht oder die ganze Gestalt meinen, es geht dabei also um ihr „Aussehen“.

 

Wenn er dann auch noch wenige Zeilen später von seiner eigenen forma, seinem ausnehmend schönen Aussehen berichtet, dann wirkt die Leugnung ihrer erotischen Reize besonders rabiat. Daraufhin „beschließt“ er, (censui), sich ihr in Liebe zu verbinden (in amorem mihi copulare). Censeo ist ein Kalkulieren, Abschätzen, und was er da abschätzt, sind seine Chancen bei ihr, die er für groß hält, wohlhabend, berühmt und gutaussehend wie er ist. Er scheint nicht im neuhochdeutschen Sinne verliebt, sondern im mittelhochdeutschen geil auf sie zu sein. Nun muss er sie nur noch ad consensum trahere, also zum Beischlaf verführen.

 

Dazu bedarf es noch der Gelegenheit, die der wohlhabende und vom Begehren versengte Magister sich erkauft. Onkel Fulberts Haus scholis nostris proxima erat, es liegt ganz nahe bei seiner Schule (Zeile 265). Noch günstiger: Der Onkel ist nämlich auch gierig, cupidus, und zwar nach Geld, et ad pecuniam totus inhiaret, wörtlich sperrte er seinen Mund riesig weit nach Geld gierend auf. Also braucht Abaelard nur noch einen dieser Geldgier angemessenen Mietpreis zu zahlen, schon wohnt er unter seinem Dach. Und da er nun mal der große Magister war, wird ihm bei der Gelegenheit auch der Unterricht der Nichte aufgetragen, immer dann, wenn der Lehrer Zeit hat, und wie der schnell andeutet, damit besonders auch bei Nacht (d.h. nach Einbruch der Dunkelheit: tam in die quam in nocte).

 

Ohne ihre Begegnung mit Abaelard wüssten wir vielleicht gar nichts über Heloysa (Heloissa). Wir wissen weder etwas über ihre Familie, abgesehen von ihrem „Onkel“ Fulbert, wir erfahren nur, dass sie ihre Erziehung bzw. Bildung als kleines Mädchen im Kloster Argenteuil bei Paris empfing. Als Abaelard ihr begegnete, galt sie allgemein als hochbelesen. Nach dem Tod ihres Geliebten wird ihr Peter Venerabilis schreiben:

 

Denn wahrhaftig beginne ich nicht erst jetzt zum erstenmal, dich zu lieben, die ich dich schon seit langem liebend im Herzen trage, wenn ich mich recht entsinne. (Revera enim non nunc primum diligere incipio quam ex multo tempore me dilexisse reminiscor).

 

Noch hatte ich nicht ganz den Endpunkt der Kindheit (adolescentiae) hinter mir gelassen, noch war ich nicht in die Jugendjahre (in iuveniles annos) eingetreten, als der Begriff noch nicht von deinem Glauben, aber doch schon von deiner ehrenvollen und lobenswerten Studien gerüchteweise zu mir drang. Ich hörte damals, dass du als Frau - obwohl von den Bindungen an die Welt noch nicht gelöst - dich dennoch der literarischen Bildung (litteratoriae scientiae), was höchst selten ist, und der weltlichen Philosophie (studio licet saecularis sapientiae), dein höchstes Bemühen gewidmet hast und dich weder von den Begierden und Albernheiten, noch von den Genüssen der Welt, von diesem sinnvollen Vorhaben, die Wissenschaften zu erlernen, hast abhalten lassen. Vor diesen Übungen ist fast die ganze Welt in abscheulicher Gleichgültigkeit erstarrt, und die Weisheit kann keine Stätte finden, wo sie Fuß fassen könnte. Sie ist nicht nur beim weiblichen Geschlecht fast ganz vertrieben worden, sondern vermag auch kaum noch bei den Männern Einzug zu halten. Da hast du, die du jene Gelehrsamkeit hochhieltest, alle Frauen hinter dir gelassen und sogar fast alle Männer übertroffen. (Brief 115)

 

Das war auf ihre Jugend gemünzt... Als Heloysa ihren Liebsten kennenlernt, ist sie wohl zwischen 16 und 20 Jahren alt. Auch da weiß man nichts genaueres.

  

Werner Robl hat ein ganzes Buch dem Versuch gewidmet, zu belegen, dass die Hersindis, die mit Robert d'Arbrissel die Anfänge von Fontevrault (Fontevraud) bestimmt hat, möglicherweise die Mutter von Heloysa sei. (Heloisas Herkunft. Hersindis Mater. München 2001) Er geht dabei aus von der Tatsache, dass Abaelard in seiner 'Historia' Fulberts Verwandte erwähnt, die auch die von Heloysa sein müssten, wäre sie tatsächlich seine Nichte. Und er geht davon aus, dass Abaelard dort an einer Stelle erklärt, er habe Angst gehabt, Heloysa könne suggestione parentum anderweitig verheiratet werden.

Parentes sind wörtlich die „Erzeuger“, also die Eltern. Abaelard scheint sie gekannt zu haben, aber sie tauchen nirgendwo in den Quellen namentlich auf, außer eine „Hersindis“ als Mutter im Totenbuch des Parakletklosters.. In einer beachtlichen Forschungsleistung hat Robl Fakten auf Fakten gehäuft, und manche davon durch Schlussfolgerungen miteinander verbunden. Das Buch ist wegen seiner vielen miteinander verbundenen Details interessant zu lesen. Am Ende bleibt aber nichts als ein Heer miteinander verbundener und mehr oder minder plausibler Vermutungen. Danach ist dann Heloysa möglicherweise uneheliche Tochter jener Hersindis, die zur frommen Schar des Robert d'Arbrissel gehörte, die am Ende in Fontevrault landet. (Wer es genauer möchte, kann das Buch lesen, das ich weidlich für meinen Text geplündert habe.)

 

Ein völliges Opfer der historischen Überlieferung ist Onkel Fulbert geworden, ein angesehener Kanoniker von Notre Dame. Neben Roscelins wenigen Zeilen kennen wir ihn vor allem über Abaelards 'Historia', und die wird um 1132 geschrieben, als Fulbert entweder gestorben ist oder völlig zurückgezogen lebt. Seine letzte überlieferte Erwähnung ist 1124. Abaelard schreibt also seine negative Beschreibung des Mannes, als dieser wohl nicht mehr widersprechen kann.

 

Zurück zu Abaelard. Bisher verbinden sich Gier, Geilheit und kaltes Kalkül. Nun verdichtet sich das Ganze, bislang noch nur eine unterschwellige Ahnung von dem, was seit dem 19. Jahrhundert „Sadismus“ heißt, zur Gewissheit. Fulbert „übergibt sie ganz unserem Unterricht“ (eam... totam nostro magisterio committens) et eam, si negligentem sentirem, vehementer constringerem. Wenn sie also den Unterricht vernachlässigt, soll er sie heftig – ja was nun: einschnüren, zwingen, zügeln? Es besteht wohl kaum ein Zweifel, dass er sie körperlich züchtigen soll. Wenn er nämlich mit schönen Worten, den blanditia, nichts erreichte, sollte er sie mit minis et verberibus unterkriegen, willfährig machen (facilius flecterem). Minae sind die Drohungen und verbera die Schläge oder Peitschenhiebe, und beides lässt sich zunächst einmal noch als übliches Repertoire antiker Erziehungskunst auffassen, wenn auch... Es handelt sich immerhin um einen mittelalten Mann und ein Mädchen.

 

Abaelard hatte vorher schon Ovid zitiert, allerdings die 'Metamorphosen'. Demnächst kommt die Anspielung auf die 'Liebeskunst', Ars amatoria. In den 'Amores' I, 13 heißt es über den Anbruch des Tages: tu pueros somno fraudas tradisque magistris, / ut subeant tenerae verbera saeva manus. (Du betrügst Knaben um den Schlaf und lieferst sie den Lehrern aus, damit ihre zarten Hände grausame Rutenhiebe erdulden müssen.)

 

Zart und grausam. Ovid beklagt, dass die Morgenröte das nächtliche Liebesglück (grausam) beendet, so wie er die Widerwärtigkeiten des Schülerdaseins beklagt. Abaelard wird erst dann das alles negativ einstufen, als er versucht, Heloysa davon zu überzeugen, sich in ihr Nonnendasein zu fügen. (In Brief fünf, siehe weiter unten)

 

Quid plura?, fragt der Abt des bretonischen Klosters 15 Jahre nach seiner Schandtat. Was gibt es noch zu sagen? Die aufgeschlagenen Bücher führen zu Liebesworten, zu Küssen (oscula), die Hand findet zum Busen (sinus). Für die weiteren gradus amoris, Stufen der Liebe, wird implizit auf Ovid verwiesen, der sie beschrieben hat, et si quid insolitum amor excogitare potuit, est additum – und sie fügten alles hinzu, was über das Lehrbuch hinausging, waren also von erotischem Erfindungsreichtum.

 

Um weniger dem Verdacht ausgesetzt zu sein, gab die Liebe, nicht die Wut, die Gunst, nicht der Zorn, gelegentlich Schläge, die die Genüsse aller Salböle übertrafen. Er bringt sie also hörbar zum Schreien, damit sich das Ganze nach Unterricht anhört (?) – aber schlug er sie nicht auch um des Genusses beim Schmerzzufügen willen oder ihres Genusses beim Erleben des Schmerzes? Sind die intensiveren Lustschreie der Frau überhaupt noch von Schmerzensschreien unterscheidbar – sind am Ende Lust und Schmerz noch unterscheidbar, falls der Schmerz erotisch definiert ist?

 

...verbera ... quae omnium unguentorum suavitatem transcenderent. Suavis ist, wie Abaelard sehr wohl weiß, „angenehm“, „lieblich“, „wohlschmeckend“. Was bei Ovid negativ besetzt war: zart und grausam, ist hier genauso positiv besetzt: Nichts schöneres als Schläge unter Liebenden? Oder genauer: Schläge des vom furor amoris fortgerissenen Liebhabers – als Tarnung?

 

In seinem fünften Brief, nach Kastration, Einkleidung als Mönch und Priesterweihe schreibt der Abt von St. Gildas: Ja, mehr als einmal habe ich dich, selbst wenn du nicht wolltest, obwohl du ja von Natur schwächer warst, mit Drohungen und Schlägen gezwungen, mir zu Willen zu sein, auch wenn du, so sehr du konntest, dich sträubtest und widersprachst. Denn so sehr kettete mich die Glut meiner Begierde an dich, dass ich jene elenden Genüsse, deren Namen uns schon erröten macht, Gott und mir selbst vorzog. (Hier in der Übersetzung von Hans-Wolfgang Krautz). Das klingt mehr als in der Historia calamitatum wie das Bekenntnis fast schon physischer Vergewaltigung, etwas, was Heloysa ganz offensichtlich nicht daran hinderte, ihn weiter zu lieben.

 

Wieviel Abaelard in der Kammer mit Heloysa davon so wahrnahm, wie hier beschrieben, können wir nicht wissen. Aber viel später wird Heloysa ihre Verführung in die sexuelle Lust durch ihren Lehrer als eine Art Missbrauch beschreiben, durch den er tief in ihrer Schuld stehe. Es wird später darauf zurückzukommen sein. Wie ein fernes Echo finden sich aber im achten Brief des Abaelard, in dem er seine Vorstellungen für Heloysas Paraklet-Kloster erläutert, folgende Passagen: Keine soll sich unterstehen, eine Schwester wegen irgendeiner Verschuldung zu schlagen, außer wer von der Äbtissin dazu beauftragt wird. Und wenige Zeilen später zitiert er die Sprüche (13, 24): Wer seiner Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald. Noch ein paar Zeilen darunter kommt dann das Fazit: Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein. (VIII, 74). Auch im Kloster kann das Zufügen von Schmerz in eine Lustbarkeit ausarten, ein Spezifikum schon des späten antiken Christentums, …

 

Wie intensiv diese Liebesgeschichte der beiden war, zeigt Abaelard auch daran, dass sie ihn massiv absorbiert: Umso mehr die Lust von mir Besitz ergriff, desto weniger Energie ging in Philosophie und Lehrtätigkeit. Es war mir sehr lästig, zur Schule zu gehen und mich dort aufzuhalten. Zugleich war es anstrengend, die Nacht der Liebe und den Tag der Arbeit zu widmen. (Zeilen 302ff)

 

Dem bald folgenden Thema Ehe oder Berufung wird hier das der leidenschaftlichen Liebesbeziehung vorausgeschickt, die diese Berufung zunächst zunichte macht. Als Abaelard seinen Text um 1132 schreibt, ist die Mode höfischer Liebesvorstellungen in Aquitanien, dem Poitou und der Champagne auf dem Vormarsch. Für wenige Jahrzehnte später sind bereits Texte über das Übermaß der Liebe überliefert, welches den „Ritter“ seiner wesentlichen Identität, des in feudale Formen eingebundenen Kriegertums (für die gute Sache natürlich) berauben.

 

Im Umfeld des Hofes der Gräfin von Champagne schreibt Chrétien de Troyes 'Erec et Enide'. Im Zuge kämpferischer Abenteuer begegnet der edle Ritter Erec der Enide, verliebt sich, und zieht sich bald ganz mit ihr ins Bett zurück. In der mittelhochdeutschen Version des Hartmann von der Aue heißt die bezeichnende Zeile: unz daz er sich sô gar verlac. Er verliegt sich im Bett mit ihr, verliert seine Kernidentität. Bei Hofe wird er darauf verlacht und Enide möchte schließlich auch einen edlen Ritter als Liebhaber, beginnt bei Chrétien seine recreantise zu verachten. Also bricht er zu neuen Abenteuern auf, um seine ritterliche Rolle wiederzufinden. Gespiegelt wird das dann noch einmal, als er im Garten Joie de la Cort (höfische Freude) einen Ritter besiegt, der aus überschwenglicher Liebe seiner Geliebten versprochen hatte, seinen Garten solange nicht zu verlassen, bis ein anderer Ritter ihn besiegt.

 

In den großen Städten ging es auch noch anders zu. Jakob von Vitry beschreibt das Studentenleben in Paris zu Lebzeiten von Abaelard: In una autem et eadem domo schole erant superius, prostibula inferius. In perte superiori magistri legebant, in inferiori meretices officia turpiditudinis exercebant.

Also: Oben war die Schule, unten das Bordell, oben wurde unterrichtet, unten gehurt. Immerhin ist dies auch die Zeit der Vaganten, der Spielleute, der fahrenden Gesellen und Wanderhuren. Aber nach eigener Aussage hat sich Abaelard damals ja seine Keuschheit bewahrt, eher notgedrungen, wie er schreibt. (Zitat in: Bumke, Bd. 1, S.95)

 

Abaelard, aus ritterlicher Familie, ist ein Ritter des Wortes, ein Krieger des philosophischen Ruhms. Aber in obiger Passage aus seiner Autobiographie schwingt Unbehagen über seinen Rollenwechsel mit, der recht wild ausgelebte (illizite) Sexus nimmt ihm sein Gleichgewicht. Andererseits muss dies aber nach über zehn Jahren keine korrekte Erinnerung sein, Abaelard ist inzwischen kastriert, Mönch und geweihter Priester, zudem immer noch berühmter Lehrer und Autor. Was für Erec die Rückgewinnung des rechten Maßes ist, ist bei ihm die (nicht zuletzt auch notgedrungene) Entscheidung für ein rein intellektuelles Dasein, für sein eigentliches Talent.

 

Die andere Seite dieser Medaille ist die für uns deutlich wichtigere. Étienne Gilson formuliert sie kurz und präzise: „Die unbefriedigte Leidenschaft ist eine Quelle von erhöhter Kraft und Heldentum; aber der Sieg des Liebhabers ist oft die Ursache seines Niedergangs.“ (Gilson, S. 16). Die sexuelle Triebspannung erhöht, anders ausgedrückt, das Aggressionspotential. Mit der Entspannung kippt tendenziell die Aggression in die Depression, wendet sich gegen den Mann selbst. 

 

Am Ende erwischt Fulbert das Paar beim „Unterricht“. Da die 'Historia calamitatum' ein gebildet-gelehrtes Werk ist, wird dieser Vorgang mit dem hl. Hieronymus eingeleitet und dann mit Ovid beschrieben: Actum itaque in nobis est, quod in Marte et Venere deprehensis poetica narrat fabula. (So geschah mit uns das, was die Fabel des Dichters zum Erwischen von Mars und Venus erzählt.)

 

Im zweiten Buch von Ovids Liebeskunst legt Vulkan seine unsichtbaren Netze aus, in denen er Mars in flagranti mit seiner Gemahlin Venus fangen will: „Im Netz sind sie gefangen und nackt.“ Ovid erzählt das, um zu sagen, „Sucht den Rivalen nicht in Schlingen zu fangen“ und „lass sie sündigen und denken, sie hat dich getäuscht.“ Aber die Zeilen, auf die Abaelard hier abziehlt, sind die folgenden: „Doch das hast du davon, Vulkan: Was sie früher verbargen, / Tun sie nun frei, da die Scham seit der Entdeckung entflohn.“

 

Er muss natürlich ausziehen und sie treffen sich nur noch gelegentlich heimlich. Darin versteckt er ein weiteres Ovidzitat, welches bis heute in Varianten zum „zynischen“ gefügelten Wort wurde: et verecundiae transacta iam passio inverecundiores reddebat; tantoque verecundiae minor exstiterat passio, quanto convenientior vediebatur actio. (Nachdem das Schamgefühl durchlaufen war, gab es den Schamlosen auch gleich die Leidenschaft zurück; je mehr die Leidenschaft die Scham übertraf, desto schicklicher wurde die Tat angesehen.)

 

Noch mehr den frühen Ovid-Liebesgedichten entspricht die Äußerung: Separatio autem haec corporum maxima erat copulatio animorum, et negata sui copia amplius amorem reddebat. Also ganz handfest formuliert: Der fehlende Abbau sexueller Spannung im körperlichen Miteinander verstärkt das Begehren. Bei Ovid entspricht das seinen Empfehlungen an die Mädchen, es den Männern nicht zu leicht zu machen, bevor man sich ihnen ergibt. („Was man leicht uns gewährt, das nährt nie lange die Liebe/ Mische zuweilen der Lust kränkende Weigerung bei“, Liebeskunst III)

 

Im Poitou wie in Aquitanien ist die Entdeckung des neuen lyrischen Ichs in vollem Gange: Das erotische Begehren gewinnt danach durch den Triebaufschub, der bewaffnete Krieger soll davon ablassen, sich die Mädchen einfach „zu nehmen“, was erst einmal bei den höherstehenden eingeübt wird. In den neuen, von Geistlichen geschriebenen Ritterepen, wird neben dem ritterlichen Gemetzel jetzt auch die ritterliche Liebe verhandelt. In Klöstern wird nachweislich Ovid gelesen. Bei Ermengarde und Bernhard von Clairvaux und manchem anderen Frommen intensiviert sich eine phantasierte himmlische Erotik ins „Süße“, in eine Intensität, deren körperlichen Widerhall bei den Phantasten wir nicht beschrieben bekommen: Bleibt sie ganz im Kopf? Ist es eine Form von Autoaggression, wenn die Verweigerung aktiver sexueller Entspannung die Süße der Kopflust in die Nähe süßen Schmerzes treibt? Jenes Schmerzes, den Rousseau feiern wird?

 

Bis weit in seine sehr öffentlich ausgelebte Liebesgeschichte hinein veröffentlicht Abaelard seine nicht überlieferten Liebeslieder: Wenn ich überhaupt etwas zustande bekam, so waren das Liebeslieder (carmina amatoria), keine philosophischen Erkenntnisse.Die meisten dieser Lieder werden ... immer noch in vielen Gegenden verbreitet und gesungen besonders von denen, die sich eines ähnlichen Lebens erfreuen. (Zeilen 308ff) Direkt neben den Kirchen, in denen die Keuschheit und Jungfräulichkeit gepriesen wird, und den Klöstern, in denen das gelebt wird, ziehen die Vaganten mit ihren Liedern herum und wird die Kunst des Liebens in die Formen des Ovid gegossen. Alles das ist schon hohes Mittelalter.

 

Ovid, der die sinnliche Liebe zu einer Kunstform erhebt, der durch seine frühe Liebeslyrik den Eros zur höchsten Lebensform erhebt, dieser Ovid in dem Kloster des 11./12. Jahrhunderts?

 

Ovid, der im ersten Teil der Liebeskunst die „Jagd“ auf Mädchen im Zentrum Roms beschreibt, der Zirkus, Rennbahn und Theater empfiehlt, um an die Mädchen heranzukommen? Der beschreibt, wie man der begehrenswerten und noch unbekannten Nachbarin beim Spektakel mit der Hand an den Busen gerät oder dazu kommt, ihr Gewand so zu heben, dass es mehr zu sehen gibt?

 

Doch du zieh auf die Jagd vor allem im Rund des Theaters, / Reicher an Beut ist der Ort, als du dir selber erfleht. / Dort findest du eine zum Lieben für dich und zu tändelnden Spielen / Die für den Augenblick taugt – die du gern immer behältst. ...

 

Nicht entgehe dir auch das Kampfspiel edelster Rosse; / Mancherlei Vorteil gewährt's, füllt sich der Circus mit Volk. ... Setze dich hier, es verhindert kein Mensch, dicht neben die Herrin. / Seit an Seit geschmiegt, rück ihr so nahe du kannst. / Wolltest du nicht, du musst! Erfreulich eng sind die Sitze, / Gut, dass des Ortes Gesetz sie zu berühren dich zwingt. / Hier nun suche mit ihr ein trautes Gespräch zu beginnen: Was man öffentlich spricht, biete zuerst dir den Stoff ... Und wenn dann, wie es öfters geschieht, auf den Busen des Mädchens / Staub fällt, schüttle besorgt du mit den Fingern ihn ab. / Ist kein Staub auch da, dann schüttle, als ob er es wäre. ... Wird dein Auge das Glück haben, die Beine zu sehn. ... Solche Gelegenheit bietet beginnender Liebe der Circus / Oder des gaffenden Marktes grausenverkündender Sand. ('Ars amatoria', I, 89 etc bis 163, Alle Ovidzitate in der Übersetzung von Wilhelm Hertzberg/Liselot Huchthausen)

 

Rund tausend Jahre vor Abaelard hatte Tertullian erbittert verlangt, dass sich Christen von solchen Spektakeln fernhalten, und nicht nur wegen des heidnisch-kultischen Hintergrunds dieses Massenamüsements ('De spectaculis')

Schwerer noch für das christliche Mittelalter wiegt, dass Ovid im dritten Teil seiner 'Liebeskunst' auch noch die Mädchen und Frauen in der Kunst der Verführung unterrichtet:

 

Geht ins Theater und wählt Plätze, wo jeder euch sieht! / Sehet dem Kampfspiel zu, wo der Sand sich vom rauchenden Blut färbt, ... Was sich verbirgt, kennt niemand, und was man nicht kennt, entzückt nicht. / Kann dir ein schönes Gesicht nützen, wenn keiner es sieht? ...

 

Lernt auch, wie ihr beim Gehn weibliche Haltung bewahrt. / Ja, es liegt auch im Gang ein Reiz, der nicht zu verachten, / Männer, die nie euch gesehn, lockt er und stößt er zurück. / Diese bewegt mit Geschick die Hüften, die wallenden Kleider / Flattern im Wind...“ Selber ja wisst ihr euch weiß mit Schminke zu färben, / Und die nicht von Natur blühet, sie blühet durch Kunst.

 

Ovids Liebesgedichte haben in ihrer sprachlichen Schönheit und als Dokumente einer poetischen Leichtigkeit, mit der der Eros als Kunstform dargestellt wird, schon in der Antike keine Nachfolger gefunden. Der Einbruch des judäo-christlichen Orients war, was Körperlichkeit angeht, eine ungeheuerliche Zäsur - in der Wahrnehmung und der offiziellen Meinung. Die Rückkehr Ovids im Hochmittelalter wird noch genauer zu untersuchen sein, nicht zuletzt anhand des 'De amore' des sogenannten Andreas Capellanus: Zu den Wurzeln des Kapitalismus gehört auch der Zusammenstoß von Lebensbejahung und Lebensverneinung, der Kompromiss wird die schrittweise Heiligung der Warenproduktion und des Warenkonsums, die Umdeutung von Geiz und Gier (avariatia) in eine Tugend.

 

4. Kleriker und Kanoniker

 

Abaelard, der seinen Text mit Ovid schmückt, hat eine Tonsur und ist im niedrigsten Rang Kleriker, Heloysa nennt ihn sogar einen Kanonikus, sie selbst ist im Nonnenkloster von Argenteuil als kleines Mädchen erzogen worden. Alles das hier ist abendländisches Mittelalter und bleibt erst einmal so stehen. Es wird sich noch erweisen, dass damals ganz verschiedene Welten nebeneinander bestehen können, etwas, was die Neuzeit mit ihren zunehmend totalitären Ansprüchen, ihrer neuen Form des Vernunftglaubens dann – schon seit dem 16. Jahrhundert – auszutreiben versucht.

 

Was nun bedeutet sein Status als „Kanoniker“? Noch bevor im Königreich von Sizilien und Süditalien die ersten „Gesetze“ erlassen und in Gesetzessammlungen zusammengefasst werden, wobei an römische Rechtsvorstellungen wieder angeknüpft wird, beginnt die dem spätantiken römischen Erbe besonders verhaftete Kirche von Rom damit, religiöse Vorstellungen in rechtliche zu verwandeln, in kirchenrechtliche. Der kanón ist bei den alten Griechen eine Richtschnur oder eine Vorschrift. In der Kirche wird er das Gegenstück zu den lateinischen leges.

 

„Kanonisch“ ist also, was vom Haupt der römischen Kirche, dem Papst (und zunächst einem Konzil), als rechtens, rechtlich anerkannt wird. In der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts werden Sammlungen solcher Rechtsvorschriften, zuerst von Gratian, später von Leuten wie Ivo von Chartres angelegt, von dem also, was „kanonisch“ ist.

 

Die Kirchenreform setzt dabei durch, was seit Jahrhunderten offizielle Lehre war, aber in der Praxis umgangen wurde: Weltgeistliche sollen in der Nachfolge Christi „arm“, also eigentumlos wie Jesus sein, und sie sollen ehelos und idealer „keusch“ (castus) sein, also ihren Geschlechtstrieb niederkämpfen. Als drittes wird in der Nachfolge der Apostelgeschichte und der augustinischen Vorstellungen das Gemeinschaftsleben dieser armen und ehelosen Kleriker verfügt, was sich an die mächtigeren Kleriker richtet, die im Schatten der Kathedralen leben und fungieren. Den zentralen Beschluss fasst das Lateran-Konzil von 1059: Der höhere Klerus hat ein gemeinsames, reguliertes Leben zu führen, wobei man sich an den Regel des Augustinus orientieren soll.

 

„Kanoniker“ sind also von der Vorstellung her die Kleriker, die „kanonisch“ leben. Idealer sind das also alle. Laut Abaelard in seiner Historia calamitatum spricht Heloysa ihn in ihrer Ablehnung der Ehe als te clericum atque canonicum (Zeile 462) an, als jemand, der nach den neuen Vorstellungen der Kirchenreform nicht verheiratet sein sollte.

 

Alles spricht für die Vermutung, dass verstärkend gemeint ist, er sei ein kanonischer Kleriker, also ein durch Kirchengesetz gebundener. Erst langsam bildet sich in dieser Zeit der Wortgebrauch heraus, nachdem ein Kanoniker Mitglied eines Domherren-Kollegiums, des Domkapitels ist, derjenigen also, die nach den Vorstellungen der Reform-Kirche den Bischof wählen und in seiner Arbeit unterstützen. Solche Leute tragen nicht nur die Tonsur, womit sie zeigen, dass sie ihr Leben dem Dienst Gottes geweiht haben. Die eigentliche (Priester-)Weihe, die Abaelard ganz offensichtlich damals noch nicht erhalten hat, erst verleiht dem Kleriker dann jene magischen Kräfte, die in der Verfügung über die inzwischen bald sieben Sakramente bestehen.

 

Was also war Abaelard, der nach damaliger Auffassung „Kleriker“ war, und damit natürlich dem Kirchenrecht unterstand? Zunächst einmal stand er „unter“ denen noch, die die „niederen Weihen“ empfangen hatten, als da der Türhüter ist, der zudem die Glocken läutet, der Akolyth, der sich zum Beispiel um den Messwein kümmert, der Exorzist, ein Spezialist, der im Auftrag des Bischofs Teufel (bzw. Dämonen) austreibt, und der Lektor, der in der Kirche aus der „Heiligen Schrift“ vorliest.

 

Er war also das, was damals noch möglich war, er war ungeweihter Kleriker. Der kléros war im Griechischen das Los, also der Anteil an etwas (so wie es heute im Forst noch Holzlose gibt), zudem war es das Erbteil und das Landlos dort, wo Land verteilt wurde. Ein Kleriker hatte sich also für das Los des Gottesdienstes im weitesten Wortsinn entschieden. Bevor ein Kleriker geweiht wird, tritt er in den Klerikerstand durch die Tonsurierung ein. Bis vor wenigen Jahrzehnten war das jedenfalls so.

 

Selbstverständlich war es für die Kirche wünschenswert, dass auch ein ungeweihter Kleriker ehelos und keusch lebte, aber rechtlich gefordert wurde es nicht. Mit seinen Ovid-Zitaten und Anspielungen setzte Abaelard sich allerdings in krassen Widerspruch zur christlichen Sexualmoral. Nachdem Abaelard kurz vor 1120 Roscelin aggressiv durch einen Brief herausfordern wird, wird der die Seite der Respektablen in der Kirche so formulieren:

 

Ich habe freilich gesehen, dass ein Pariser Kleriker mit Namen Fulbert dich wie einen Freund in sein Haus aufgenommen, dich an seinem Tisch wie einen engen Vertrauten und zum Haus Gehörigen ehrenhaft verköstigt und dir seine Nichte, ein sehr kluges Mädchen von außerordentlicher Begabung, anvertraut hat. Du aber hast nicht nur jenen ehrenvollen Pariser Kleriker und Domkanoniker, deinen Gastgeber und Brotherrn vergessen, sondern auch verachtet, du hast das dir anvertraute Mädchen nicht verschont, das du wie ein Mündel hättest beschützen und wie eine Schülerin hättest unterrichten sollen; du hast aus entfesselter Triebhaftigkeit nicht Thesen aufgestellt, sondern sie Unzucht treiben gelehrt. In einer Tat wurdest du Angeklagter vieler Vergehen, des Verrats freilich und der Unzucht, du hast die Scham des Mädchens auf das Unflätigste verletzt.

 

Es ist seit Jahrzehnten Mode geworden, über den bedeutenden Magister Roscelin herzufallen, weil er, von Abaelard mehrmals herausgefordert, mit Bitterkeit antwortet. Aber er stellt den Bruch der Gastfreundschaft, des Vertrauens und den Missbrauch seiner Lehrer-Rolle durchaus korrekt dar. Ein Mädchen damals derart zu verführen und zu schwängern ohne Absicht, sie zu heiraten, heißt nicht nur, an deren Ehre und der ihrer Familie zu rühren, sondern auch, sie einem unter Umständen sehr unerfreulichen Schicksal auszuliefern.

 

Warum war Abaelard Kleriker geworden, der er Magister wurde? Wir können es nur vermuten und erschließen. Wirklich sichere Karriere konnte ein „Lehrmeister“ nur an einer Kathedralschule machen, und Abaelard spricht mehrmals von seinem Hochmut, seiner superbia. Zudem gab es dort die so wichtigen Handschriften und Schreiber. Tatsächlich war der Schriftkundige und der Kleriker fast synonym. Dass „Laien“ schreiben können (wie Heloysa), beginnt erst gerade und führt in dieser Zeit auch zum ersten Mal in größerem Umfang zu volkssprachlichen Texten.

 

Um die Zeit Abaelards dringt der clericatus als altfranzösischer clergé nach England, wo er daraus zum einen der clergyman wird (zum Geistlichen) und zum anderen zum clerk. Ein clerk, eigentlich ein Geistlicher, ist aber zugleich ein Schriftkundiger, und darum wird dann auch der weltliche Schriftkundige so benannt, der in einem Amt oder einer Schreibtätigkeit beschäftigt war. Heute ist es ein Büro-Angestellter.

 

In den französischen Kathedralschulen des 11. Jahrhunderts findet ein Prozess statt, der ganz vorsichtig die Trennung der „Theologie“ von der „Philosophie“ betreibt, wobei für Abaelard die Logik, Grammatik und Rhetorik sich von der Gotteslehre abtrennt, was bei ihm dazu führt, dass er seine geistlichen Texte, denen er sich zuwendet, nachdem er kastrierter Mönch geworden ist, in allen drei Versionen theologia nennt. Voraussetzung dafür ist, dass die wortwörtliche Lektüre der Bibel nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss gilt, sondern ihr vernünftiges Durchdenken, wie es vorbildlich schon Augustinus betrieben hatte.

 

Schließlich ist auch wichtig zu wissen, dass die namhaften Gelehrten der Zeit alle Kleriker waren, und auch die, die keinerlei Weihen empfangen hatten, waren in aller Regel ehelos, wenn auch nicht immer arm. Der beweibte oder gar verheiratete Stern am Philosophenhimmel wäre also eine Seltenheit, vielleicht sogar eine Sensation gewesen. Er wird es oft auch bleiben...

 

Der nächste Schritt im Ablauf des Geschehens ist für eine fruchtbare Frau, und das waren schließlich die meisten, unabweislich: Heloysa wird schwanger, wie sie ihm cum summa exsultatione, also mit höchstem Entzücken mitteilt, während seine Beschreibung ohne Gefühlsäußerung seinerseits auskommt. Stattdessen bringt er sie (oder lässt sie bringen) als Nonne verkleidet (...wie ich dich damals, als du schwanger warst, in meine Heimat gebracht habe, und zwar, um den Schein zu erwecken, als seist du eine Nonne, angetan mit dem heiligen Gewand. Im fünften Brief ) zu seiner Schwester sozusagen ins Ausland - in die Bretagne außerhalb Franciens, wo sie ein Kind bekommt, welches sie Astrolabius nennen.

 

Das Astrolabium ist ursprünglich ein astronomisches Gerät zur Darstellung der Drehbewegungen des Himmels. In der frühen Neuzeit wird es auch als nautisches Instrument eingesetzt. Übersetzt ist ihr Astrolabius wohl einer, der nach den Sternen greift, etwas poetisch ausgedrückt, oder aber, er ist der Stern, nach dem sie gegriffen haben.

 

Tatsächlich hat Abaelard sie nun als eine Art Geisel, für Fulbert und seine Leute unerreichbar, in seiner Familie untergebracht, weswegen der massiv in seiner Ehre gekränkte Fulbert sich an dem Schuldigen nicht rächen kann, wie Abaelard ausdrücklich betont.

 

Nun wird Abaelard auch nach dem Ehrenkodex seiner Zeit schäbig bis unverschämt, denn er bittet Fulbert um Verzeihung, indem er ihm klarmacht, dass nicht er, sondern die vis amoris, die Macht der Liebe, die wahre Schuldige sei – und dann müsse man bedenken, dass es seit Anbeginn der Menschheit die Frauen gewesen seien, die die Männer in den Ruin trieben (ruina deiecerint), wobei er in sich hineingegrinst haben mag. Dem mag der Kanonikus theoretisch zugestimmt haben, praktisch war das aber keine Genugtuung. Die offeriert nun Abaelard, Liebhaber und Kindsvater, indem er anbietet, die Verführte zu heiraten, dies aber unter der Bedingung, dass die Ehe heimlich bliebe.

 

Ehrensachen sind Männersachen, wie man sieht. Und diese Männer trennen zunächst den Geschlechtstrieb vom männlichen Ich als etwas äußerliches: Nicht er, sondern der Trieb ist schuld. Und mit dem poetischen Wort amor wird der Geschlechtstrieb dann auch noch in eine geschönte Form gebracht, denn mit amor ließ sich damals auch die Gottesliebe benennen. Schließlich geschieht genau das, was auch die Minnelyrik tut, sie fixiert den männlichen Eros auf die persona und die forma der Frau, die das Begehren auslösen. Von dort ist dann der Weg nicht mehr weit, kirchlich korrekt auf Eva zu rekurrieren, die erste Sünderin. Man möge sich daran erinnern, quanta ruina summos quoque viros ab ipso statim humani generis exordio mulieres deiecerint... (Zeilen 362ff) Das Subjekt, der Verführer, wird zum Objekt der Verführungskraft der Frau: Heloysa ist bei aller Passivität die Schuldige an seinem Sündigen.

 

Das sind unübersehbar der philosophische Evangelist Johannes und der Missionar Paulus und sind die ansonsten durchaus recht unterschiedlichen Kirchenväter: Der Mensch ist nur gut, wenn er „das Fleisch“ und den Geschlechtstrieb niederringt. Der Mensch, das ist vor allem der Mann, der weniger Fleisch und mehr Vernunft ist, während es bei der Frau genau umgekehrt ist. Die Vernunft muss also den Quell aller Lebendigkeit vernichten, so gut es geht, um einen Zustand vernunftgemäßer „Seligkeit“ zu erreichen. Abstand von allen Frauen, die solche unselige Lebendigkeit auslösen können, ist die einzige Lösung. Dank Kastration kann Abaelard sie „mühelos“ erlangen. Im Gespräch mit Fulbert, so wie er es über zehn Jahre später wiedergibt, ist diese Wende vorweggenommen. Im christlichen Sinne ist diese Wende eine „Bekehrung“.

 

Dieser Handel unter Männern findet ganz ohne Heloysa statt. Es ist wegen des Heimlichkeits-Vorbehaltes noch dazu ein Handel, bei dem Fulbert sehr schlecht wegkommt. Die weiter oben schon erwähnte Vermutung von Michael T. Clanchy bezüglich des massiven Schutzes, den Abaelard wohl bis dahin genoss, bekommt hier eine gewisse Bestätigung (Clanchy). Die Ehre des zur Frau gewandelten Mädchens, der puella, wie Abaelard sie immer noch nennt, wird nicht erwähnt, und da sie quasi in Geiselhaft ist, geht es auch nicht darum, ihre Einwilligung einzuholen. Als Abaelard ad patriam reist, um aus der amica seine uxor, seine Ehefrau zu machen, weist sie ihn denn auch erst einmal zurück.

 

5. Ehe

 

In der Historie seiner Kalamitäten beschreibt Petrus Abaelard ausführlich, wie Heloysa die Ablehnung der Ehe zwischen ihnen begründet. Er wird ihre Argumente nicht erwidern, sondern sie desungeachtet heiraten. Sie wird ihm später auf seinen Bericht erwidern, dass er höchst unvollständig sei. Zunächst aber zu zwei Fragen: Warum möchte Abaelard Heloysa heiraten, und warum auf jeden Fall heimlich?

 

Abaelards Liebes-Leidenschaft war nach eigener Aussage eine doppelte: Er begehrte ihren Körper, die Triebabfuhr in ihm, und er liebte sie wohl wegen ihrer hohen Bildung und ihres „hohen Sinnes“, um hier einmal eine so mittelalterliche Ausdrucksweise zu verwenden. Um mit ihr zusammensein zu können, musste er sie wieder aus der Bretagne nach Paris zurückbringen. Damit sie dann nicht in den Händen Fulberts und er der Rache seiner Familienehre ausgeliefert war, musste er die Ehe als Konzession ihm gegenüber eingehen.

 

Mit der Ehe aber würde er unbegrenzt über ihren Körper verfügen, denn sie durfte sich ihm dann weder nach kirchlichem noch nach weltlichem Recht körperlich verweigern. Aus kirchlicher Sicht, eben weil die Ehe als ebenso schlechte wie erlaubte Möglichkeit der Eindämmung des Geschlechtstriebes durch dessen exklusives Ausleben in der ehelichen Bettstatt gedacht war. Aus weltlicher Sicht, weil die Frau mit der Eheschließung aus der „Munt“ des Vaters in die des Bräutigams überging, über die er auch physisch verfügen konnte, bis hin zur körperlichen Züchtigung bei deren Fehlverhalten.

 

In den ebenso knappen wie präzisen Formulierungen von Gilson klingt das so: „Abälard wollte also Heloise für sich allein, und zwar für immer. Und das einzige Mittel für ihn, sie auf immer an sich zu binden, war, sie zu heiraten: „cum cuperem te mihi supra modum dilectam in perpetuum retinere.“ (Gilson, S.38) Zu Recht erwähnt Gilson jene eindeutige Passage im fünften Brief, in der er seinen Ehewunsch damit begründet, weil ich dich begehrte, dich, die ich über die Maßen liebte, für immer zu behalten, und dann zwei Zeilen später: Si enim mihi antea matrimonio non esses copulata, facile in discessu meo a saeculo, vel suggestione parentum, vel carnalium oblectatione voluptatum, saeculo inhaesisses. (V, 18).

Also: Nach seinem Abgang ins Kloster hätte sie entweder das Zureden ihrer Eltern bzw. Verwandten (nun ist sie schon Mutter, dann soll sie doch wenigstens nicht ehelos bleiben) zur Heirat mit einem anderen gebracht, oder die lockende Aussicht auf des Fleisches Lust hätte sie an die Welt angebunden. Deutlicher gesagt, nicht nur die Mutterschaft, sondern ihre Fleischeslust hätte sie von ihm entfernt.

 

Kurz gesagt: Abaelard wollte sie heiraten, um sie nicht zu verlieren. Dass es sich dabei auch um Genugtuung für Onkel Fulbert handelt, muss dort nicht mehr wiederholt werden, wo es später darum geht, Heloysa nur noch mit ihrem Klosterleben zu versöhnen. Wie disponiert für sexuelle Lustbarkeiten Heloysa war, erfahren wir hier nicht, aber sie ist es offensichtlich schon gewesen. Ihre wohl nicht geringe libidinöse Innenwelt wird uns noch beschäftigen, zunächst einmal ist sie machtvoll genug, dass sie die Missbrauchs-Aspekte seines sexuellen Verhaltens ihr gegenüber beiseite schieben kann.

 

Warum er nun nur heimlich heiraten und die Ehe geheim halten will, dafür hat er in der 'Historia' einen kurzen Nebensatz: ne famae detrimentum incurrerem. (Zeile 367f) Die fama, die also durch das Bekanntwerden seiner Verehelichung „Schaden erleiden“ würde, ist sein guter Ruf, seine Ehre (soweit nicht honor gemeint ist), der Ruhm, der sich mit seinem Namen verbunden hat.

 

Aus alledem ergibt sich zunächst ganz klar, dass von vorneherein die erotische Affaire der beiden nicht in einer Ehe enden sollte, und da Heloysa die Ehe ablehnen wird, gilt das auch für sie. Zum anderen wird deutlich, dass die Ehe, nicht die Liebesgeschichte seinem guten Ruf abträglich würde. Und hier trifft sich seine Position mit der von Heloysa, mit dem einzigen Unterschied, dass für sie die „Schande“ (turpitudo) einer Ehe für ihn anständigerweise nicht durch deren Verheimlichung, sondern durch deren Unterlassung verhindert werden sollte. In der längsten eingehenden Abhandlung der Historia calamitum gibt Abaelard viel später in der Erinnerung Heloysa ausführlichen Raum für ihre damalige Erklärung, was an der Ehe des philosophierenden Gelehrten schändlich sei. Er tut das, weil sie wohl nichts anderes macht, als ihm seine höchsteigene Position entgegenzuhalten. Was ihn damals von der abhält, ist sein sexuelles Begehren, er betont es mehrmals selbst.

 

Hier bietet sich nichts mehr an, als die Textlektüre noch einmal entlang der gelehrten Darlegung von Étienne Gilson zu vollziehen. Turpis ist sowohl hässlich wie schändlich wie unanständig – all das wäre also die Ehe für den Philosophen. Tausend Jahre vor und nach dieser Rede werden sich zahlreiche „Philosophen“ exakt ihr entsprechend verhalten.

 

Zunächst ist festzustellen, dass Heloysa ihre ganze Rede hindurch nicht von sich redet, sondern nur von ihm. Sie, die ihn mit einer „reinen“ Absolutheit liebt, begreift ihre Liebe uneingeschränkt als Dienst an ihm, sie stellt also das Gehabe der Dienstbarkeit des höfisch „liebenden“ Mannes gegenüber seiner selbstgewählten „Herrin“ auf den Kopf. Und darum referiert sie vor ihm das, was seine Position war und für immer bleiben wird. Bis auf einen kurzen, an Ovid erinnernden und auf Andreas Capellanus vorausweisenden Abschnitt am Schluss ist ihre Rede auf den Positionen des Kirchenvaters Hieronymus aufgebaut, der wiederum das weiterentwickelt, was Paulus in seinen Gemeindebriefen vorgegeben hatte.

 

Darum leitet sie ihr Referat mit einer Kernäußerung aus dem ersten Brief an die Korinther ein: Solutus es ab uxore? Noli quaerere uxorem. (Wer keine Ehefrau hat, sollte darüber froh sein und nicht danach streben, eine zu finden). Si autem acceperis uxorem, non peccasti, et si nupserit virgo, non peccabit. (Mann und Jungfrau sündigen aber nicht, wenn sie heiraten). Tribulationem tamen carnis habebunt huiusmodi. Ego autem parco vobis... Paulus möchte sie vor dem Ungemach „fleischlicher“, also sexueller Anwandlungen verschonen. Es ist also nicht das brave Ausleben von Sexualität in der Ehe selbst, welches schadet, der Geschlechtstrieb schadet vielmehr grundsätzlich, weil er von den geistlichen Aufgaben ablenkt, auf die Erde hinunterzieht anstatt das Leben himmelwärts auszurichten.

 

Damit macht Paulus deutlich, dass die Ehe eher etwas für die schlichten Gemüter mit starker Libido sei, während Leute wie Abaelard, christliche Gelehrte, und Leute mit dem Bestreben nach besonderer Heiligkeit sich vollkommener Keuschheit befreißigen sollten. Solche Stellen werden die Grundlage sein für die spätere Entwicklung eines zölibatären Klerus: In der Ehe wird der Geschlechtstrieb einerseits domestiziert, andererseits verpflichten sich beide aber zwecks Domestikation, ihn auch auszuleben. Und zudem kann ihrer beider Miteinander ihn auch gegenseitig anstacheln, anstatt ihn zu mildern.

 

Wenn Heloysas Argumentation nun entlang der Darlegungen des Hieronymus in 'Adversus Iovinianum', 'De viris illustribus', in seinen Briefen und anderen Texten verläuft, erläutert sie ihre Position mit dem, der für Abaelard eine zentrale Autorität ist. Im Brief 8 des Abaelard an Heloysa wird er der maximus ecclesiae doctor et monasticae professionis honor Hieronymus (VIII,131: „der größte Lehrer der Kirche und die schönste Zierde des Mönchsstandes“).

 

Hieronymus kokettierte gerne mit seiner Begeisterung für Cicero, und war eitel genug, auf seine klassische Bildung stolz zu sein. Auf diese Weise gelang es ihm, eine Anzahl römischer Autoren, neben Cicero vor allem auch Seneca, für rund tausend Jahre in die christliche Gelehrsamkeit zu integrieren.

 

Diese Bildungskoketterie beschreibt Gregor von Tours in der Einleitung seines 'Liber in gloria martyrum': Hiernonymus ... berichtet, er sei vor den Richterstuhl des ewigen Richters geführt und zur Strafe heftig geschlagen worden, weil er öfter die Spitzfindigkeiten Ciceros und die Irrtümer Vergils gelesen habe, und er habe vor den heiligen Engeln dem Herrn selbst versprochen, dass er nie mehr solches lesen oder sich weiter damit abgeben werde...

 

Laut Abaelard zitiert Heloysa 'Ad Iovinianum': „Cicero wurde von Hyrtius gefragt, ob er nicht nach der Scheidung von Terentia die Schwester des Hyrtius zur Frau nehmen wolle. Cicero lehnte das zur Gänze ab, indem er sagte, er könne sich nicht zugleich (gleichermaßen, pariter) mit einer Ehefrau und der Philosophie beschäftigen.“ Er sagt nicht: „beschäftigen“, sondern „zugleich beschäftigen“; er wollte nichts tun, was dem Eifer für die Philosophie gleichkäme. (Zeile 401ff)

 

Im Kern macht sie sich Sorgen um seine klerikale Stellung und die Ausübung seiner Gelehrsamkeit. Das Geld würde für keine große Wohnung reichen, in der diese Gelehrsamkeit sich räumlich hinreichend vom Haushalt abschotten könnte - und was sie bei Abaelard nicht sagt: Ihre in manchen Dingen (vielleicht) seiner überlegene literarische Bildung würde sich in den Mühen dieses Haushaltes verlieren. Wie sollte das Philosophieren (ein Synonym für Studieren) zusammengehen mit – Haushaltshilfen, mit Wiege und Wollknäuel und Spinnrad in unmittelbarer Nachbarschaft. Welcher Mann, der sich in geistliche oder philosophische Studien vertieft, könnte Kindergeschrei aushalten, die Lieder der Kindermädchen, die die Kinder beruhigen, die lärmende Menge eines aus Männern und Frauen zusammengesetzten Haushaltes... den Schmutz der Kleinen. (Zeile 408ff).

 

In ' Adversus Helvidius de perpetua virginitate b.Mariae' schreibt Hieronymus fast entsprechend, nur auf die Frau bezogen:

 

Der Jungfrau Bestimmung besteht darin, heilig zu sein an Körper und Geist, weil es einer Jungfrau nichts nützt, Fleisch zu tragen, wenn sie im Geiste heiratet. "Die aber verheiratet ist, ist auf das Weltliche bedacht, wie sie ihrem Mann gefalle". Kommt es etwa für dich auf das gleiche heraus, Tag und Nacht dem Gebete zu weihen und zu fasten, oder bei Ankunft des Gatten ein freundliches Gesicht zu machen, ihm entgegenzueilen, Schmeichelreden zu heucheln? Jene sinnt darauf, noch häßlicher auszusehen und die natürlichen Vorzüge zu entstellen. Diese aber schminkt sich im Spiegel, und ihrem Schöpfer zum Trotz sucht sie schöner zu sein, als die Natur es gegeben hat. Dann schwatzen die Kleinen, das Gesinde lärmt, da hängen an ihren Küssen und an ihrem Munde die Kinder, man rechnet die Ausgaben zusammen, man richtet sich auf den nötigen Aufwand ein. Hier zerhackt die geschäftige Schar der Köche das Fleisch, und eine Reihe von Weberinnen flüstert zusammen. Unterdessen trifft die Meldung ein, daß der Herr mit seinen Gästen angekommen ist. Die Herrin durchmustert nach Art der Schwalbe alle Gemächer, ob das Polster aufgefüllt und der Fußboden gescheuert ist, ob die Becher sauber sind, ob das Mahl fertig dasteht. Ich bitte dich, mir Auskunft darüber zu geben, wo bei all diesen Beschäftigungen ein Gedanke an Gott Platz hat? Und dies sollen glückliche Häuser sein! Übrigens, wo die Pauken erschallen, wo die Flöte geblasen und die Leier geschlagen wird, wo die Zimbel lärmt, was für eine Gottesfurcht wohnt da? Der Schmarotzer gefällt sich in Schmähreden; es treten ein der bösen Lust preisgegebene Opfer, welche bei ihrer dünnen Kleidung sozusagen nackt den schamlosen Blicken sich aussetzen. An diesen Dingen ergötzt sich nun die unglückliche Gattin und geht zugrunde, oder sie nimmt Anstoß daran und gerät mit ihrem Gatten in Streit. Daher kommt die Zwietracht, die Pflanzstätte der Ehescheidung. Wenn es aber ein Haus gibt, welchem solche Dinge fremd sind, was für ein seltener Vogel ist das nicht? Doch wen würden die Verwaltung des Hauswesens, die Erziehung der Kinder, die Bedürfnisse des Mannes, die Zurechtweisung der Dienstboten nicht vom Gedanken an Gott ablenken?

 

Nach ihrer Vision eines unphilosophischen Hausmanns-Daseins geht es dank Hieronymus zu Seneca und zu jener Stelle aus des Kirchenvaters 'De viris illustris' , in der über etwas apokryphe Paulusbriefe der Bogen zwischen dem Evangelium und dem großen Stoiker gespannt wird:

 

Lucius Annaeus Seneca aus Cordova, Schüler des Stoikers Sotion, väterlicherseits Onkel des Dichters Lukan, führte ein Leben hoher Enthaltsamkeit (continentissimae vitae fuit). Ich würde ihn nicht dem Verzeichnis heiliger Autoren einverleiben, wenn mich nicht die Briefe des Paulus an Seneca und die des Seneca an Paulus, die so viele Leser finden, dazu bewegten. Obwohl Seneca Neros Lehrer und ein sehr mächtiger Mann seiner Zeit war, erklärt er hier, dass er unter den Heiden denselben Platz anstrebe, wie Paulus ihn unter den Christen inne hätte. Zwei Jahre, bevor Petrus und Paulus die Krone des Martyriums empfingen, ließ ihn Nero töten. (im Deutsch von Thieme-Paetow, den Übersetzern von Gilson, S. 29)

 

Der Verweis auf Lukian/Lukan wird noch bedeutsam werden, denn dessen 'Pharsalis' scheint mir der einzige Text zu sein, den Heloysa unabhängig von Abaelard verwendet und in dem sie ihren Moment der Selbstbehauptung in all ihrer großen und „reinen“ Liebe zu Abaelard findet. Wichtiger ist folgendes: Nicht der Glaube, sondern der Lebenswandel macht hier die Heiligkeit aus. Dies ist Teil der römischen Wende gegen Paulus, die sich zwischen Tertullian und Augustinus vollziehen wird, und die wenig Beachtung findet: Von der Position des Glaubens, der die Gnade Gottes findet, geht es zu den Werken der Lebensführung, und von dort wird in den Bekehrungen der Germanen das Prinzip des do ut des so machtvoll Eingang ins Christentum finden, welches sich damit massiv von der paulinischen Rezeption der Interpretation Jesu in den Evangelien abwendet, so dass die lutherische (und auch die calvinsche!) Reaktion darauf unter den Bedingungen aufgeblühter Bürgerlichkeit und der „humanistischen Gelehrsamkeit“ fast unausweichlich wird.

 

In der zweiten Version seiner 'Theologia' (Christiana) wird Abaelard genau das mit folgenden „ketzerischen“ Worten bestätigen:

 

Wir stellen fest, dass die Lebensführung der heidnischen Philosophen und auch ihre Lehre die Vollkommenheit der Botschaft der Evangelisten und Apostel wirklich ganz nachhaltig zum Ausdruck bringt; sie unterscheiden sich von der christlichen Religion in keiner Weise oder doch nur in ganz geringem Maße. (deutsch in Clancy, Abaelard, S. 350) Die Botschaft des Neuen Testamentes ist demnach Lebensführung und nicht Metaphysik...

 

Das Wesentliche am Lebenswandel (der Seneca merkwürdigerweise fast zum christlichen Märtyrer in den Augen des Hieronymus macht) aber ist die „Enthaltsamkeit“. Bei Seneca heißt sie zwar pudicitia, was eher Schamhaftigkeit meint, eine die Sexualität nicht grundsätzlich ablehnende Form der Keuschheit. Desgleichen ist die Senecasche Kritik am Luxuskonsum zum Beispiel in den moralischen Briefen an Freund Lucilius keine christliche Weltabgewandtheit, dennoch ist der mächtige Einfluss der Stoa auf das Christentum unübersehbar.

 

Und entsprechend heißt es bei Abaelard ...Seneca, dieser größte Eiferer für Armut und Enthaltsamkeit und unter allen Philosophen der größte Sittenlehrer...(Brief VIII an Heloysa,105) In seinen erhaltenen Predigten (sermones) wird Abaelard immer wieder auf Seneca zurückkommen und ihn gelegentlich wörtlich zitieren.

 

Und so zitiert Heloise laut Abaelard aus dem 72. „moralischen“ Brief des Seneca an Lucilius: Nicht nur, wenn du die Muße hast, musst du philosophieren, du musst vielmehr alles andere vernachlässigen, um dich diesem Studium zu widmen, denn die Zeit dafür ist niemals lang genug ... Die Philosophie unterbrechen bedeutet fast dasselbe wie nicht zu philosophieren, denn sobald man sie unterbricht, verschwindet sie. ... Man muss also andern Beschäftigungen absagen sie loswerden, anstatt sie zu vermehren.

 

Wenn man nun Philosophie durch Beten ersetzt, ist das fast wörtlich in den Paulusbriefen wiederzufinden. Hieronymus weiß das: Der Apostel befiehlt uns in der Tat (1 Thess.5,16-17), immer zu beten. Immer heißt hier jederzeit, und nicht nur fünfmal am Tag! Im 22. Brief an das fromme Mädchen Eustochium sagt er nämlich: aut oramus semper et virginis sumus, aut orare desinimus ut coniugio serviamus. (in Gilson, s.o. S. 33): „Entweder wir beten immer und gehören der Jungfrau, oder wir lassen das Beten, um der Ehe (d.h. dem Begatten) zu dienen.“

 

Die Neuzeit im übrigen wird „beten“ durch „arbeiten“ ersetzen, und der Lohn ist nicht mehr das Himmelreich (es bleibt nominell noch eine Weile bestehen), sondern das Geld für den Warenkonsum.

 

Was noch zu erwähnen bleibt, ist, dass laut Abaelard Heloysa ihm gegenüber auch noch des Hieronymus Tradierung der frauenfeindlich nutzbaren griechischen Legenden über Xanthippe anschließt, der Gattin des Sokrates: Als er einmal den endlosen Beschimpfungen, die Xanthippe aus dem oberen Stockwerk über ihn herabschickte, widerstand, übergoss sie ihn mit ekelhaftem Dreckwasser. Nachdem er sich den Kopf abgetrocknet hatte, antwortete er nur: „Ich wusste, dass auf einen solchen Donner Regen folgen würde.“ (Zeile 472ff)

 

Und genau so wird sich später Abaelard in einer Version seiner 'Theologia' äußern: Inde Hieronymus et Theophrastus dicunt: nulli sapienti ducenda est uxor. Kein Weiser also soll sich eine Frau ins Haus holen, bei anderem nämlich, etwa bevor wir ein Pferd kaufen, können wir die Beschaffenheit zuvor erproben; ein Weib aber dürfen wir nicht erproben, eh' wir's heimführen. (Dieser ebenso uncharmante wie vernunftgemäße Vergleich ist im Deutsch von Gilson, S.137 hier übernommen).

 

Erwähnenswert ist, und es wird kaum erwähnt, dass sowohl Heloysa wie auch Abaelard völlig die kirchliche und mönchische Argumentation des 11. Jahrhunderts auslassen, also die großen fast zeitgenössischen Traktate für das Zölibat. Auf die 112. Epistel des Petrus Damiani bin ich bei Lektüre eines Aufsatzes von D.N. Hasse gestoßen, die zentrale Elemente der Heloysen-Argumentation ein halbes Jahrhundert vorher formuliert, und dessen Texte sehr verbreitet waren:

 

Quod sane tempus invenient, quo debeant vacare coniugio ... Hier wird das vacare philosophiae umgestellt: Wie sollen sie (die Kleriker) überhaupt die Zeit finden, in der sie sich mit der Ehe beschäftigen müssen, wo sie doch nie vom Gehorsam gegenüber kirchlichen Pflichten freigestellt werden? So schreibt Paulus an die Korinther: Wer ohne Frau ist, sorgt sich (sollicitus est) um das, was Gottes ist, so wie es Gott gefällt (placeat). Wer aber mit einer Frau ist, sorgt sich um das, was der Welt ist, wie es der Frau gefällt. Wer also den priesterlichen Pflichten dient, muss sich ständig (semper) um das, was Gottes ist, kümmern, damit er nicht durch den Geschlechtstrieb (carnales affectus) seine Aufmerksamkeit (animum) teilt. Aber wie kann jemand seine Sorge und Aufmerksamkeit immer auf den Schöpfer richten, dessen Herz mit einer Frau fest verknüpft ist? (Abaelards 'Historia calamitatum', hrsgg. Von D.N.Hasse, Berlin 2002, S.269f)

 

Hasse erklärt diese Auslassung auch selbst (S. 272f): „Die kultische Reinheit der Priester, ihre Unbeflecktheit, die Beschmutzung ihrer Hände durch die Berührung des weiblichen Körpers, die auch das Blut und den Leib Christi berühren – diese Rhetorik vermeidet Abaelard weitgehend.“

 

Es fehlt ihm die aus Ekel, Scham und Schuldgefühlen bestehende klerikale und mönchische Haltung, die im 11. Jahrhundert so virulent wird; hatte er doch die Lust mit Heloysa als positiv erlebt. Mit ihr fehlt ihm auch das, was ihm modische Kommentatoren der Gegenwart als „Frauenfeindlichkeit“ vorwerfen – im Unterschied zu den Reformern des 11. Jahrhunderts. Was immer er in den Briefen an sie schreiben wird, ist weder sexualfeindlich noch frauenfeindlich, sondern darauf aus, ihr die von ihm verschuldete Lage erträglicher zu machen durch Zureden, Überreden, und natürlich – was sonst – mit religiösen Argumenten.

Die Passagen vor seiner Wiederbegegnung mit Heloysa, in denen er für männliche Dominanz im monastischen Raum plädiert, bevor sie ihn ein wenig eines besseren belehrt, können nur Leute „frauenfeindlich“ nennen, die einer platten und derzeit modischen Gleichheitsideologie verfallen sind, - wenn man einmal von seinem Juvenalzitat absieht.

 

Was bleibt, ist der kurze persönliche Einwurf der Heloysa am Schluss: ...wieviel lieber wäre es ihr und anständiger für mich, wenn sie meine Freundin und nicht meine Ehefrau genannt würde, damit mich nur die Zuneigung ihr bewahren würde und nicht die Kraft ehelicher Fesseln zwingen würde. In dem Maße, in dem wir dann zeitweilig getrennt wären, würden wir die Freuden des Zusammenseins umso mehr genießen, je seltener sie wären. (Zeilen 476ff)

 

Dies nun unterscheidet sich, was man nicht übersehen sollte, grundlegend von allem zuvor gesagten und bei genauer Lektüre bleibt festzuhalten, dass jenseits ihrer grenzenlosen Liebe zu Abaelard Heloysa auch schon vor ihrem ersten Brief an Abaelard sich weit jenseits der heiligen Schriften und der Ebene der Gelehrsamkeit über das Thema Liebe äußern kann – ganz offensichtlich im Unterschied zu Abaelard sowohl vor wie auch nach seiner „Entmannung“.

 

Zum einen spielt sie sehr deutlich darauf an, dass es eifersüchtiges sexuelles Begehren ist, wegen dessen Abaelard ihr die Ketten des Ehestandes anlegen möchte, was ihr nicht gefallen kann, zum anderen knüpft sie damit an jene antike Liebeskunst an, die sich auch beim besten Willen nicht christlich umdeuten und derart integrieren lässt. Und genau so taucht sie in ihren sämtlichen Briefen wieder auf, in denen kein Gott, wie Gilson sehr richtig feststellt, ihr das klösterliche Dasein begründen kann, ja – in ihren Texten kommt kein Gott vor, gegen den sie nicht sich aufzulehnen bereit ist.

 

Der Gedanke drängt sich zum ersten Mal auf, den schon so mancher formuliert hat: In den zwei Jahrzehnten nach Abaelards Tod mag Heloysa in einer Redaktion der 'Historia' und der Briefe und übrigen (Abaelard)-Texte einzelne Veränderungen vorgenommen haben. Diese Passage der 'Historia' von Zeile 476 bis 481 und vielleicht auch noch der nächste Absatz wirken wie eingeschoben, wie ein Fremdkörper in einer gelehrten, sich ganz und gar auf antike Quellen bezogenen Abhandlung. Der obige Absatz beginnt mit addebat, - sie fügte hinzu, - und dann heißt es sibi carius existeret, ihr wäre es lieber ... Das ist tatsächlich die einzige Passage in der 'Historia', in der sie jenseits ihrer Verehrung für den „Meister“ zu Wort kommt, und an sie schließen sich die beiden Briefe an, die ebenso persönlich und ohne gelehrte Ableitungen von ihrem Gemütszustand und ihrem persönlichen Leiden handeln. Das ist auch ihre Sprache, sie besitzt jenseits der Gelehrsamkeit noch jenen elementaren Gefühlshaushalt, der Abaelard durch sein ganzes Leben so traurigerweise abgeht.

 

Kurz und gut, sie möchte lieber seine Freundin (amica) sein, die ihn gelegentlich besuchen kommt. Aber all ihr Weinen und Schluchzen, welches er erwähnt, nutzt nichts, das Kind wird bei der Schwester in Obhut gegeben, sie reisen heimlich nach Paris zurück und werden im Beisein von Onkel und Verwandten genauso heimlich im Morgengrauen in einer Kirche getraut. Zwischen Onkel und Bräutigam ist sie rechtlos. Sie gibt klein bei: nec me sustineret offendere, schreibt Abaelard so ungeniert wie aufrichtig in seiner 'Historia' (Zeile 483). Es war also für sie unerträglich, ihn zu verletzen. Er war um die vierzig, sie vielleicht achtzehn Jahre alt. (Anm.4)

 

6. Katastrophe

 

Die nächsten Dinge werden jetzt Schlag auf Schlag erzählt: Heloysa lebt weiter in Fulberts Haus, und die beiden treffen sich nur noch selten und heimlich, was Fulbert kaum gefallen haben kann. Michael T. Clanchy beschreibt die für uns heute absurd wirkende Situation unter der Überschrift „Die Eheschließung als Scheidung“ und Abaelard beschreibt sie so in seiner 'Historia':

 

Moxque occulte dividim abscessimus nec nos ulterius nisi raro latenterque vidimus dissimulantes plurimum, quod egeramus. (Schon bald gingen wir getrennt auseinander, und sahen uns seitdem nur noch selten und heimlich, wobei (wodurch) wir das, was wir getan hatten, weithin verheimlichten). Heloysa wird später in ihren Briefen an Abaelard auf den ihr auferlegten Widersinn zurückkommen, dass sie in den vorehelichen Beziehungen sehr ungeniert, und in den ehelichen völlig verdruckst handeln. Die Heirat war das Schändlichere von beidem...

 

Der Onkel möchte wohl eine ordentliche Ehe aus dem Vorgefallenen machen und macht sie darum öffentlich. Wie sollte diese Ehe auch seine Ehre wiederherstellen, wenn sie geheim bliebe. Heloysa leugnet die Heirat darauf pflichtschuldigst ab, was ihr wehgetan haben muss: illa autem e contra anathematizare (sie verfluchte sich selbst) et iurare, quia falsissimum esset. ( Zeile496f) Das ruft große Szenen hervor. Abaelard „schickt“ sie (transmisi eam) in das Nonnenkloster von Argenteuil bei Paris, wo sie schon als junges Mädchen erzogen worden war, das heißt sowohl aus der Verfügungsgewalt des Onkels heraus wie auch aus jener Freiheit, die ihr eigene und ihm vielleicht unliebsame Entscheidungen ermöglicht hätte. Vor allem schickt er sie aus dem Blickfeld seiner Oberen im Dombezirk. Nun wird sie entweder „verkleidet“, - oder sie wurde wirklich zur Konversen.

 

„Auf meine Veranlassung wurde für sie ein Nonnengewand ohne Schleier angepasst und angezogen“ (aptari feci et his eam indui, und ich kleidete sie (als Nonne) ein).“ Er versteckt sie also, offenbar ohne sie zu fragen, im Kloster und verkleidet sie als Nonne ohne sie zu einer solchen zu machen. Sie wird später in einem Brief an ihn davon berichten, dass er sie schon auf dem Weg in die Bretagne zur Kindsgeburt als Nonne verkleidet hatte.

 

Ihre kindliche/jugendliche Bildung hatte eine Frau nördlich von Rom wie Heloysa ohnehin nicht auf den Stand der Ehe vorbereitet, sondern auf den einzig für ein Mädchen möglichen, den einer (gelehrten) Nonne, und so sie hinreichend vornehm war, auf die Berufung zur Priorin oder gar Äbtissin. Aber das war spätestens nach ihren erotischen Erfahrungen mit Abaelard nicht mehr ihr Wunsch.

 

Und es wird später noch mehr herauskommen in ihrem Briefwechsel: Dass er sie im Refektorium des Klosters bei einem Besuch mehr oder minder vergewaltigen wird und dass ein Teil der sexuellen Handlungen schon zuvor im Hause des Onkels offene Gewaltakte gegenüber ihr waren. Sie wollte Zuneigung, er Triebabfuhr, lässt sich erschließen:

 

Du erinnerst dich: Als du nach unserer Verheiratung bei den Nonnen im Kloster Argenteuil lebtest, kam ich eines Tages privat, um dich zu besuchen, und du weißt wohl noch, was dort die Unbändigkeit meiner Leidenschaft mit dir trieb, und zwar in einem Winkel des Refektoriums selber, da wir sonst keinen Ort hatten, wohin wir uns hätten zurückziehen können. Du weißt, dass damals unser Tun den ehrwürdigen, der heiligen Jungfrau geweihten Ort geschändet hat. (Brief V, 14)

 

Nicht die Tatsache gewalttätiger Sexualität ist ungewöhnlich, sondern das Bekenntnis dazu, wie denn auch ähnlich wie bei Augustinus und vor allem bei Rousseau Konfessionen Mischungen aus Reue und Rechtfertigung sind, Darstellungen von ans Bewusstsein tretenden Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten, die aus unterschiedlichen Impulsen resultieren. Ein Aspekt im Text anderthalb Jahrzehnte danach ist sicherlich sein Wunsch, ihr sexuelles Begehren ihm gegenüber mit solchen unerfreulichen Erinnerungen zu dämpfen. Aber wir erfahren hier auch, dass es erstmal keine fromme Bekehrung des Abaelard ohne seine Kastration gegeben hätte.

 

Der Onkel Fulbert sieht im Abschieben ins Kloster einen Bruch des Ehevertrages und damit die finale Zerstörung seiner Ehre. Im Ergebnis hat Abaelard durch die dank Geburt des Kindes förmlich aufgeflogene Entjungferung seine Ehre angegriffen und durch die scheinbare Aufkündigung der Ehe deren Wiederherstellung zurückgenommen. Der Kanonikus fühlt sich also zur Rache berechtigt und hält sich an die Grundsätze des germanischen Gewohnheitsrechtes, welches durch das alttestamentarische Talionsrecht (Auge um Auge...) noch religiös überhöht ist. Tatsächlich war er zunächst der Vorstellung gefolgt, dass der Täter adäquate Vergeltung anbieten muss. Das war hier die Ehe. Erst als Abaelard sich ihr entzieht, entschließt er sich zur Rache, und zwar nach dem Prinzip der Spiegelstrafe.

 

Abaelards Diener wird bestochen und nachts kommen gedungene Täter ins Haus, überwältigen Abaelard und entmannen ihn professionell, d.h. ihm werden die Hoden herausoperiert, corporis mei partibus amputatis, quibus id, quod plangebant, commiseram (Zeilen 510f). Das düpiert allerdings die kirchliche Gerichtsbarkeit, die für die Kleriker des Dombezirks zuständig ist. Zudem wurde diese Bestrafung am rechtmäßigen Ehemann, wie schon Fulko von Deuil belegt, wohl von vielen für überzogen angesehen: Du hattest deine Glieder dem Schlaf anvertraut, du hattest gegenüber niemandem Böses im Sinn, als ... (Brief an Abaelard post factum) (Anm.5)

 

Zwei der Täter werden gefasst und ihnen blüht nun das, was ein seiner Sache sicherer Fulbert wohl auch an Abaelard vollzogen hätte: Sie werden nicht nur kastriert, sondern auch geblendet. Wer das tat, ist unbekannt, es gibt die Vermutung, dass es Leute des Étienne de Garlande waren, was allerdings nicht belegbar ist. Fulbert selbst wird von der bischöflichen Gerichtsbarkeit für ein, zwei Jahre (bis 1119) aus seinem Stand verstoßen und sein Eigentum wird eingezogen. Nach mehreren Jahren solcher Buße finden wir ihn allerdings in sein Eigentum und seinen Stand zurückgekehrt wieder in Paris. Das hatte er dadurch erreicht, dass er die in seinem Auftrag handelnden Leute verleugnete und so ihrem Schicksal überließ.

  

Sexuelle Delikte unterlagen bis ins hohe Mittelalter eher der Privatrache als dem öffentlichen Recht. Kastration und Blendung als Bestrafung der beiden Organe des Verbrechens war relativ üblich. In den 'Gesetzen Henrichs I.' ist ein Mann gegen jedermann zu kämpfen berechtigt, „den er mit seiner Frau, Tochter oder Mutter gemeinsam hinter verschlossener Tür oder unter der gleichen Bettdecke vorfindet.“ (Leges Henrici Primi, ed. von L.J. Downer. 1972, S. 258f)

  

Eine Zeichnung über eine gerichtlich vollzogene Kastration in einem Gesetzbuch des 13. Jh.s aus Toulouse zeigt einen Ritter, der dem Delinquenten dessen Rock über den Kopf zieht, während ein Zivilist (vermutlich ein Wundarzt) hinter ihm steht. Umgeben von anderen Rittern, die als Bewachung auf jeder Seite postiert waren, band der Staatsbeamte den Hodensack des Delinquenten mit einem Seil fest ab (um die Blutung zu stillen), während er die Hoden herausschnitt.“ (Clanchy, S. 261, in R.H.Bloch, Etymologies and Genealogies (1983) S. 142)

  

Aelred von Rievaulx schildert „mit persönlich gefärbter Zustimmung, wie eine Nonne von Watton (in Yorkshire) in Gegenwart der anderen Nonnen gezwungen wurde, ihren Geliebten zu entmannen, und man dann seine blutenden Hoden in ihren Mund steckte, sozusagen als symbolische Vergeltung für die Schändung ihrer Keuschheit.“ (Clanchy, Abaelard, S.216)

In der 'Magna Vita St.Hugonis' beschreibt der Biograph, wie der Kartäusermönch in einer Vision seine Leistengegend aufgeschnitten sah, etwas, das wie glühende Kohlen aussah, wurde aus ihr herausgerissen und mit Abscheu aus seiner Klosterzelle herausgeworfen. Der „Doktor“ zog sich dann zurück, und Hugo war „an Körper und Geist geheilt.“

In einer Kirchengeschichte von York wird beschrieben, wie ein Magister von Beverley Minster es zunehmend weniger schafft, seinen Pflichten als Gelehrter nachzukommen, „weil er von einem Mädchen regelrecht besessen war. Als Antwort auf sein Gebet machte ihn der heilige Johannes von Beverley impotent und ermöglichte ihm auf diese Weise wieder seine gewohnte Berufsausübung.“ (Clanchy, S. 286) Wahrscheinlich machte eine solche spirituelle Kastration eher noch impotent als eine physische im selben Erwachsenenalter.

 

In einem Gedicht wird die Kastration eines „Matthäus des Konsuls“, eines Sohns des Grafen von Nantes wegen Ehebruchs, verglichen mit der ungerechtfertigten des Abaelard.

  

In dem Gedicht 'Ad Syncopum' des Rudolf Tortarius wird Kastration zur Lachnummer:

... Sincope, formosae custodia provida Florae,
Ne Paris argutis fallat, adesto, dolis.
Claude fores, clatros, et vectes obice portis,
Muni tecta domus iugibus excubiis!

Syncopus, du umsichtiger Wächter der schönen Flora,
Sieh dich vor, dass dich Paris nicht mit schlauen Tricks betrügt. Schließe die Türen und Gitter und verriegle die Tore Verstärke das Hausdach durch Wächter auf dem First!...

At tua fors sodes non est mea, Sincope, Flora,
Nam tua pulcra quidem sed mea pulcra magis;
Totius hec orbis, tua civis solius urbis,

Doch dein Geschick, Syncopus, ist - wenn's beliebt - nicht das meine! Denn Deine Flora ist zwar schön; doch schöner ist die meine. Die meine gehört der ganzen Welt, die Deine wohnt einer Stadt allein...

Quid tua commisit, verearis ne profiteri,
Mentula testiculis cur careas geminis?
Forsitan hos ferro Perifras praecidit acuto
Iamque veternosis ulceribus putridos,
Aut te fasce suo ramex inmensa gravabat,
Plebeiae raptus virginis aut pudor est,
Aut est ignoti generis vim passa puella,
Pauperi aut uxor munere lusa tuo:
Heus age, quid verum responde dixeris horum,
Cura tibi Florae qualiter acciderit.

Scheust du dich zuzugeben, was dein Schwanz verbrochen hat, und warum dir jetzt beide Hoden fehlen? Hat vielleicht Periphras mit scharfem Messer sie Dir abgeschnitten, aus deren träge faulenden Geschwüren bereits der Eiter troff. Oder fiel dir der gewaltige Strunk durch seine Bürde schon zur Last? Entweder ist der Raub eines Mädchens aus dem Volk die Schmach, oder es hat ein Mädchen Gewalt unbekannter Art erlitten, oder eine werte Gattin ist durch Deinen Bärendienst verhöhnt! Hör mal! Was an diesen Vermutungen wahr ist, sprich frei heraus: Wie kam es, dass Dir die Sorge um Flora zugefallen ist?

Nil, ait, indignum me, Sincopus, accipe passum:
Nam me tam turpem nolo putes hominem;
Est nobis animus non sic ut rere remissus,
Qui se tam fedis illaqueet maculis;
Sed quoniam queris mihi cur genitale recidi,
Ne speres aliud, pando tibi brevius.
Artis grammaticae tumidus de cognitione,
Exundans animis nec locuplebs opibus,
Angebar iugi succensus pectoris estu:
Quid facis? en nullae sunt tibi diviciae
Unde vel exiguum crescat facis emolumentum:
Si nummos habeas semper honorus eris ;
Nullus honos inopi tibi, nullus amicus egenti,
Aurum si desit littera nulla placet!
Anne vides Gallos Hecates incedere pingues,
Serica quos vestit et clamis et tunica?
Auro cum caris honerantur brachia gemmis,
Suras circumdat purpureum tegimen,
Auratos pedibus soccos ac vertice mitram,
Turribus assimiles aspicis esse lares,
Horrea frumento, cellaria plena Falerno,
Scrinia multimodis accumulata gazis.

Da erwiderte Syncopus: Nichts Unehrenhaftes ist mir widerfahren. Bitte halte mich nicht für einen so schäbigen Menschen! Mein Herz ist in der Tat nicht so liederlich, Dass es sich in derart hässlichen Makeln verstrickte. Aber weil Du fragst, warum mir das Geschlechtsteil abgeschnitten wurde: Damit du nicht auf anderes hoffst, will ich es Dir kurz erklären: Aufgeblasen von der Kenntnis in der Sprachkunst war ich. Von Geistesgaben floss ich über, doch reich an Schätzen war ich nicht. So brannte es unaufhörlich in meiner Brust: "Was sollst du tun? Du hast ja keinen Reichtum, aus dem dir der geringste Vorteil erwachsen könnte! Wenn du Geld hast, dann giltst du allzeit als ehrenwerter Mann! Keine Ehre erwirbst du als armer Schlucker, kein Freund steht dir bei in der Not. Wenn Gold fehlt, findet keine Wissenschaft Anklang! Siehst du nicht, wie die Galli, die fetten Hekate-Priester einhergehen, welche Mäntel und Kleider aus Seide sie tragen? Ihre Arme behängen sie mit Gold und teuren Edelsteinen, Hosen aus Purpur umgeben ihre Beine. An den Füßen tragen sie vergoldete Sandalen und auf dem Haupt die Mitra. Du siehst, dass ihre Häuser hohen Türmen gleichen. Ihre Scheunen quellen über vom Getreide, ihre Keller vom Falerner Wein, und in ihren Schreinen horten sie vielerlei Schätze.

Si fierem similis, quirem mox hec adipisci,
Obstant his soli, res vaga, testiculi;
Nam disciplinae cum sim gnarus mediocris,
Etsi non summus flamen, honestus ero.
Attritu cotis gladium, sed corde trementi,
Nam rubigo vetus roserat, exacuo,
Et penetrans caeci secreta silentia tecti,
Uno dissecui vulnere membra michi;
Ingens afflixit dolor hinc confinia cordis,
Cordis defectus vulnera subsequitur.
Centurias Magnae Matris non haec latuere,
Gallorum turmis visitor assidue,
Submittunt qui me collegia praemonuere,
Quod sua ditarer opido si sequerer;
Nil magis obtabam, concessi, sanior, inquam,
Vobis coniungar flamen et efficiar.

Wenn ich ihnen ähnlich würde, so könnte ich in Bälde dies erlangen. Das einzige Hindernis - welch unstet Ding - sind meine Hoden. Da ich in der Lehre nur mittelmäßige Kenntnisse habe, werde ich vielleicht kein Oberpriester, doch immerhin ein Ehrenmann!" So wetzte ich, zitternden Herzens zwar, mit dem Stein das Schwert, das längst der Rost zerfressen hatte, verzog mich in einen stillen Winkel des blinden Hauses und schnitt mir mit einem Streich die Geschlechtsteile ab. Ein ungeheurer Schmerz fuhr mir hierauf ums Herz. Die Herzensschwäche folgte der Verwundung. Den Zenturien der "Großen Mutter" blieb all dies nicht verborgen. Die Schar der "Gallier" besuchte mich fleißig. Sie schicken Leute ihrer Zunft, die mich daran erinnerten, dass ich reich entschädigt würde, wenn dem Ihren ich nun folgte. "Nichts lieber als das," gestand ich. "Nach der Gesundung werde ich zu Euch stoßen und Priester werden!" ...

Denique confitear quia, quae mea membra peremi,
In cinerem verti seposuique domi,
Et piperi trito miscens aurum quasi servo:
Nemo mei sacri conscius huius erat;
Me quoque legitime non rebar posse litare,
Ni mecum gererem dum sacra perficerem:
Totum tantillo credebam pulvere salvo,
Meror erat nullus dampna tulisse prius.

Dies ist ein Geständnis: Ich hatte meine Geschlechtsteile, die ich beseitigt hatte, zu Asche verbrannt und fest daheim verschlossen. Ich vermengte sie mit geriebenem Pfeffer und verwahrte sie wie Gold. Es gab keinen Mitwisser bei dieser Opferhandlung. Auch glaubte ich, nicht ordnungsgemäß opfern zu können, wenn ich nicht die Reliquie beim Gottesdienst mit mir führte. Ich glaube fest daran, unbeschadet der winzigen Menge Pulvers. Über meinen vorherigen Schaden war ich keineswegs traurig....

Heu sors dura! piper nequaquam habuisse minister
Hac vice condiret dicitur unde cibos,
Sumere fas epulas nec erat sic illecebrosas,
Ni cum rugoso praepositas pipere.
Sedulus ergo puer vicinos pervolat omnes,
Tedet convivas quod facit ille moras,
Qui mussant latet hac forsan quod quaerimus archa
Indice monstrantes interius positam.
Quo pudor, heu, quo fas, quo iusta licentia fugit!
Heu stolidi temerant iura statuta patrum!
Archellam frangunt sacros cineresque revellunt,
Quos tritum credunt esse piper fatui;
Inde popinatos condire cibos properarunt,
Talibus et laeti se recreant epulis,
Unde saginati nostro redeunt genitali,
Commisisse scelus nescit eques reprobus.

Ach, welch hartes Los! Meinem Diener ging der Pfeffer aus, mit den er die Speisen hatte würzen wollen. Dabei war es weder richtig, so verführerische Gerichte zu verwenden, noch sie mit getrocknetem Pfeffer vorzusetzen. Im Übereifer lief der Knabe zu allen Nachbarn derweilen es die Gäste verdross, dass er sie solange warten ließ. Sie murrten: "Ist vielleicht in diesem Kästchen verborgen, was wir suchen?" Sie klopften mit dem Finger und fanden, dass etwas drinnen war. Wohin hat sich die Scham, das Recht, das Augenmaß verzogen! Ach, diese Tölpel, sie schändeten das Recht und das Gesetz der Väter! Sie brachen das Kästchen auf und kippten die Asche heraus. Die Trottel glaubten, es sei gestoßener Pfeffer. Sogleich machten sie sich daran, die feinen Speisen damit zu würzen; und ließen sich diese vergnügt schmecken. Von meinem Genitale gemästet, kehrten sie schließlich heim. Dass er ein Verbrechen begangen hat, weiß ein schlechter Ritter nicht!....

O genus ingratum servi, genus ore prophanum,
Plenum rimarum, fraudibus expositum!
Atria progressi mussant altrinsecus illi,
Quae sunt quae dominus verba pape! loquitur?
Forsan condivit sibi quod genitale recidit,
Igni combussit, miscuit et piperi.
Numquid non cineri mixtum piper esse notasti?
Rebar ego stolidus sic senuisse piper;
Pro muria nostris infertur mentula mensis,
Carnes intinxi carnibus in domini.
Urbis per latas haec dispersere plateas,
Rumor et hic vicos ruraque longa replet.
Foeda sacerdotum replet aures fama spadonum,
Quorum mox holidis amoveor choreis,
Arceor a phanis, vetor appropiare sacellis,
Sacraque si tangam liba prophana putant,
Obruor et spurcis inflate gutture sputis,
Inque meum nomen flegmatis imber adest.
Edicto statuunt ne quis me colligat urbe,

Oh undankbares Dienerpack, oh Lästermäuler, voller Risse und Spalten, jedem Betrug zugänglich! Sie gingen auf die Vorplätze hinaus und tuschelten dort weiter: "Was sollen potztausend die Worte bedeuten, die der Herr da spricht? Hat er vielleicht, um Würze zu bereiten, sich das Genitale abgeschnitten, im Feuer verbrannt und dem Pfeffer zugemischt? Hast Du etwa nicht bemerkt, dass der Pfeffer mit Asche gemischt war?" "Ich Tölpel glaubte, der Pfeffer sei nur alt gewesen! An Stelle einer Salzlake bringt man seinen Penis auf unseren Tisch, Ins Fleisch des Herrn habe ich das Fleisch getaucht!" Diese Sprüche verbreiteten sich in Windeseile auf den weiten Plätzen der Stadt. Doch auch die Dörfer und das weite Land erfüllte dies Gerücht. Alsbald klang die scheußliche Kunde auch in den Ohren der Eunuchenpriester, aus deren stickigen Chören ich nun kurzum ausgestoßen wurde. Die Tempel wurden mir verwehrt, von den Opferstätten hielt man mich ab. Wenn ich Heiligtümer berührte, so hielten sie dies für eine Gotteslästerung. Man bespuckte mich jetzt unflätig und aus vollem Halse. Sprach einer meinen Namen aus, schon regnete es Schleim hernieder. Es erging schließlich ein Verbot in der Stadt, mich aufzunehmen....

Quos ubi persensi me perdere velle, refugi,
Liqui vero meum cum patria genium,
Prolixaque via percurri milia multa,
Ad Floraeque virum pervenio Philirum, [58]
Vidit ut inberbem me, percunctatur an essem
Integer, obduxit pallidus ora pudor,
Adsum servitio, dixi, vir maxime, vestro:
Quis sim vel qualis quaerere nolo velis .
Esto comes Florae, respondit vir vafer ille,
Sic fies nostra dignus amicicia.
Laetus oboedivi verbis iocunda monentis,
Obsequor et Florae, spernar amando licet.

Als ich begriff, dass sie mich verderben wollten, ergriff ich die Flucht. Doch mit der Heimat ließ ich auch meinen Genius zurück, auf meinem langem Weg durchlief ich viele Meilen, bis schließlich ich zu Philirus, Floras Gemahl, gelang. Als er mich bartlosen Eunuchen sah, befragte er mich, ob ich unbescholten sei. Voller Scham erbleichte ich. So sprach ich denn: "Ich steh zu Deinen Diensten, hoher Mann, doch frage bitte nicht, wer ich bin und welch ein Mann." "Du sollst meiner Flora Begleiter sein," erwiderte der verschmitzte Mann. "So wirst Du meiner Freundschaft würdig dich erweisen!" Mit Freunden kam ich nun den gefälligen Ermahnungen des Mannes nach. Flora bin ich jetzt zu Diensten, deren Liebe für mich Tabu ist....

  

Text und Übersetzung aus: http://www.abaelard.de/abaelard/Main.htm

 

Die sofort öffentlich werdende Schande und Scham (pudor) treibt Abaelard ins Kloster Saint-Denis und zum Mönchtum und bringt ihn dazu, Heloysa zu befehlen, ebenfalls den Schleier zu nehmen. Illa tamen prius ad imperium nostrum sponte velata et monasterium ingressa. (Zeile 545). Oh ferne, fremde Welt, gerade erst durch außereuropäische Massen-Einwanderung wieder ein wenig zurückgekommen! Zunächst ist wichtig zu wissen, dass ein Mönch leichter aus den Klostermauern wieder herauskam als eine Nonne, wie Abaelard beweisen wird. Letztlich war sie jetzt lebenslang weggesperrt, aus der Verfügung des Ehemanns in die der klösterlichen Hierarchie übergegangen.

 

Weiterhin wird uns gesagt, dass sie zuerst (prius) in die abgeschlossene Welt des Klosters eintreten musste. Dann erfahren wir, dass das auf „unseren Befehl“ (imperium nostrum) geschah, wobei der Plural wohl noch den Eindruck verstärkt, dass sie das nicht aus eigenem Willen tat. Danach kommt die ganze ars des Sprachkünstlers zum Vorschein, denn sie tut es nicht nur auf seinen Befehl hin, sondern sponte, also wörtlich: aus eigenem Willen, freiwillig, aus sich heraus. Sie macht spontan das, was er ihr befiehlt...

 

Bevor das später näher zu erklären ist, sei es hier schon mal nach dem erotischen Sadismus des Abaelard als „Sadismus der Vernunft“ eingeordnet: Sie gehorcht einmal seinem Befehl, denn bis zur Verwandlung in eine „Braut Christi“ ist sie ganz und gar seine Ehefrau, also seiner Befehlsgewalt unterworfen, sie gehorcht ihm aber auch und vor allem, weil sie ihn liebt, wie wir noch sehen werden, und sie muss „freiwillig“ Nonne werden, denn dies Bekenntnis wird ihr bei ihrer endgültigen Einkleidung abverlangt.

 

Nachdem Heloysa sich fast zwanzig Jahre später gegenüber Abaelard über ihr Eingesperrtsein im Kloster beklagt, wird Abaelard ihr nicht nur etwas entgegenkommen und ihren Schmerz beschwichtigen, er wird auch zudem implizit in einer kurzen Bemerkung eingestehen, dass seine Entscheidung falsch war. Nachdem er auf ihre Bitten seine Vorstellungen vom klösterlichen Leben dargestellt hat, kommt es: Höre mit Furcht und Zittern jeder diese Worte, der das Joch irgendeiner Ordensregel (auch der relativ milden, die er gerade geboten hat) auf sich nehmen und sich an das Bekenntnis zu einem neuen Gesetz binden lassen will. (Brief VIII,98)

 

Heloysa wird Nonne ausschließlich, um dem Willen ihres geliebten Mannes zu gehorchen. In ihrem ersten Brief wird es heißen: nicht Frömmigkeit, sondern dein Befehl allein hat mich in blühender Jugend zur Düsternis des Klosterlebens hingezogen. ... (II,9).

 

Für die Prominente vollzieht ihre Zeremonie der Bischof von Paris. Die Beschreibung der feierlichen Einkleidung als Nonne durch Abaelard gemahnt an eine barocke Tragödie, und sie wird von den Worten eines römischen Versepos erfüllt. So beschreibt sie Abaelard in seiner 'Historia': Ich erinnere mich, es gab viele, die sie wegen ihrer Jugend voll Mitgefühl vergebens vom Joch (a iugo) der klösterlichen Regel abzuhalten versuchten, da es eine unterträgliche Strafe (poena) sei. (Zeilen 548ff)

 

Heloysa wird die Ehe später als con-iugium bezeichnen, als gemeinsames Joch. Die poena war sowohl Strafe (weltlich) wie Buße (geistlich). Und nun: Dabei (in illam) sagte sie, die Klage der Cornelia unter Tränen und Seufzern herausstoßend, so gut sie noch konnte: O maxime coniunx, o thalamis indigne meis, hoc iuris habebat in tantum fortuna caput? Cur impia nupsi, si miserum factura fui? Nunc accipe poenas, sed quas sponte luam.

 

Dies zunächst im Original, denn wir müssen uns vorstellen, dass sie in der volkssprachlichen Romana mit ihren Freunden redete, aber dann das lateinische Original zitierte. „Oh großartiger Gatte, oh Ehebett, dessen ich nicht würdig bin, wie kann das unstete Glück die Gewalt des Rechtes haben über einen solchen Mann. Warum musste ich Pflichtvergessene dich heiraten, wenn ich dir nur Unglück brachte. Nun nehme meine Buße an, welche ich dir gewillt bin darzubringen."

 

Nichts spricht dagegen, dass Abaelard bei ihrer Weihe zur Nonne zugegen war, um sicher zu gehen, dass sie eben vor ihm das Klosterleben annimmt. Und alles spricht dafür, dass Heloysa diese Verbindung von passio und pathos hier so formuliert hat: Nicht aus Liebe zu Gott, sondern zu dir, Geliebter (Ehemann), opfere ich mich auf dem Altar. Und sie mag es so gesagt haben, dass er es mitbekam. Oder sie hat es ihm vorher so gesagt.

 

Im Verständnis dieser kurzen Szene der Weihung Heloysas zur Braut Christi folge ich gerne den Darlegungen von M.T. Clanchy (in II,8). Aber zunächst zu Lukians 'Pharsalia'. In Pharsalos wird Pompeius von Caesar entscheidend geschlagen. In zehn epischen Verskapiteln wendet sich der stoische Autor, der schließlich den Verfolgungen Neros erliegen wird, gegen die Beteiligten der Bürgerkriege, in denen die republikanischen Werte Roms untergehen. Rund 400 Handschriften dieser 'Pharsalis' sind aus dem Mittelalter erhalten. In einer Zeit der anarchischen Gewalt diente es offenbar vielen Belesenen als Spiegelung ihrer eigenen Verhältnisse.

 

Heloysa rezitiert die Stelle, in der Cornelia sich die Schuld an der Niederlage ihres Ehemannes bei Pharsalos zuschreibt. Pompeius kam erschöpft und verdreckt nach der Schlacht nach Hause und sah so aus, dass Cornelia bei seinem Anblick in Ohnmacht fällt. Dann wollte sie sterben.

 

Später, in ihrem Briefwechsel, wird Abaelard, inzwischen der Vertreter des monastisch geprägten Christentums, so wie Heloysa die Vertreterin stoischer (heidnischer) Bildungsideale ist, sie darauf hinweisen, dass sie etwas von Lukan ausgelassen habe: Als diese in Ohnmacht fiel und dann schmerzvoll weinte, wies Pompeius sie in ihrer Verzweiflung zurecht und tadelte sie, denn er sei doch noch am Leben, auch wenn ihn sein guter Stern verlassen habe. „Es war mein gütiges Geschick, aber nicht ich, den du liebtest“, sagte Pompeius, „und das ist auch der Grund deiner Tränen.“ (deutsch in Clanchy, Abaelard, s.o. S.222)

 

Clanchy verweist dazu auf zwei Textstellen des ersten und des zweiten Briefes von Heloysa, die eine Parallele aufzeigen:

Welcher König oder Philosoph kann an deinen Ruhm heranreichen? ... Welche große Dame beneidete mich nicht um meine Freuden und mein Bett? (II) Und:

Kann das Schicksal jemals einer großen und vornehmen Dame einen Rang über mir zuordnen oder sie mit mir gleichstellen, um mich dann unwiderruflich in die Tiefe zu stürzen, zerschlagen von Kummer und Schmerz? Welchen Ruhm hat das Schicksal mir mit dir verschafft, in welches Elend stürzte es mich mit dir! (IV)

 

Ruhm, Eitelkeit, Neid... Alles das, was Abaelard in seiner Selbstdarstellung so prägt, scheint auch einer Heloysa nicht fremd gewesen zu sein. Mit der Erinnerung an die Antwort des Pompeius, mit der Abaleard auf ihre Klageworte in ihren Briefen aus dem Paraklet-Kloster reagieren wird, erinnert er sie höflich und behutsam daran, wo möglicherweise ihre Schwächen liegen: Beachte dies, ich bitte dich, und erröte vor Scham ... Nimm es an Schwester, nimm es an, mit Geduld, was uns so barmherzig widerfahren ist. Es ist die Rute eines Vaters, nicht das Schwert eines Verfolgers.

 

Abaelard christianisiert hier ihren Stoizismus, nimmt ihn aber zugleich auf. In ihrer Auseinandersetzung in der Champagne findet eine Begegnung statt, in der er wohl noch einmal von ihr lernen kann, womöglich ohne sie andererseits belehren zu können.

 

Die merkwürdige Ehe der beiden, die dennoch rechtswirksam geschlossen worden war, wird nirgendwo förmlich aufgelöst. Manche Historiker meinen, dass der Eintritt beider ins Kloster ein solcher Akt sei. Aber sie bezeichnen sich auch später noch als Ehepartner und in dem Brief von Petrus Venerabilis an Heloysa mit der Todesnachricht von Abaelard betrachtet auch er sie noch als verheiratet. Zudem scheinen weder Heloysa noch Abaelard sich beim Eintritt ins Kloster neue Namen gegeben zu haben.

 

Abaelard möchte sich nun aus dem Kloster heraus nach dem Zeugnis von Fulko von Deuil an Rom wenden, offenbar, weil er nicht findet, dass ihm vom Pariser Bischof ausreichend Genugtuung geschehen sei. In seinem freundlichen und um Trost bemühten Brief an Abaelard geht Fulko formvollendet, wie der Brief ist, erst zum Schluss darauf ein:

 

Jener aber, der die Beteiligung an der Tat ableugnet, ist schon aus seinem gesamten Besitz durch Beschlagnahmung seiner Güter vertrieben worden. Nenne also nicht die Kanoniker oder den Bischof Vergießer deines Blutes oder Verderber, die sich deinetwegen und ihretwegen, soweit sie konnten, um Gerechtigkeit bemüht haben, sondern höre den guten Rat und den Trost eines aufrichtigen Freundes. Du bist Mönch und hast den Habit der Heiligen Religion nicht gegen deinen Willen, sondern freiwillig genommen. Du darfst also nicht weiter Rache für dich fordern, wenn du in der Wahrheit festhalten und lieben willst, was in der Bedeutung dieses Namens (d.h. Mönch) erkennbar enthalten ist.

 

Davor verweist Fulco (Fulko) auf die Erbärmlichkeit der römischen Kurie, gegenüber der Abaelard sich keine Hoffnungen machen sollte:

 

Eine armselige Partei und völlig nutzlos! Hast du nicht von der Habgier und der Unreinheit der Römer gehört? Wer hätte je mit seinem Reichtum den Schlund der Dirnen stopfen können? Wer hätte mit seinem Geld die Beutel ihrer Gier befriedigen können? Mehr musst du deinem Konvent nützlich sein als ihm schaden, und du würdest ihm schaden, wenn du eine Aktion beabsichtigst! (zitiert nach Charlotte Charrier, da die Stelle aus der Patrologia Latina getilgt ist.)

 

Dazu kommt laut Fulko das finanzielle Problem: „Das Vermögen Abaelards, entweder bescheiden oder nicht vorhanden, würde nicht genügen. Wenn er die Hilfe seiner Eltern erbäte, würde ihm die bescheidene Hilfe, die sie ihm leisten könnten, zu nichts nützen. Wenn er Geld von seinem Konvent liehe, würde es ihm einen ungeheuren Schaden verursachen, und er würde ihn verlassen müssen. Wenn ihm sein Konvent die Hilfe verweigerte und er auf eigene Faust reiste, er würde sich umsonst verausgaben. Alle Zeitgenossen, die sich mit leeren Händen dem Heiligen Stuhl genähert hätten, seien verwirrt und verurteilt davongegangen, nach Verlust ihrer Sache. Wenn er voller Dreistigkeit trotzdem seinen Fall vorbringen wollte, er würde nur Gelächter ernten und keine Gerechtigkeit erfahren.“ (Zusammenfassung aus (www.)abaelard.de(Werner Robl)).

 

Der ganze Brief davor spricht Abaelard Trost zu, wobei er den Anfang sicher mit gemischten Gefühlen gelesen haben wird.

 

Die gierige Raffsucht der Dirnen (Avara meretricum rapacitas) hatte dir alles geraubt. Keine Zeit hat gehört, dass sich eine Hure eines anderen hätte erbarmen wollen oder dass sie das Vermögen ihrer Freier geschont hätte, das sie auf jegliche Art und Weise hatte beiseite schaffen können. Dies scheint deine tiefe Armut zu beweisen, der du, wie man sagt, nichts außer ein paar Lumpen aus einer so großen Einnahme hattest, als du dich erstmals diesen Schicksalsschlägen unterwarfst. Zu der Zeit hast du freilich den Körperschaden ertragen und entsprechend der Eitelkeit der Zeit hältst du dich vielleicht für ziemlich wertlos oder glaubst, dafür gehalten zu werden: Unglückliche Einschätzung aller und eine völlig von wahrer Vernunft in Stich gelassene Betrachtungsweise! Wenn du um so wahrhaftiger in dir und ganz allein erforschen wolltest, was gerecht und gut ist, und zwar durch eifrige und häufige Meditation, und wenn du deine Eitelkeit hinter dir gelassen hättest, hättest du erkennen können, wie sehr dir diese Verstümmelung deiner Körperteile genützt hat.

 

Was wir hieraus entnehmen können, ist, dass für den streng monastisch lebenden Fulko eine Geliebte wie Heloysa eine Hure ist, die aufs Geld des Liebhabers aus ist. Zum zweiten, dass der Abaelard, der wohlhabend war, als er Heloysa kennenlernte, jetzt womöglich arm ist. Zum dritten, dass Abaelard offenbar tatsächlich vor seiner Liebesgeschichte mit Heloysa in der Öffentlichkeit als enthaltsamer Mann dastand. Schließlich, dass Abaelard, wenn wir Fulkos Brief trauen können, mit seinem Schicksal, der Kastration, noch hadert, während er sich laut seiner eigenen 'Historia' damit schnell abfindet, und zwar ganz im Sinne von Fulko von Deuil.

 

Ganz wie der von Fulko gelobte Origines (das wird Abaelard in seiner Historia aufgreifen) kann Abaelard den Raub seines Geschlechtstriebes als Befreiung zur Gelehrsamkeit, zur Frömmigkeit, und zum unbefangenen Umgang mit Mädchen und Frauen nutzen. Weiter also Fulko:

 

Erstens freilich bist du sehr vielen Leidenschaften (passiones) entronnen, von denen häufig die erschüttert werden, die nicht einen solchen Verlust erlitten haben. Und selbst, wenn die Betroffenen auf das Törichteste meinen, sie seien durch den Verlust dieses Körperteiles allen Glückes (felicitate) verlustig gegangen, so sind sie doch keinesfalls den Leidenschaften preisgegeben. Die Ärzte bestätigen dies (ut physici affirmant). Zweitens wirst du nur durch die Gedanken allein Heimsuchung erleiden, nicht jedoch durch die Glut der Begierde (ardore libidinis), und den Anreiz der Ausschweifung - Übel, von denen mitunter auch die Heiligen berührt werden. Doch wenn die verderbliche Brandfackel (feralis flamma incendii) verloschen ist, musst du zu dir zurückkehren und den Verstand, der viele und süße Wahnvorstellungen der Ausschweifung durchstreifte (quae per multa et dulcia luxuriae insania vagabatur), auf festem Boden sammeln. Als freier Mann, nicht mehr zurückgehalten von Begierde, wirst du alle Wege und Gründe der Erkenntnis erfahren, welche diejenigen zuwenig oder nicht vernehmen, die sich durch die verschiedenen Anreize der Begierde gefangen nehmen lassen. Es kommt noch dazu, dass dein Geld, falls du noch welches haben darfst (denn Mönche dürfen nur mit besonderer Erlaubnis Eigentum besitzen), nicht der Heimsuchung der Raffer ausgesetzt sein wird. Von jetzt an wirst du besitzen, was noch vor kurzem dir aus dem Leib gerissen wurde. Dies auch musst du hochschätzen, dass du, über jeden Verdacht erhaben, von jedem Gastgeber als Gastfreund hoch behütet aufgenommen wirst. Der Gatte wird eine Schändung der Gattin durch dich (violationem ex te) oder auch nur ein Strapazieren des Bettes (lectuli concussionem) überhaupt nicht mehr fürchten. Ohne Schaden und unbeeindruckt wirst du an Scharen von aufgetakelten Damen (ornatarum turmas matronarum) vorüber schreiten. Sicher und ohne Sünde wirst du die Chöre der in blühender Jugend strahlenden Mädchen bewundern, ohne dass du ihre Annäherung und ihre Fallstricke (laqueos) fürchten musst. Diese pflegen ja selbst alte Männer, die schon von der Fleischesglut verlassen sind, noch mit ihren Bewegungen zur Geilheit aufzureizen (in fervorem libidinis inflammare). Wahrlich, du meidest übrigens ohne Unterbrechung die geheimen Winkel der Sodomiten, die der wahre und gerechte Gott als die schändlichsten von allen verflucht, und ihre schändlichen und bösartigen Gemeinsamkeiten, die du freilich schon immer gehasst hast. Nach diesen Aufzählungen der empfindlichsten Schwachpunkte ist es jetzt völlig sicher, dass du in keiner Weise die nächtlichen Anfechtungen im Traum empfindest, was ich als großes Gnadengeschenk Gottes in diesem Ordensstande einschätze. Sicher ist dies deshalb, weil ja der Absicht, auch wenn sie zufällig vorläge, keine Handlung folgen wird. Die Schmeicheleien einer Gattin und die körperlichen Berührungen, ohne die man seine Gattin nicht besitzen kann, ebenso die einzigartige Sorge um die Kinder, werden dich nicht hemmen, so dass du Gott gefällst. Wie groß schätzt du das Gut, dass dir die Gefahren der Versündigung entzogen sind, und dass du feststehst in der Gewissheit, nicht sündigen zu können. Voll Stolz wirst du die löwenartige Wildheit der Dirnen (Leoninam itaque meretricum ferociam), die sie den zu ihnen Eintretenden zuerst zeigen, die schlangenhafte Verschlagenheit und Täuschung, ihre Unenthaltsamkeit und Geilheit meiden. Was sage ich - du wirst über alles andere besser Erfahrungen sammeln, als ich mit Worten auszudrücken vermag.

 

Was uns hier befremden mag, ist ernstlicher Trost vom erfahrenen Mönch an den Novizen: Die Anstrengungen der anderen Mönche, ihren Geschlechtstrieb und die bei seiner Unterdrückung aufkommenden Phantasien zu bewältigen, sind Abaelard nun erspart. Erotische Phantasien und Träume verursachen keine ekligen Samenergüsse mehr und nicht den Wunsch, sich Frauen intimer zu nähern.

 

Neugierig könnte die Expertise der Ärzte machen, wenn da nur mehr stünde. Tatsächlich war Kastration eine mögliche Form der Strafe damals und zudem Ergebnis von Unfällen und insbesondere von Kampfes- und Kriegsverletzungen. Eunuchen gab es am byzantinischen Hof, außerdem bekanntlich bei arabischen Herrschern, und als Erbe von beiden nun auch am normannischen Hof in Sizilien, erst im byzantinisch geprägten Messina und dann im arabisch/berberisch geprägten Palermo. Die Frage, die hier offenbleibt, ist, inwieweit der seiner Hoden beraubte Mann noch ein Geschlechtswesen ist, und was sich in seinem Kopf und Gefühlshaushalt abspielt. Fulko scheint sich da auch nicht ganz sicher zu sein. (Anm.6)

 

Was dann von Fulko kommt, ist erstaunlich, wenn man nicht weiß, wie verschiedene Dinge im Mittelalter nebeneinander gesetzt werden und nebeneinander bestehen können. Zum bisherigen Trost kommt nun der der Rechtfertigung. Sein Blut ist unschuldig, er war kein Ehebrecher gewesen, auch nicht in flagranti mit einer Frau ertappt worden:

 

Du bist doch zum Zeitpunkt der Verstümmelung in keinster Weise ertappt worden, weder durch die Verletzung anderer Ehen noch durch das Gift der Hurerei. Du hattest tief und fest geschlafen und keinem ein Übel antun wollen, als die Hände der Ruchlosigkeit und das unheilvolle Eisen nicht zögerten, dein unschuldiges Blut (sanguinem tuum innoxium) zu vergießen. Es beklagt also diese deine Verwundung und deinen Schaden der ehrwürdige und gütige Bischof, der sich bemüht hat, im rechtlichen Rahmen Gerechtigkeit zu üben.

 

Und nun kommt, wenn davon auch nur die Hälfte stimmen, eine für einen gestrengen Mönch als Autor erstaunliche Laudatio in Form der Beschreibung der Reaktionen auf die Kastration des großen Meisters:

 

Es klagt die Menge der unregulierten Kanoniker und der adeligen Kleriker. Es klagen die Bürger, denn sie halten dies für eine Schande der Bürgerschaft, und sie empfinden Schmerz darüber, dass ihre Stadt durch dein Blutvergießen verletzt worden ist. Was soll ich berichten über das Wehklagen einzelner Frauen, die - wie ich hörte - so mit Tränen nach Frauenart ihr Gesicht benetzt haben, wegen dir als ihrem Ritter, den sie verloren hatten - so, als wenn die eine oder andere ihren Mann oder Freund durch das Kriegsgeschick tot aufgefunden hätte. Die allgemeine Trauer war so groß, dass es mir besser erscheint, du hättest vorgezogen, ganz vernichtet worden zu sein, als gerettet zu haben, was unwiederbringlich ist. Glücklich, wer nicht weiß, dass er geliebt wird (Felix se nescit amari). Fast die ganze Stadt ist mit deinem Schmerz belastet worden. Du hast einen Vorschuss (arrham ?) der wahren Liebe zu dir, mehr als du früher erfahren hättest. Meinem Dafürhalten nach solltest du keinen Reichtum jenem gleichsetzen.

 

Damit bestätigt Fulko, was Heloysa später in ihren Briefen dazu schreibt. Dass Fulko schreibt, die Frauen der Stadt hätten Abaelard als „ihren Ritter“ (miles) betrachtet, zeigt, in welchem Maße in Paris chevalereske höfische Ideale, wie sie sich in den Texten der „höfischen Liebe“ beim Hochadel breitmachen, präsent sind. In der deutschen Neuzeit wäre der entsprechende (anachronistische) Ausdruck dafür „ihr Kavalier“ gewesen, was natürlich dasselbe wie „Ritter“ bedeutet.

 

Diese implizite, grandiose und rhetorisch im Sinne von übertrieben klingende Lobrede auf den damals noch „weltlichen“ Abaelard dämpft Fulko dann ein wenig „mönchisch“ ab, indem er soviel Verehrung für eitel im Sinne der vanitas erklärt, um dann verblüffenderweise diese öffentliche Verehrung als „wahre Liebe“ zu bezeichnen.

 

Die Geschichte von Peter Abaelard und Heloysa ist allerdings auch die von Heloysa und Peter. So herum ist es die Geschichte einer Frau, die durch die zahlreichen sadistischen Impulse des geliebten Mannes in einen weiblichen Masochismus hineingezwungen wird, gegen dessen vernunftgemäßen Abschluss sie nachher in mehreren Briefen rund 15 Jahre Widerstand leisten wird, um schließlich an den Verhältnissen zu kapitulieren. Es wird dann die Geschichte einer extremen Kulturleistung der Unterdrückung sexueller Impulse und deren Transformation, Sublimierung unter religiösen Vorgaben. Aber es wird noch etwas dauern, bis sie direkt zu Wort kommt.

 

7. Saint Denis

 

Heloysa steigt irgendwann um 1125, wohl aufgrund ihrer Berühmtheit und Gelehrsamkeit, aber wohl auch wegen ihrer Sanftmut und Liebenswürdigkeit (suavitas) zur Priorin des Klosters von Argenteuil auf. Derweil scheint sich Abaelard in St.Denis weniger erolgreich aufzuführen. Er versucht – ausgerechnet er – die unzulänglichen Sitten der Mönche zu reformieren, was wie fast immer bei seinen Mönchskollegen auf wenig Gegenliebe stößt. Ob seine abschätzige Darstellung von Abt Adam so gerechtfertigt ist, wissen wir nicht. Andererseits wird Roscelin in seinem Brief an Abaelard den Abt loben, der so viel Verständnis für den gefallenen Kanoniker und neuen Mönch zeigt und ihm so viel Spielraum für seine Neigungen lässt. Erst etwas später wird Abt Suger das Kloster reformieren.

 

Zu diesem Reformeifer unseres Abaelard passt die erste Version seiner 'Theologia', die „theologia Christiana': Warum werden Bischöfe und Doktoren der christlichen Religion nicht in den Städten Gottes von den Poeten ferngehalten, wie auch Platon diesen den Zugang zu seinem idealen Staat verwehrt hatte? (In Clanchy, Abaelard S. 85) Das ist wohl der Abaelard, dem Heloysa später sicherlich etwas verwundert wieder begegnen wird.

 

In 'De Civitate Dei', Buch 14, beschreibt Augustinus jene durch Adam ausgelöste Erbkrankheit, die darin besteht, das die Menschen die Kontrolle über ihren Geschlechtstrieb verloren haben. Insbesondere können nun die Männer die Erektionen ihres Gliedes nicht mehr beherrschen, was sich in nächtlichen Samenergüssen ebenso zeige wie in der Impotenz. Deswegen müsse der Mann sich schämen und sein Sexualorgan verhüllen.

 

Hatte Heloysa nur seinen Veführungskünsten nachgegeben und wird das nachträglich bedauern auf der Basis ihres stoischen Ideals, so wird ihr demnächst Abaelard, ausgerechnet er, mit jenen augustinischen Gedankengängen entgegentreten, die die männliche Sexualität als ein ungezähmtes Tier darstellen, dass zu unterwerfen zentrale christliche Aufgabe sei.

 

In der viel späteren 'Theologia Scholarium', die wohl nach der erneuten Begegnung mit Heloysa geschrieben ist, wird er die Verteufelung der Poesie zur Gänze zurücknehmen: Keiner, der sich in der Heiligen Schrift gut auskennt, ist blind dafür, dass Geistliche weitaus bessere Fortschritte in der heiligen Lehre durch die Beschäftigung mit der antiken Literatur machen, als durch die Verdienste ihrer Religiosität.

 

Zurück nach Saint-Denis: Abaelard schreibt nicht nur, er unterrichtet auch wieder. Irgendwo hat ihm der Abt eine Art Klause des Klosters (ad cellam, schreibt er) zur Verfügung gestellt. Bei Otto von Freising heißt das: Ibi die noctuque lectioni ac meditationi incubans de acuto acutior, de litterato efficitur litteratior, in tantum, ut post aliquod tempus ab obedientia abbatis sui solutus ad publicum prodiret docendique rursus officium assumeret. (...so dass er nach einiger Zeit von den Gehorsamspflichten gegenüber seinem Abt befreit wurde und sich in die Öffentlichkeit begab, um erneut die Aufgabe eines Lehrers auszuüben. OttoGesta, S.226, I, 49)

 

Es kommen viele Schüler, was vielleicht die wohl etwas behaglich gewordene Ordnung und Eintracht unter den Mönchen stört. Ein intellektueller Wichtigtuer unter den Mönchen, könnte man vermuten. Man kann vielleicht auch sagen, dass der gefühlsarme, leidenschaftliche und wohl auch sensible Intellektuelle von einer Rolle in die nächste fällt, sie als Rolle annimmt und sofort verabsolutiert. Und dann verfällt er jener Eitelkeit, die seine überdurchschnittlichen Talente hervorbringen: Die Rolle als etwas äußerliches soll befestigt werden durch ihre intensive Darstellung.

 

Er wendet sich nun der Theologie zu, obwohl seine Schüler es nach seinen Worten mehr auf den Logiker und Dialektiker abgesehen haben. Seine erneute Lehrtätigkeit beschreibt er so: ... ad ipsum fidei nostrae fundamentum humanae rationis similitudinibus disserendum ... me applicarem. (Zeilen 600ff). Er wollte also die „Grundlagen unseres Glaubens“ mit den Mitteln der menschlichen Vernunft „erklären“. Es geht um humanas et philosophicas rationes, um plus quae intelligi quam quae dici... Nicht nur nachplappern, sondern verstehen solle man den Glauben wie auch die Sätze des Magisters.

 

Seine Schüler forderten Dinge, die man mit der Vernunft verstehen konnte, und nicht nur Worte. Und sie sagten in der Tat, das bloße Vortragen von Worten sei überflüssig, wenn ein Verstehen (intelligentia) derselben ihnen nicht folgen würde, denn man könne nichts glauben, wenn man es nicht zuvor auch verstanden habe. (Zeilen 604ff)

 

Damit wird das Anliegen von spätantiken Kirchenvätern, über behauptete Ähnlichkeiten zwischen Christentum und Philosophie beide miteinander zu vereinbaren, auf eine neue Stufe gestellt: Nun soll das philosophische Denken das gläubige Bewusstsein durchsetzen.

 

Leute wie Bernhard von Clairvaux spüren sofort, dass das einer Religion, die im Kern eine Mysterienreligion ist, auf die Dauer den Garaus machen würde. Die sich im 12. Jahrhundert entwickelnde Gefühlsseligkeit, die sich eben vor allem am Mysteriösen dieses Glaubens aufrichten kann, trifft auf einen, dem die überbordende sexuelle Leidenschaftlichkeit als Komplementär seiner Gefühlsarmut genommen worden ist, der nun ganz auf seine Sensibilität und seinen Intellekt verwiesen wird.

Über den Abt von Clairvaux äußert sich Otto von Freising so: Er war nämlich einerseits aus christlichem Glauben ein Fanatiker, andererseits aber aus angeborenem Sanftmut gewissermaßen leichtgläubig, so dass er Gelehrte, die sich im Vertrauen auf ihre weltliche Weisheit allzusehr auf menschliche Vernunftgründe verließen, verabscheute und, wenn man ihm über solche irgendetwas vom christlichen Glauben Abweichendes mitteilte, dem bereitwillig sein Ohr lieh. (OttoGesta, 225)

 

Aber Abaelard kann das Streiten und Schimpfen nicht lassen. In seiner 'Historia' wird er von seinem Erfolg auch als Lehrer der Theologie schreiben, wodurch meine Schule sich vervielfachte, und alle übrigen mächtig schrumpften. Unde maxime magistrorum invidiam atque odium adversum me concitavi ... Das klingt wieder ganz wie in seinen Lehr- und Wanderjahren!

 

In einem nicht erhaltenen Brief an die Kanoniker von Saint-Martin in Tours verunglimpft er die Trinitätslehre ihres Mitbruders, seines ehemaligen Lehrers Roscelin. Etwa gleichzeitig richtet er eine Beschwerde über einen Häresievorwurf Roscelins an seinem Trinitäts-Text an den Bischof von Paris. Darin erklärt er, die von ihm verfasste 'Theologia' in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Irrlehre seines ehemaligen Lehrers verfasst zu haben. Dessen Drohung, ihn beim Pariser Bischof wie bei anderen anzuschwärzen, hätte ihn genötigt, ihm zuvorzukommen. Abaelard bittet den Bischof, eine Synode einzuberufen, die klären solle, wer von beiden der Häretiker sei. Er selbst sei Vertreter der Orthodoxie und könne so manches über Roscelin erzählen. Darauf kommt es zum bekannten Roscelin-Brief, in dem der sich gegen Abaelards Anwürfe durch Verteidigung seiner Auffassung von der Dreifaltigkeit Gottes auf das Bitterste und am Ende mit persönlicher Aggressivität wehrt:

 

Du hast Geld für die Falschheit, die du lehrst, gesammelt, es deiner Hure (scorto tuo) als Lohn für den Beischlaf keineswegs nur übersendet, sondern es selbst hingetragen, und was du, solange du konntest, als Lohn für das erwartete Vergnügen gabst, gibst du jetzt als Lohn derart, dass du dich versündigst, indem du mehr die vergangene Unzucht vollständig erstattest, als dass du dir künftigen kaufst, und was du früher aus Lust missbraucht hast, missbrauchst du bis jetzt aus deinem Willen heraus: Aber Gott sei Dank bringst du notgedrungen nichts zustande.

 

Bislang ging es biestig um die Sache, jetzt mischen sich hier Hass mit Schadenfreude und rhetorischer Sprachfreude, besonders bei dem schon im letzten Satz gehässigen Sich-Weiden an Abaelards physischer Impotenz. Auch das ist Mittelalter: Der formvollendete Wortschwall, der Emotionen schön bekleidet und zugleich offenlegt. Hier fiel mir schon bei der ersten Lektüre der Austausch von Unerfreulichkeiten zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. ein, der immerhin schon mehr als eine Generation zurückliegt. Roscelin:

 

Die Ablegung des Klerikerhabits hat dich überzeugt, nicht mehr Kleriker zu sein; doch noch viel weniger bist du Laie, was die Zurschaustellung deiner Krone (Tonsur) genügend beweist. Wenn du also weder Kleriker noch Laie noch Mönch bist, so vermag ich nicht herauszufinden, wie ich dich bezeichnen soll. Aber vielleicht wirst du aus Gewohnheit vorlügen, du könntest Petrus genannt werden. Ich bin aber sicher, dass der Name männlichen Geschlechts sich weigert, den gewohnten Sachverhalt zu bezeichnen, wenn er seines Geschlechtes entledigt ist. Es pflegen nämlich die Namen ihre Eigenbedeutung zu verlieren, wenn es passiert, dass das von ihnen Bezeichnete aus seiner Vollendung sich entfernt. Wenn erst einmal das Dach oder die Wand entfernt sind, heißt das Ganze nicht mehr Haus, allenfalls unvollständiges Haus. Wenn also das Körperteil, das den Mann ausmacht, entfernt worden ist, darfst du nicht mehr Petrus, sondern allenfalls unvollständiger Petrus genannt werden. Der Gipfel der Schande bei dir unvollständigem Menschen ist erreicht, wenn du auf dem Siegel, mit dem du jenen stinkenden Brief versiegelt hast, ein Bild mit zwei Köpfen, von einem Mann und einer Frau, persönlich geformt hast. Wer sollte daher noch zweifeln, wie sehr du noch in diese Frau verliebt bist, wenn du nicht aus Scham errötet bist, diese durch eine solche Verbindung der Köpfe zu ehren.

Ich hatte beschlossen, noch mehr Wahres und Offenkundiges zu deiner Schande zu diktieren; aber weil ich gegen einen unvollständigen Menschen handele, lasse ich das Werk, das ich begonnen hatte, unvollendet zurück.

 

Roscelin schreibt zum mönchischen Lehrer Abaelard: Dort hast du - um das übrige zu verschweigen - von überall her eine Horde von Barbaren (barbarorum multitudine) um dich geschart. Du hast die wahrhaftige Kunst teils aus Unwissen teils aus Übermut zur Posse verzerrt, du hast nicht aufgehört, Verbotenes zu lehren (non docendo docere non desinis)- auch wenn du Lehrenswertes nicht hast lehren sollen (cum et docenda docere non debueras – welch schöne Rhetorik!).

 

Schwerer wog damals die Frage, ob ein Mönch überhaupt sein Kloster verlassen sollte, um zu unterrichten und sich damit den Dingen der Welt auszusetzen. Als Abaelard wohl schon in St.Gildas Abt ist, wird der Augustiner-Chorherr vom Stift St.Victor sein 'Didascalicon de studio legendi', sein Lehrbuch zum exegetischen und nicht dialektischen Lesen der heiligen Schriften verfassen. Darin schreibt er : Wenn du ein Mönch bist, was machst du in der Unruhe der Welt? Wenn du die Stille liebst, warum erfreust du dich dann daran, dich ständig unter Disputanten aufzuhalten? Du solltest doch ständig mit Fasten und Weinen (ieiuniis et fletibus) befasst sein, und du strebst danach zu philosophieren? Die Schlichtheit des Mönches ist seine Philosophie (simplicitas monachi philosophia eius est). Du sagst, 'ich möchte aber andere belehren'. Es ist nicht deine Aufgabe zu lehren, sondern zu weinen (und dann weiter: si tamen doctor esse desideras, audi quid facias. vilitas habitus tui et simplicitas vultus, innocentia vitae et sanctitas conversationis tuae docere debent homines. melius fugiendo mundum doces quam sequendo. sed adhuc forte prosequeris, et quid inquiens: 'Nonne saltem, si volo, discere mihi licet?' supra dixi tibi, 'Lege, et occupari noli.' exercitium tibi esse potest lectio, sed non propositum. doctrina bona est, sed incipientium est. tu vero te perfectum fore promiseras, et ideo tibi non sufficit, si incipientibus coaequaris. plus aliquid te facere oportet.

 

Betrachte also, wo du bist, und das, was du tun sollst erkennst du leicht (considera ergo ubi sis, et quid agere debeas facile agnosces.)

 

Das ist deutlich und wirkt wie gemünzt auf unseren Abaelard. Vor dem Konzil von Sens wird Bernhard von Clairvaux ihm vorwerfen, das einzige, was ihn zum Mönch mache, sei seine Kutte: nihil habens de monacho Prater nomen et habitum. (ep.193) Der Topos vom „falschen Mönch“ wird entwickelt, den Heinrich IV. ungerechterweise Gregor VII. entgegengeschleudert hatte (der sowieso kein Mönch war) und der noch Luther treffen wird. Bernhard wendet ihn allerdings einmal auch auf sich selbst an, da er so wenig Zeit für Kontemplation und so viele für (Kirchen)Politik aufwende.

 

Das Buch, um das es im Streit mit Roscelin geht, ist 'De Unitate et Trinitate divina', das er wohl als Mönch für den Unterricht geschrieben hatte. Abaelard hatte sich für seinen Text genau das Thema herausgesucht, welches seit fast tausend Jahren immer wieder die christliche Welt erschüttert hatte: Wie kann einer drei sein und doch nur einer. Über dasselbe Thema war damals schon sein Lehrer Roscelin gestolpert.

 

Der Verdacht erhärtet sich, dass Abaelard eine Neigung hat, den Konflikt zu suchen, wider den Stachel zu löcken, um dann tief zu fallen und so den Klagemodus seiner Seele einschalten zu können.

 

Offenbar hatten sich zwei Mitschüler von Abaelard aus seiner Scholarenzeit an die höchsten Stellen im Lande gewandt, um seine Verurteilung zu erreichen. Der Pariser Bischof ist froh, als er das leidige Thema an ein Konzil in Soissons abgeben kann, dass der päpstliche Legat Conanus von Praeneste leiten wollte. Diese Vertreter des Papstes sollen dessen im Investiturstreit gewonnene Macht demonstrieren. Wir befinden uns in der Spätzeit der Verhandlungen, die nächstes Jahr im „Wormser Konkordat“ enden werden, und an denen Wilhelm von Champeaux sowie der Kardinal beteiligt war, der bald als Innozenz II. Papst wird. Anwesend ist bei der Synode wohl auch Wilhelm von Thierry.

 

Abaelard hat zudem schlechte Karten, weil Calixt II., ein Onkel von Königin Adelaide (Adelheid), den König zu seinen Reformpositionen bewegen konnte. Als 1120 der junge Philipp in Senlis zum Thronfolger gekrönt wird, nimmt Conan von Praeneste den Baronen den Treueeid ab.

 

Bevor ich aber dorthin kam, hatten mich meine beiden vorgenannten Rivalen (aemuli) beim Klerus und Volk diffamiert, so dass das Volk (populus) mich und die wenigen von meinen Schülern, die mitgekommen waren, am Tag unserer Ankunft fast gesteinigt hätte (paene lapidarent), wobei sie sagten, ich würde predigen und schreiben, dass es drei Götter gebe, wie man ihnen eingeredet hatte. (Zeilen 627ff)

 

Ivo von Chartres hatte in seinem fünften Brief 1095 aus Anlass des Prozesses gegen Roscelin die Steinigung von Häretikern gerechtfertigt. Dieser Bischof von Chartres duldete bei einem Besuch Roscelins in seiner Stadt etwas später, dass der vom Pöbel tatsächlich fast gesteinigt worden wäre, und begründete das mit mütterlicher Liebe der Kirche. (Clanchy, Abaelard, S. 367) Anselm von Canterbury, der Gegner Roscelins, hatte schon erklärt, dass der nur widerrufen habe, weil er Angst habe, vom Volk umgebracht zu werden.

 

Während der Pöbel in den Straßen nur darauf wartet, sein Mütchen am Ketzer kühlen und ihn steinigen zu können, erlebt Abaelard auf dem Konzil die Schattenseiten des intellektuellen Disputes: Hinter dem Intellekt der Beteiligten verbergen sich, wie so oft, Streitsucht, Machtgelüste, Hass und vehemente Eitelkeit. Man wirft ihm „Anmaßung“ vor (praesumptio), was gewiss auf ihn so passt wie auf einige seiner „Feinde“. Wirklich verteidigen darf er sich offenbar nicht, wohl weil man Angst vor seinen Argumenten hat.

 

Der Legat lehnt die Lektüre des inkriminierten Buches ab, stattdessen verlangt er dessen Auslieferung an den Erzbischof von Reims, Abaelards Ankläger. Dann schlägt er die Vertagung des Disputes und die Übergabe an Fachleute vor. Abaelards Gegner lehnen das ab und halten es schon für häretisch, dass er das Buch durch Abschriften an die Öffentlichkeit gebracht habe, ohne sich eine kirchliche Genehmigung dafür einzuholen. Als Bischof Gottfried von Chartres dann einen Vortrag von Abaelard und einen folgenden Disput darüber vorschlägt, lehnen die Gegner das ab, da er ihnen in Schlussfolgerungen und Sophismen überlegen sei.

 

Gottfried überredet Abaelard darauf um des lieben Friedens willen, sich schuldig zu bekennen und sein Exemplar des Buches symbolisch selbst in die Flammen zu werfen. Dann wird er zwecks Demütigung dazu verdonnert, das athanasische Glaubensbekenntnis von einem Blatt abzulesen (unter Tränen und Schluchzen). Otto von Freising beschreibt das so in seinen 'Gesta':

 

Die Lehre (sententia) von den voces oder nomina vermischte er, sie für natürlich haltend, unvorsichtig mit der theologia. Deshalb lehrte und schrieb er über die Heilige Dreifaltigkeit als drei Personen, an welche die Heilige Kirche nicht nur als leere Begriffe, sondern als verschiedene und insofern in ihren Eigentümlichkeiten unterschiedliche Realitäten glaubte und gläubig lehrte, wobei er allzu sehr abschwächte, keine guten Beispiele gebrauchte und unter anderem sagte: So wie dieselbe Rede Thema (propositio), Annahme (assumptio) und Schluss ist (conclusio), so ist von derselben Essenz der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Deshalb ist in Soissons gegen ihn eine Provinzialsynode in Anwesenheit eines päpstlichen Legaten einberufen worden, und er wurde von hervorragenden Männern und namentlich von den Magistern Alberich von Reims und Lotulf von Novara als sabellianischer Ketzer verurteilt und gezwungen, die Bücher, die er veröffentlicht hatte, eigenhändig vor den Bischöfen ins Feuer zu werfen. Dabei wurde ihm keine Gelegenheit gegeben, darauf zu antworten, was bei seiner Erfahrung im Diskutieren (disceptandi pericia) von allen mit Argwohn betrachtet wurde. (I, 49)

 

Bestraft wird Abaelard mit seiner Rückgliederung in die klösterliche disciplina und dem Ende seiner Lehrtätigkeit. Er wird im Kloster St-Médard in Soissons der Aufsicht des Priors Goswin unterstellt, was ihm womöglich sein Leben rettet. Abaelard beschreibt seine Behandlung bei seinem kurzen Aufenthalt dort positiv:

Der Abt und die Mönche des Klosters glaubten, dass ich bei ihnen bleiben würde, und empfingen mich mit großer Begeisterung. Man behandelte mich sehr rücksichtsvoll und bemühte sich vergeblich, mich zu trösten. (Zeilen 791ff)

 

Goswin war nach seinem Schlagabtausch mit Abaelard auf dem Mont Saint-Geneviève selbst Magister und später Abt von Anchin und dann Prior von Saint Médard geworden. Laut der Vita des Goswin hat dieser Saint Médard in eine strenge (Um)Erziehungsanstalt verwandelt: So wurden in dieses reformierte Kloster Ungebildete geschickt, um erzogen zu werden, Liederliche, um gebändigt zu werden, Widerspenstige, um gezähmt zu werden. ... So schickte der Papst auch Meister Peter, den wir bereits oben erwähnten, in die Haft (recludendum) dorthin, weil er falscher Lehren überführt und mit dem Schweigegebot gebrandmarkt worden war. Dort sollte dieser wie ein Abbild des Nashorns (instar rhinocerotis) mit dem Band der Klosterzucht geknebelt werden.

 

Nun ist es möglich, dass Goswins überlegene Position ihn tatsächlich zu Gnädigkeit verführt: Peter Abaelard wurde im Kloster vom dortigen Prior Goswin empfangen, so wie es sich gehörte, nämlich im Geist der Milde. Der hoffte nämlich, dass er leichter im Schoß der Frömmigkeit (pietatis sinu) als durch die Zuchtrute bezähmt werde. Denn er hatte mehr aufgrund seiner milden Gesinnung als aus schulischer Gewohnheit begriffen, dass man eine Schlange nicht mit Gift bespritzen, einen tollwütigen Hund nicht reizen, in knisternde Flammen nicht zu reichhaltiges Brennmaterial werfen sollte. Um Abaelards Ohren zu besänftigen und seinen Sinn in eine andere Richtung zu lenken, führte er ihm die Tiefe seines Wissens, die große Vielfalt in den Wissenschaften und die hinreißende Rednergabe vor Augen, die überall dort, wo er wollte, überquoll, außerdem die zahlreichen Siege, die er im Streit der Ansichten errungen habe.

 

Aber er verwies ihn auch auf das, was würdiger und erhabener sei, das Bekenntnis zur klösterlichen Heiligkeit, die Verachtung der Welt und auf den Dienst am Herrn. Er solle nur das begehren, was nötig sei. Er müsse sich nur zu dem Unabdingbaren des Streitens für die Tugend zwingen. Er müsse sein Herz dem zuwenden, was er als ehrbar erkenne. Er solle seinen Mund daran gewöhnen und seine Handlungen darauf abstimmen. An seinem Missgeschick dürfe er nicht verzweifeln und die Tatsache, dass er zu ihm geschickt worden sei, nicht nur als Zwang (compeditum), sondern als Möglichkeit (expeditum) auffassen. Schließlich befände er sich nicht in einem Zuchthaus eingesperrt (reclusum ergastulo), sondern nur abgesondert von der Unruhe der Welt (exclusum turbine), nicht eingeschränkt, (compeditum) sondern befreit (expeditum). Er solle sich ehrenwert verhalten, dann sei er für alle ein Lehrer und ein Vorbild.an Ehrbarkeit (honestatis).

...Doch jener offenbarte mit seiner unanständigen Antwort nur, dass er den ehrenvollen und nützlichen Rat nicht annehme: Was predigst du mir so vielfältig den Anstand, rätst zum Anstand, lobst den Anstand? Es gibt viele, die über die Vorstellungen von Anstand diskutieren und die nicht wissen, was Anstand ist. (Multi sunt qui disputant de speciebus honestatis qui nesciunt quid sit honestas.)

 

In der Erzählung des Biographen versucht offenbar Abaelard jetzt die dialektische Diskussion nachzuholen, die ihm auf der Synode nicht möglich war.

Da endlich begriff er (Goswin), dass er bei ihm zu ganz anderen Worten greifen müsse, die beißender wären ohne allerdings die Grenzen des Anstands zu überschreiten. Und so gab er ihm zur Antwort: „Es ist wahr, was du gesagt hast: Viele streiten über die Vorstellungen von Anstands, ohne zu wissen, was Anstand ist. Aber wenn du weiterhin etwas Unanständiges behaupten oder anstreben willst, wirst du spüren, dass wir auch anders vorgehen können.“

 

Als Abaelard ihn weiter beleidigte: „Mögest du nicht erfahren, was es heißt, nicht nicht zu wissen, was Anstand ist. (Non experieris, quid sit honestas non nescire.“) Auf diese feste Antwort hin bekam jenes Rhinozeros Angst. Er verhielt sich in den folgenden Tagen ziemlich ruhig und ließ die Erziehungsmaßnahmen geduldig über sich ergehen aus Angst, ausgepeitscht zu werden. So kam er schließlich zur Vernunft und ließ das verrückte Herumreden (animo delirantis) sein. Er wurde genötigt einzusehen: Wer wider den Stachel löckt, peinigt sich selbst...

 

Nach wenigen Tagen entlässt ihn der päpstliche Legat zurück nach St.Denis. Dort verkracht sich Abaelard mit den Mönchen, weil er in einer der Bücherkisten einen Text von Beda Venerabilis entdeckt, der ihn dazu veranlasst, den Mönchen klarzumachen, dass ihr heiliger Dionysius nicht der sei, den die fromme Legende zum Klostergründer machte. Diesen Dionysus gab es in dreifacher heiliger Ausführung als den von Paulus bekehrten Dionysios Areopagita, als einen um 250 gestörbenen Pariser Märtyrer und als den um 500 lebenden Pseudo-Dionysius. Saint Denis war aber eine Art Nationalheiligtum des aufstrebenden Königreichs Frankreich, und so bekommt der gelehrte Mönch vom Abt Ärger von höchsten Stellen angedroht: er werde sich eilends an den König wenden, sagte er, damit dieser mir eine Strafe auferlege, denn ich würde seinem Reich den Ruhm und die Krone rauben (Zeilen 848ff). Dass Abaelard sich auf diese gelehrte Unwichtigkeit stürzt, setzt ihn nun wohl endgültig dem Vorwurf der Streitsucht und Überheblichkeit aus. Andererseits suchte er vielleicht auch nur einen Vorwand, um dem Klosterleben dort zu entfliehen, nachdem er als Mönch von dort aus nicht mehr unterrichten durfte.

 

Um zu verdeutlichen, was geschehen war: Kaiser Heinrich V. wird knapp drei Jahre später Ludwig VI mit einem Marsch in die französischen Kronlande bedrohen. Darauf stellt Abt Suger die Reliquien des heiligen Denis auf den Hochaltar der Abteikirche und verleiht dem König eine heilige Standarte. Während der damit alle Herren des Westfrankenlandes aufruft, zu ihm zu eilen, was sie dann auch in nie dagewesener Zahl tun, beten und singen die Mönche Tag und Nacht für den Sieg der königlichen Armee. Das Ergebnis ist, dass die wundertätigen Reliquien (oder das große Heer?) den Kaiser zur Umkehr zwingen. Wer da etwas anzweifelt, macht sich viele Feinde.

 

Der offenbar unerträglich werdende Ärger im Kloster veranlasst Abaelard nun 1121, heimlich nach Provins in den Schutz des Grafen der Champagne außerhalb des Königsreichs Frankreich zu fliehen, ein fragwürdiger Schritt für einen Mönch. Als Abt Adam darauf nach Provins eilt und Abaelard mit der Exkommunikation droht, scheint der gräfliche Unterstützung zu bekommen.

 

Abt Adam stirbt kurz darauf und Suger wird sein Nachfolger. Er trifft sich mit Abaelard: Schließlich gelang es mir, durch Vermittlung einiger meiner Freunde, den König und seinen Rat in dieser Frage anzurufen. Der damalige dapifer (Seneschall) des Königs, Stephan (de Garlande), rief den Abt und seine Vertrauten zu einer Beratung zusammen. ... Ich wusste, dass im königlichen Rat die Ansicht herrschte (sententiam esse), dass, umso weniger jene Abtei nach den Regeln lebte, sie für den König desto gehorsamer (subiecta) und nützlicher sei, und zwar in wirtschaftlicher Hinsicht (ad lucra temporalia). Deshalb glaubte ich, dass es mir leicht fallen würde, die Zustimmung des Königs und seiner Ratgeber zu erlangen; und so geschah es auch. (Historia Zeilen 887ff)

 

Er darf nun in die „Einsamkeit“ ziehen, nur einem anderen Kloster darf er sich nicht unterstellen.

 

8. Paraklet

 

Nachdem er auch im Umfeld des Grafen Schwierigkeiten bekommt, flieht er in die „Einsamkeit“ in der Nähe von Troyes, gründet um 1122 eine Einsiedelei, deren Oratorium (Gebetshaus) er erst der Dreifaltigkeit, und dann dem Paraklet weiht, dem tröstenden (heiligen) Geist.

 

 

Paraklet-Kloster vor der Zerstörung in der Französischen Revolution (1793, wp)

 

 

 

Das ist zweimal hintereinander eine Provokation für die Amtskirche: Die Trinität, ein nur in philosophische Merkwürdigkeiten auflösbares Mysterium, war der Stein des Anstoßes bei Abaelards Versuchen, Theologie dialektisch zu untersuchen, und der parákletos ist nicht nur jener, den man sich (zum Troste zum Beispiel) herbeiruft, sondern er verweist im Evangelium des Johannes zwischen der Fußwaschung und der Erklärung „ich habe die Welt überwunden“ XVI,33) auf folgende Textstelle, die der des Griechischen wohl nicht Mächtige aus der Vulgata so kannte: Et ego rogabo Patrem, et alium Paraclitum dabit vobis, ut maneat vobiscum in aeternum, Spiritum veritatis, quem mundus non potest accipere, quia non videt eum nec scit eum...(XIV,16f). „Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Trostspender geben, auf dass er für alle Ewigkeit bei euch bleibe, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht aufnehmen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht.“

 

Die zweite Johannes-Stelle, immer noch im selben Kontext, lautet nicht weniger herausfordernd für die Verfolger des Abaelard: Si enim non abiero, Paraclitus non venit ad vos; si autem abiero, mittam eum ad vos. Et cum venerit ille, arguet mundum de peccato et de iustitia et de iudicio. De peccato quidem, qui non crediderunt in me; de iustitia vero, quia ad Patrem vado et iam non videbetis me; de iudicio autem, quia princeps huius mundi iam iudicatus est. (XVI,7ff) Also: „Wenn ich nicht fortgehen werde, kommt der Trostspender nicht zu euch; wenn ich aber fortgehen werde, schicke ich ihn zu euch. Und wenn jener kommen wird, wird er die Welt als falsch erweisen, aufgrund der Sünde, der Gerechtigkeit und des Urteilsspruches. Wegen der Sünde die, nicht an mich glauben; wegen der Gerechtigkeit, weil ich zum Vater gehe und sogleich mich nicht mehr sehen werdet; wegen des Urteilsspruches aber, weil der Fürst dieser Welt schon gerichtet ist.“ Der Fürst dieser Welt ist bei Johannes der diábolos.

 

Gerne erwähnt wird, dass Petrarca an den Rand seiner 'Historia'-Handschrift zu dem folgenden Text das Wort solitudo anmerken wird, Einsamkeit. Das passt, nicht wegen der Einsamkeit an sich, sondern wegen dem, wie sie beschrieben wird. Also zog ich in die Einsamkeit der Gegend von Troyes, die ich von früher kannte. Dort schenkten mir einige Leute Land und mit Erlaubnis des Bischofs der Gegend baute ich ein Gebetshaus (oratorium) im Namen der heiligen Dreifaltigkeit aus Schilf und Stroh. (Zeilen 901ff)

 

Es handelte sich um Land des Milo von Nogent am Ufer des Ardusson, welches sowohl kultivierte wie auch naturbelassene Flächen umfasste. Abaelard ist dort auch nicht alleine, sondern mit einem gewissen Kleriker zusammen, von dem er weiter nichts sagt. Dem älteren Herrn liegt die Handarbeit nicht, kommt er doch aus ritterlichem Hause. Nicht zu ertragende Armut (er taugt nicht zum Eremiten, wie man sieht) bringt ihn also dazu, wieder zu unterrichten, was er dort nun etwa fünf weitere Jahre tut.

 

Dort strömen wieder zahlreiche Schüler hin, darunter viele zukünftige Geistesgrößen. Sie verließen die Städte und Burgen, um die Einsamkeit zu bewohnen. Statt großer Häuser errichteten sie sich kleine Hütten, statt delikater Speisen ernährten sie sich von Feldkräutern und und grobem Brot, und statt weicher Bettlager besorgten sie sich Schilf und Stroh, als Tische richteten sie Erdschollen auf. (Zeilen 907ff)

 

Nach diesem Gemälde, wie es später Giotto nicht schöner hätte malen können, kommt der Rekurs auf die antike Zivilisationskritik, ohne den Petrarca wohl nicht so angenehm vom Text berührt worden wäre. Was also sagt Hieronymus: Wenn einer sich an Zirkusspielen erfreut, am Wettkampf der Athleten, der Wendigkeit der Schauspieler, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Juwelen, Kleider und ähnlichem, dann ist die Freiheit der Seele durch die Fenster der Augen erobert worden und es erfüllt sich das Prophetenwort: „Der Tod ist durch unsere Fenster eingetreten.“

 

Und Abaelard setzt noch eins drauf: Das sind Gründe, die viele Philosophen dazu gebracht haben, die Menge der Städte und der grünen Vorstädte mit ihren bewässerten Feldern, den Blättern der Bäume, dem Zwitschern der Vögel, dem sich spiegelnden Quellwasser , dem murmelnden Bach und vielen anderen Verlockungen für Augen und Ohren... zu verlassen.(Zeilen 926ff). 

 

Nein, nicht die Idylle der Eremitage mit alternativem Leben, sondern die die Sinnenlust und Lebensfreude ablehnende rigorose Kargheit des vernünftigen Geistes, der sich gerne auf Hieronymus bezieht, wird hier gepriesen. Schüler dürfen ihm diese innere Wüstenei nur um des elenden Geldes willen vertreiben, aber immerhin besorgen sie Essen und Kleidung für ihn, arbeiten auf seinen Feldern und kümmern sich überhaupt um all das leidige niedrige Alltägliche, welches den Philosophen vom Philosophieren abhält. Aus nieder-adeligem Hause, ist er jetzt ganz und gar Geistesadel geworden, aber adelig (edel) ist er eben geblieben.

 

Wie die Jünger von Johannes dem Täufer am Jordan leben die Schüler, genauso bauten sie ihre Hütten am Fluss Arduzon und erschienen (videbantur) mehr als Eremiten denn als Studenten. Da folge ich mal gerne auch der Übersetzung von D.N. Hasse, der erweckten den Eindruck von Eremiten eindeutscht. Philosophieren ist wieder eine Lebensform geworden, so wie sie Abaelard schon in der Antike vorgefunden hatte.

 

Wieder eine neue Rolle, wieder eine rigorose Darstellung dieser Rolle, und abwechselnd wird er sich nun mit Leuten wie dem Täufer oder Jesus implizit identifizieren. Entsprechend heißt es auch gleich: Sie verfolgten mich unbarmherzig. Bösartig ausgedrückt: Er sorgt unentwegt dafür, dass sie ihn nicht in Ruhe lassen.

Immerhin, Fachleute vermuten, er habe im Paraklet die zweite Version seiner Theologia (Christiana), Sic et non, das Soliloquium und die Collationes geschrieben.

 

Es gibt offenbar keine Quelle für Abaelards Leben beim Paraklet-Oratorium außer seiner 'Historia' und einem Gedicht des Hilarius, der offenbar als Schüler gegen Ende von Abaelards Aufenthalt dort weilt:

  

Lingua serui, lingua perfidie, / Rixe motus, semen discordie, / Quam sit praua, sentimus hodie, / Subiacendo graui sententie. / Tort a uers nos li mestres.

Lingua serui, nostrum discidium, / In nos Petri commouit odium. / Quam meretur ultorem gladium, // (fol. 6v) / Quia nostrum exstinxit studium. / Tort a uers nos li mestre.

Detestandus est ille rusticus, / Per quem cessat a scola clericus. / Grauis dolor, quod quidam publicus / Id effecit, ut cesset logicus. / Tort a uers nos li mestre.

Est dolendum, quod lingua seruuli, / Magni nobis causa periculi, / Susurrauit in aurem creduli, / Per quod eius cessant discipuli. / Tort a uers nos li mestre.

O quam durum magistrum sentio, / Si pro sui bubulci nuntio, / Qui uilis est et sine pretio, / Sua nobis negetur lectio. / Tort a uers nos li mestre.

Heu. quam crudelis est iste nuntius, / Dicens: fratres, exite citius: / Habitetur uobis Quinciacus114, / Alioquin non leget monacus. / Tort a uers nos li mestre.

Quid, Hilari, quid ergo dubitas? / Cur non abis et uillam habitas? / Sed te tenet diei breuitas, / Iter longum et tua grauitas. / Tort a uers nos li mestre.

Ex diuerso multi conuenimus, / Quo logices fons erat plurimus, / Sed discedat summus et minimus, / Nam negatur, quod hic quesiuimus. / Tort a uers nos li mestre.

Nos in unum passim et publice / Traxit aura torrentis logice / Desolatos, magister, respice / Spemque nostram, que languet, refice.´/ Tort a uers nos li mestre.

 

In der Übersetzung aus dem E-Book 'Der Dichter und Lehrer Hilarius von Orléans' von Werner Robl übernommen:...Zunge des Knechts, Organ der Niedertracht, / Erweckst den Streit, säst Samen der Zwietracht! / Bitt’re Erfahrung haben wir nun gemacht: / Der Tag hat uns harten Schiedsspruch gebracht. / Der Meister hat uns Unrecht getan!Das Wort des Knechts hat die Bande zerstört / Und Peters Hass über uns jetzt entleert. / Kappe die Zunge, du rächendes Schwert! / Die Lehre bleibt uns in Zukunft verwehrt! / Der Meister hat uns Unrecht getan!Zum Teufel der Bauer, er geht verquer! Die Schule hat keinen Kleriker mehr! / Wie schlimm ist der Schmerz, dass ein Höriger / Ihn aufgeben ließ, uns’ren Logiker. / Der Meister hat uns Unrecht getan!Knechtische Arglist - es ist nur zu wahr - / Bringt uns in die allerhöchste Gefahr. / Feiges Gerücht hält der Meister für wahr, / Vergrault die Schüler zu guter Letzt gar. / Der Meister hat uns Unrecht getan!

Wie hart gegen uns der Meister entschied. / Glaubt allzu gern eines Ochsenknechts Lied. / Niemand an ihm Wert und Nutzen noch sieht. / Hartherzigkeit jede Vorlesung mied! / Der Meister hat uns Unrecht getan!Wie grausam ist für uns alle die Mär: / Lauft, Brüder, fort, Peter will euch nicht mehr! / Zieht um nach Quincey, macht den Campus leer! / Sonst liest uns der Mönch überhaupt nicht mehr! / Der Meister hat uns Unrecht getan!Hilarius, mach’ kein trübes Gesicht! / Geh’ in das Dorf, akzeptier’ das Gericht! / Die Frist läuft ab, alsbald schwindet das Licht. / Bedenk’ den Weg und Dein Übergewicht! / Der Meister hat uns Unrecht getan!Wir haben uns zahlreich hier eingestellt, / Wo der Logik Born am reichlichsten quellt. / Ob groß, ob klein, nun den Abschied gewählt! / Kein Dürstender labenden Trunk erhält! / Der Meister hat uns Unrecht getan!

Nur eines hat uns hierher gezogen, / Wir sind im Sturm der Logik geflogen. / Nun treiben wir auf der Tränen Wogen. / Gib, Herr, die Hoffnung, um die wir betrogen! / Der Meister hat uns Unrecht getan!

 

„Um 1126 oder spätestens 1127, stieß Hilarius von Orléans zu Peter Abaelard. Er scheint den Philosophen in genau der gereizten Verfassung angetroffen haben, die dieser in der Historia Calamitatum schildert: Zum einen werden seine Schüler des öfteren über die Stränge geschlagen haben, zum anderen wird Peter Abaelard seinerseits jeden Vorwand benutzt haben, um einen Teil seiner Schüler los zu werden.“ (Werner Robl) Offenbar hatte sich ein Bauer oder Knecht darüber beschwert, dass Studenten sich daneben benommen haben, Getreide oder Geflügel gestohlen haben oder was auch immer. Peter Abaelard scheint aus Empörung über das Verhalten seiner Schüler den Unterricht unterbrochen zu haben. „Mit der Drohung, die Lehre endgültig einzustellen, wies er einzelne Rädelsführer, darunter auch den dickleibigenund nahezu gleichaltrigen Hilarius, aus der Studentensiedlung.“ (Zitate aus RoblHilarius)

 

Es kommt zu Anwürfen gewisser neuer Möchtegern-Apostel, unter denen Rexroth und Clanchy Bernhard von Clairvaux und Norbert von Xanten vermuten. Was nun folgt, ist ein Trotztext in der 'Historia', den man mit seinen späteren frommen Anweisungen an Heloysa im Paraklet-Kloster wird in Beziehung setzen müssen, um tiefer in ihn hineinschauen zu können:

 

Häufig ... verfiel ich in solche Verzweiflung, dass ich plante, die Grenzen der Christenheit zu überschreiten und zu Leuten (gentes) zu gehen, wo ich ruhig christlich unter den Feinden Christi leben könnte, gleich, was sie mir auferlegen würden. Ich glaubte, dass sie mich freundlich aufnehmen würden, da sie mich wegen der mir auferlegten (Kirchen)Strafe (crimen) für weniger christlich halten und darum geeigneter für die Bekehrung zu ihrer Glaubensrichtung (sectam suam) halten würden. (Zeilen 1060ff)

 

Zunächst ist festzustellen, dass eine mögliche Schlussredaktion der Abaelard-Heloysa-Texte dies hier stehen ließ, was zu der wenig frommen Heloysa passen würde: Ihr Liebster, der in ihrem Kloster begraben werden wird, für dessen Seelenheil sich dabei Petrus Venerabilis verbürgen wird, sagt hier nichts anderes, als dass es seiner Ansicht nach für einen Christen leichter sei, im maurischen Spanien ein christliches Leben zu führen als in Nordfrankreich. Das ist Trotz: Ein christliches Leben führen zu können, weil man im Ruf ist, ein Ketzer zu sein.

 

Zum anderen spricht er von den muslimischen „Heiden“ als secta. So benannte man aber längt nicht mehr „Heiden“, sondern nur noch christliche Glaubensrichtungen, und immer häufiger solche, die als haeretisch abgelehnt und verfolgt wurden. In seinem 'Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum' wird er den Eindruck vermitteln, dass alle drei Schriftreligionen verschiedene Wege zu einem Ziel seien. Dann sind sie aber, was er so sonst nicht formulieren konnte, alle drei „Sekten“, Ausschnitte einer gemeinsamen Kultur.

 

Um 1125/26 wird er von den Mönchen von St.Gildas an der Südwestküste der Bretagne zum Abt gewählt und verlässt sein Oratorium. In St.Gildas, einem an sich altehrwürdigen Kloster, streitet er sich mit den verarmten und „zuchtlosen“ Mönchen herum. Das Land war barbarisch, die Sprache mir unbekannt, das schändliche und zügellose Leben jener Mönche fast überall berüchtigt, die Bevölkerung jener Gegend unzivilisiert (inhumana) und roh. (Zeilen 1079ff)

 

Exlex und indisciplinata sind sie alle, diese Bretonen dort. Das klingt allerdings schlimmer als das Land der Mauren und wird in ihm Sehnsucht nach „Francien“ auslösen. Seine Darstellung der Mönche dort macht verständlich, was die Klosterreformen zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert vor sich sahen: Jeder (Mönch) musste mit dem Besitz, den er eingebracht hatte, sich selbst, seine Konkubinen, Söhne und Töchter ernähren. (Das Kloster hatte keinen gemeinsamen Besitz, war also bettelarm.) Die Mönche erfreuten sich daran, mir Sorgen zu bereiten und stahlen und rafften alles, was sie bekommen konnten. (Zeilen 1102ff)

 

Bevor ihn Heloysa erneut beeinflusste, hatte sich Abaelard nach seiner Kastration in einen radikalen Vertreter der Klosterreform gewandelt, nachdem er selbst Mönch geworden war. In einer seiner Predigten (Sermo 33), vielleicht an seine Mönche in der Bretagne gerichtet, heißt es:

 

'Mönch' oder 'Eremit' sind die ureigentlichen Namen für die Religion an sich, wohingegen die Begriffe 'Bischof' oder 'Geistlicher' nur Namen für ein Amt oder einen Dienst, nicht aber für eine Berufung darstellen ... In der Kirche Gottes ist die betriebsame Arbeit der Kleriker oder Bischöfe in keiner Weise mit der Stilleder klösterlichen Kontemplation zu vergleichen, zumindest was die Größe des Verdienstes im Unterschied zur kirchlichen Rangstellung anbetrifft. Deshalb erfahren wir immer wieder, wie sich nicht nur Kleriker, sondern auch Bischöfe zu der Demut der Mönche herabbegeben, um ihren Lebenswandel zu vervollkommnen. Die Kirche maßt sich andererseits gewöhnlich auch nicht an, Mönche in die Amtspflichten von Klerikern einzubeziehen, abgesehen von dem höchsten Rang eines Priesters, und sogar dies ist nicht ohne Schaden für die Religion. ... Die Sitte der Kirche bezeugt, in welch großem Maße Mönche die Kleriker an Verdiensten übertreffen, wenn wir bei unserer invocatio in der Liturgie alle beten: „Alle heiligen Mönche und Eremiten, bittet für uns!“ Keiner von uns würde aber auf die Idee kommen zu sagen: „Alle heiligen Kleriker, Bischöfe und Kanoniker, bittet für uns!“, weil dies nicht Bezeichnungen sind, die sich durch die Heiligkeit ihres Lebens auszeichnen. (Deutsch in Clanchy, Abaelard, S.272)

 

Dieser hohe Anspruch wird weder seinen Mönchen gefallen haben, noch ihre Abwertung den Weltgeistlichen, soweit sie etwas von dieser Predigt mitbekamen. Er steht aber ganz im Widerspruch zur Auffassung, die Heloysa in ihrem dritten Brief aus dem Paraklet-Kloster entwickeln wird, die allen Christen ganz paulinisch die gleiche fromme Lebensführung auferlegt, wobei sich die Mönche dann besonders durch ihre sexuelle Enthaltsamkeit auszeichnen. Das wird ein zentraler Konfliktpunkt zwischen dem voneinander getrennten Paar werden.

 

Irgendwann in den 30er Jahren wird Abaelard in einem Brief an Bernhard von Clairvaux deutlich machen, dass seine Vorstellungen von mönchischem Leben eher von Cluny (Kunstsinn und Gelehrsamkeit) als von Citeaux geprägt seien: Ihr, die ihr neu in Erscheinung getreten seid, euch mit großer Freude an den Neuheiten ergötzt, habt mit euren neuen Erlassen für euren Gebrauch einen Gottesdienst eingesetzt, der von den altehrwürdigen und traditionsreichen Gewohnheiten aller Kleriker und Mönche abweicht. (deutsch in Clanchy, S.312) Ob wohl Peter Venerabilis vom Inhalt dieses Briefes erfahren hat? Es könnte helfen zu erklären, warum er Abaelard 1141 so wohlwollend in Cluny aufnimmt.

 

1128/19 werden Heloysa und eine Anzahl Nonnen vom großen Abt Suger von Saint Denis aus ihrem Kloster in Argenteuil vertrieben Ihnen wird offenbar liederlicher Lebenswandel vorgeworfen. Nach Ansicht von Abaelard – und die Quellen scheinen es zu bestätigen - geht es dem Herrn von Saint-Denis wohl darum, mit alten Rechtstiteln und mit allen Mitteln seine Macht auszubauen. Immerhin wurde die Vertreibung vom zuständigen Bischof, vom päpstlichen Kardinallegaten Matthäus von Albano, den Bischöfen der Pariser Diozese, von Gottfried von Chartres und vom König autorisiert.

 

Das Kloster war ein lohnendes Objekt zur Vereinnahmung, war es doch Anfang des 11. Jahrhunderts vom König mit „reichem Landbesitz“ ausgestattet worden. „Seitdem war Argenteuil ein angesehenes Kloster, in dem die Töchter der bedeutenden Familien erzogen oder aufgenommen wurden, wenn sie auf eine Heirat verzichtet hatten oder Witwen geworden waren.“ (Mariateresa Fumagalli Beonio Brocchieri in: Bertini, S.164)

 

Fumagalli zitiert dort auch Abt Suger selbst: Als ich ein Jüngling war, las ich häufig in Urkunden, die den Besitz meines Klosters betrafen, und dabei fiel mir auf, dass sie viele Widersprüche enthielten ... Dabei waren mir auch die Dokumente von Argenteuil in die Hände gelangt ... , aus denen hervorging, dass dieses Kloster der Abtei Saint-Denis unterstellt war, auch wenn in der Regierungszeit Karls des Großen die Tochter dieses Kaisers vorübergehend das Verfügungsrecht darüber erlangt hatte ... Nach eingehender Beratung mit meinen Mitbrüdern sandte ich einen Boten mit den alten Urkunden zu Papst Honorius und bat ihn, diese nach dem kanonischen Recht zu prüfen und sie uns mit seinem Urteilsspruch zurückzuschicken. ... Der Papst war ein Mann des Rechts und ein Wahrer der Gerechtigkeit und gab uns das Kloster Argenteuil zurück, sowohl aufgrund unseres Rechtsanspruchs als auch wegen des skandalösen Lebenswandels der damals dort untergebrachten Nonnen... (Fumagalli, s.o. S.165f)

 

Darauf „schenkt“ ihnen Abaelard das Land seiner Einsiedelei, die Heloysa und ihre „Töchter“ zum Kloster ausbauen, welches 1131 von Papst Innozenz II. anerkannt wird, wodurch Heloysa offiziell „Priorin“ wird. Erst später wird sie auch Äbtissin werden. Wir reden vom „Paraklet“, aber der älteste Teil des Klosters, le petit moustier, war wohl Saint Denis geweiht.

Das neue Kloster ist offensichtlich enorm angesehen und erfolgreich. Ihm werden bald eine Menge Ländereien zwischen Provins und Nogent geschenkt.

 

In diesen Jahren pendelt Abaelard zwischen dem Kloster von St.Gildas und dem Parakletkloster hin und her, wobei ihm abwechselnd vorgeworfen wird, das Paraklet und Heloysa zu vernachlässigen (wenn er nicht da ist), oder aber nicht von ihr lassen zu können (wenn er da ist, dort predigt, oder mit Geld aushilft, das er wohl auch mit Predigen einsammelt). Die Reise zwischen beiden Klöstern überbrückt rund 600 km und dauert mehrere Wochen. In St.Gildas hält er sich nur noch abgetrennt von der Mönchsgemeinschaft in einigen kleinen Zellen auf.

 

Der von Abalelard wohl als falscher Apostel erwähnte Bernhard von Clairvaux besucht auf Einladung der Heloysa einmal das Parakletkloster, und von massiven Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem von ihr als Pseudo-Apostel bezeichneten Bernhard ist dabei nicht die Rede – immerhin berichtet Heloysa Abaelard, er habe recht unangenehme Fragen gestellt. 

 

Später wird Bernhard in seinem Brief 332 schreiben: Wir haben einen gewissen Peter Abaelard in Frankreich, einen Mönch ohne Regeln, einen Priester ohne Verantwortung, einen Abt ohne Disziplin, der mit kleinen Kindern diskutiert und mit Frauen verkehrt.

 

Gilsons Vermutung, Abaelard habe gehofft, im Paraklet oder wenigstens in der Nähe sich zur Ruhe setzen können, ist leicht zu folgen. Aber man vergönnte es ihm nicht. Das bringt ihn dazu, in der 'Historia' noch mal an die Hand Gottes zu erinnern, die den Übeltäter zwischen den Beinen stillgelegt hatte, um dann in einem langen Absatz die Nähe Jesu und der Aposteln zu so vielen heiligen Frauen zu beschwören.

 

Wir wissen wenig genaues aus dieser Zeit. Belegt ist seine Anwesenheit beim Grafen Conan III. in Nantes 1128 oder 29 in Gesellschaft von Poet Hildebrand von Lavardin, Erzbischof von Tours.

Am 20. Januar 1231 findet im Kloster Morigny ein Treffen statt, bei dem Innozenz II. und elf Kardinäle, darunter Haimo, Abaelard und Bernhard von Clairvaux anwesend sind. Zudem ist der päpstliche Kaplan Heinrich anwesend, der 1140 beim dortigen Ketzerprozess Erzbischof von Sens sein wird.

 

Innozenz ist nach der schismatischen Papstwahl von 1130 vor Anaklet und dessen Anhängern in die westfränkischen Fürstentümer geflohen und wirbt dort um Anerkennung, die ihm der König der Francia (und der „englische“) auch gewährt. Bernhard als der prominenteste Anhänger dieses schismatischen Papstes begleitet ihn eine Weile.

 

Abaelard bittet dort um einen päpstlichen Legaten, der ihn bei der Reform seines Klosters unterstützen solle. Dieser, Bischof Gottfried von Chartres, kommt dann auch, sorgt in Anwesenheit von Graf Conan III. dafür, dass ein Teil der Mönche ihm mehr Klosterdisziplin zusichert, was sie aber laut Abaelard dann nicht einhalten, während offenbar ein anderer Teil geht. Mehr konnte die Papstkirche aber nicht tun, undisziplinierte Mönche gab es schließlich vielerorts.

 

Möglicherweise bringt unser Abaelard auch das Gesuch der Heloysa um Anerkennung ihres Paraklet-Klosters mit. Auf jeden Fall wird er in der Klosterchronik bei dieser Gelegenheit nicht nur als religiosus bezeichnet, sondern auch als der vortrefflichste Leiter der Schulen, zu welchen die gelehrten Männer von allen Enden der lateinischen Welt in Scharen kamen. (Petrus Abailardus, Monachus et Abbas, et ipse vir religiosus, excellentissimarum rector scholarum, ad quas pene de tota Latinitate viri litterati confluebant)

 

1132/33 flieht er ganz aus der Bretagne, da er sich vor den Mönchen von Saint-Gildas seines Lebens nicht mehr sicher ist. Sathanas hat mich damals gehindert, einen Ort zu finden, an dem ich ausruhen oder selbst leben kann. Stattdessen irre ich umher, bin ständig auf der Flucht... (Zeilen 1293ff) Er unterrichtet nun wieder in Paris.

 

Danach findet möglicherweise eine Art gemeinsame Redaktion Abaelards und Heloysas von ihrem Briefwechsel statt, und er schreibt zusätzliche Texte für das Paraklet-Kloster. Ihre früheren Liebesbriefe und seine Liebeslieder, die Berühmtheit erlangt haben, sind verschollen, vermutlich auch noch viele Briefe mehr. Abaelard ist inzwischen gut fünfzig Jahre alt.

 

9. Heloysas Briefe

 

Die Adressierung des ersten ihrer Briefe erzählt bereits ihre gemeinsame Geschichte: ihrem Herrn (der dominant-aggressive Liebhaber), oder vielmehr Vater (der spirituelle Vater vom Paraklet-Kloster), ihrem Gatten (die Ehe) oder besser, ihrem Bruder (seit sie Mönch und Nonne sind), seine Magd (als die, die ihm in allem gefolgt ist), nein seine Tochter (da er eine Art Gründungsvater des Klosters ist), seine Gattin (...), nein, seine Schwester (was sie gerne gewesen wäre und erst durch seine Kastration ist), ihrem Abaelard, Heloise. Erst im letzten Ausdruck sind alle Rollen ins Persönlich-Individuelle aufgelöst, und genau dort setzt ihr Brief ein.

 

Dann geht sie auf die 'Historia calamitatum' ein, der den Anlass des Briefes bietet. Die übliche lateinische Version lautet: Missam ad amicum pro consolatione epistolam, dilectissime, vestram ad me forte quidam nuper attulit. (Euren Brief an den Freund zu seinem Trost, innig Geliebter, hat man durch Zufall neulich mir überbracht).

 

Peter Dronke verweist aber auf den anderen Anfang der Übersetzung in der Handschrift des Jean de Meung: Tres chiers amis, voz homs m'a nouvelement monstré votre epistre, que vous envoyastes a nostre ami pour confort. (Dronke, S.304) Das wäre aber: Liebster Freund, Euer Mann hat mir kürzlich deinen Brief gezeigt, den Ihr an unseren Freund zur Tröstung geschickt habt.

 

Da ein Abschreiber beim lateinischen Text die Fehler machen könnte, die dann von den anderen wieder abgeschrieben werden können, und Jean de Meungs übersetzte Version die erste uns bekannte ist, gäbe das folgende Änderungen wieder: Zum einen hätte ihr Abaelard den Brief bewusst zum Lesen gegeben, und er wäre nicht zufällig an sie geraten (wie auch?), und der Trostbrief wäre an einen gemeinsamen, ihr bekannten Freund gerichtet gewesen.

 

Das ist insoweit plausibler, als sie spätestens seit der Überschreibung des Paraklet-Geländes an Heloysa wieder in Kontakt waren. Zudem fängt sie nicht mit Vorwürfen gegen ihn an, sondern mit Kundgebungen des Mitleids über sein Schicksal. Dann allerdings wäre die 'Historia' für einen wirklichen Freund geschrieben worden, was allerdings merkwürdig ist, denn er wirkt nicht wirklich wie ein Trostbrief, sondern eher wie ein Klagelied.

 

Die ersten beiden Briefe von Heloysa (Heloissa) sind das Spannendste, was uns weibliche Texte bis ins Spätmittelalter an Innenschau von Weiblichkeit bieten können. Es geht um ein ganzes Bündel von Problemen, die sie betreffen und treffen. Sie wollte die Ehe nicht. Sie verheimlichte sie, als sie da war, auf Wunsch von Abaelard. Sie wollte die sexuelle Seite der Verführung durch Abaelard nicht, und sicher nicht die gewalttätige und demütigende. Sie nahm sie aber hin. Und initiiert in die sexuelle Lust, kann sie ihr erotisches Begehren nicht mehr eindämmen, und ihr Liebster kann es nicht mehr befriedigen wollen. Sie wollte nicht ins Kloster, ging aber aus Liebe zu Abaelard. Und im Kloster fühlte sie sich von ihm massiv alleingelassen, verraten.

 

Nicht nur ist er dem Freund Trost schuldig, sondern noch mehr ihr „Heilung“ (in der Schreibweise von Dronke):

 

Sana, obsecro, ipsa que fecisti,

qui que alii fecerunt curare satagis.

Morem quidem amico et socio gessisti

et tam amicitie quam societatis debitum persovisti

sed maiore te debito nobis astrinxisti,

quas non tam amicas quam amicissimas

non tam socias quam filias convenit nominari,

vel si quod dulcius et cantius vocabulum potest excogitari.

 

Versmaß, Endreime, Binnenreime, rhythmisierte Rhetorik (tam – quam etc.) machen die Schönheit der Sprache aus, in der sich eine drängende Aufforderung mit eingekleideten Begründungen äußert, die an das ovidische Heilen der Liebeswunden gemahnt.

 

Heile, ich bitte dich, nun jene (Wunden), die du verursacht hast, / der du, was andere verursacht haben, versuchst zu heilen. / Deinem Freund und Kameraden hast du Genüge getan, / und so die Verpflichtung der Freundschaft und Kameradschaftlichkeit eingelöst, / doch mit größerer Verpflichtung bist du an uns gebunden, / die wir nicht Freundinnen, sondern liebste Freundinnen / nicht Kameradinnen, sondern Töchter genannt werden müssen, / oder einen noch süßeren und heiligeren Namen, wenn man ihn ausdenken kann.

 

Das Moment eines solchen Erotischen ist wesentlich eine Neuentdeckung und Wiederentdeckung des Hochmittelalters, wie schon in anderem Zusammenhang beschrieben. In den wenigen Brieftexten von Heloysa findet sich eine weibliche Stimme, die ihr Begehren und den Umgang damit nicht mehr religiös verbrämt. Das Folgende hatte Abaelard in ihr erweckt:

 

Meine Liebe schlug um in solchen Wahnsinn, dass sie sich selbst das, was sie einzig begehrte, raubte ohne Hoffnung auf Wiedererlangung, indem ich selbst auf deinen Befehl zugleich mit dem Gewand auch meine Seele umwandelte, um zu zeigen, dass du allein Herr meines Leibes und meiner Seele seist (at tuam statim iussionem tam habitum ipsa quam animum immutarem / ut te tam corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem.)

 

Nichts habe ich bei dir je gesucht ... als dich selbst: dich schlechthin (te pura) begehrte ich (concupiscens) , nicht das, was dein war (non tua). Kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet; nicht meine Lust und meinen Willen suchte ich zu befriedigen, sondern die deinen, das weißt du wohl (sicut ipse nosti). Mag dir der Name >Gattin< heiliger und ehrbarer erscheinen, mir war allzeit reizender die Bezeichnung >Geliebte<, oder gar – verarg es mir nicht – deine >Konkubine<, deine >Dirne<. ... (II,7)

 

Heloysa zitiert Ciceros 'De amicitia' (Über die Freundschaft) nicht direkt in solchen Text-Passagen, aber sie formuliert ihre „reine Liebe“ entsprechend wie Cicero „Freundschaft“ unter Männern definiert, als völlig uneigennützig und seinen Lohn im Kern aus sich selbst beziehend. Bei Cicero lautet das so:

 

Es ist nämlich Freundschaft nichts anderes als mit Wohlwollen und Hochachtung gepaarte Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen; Vielleicht wurde von den Göttern nichts besseres gegeben als die Freundschaft, wenn man die Weisheit nicht beachtet. Die einen stellen den Reichtum von allem anderen vor, die anderen die Gesundheit, wieder andere die Macht, wieder andere die Ehre und viele sogar die Sinneslust. Nur Rindviecher bevorzugen das Letztgenannte, nämlich die Sinneslust, jene davor genannten Güter jedoch die höchst vergänglich und unsicher sind, sind nicht so sehr in unserer Entscheidungsgewalt als in der Zufälligkeit des Schicksals. Die aber in die Tugend das höchste Gut legen handeln gewiss hervorragend, denn diese Tugend selbst gebärt und beinhaltet jene Freundschaft, denn ohne die Tugend kann die Freundschaft nicht bestehen. (De amicitia 20)

 

So wie wir in Freundschaftsdiensten hochherzig sind, wie wir die Gunst nicht einfordern (und nämlich nicht die Gabe wie ein Wucherer verleihen, sondern von Natur aus zur Freigiebigkeit geneigt sind ), so schätzen wir die Freundschaft nicht von der Hoffnung auf Waren hervorgerufen, sondern vom Bestreben, dass alle ihre Frucht schon der Liebe selbst innewohnt. (Ut enim benefici liberalesque sumus, non ut exigamus gratiam (neque enim beneficium faeneramur sed natura propensi ad liberalitatem sumus), sic amicitiam non spe mercedis adducti sed quod omnis eius fructus in ipso amore inest, expetendam putamus. (De amicitia 31)

 

Wenn diese Liebe als reine Liebe für sie nicht möglich ist, sie darum seinem sexuellen Begehren nachgegeben hat, dann wollte sie wenigstens den großen Kleriker und Philosophen lieben, der er unter den Bedingungen der Ehe nach beider Ansicht nicht sein kann. Dafür muss sie aber seine Konkubine oder Dirne (meretrix) sein, ein diffamierender Begriff des Hochmittelalters vor allem für die Geliebten der Priester.

 

Andererseits ist das Zusammenleben von Mann und Frau ohne kirchlichen Segen oder weltlichen Vertrag bis ins Hochmittelalter noch relativ geläufig. In dem 'Dekretum“ (um 1140) von Gratian schließt das Konkubinat nicht von der Kommunion aus, wenn es monogam betrieben wird und keine Geburtenverhütung stattfindet. (Gilson, S.141, Anm. 9). Aber klar, das Konkubinat ist keine Ehe, dabei könnte Abaelard nicht so über Heloysa verfügen, wie er es offensichtlich wollte.

 

Nur das eine sag mir, wenn du kannst: warum ich nach unserem Eintritt ins Kloster, den du allein beschlossen hast, so sehr deiner Nachlässigkeit und Vergesslichkeit zum Opfer gefallen bin. ... Begierde mehr als Freundschaft verband dich mir, Glut der Sinnenlust mehr als Liebe. Wo dahin ist, was du begehrtest, ist auch zugleich erloschen, was du um deinetwillen einst an den Tag legtest. Mit dieser Annahme, mein Lieber, stehe ich nicht etwa allein, es ist nicht meine persönliche, sondern die öffentliche Meinung. Ich würde gern allein so denken; denn wenn sich jemand fände, der Deine Liebe rechtfertigen könnte, würde er meinem Schmerz Linderung bringen. Könnte ich wenigstens einige Gründe erfinden, um dich zu entschuldigen, so wäre es mir leichter, mir meine Herabwürdigung schlecht und recht zu verhehlen.

 

...Denn nicht Frömmigkeit, sondern dein Befehl allein hat mich in blühender Jugend zur Düsternis des Klosterlebens hingezogen. ... (II,9)

 

Als ich des Fleisches Lust in deinen Armen genoss, da durften die meisten unsicher sein, ob ich es aus Liebe oder Lüsternheit trieb. Jetzt aber zeigt ja der Ausgang , unter welchen Vorzeichen ich begann. ...(II,10)

 

Als du mich einst für die Freuden der Welt begehrtest, besuchtest du mich in zahlreichen Briefen, und deine Heloisa, in so manchem Lied gefeiert, legtest du in aller Munde; mich besangen alle Gassen, mich jedes Haus. Wieviel mehr solltest du mich jetzt zur Gottesliebe wie einst zur Wollust erwecken! (II,11)

 

Wir haben hier also zweierlei, einmal eine paradigmatische Liebe des christlichen Abendlandes, die sich in einer Klage und Anklage äußert, die an einige der 'Heroides' des Ovid gemahnt (Peter Dronke vergleicht ihre beiden Briefe mit dem der Briseis an Achilles, siehe oben, S. 126f), und zweitens einen Arbeitsauftrag an den Verführer.

 

Zum ersten: Das Mädchen wird durch die männliche Initiation in die sexuelle Lust, die offensichtlich gut gelingt, dazu erweckt, ihn zu lieben. Er hingegen ist zwar wohl begehrenswert, aber verhältnismäßig liebesunfähig, und ignoriert sie jenseits ihrer Rolle, ihn zu körperlicher Lust zu erwecken.

 

Zu der kultivierten und gelehrten liebevollen Partnerschaft, die sie sich wohl herbeiphantasiert hat, ist er außerstande. Dazu passt, dass es ohnehin nach allen Quellen keinerlei solide Freundschaftsbeziehung zu irgendjemand bei ihm gibt. Der leidenschaftliche Intellektuelle hält offenbar das sexuelle Begehren als ihm etwas äußerliches abgespalten und verliert dadurch die Vermittlungsebene der Gefühle. Für die junge Frau stehen die Gefühle als Mittler zwischen Bewusstsein und Triebhaftigkeit zur Verfügung, sie ist, modern gesprochen, beziehungsfähig jenseits der anerkannten Formen und Verbrämungen. Extrem überpointiert, sind ihm die Gefühle Mittel zum Zweck, sie sind bei ihm literarisch, bei ihr ist die gemeinsame sexuelle Lust das Mittel, der Zweck ist die Liebesbeziehung. Diese Liebe aber ist etwas, was erst einmal erfunden werden muss, - die schöngeistige antike Literatur, in der das Mädchen so bewandert ist, muss in die neuen Verhältnisse eingepasst werden.

 

Nun ist sie aber lebenslang im Kloster eingesperrt und ihre einzige Hoffnung ist, nach vielleicht fünfzehn Jahren klösterlicher Praxis von der „Wollust“ zur „Gottesliebe“ zu gelangen. Sie kennt den neuen, reformierten, bekehrten Abaelard bereits und schließt darum an all das im ersten Brief denn Passus an: Schenk mir deine Gegenwart, so gut du kannst, und schreib mir zum Trost wenigstens etwas, damit ich, so gestärkt, um so froher für den Dienst an Gott frei bin. (II, 11)

 

Abaelards Antwort ist mager und enttäuschend, er verweist sie auf ihre neue Heiligkeit und auf seine Todesangst im bretonischen Kloster. Das karge Herz des leidenschaftlichen Intellektuellen schafft es, ihr Anliegen erst einmal zu ignorieren und mit platt-frommen Ratschlägen zu antworten. Darauf schreibt sie ihm einen zweiten Brief, um ihm ihre Kalamität deutlich zu machen.

Sie konzentriert sich schnell auf eine Klage über ihr Unglück und die Grausamkeit Gottes, eine beachtliche Haltung für die Leiterin eines Klosters.

 

Nachdem sie sich im ersten Brief für schuldig und unschuldig zugleich erklärt hatte (keine Zustimmung mich der Schuld an diesem Verbrechen aussetzt, heißt es nun), beklagt sie aber jetzt, dass er (mit der Kastration) seine Schuld viel teurer bezahlt habe als sie.

 

Und nun kommt es heftig: ich finde in mir nicht die Reue, mit der ich Gott versöhnen könnte; ich muss ihn vielmehr wegen jener Kränkung für immer der größten Grausamkeit zeihen.

Und dann: Mag auch des Leibes Kasteiung noch so heftig sein, wo das Herz den Willen zur Sünde noch festhält, und in den alten Sehnsüchten glüht... ( II, 8)

 

Aber jene Wonnen der Liebenden, die wir miteinander genossen, waren mir so süß, dass sie mir weder missfallen noch eben aus dem Gedächtnis verschwinden können. Wohin ich mich wende, immer stehen sie mir vor Augen und wecken sehnsüchtiges Verlangen. Nicht einmal in meinem Schlummer verschonen mich die lockenden Phantasien. Mitten im feierlichen Hochamt, wo das Gebet reiner sein soll als sonst, haben mein armes Herz so ganz jene wollüstigen Phantasiegebilde eingenommen, dass ich nur für ihre Lüsternheiten offen bin, nicht für das Gebet. Die ich aufstöhnen müsste über das Begangene, seufze lieber nach der Vergangenheit (que cum ingeminscere debeam de commissis, suspiro potius de amissis... IV, 9.)

 

Während im Kloster von Robert d'Arbrissel die schlechten Erfahrungen von Witwen, entlaufenen Ehefrauen und leichten Mädchen mit Männern die weibliche klösterliche Gemeinschaft stabilisieren und der Sensibilisierung und Sublimierung des Geschlechtstriebes in eine Gefühlsreligion hinein dienen, spült die für Heloysa gute Erfahrung mit ihrem Magister ständig neu sexuelles Begehren hoch.

 

Dir, mein Geliebter, ist die göttliche Gnade zuvorgekommen und hat dich auf einmal von all diesen Anfechtungen befreit, ... Bei mir dagegen haben die Reizungen des Fleisches zur Begierde schon die aufgestachelte Glut meines jungen Blutes und die Erfahrung wonnevollster Genüsse entfacht ... Man preist mich keusch, weil man die Heuchlerin nicht entdeckt. Man rechnet mir die Reinheit des Fleisches als Tugend an, aber nicht Reinheit des Leibes, sondern der Seele ist Tugend! Bei den Menschen habe ich ein gewisses Ansehen, vor Gott aber, der Herz und Nieren prüft und ins Verborgene sieht, habe ich kein Verdienst. Man nennt mich fromm zu einer Zeit, in der nur der geringste Teil der Frömmigkeit nicht Heuchelei ist...

 

Den Gott, der bis tief ins Verborgene sieht, kann man schon in den Psalmen finden, die hier zitiert werden. Aber erst als persönlicher, väterlich aufmerksam und streng Aufsicht betreibender einer neuen Zeit wird er (wieder?) zu einem Aspekt des „Über-Ich“, welches sehr sensible Menschen mit sich selbst entzweien kann. Während in der Dialektik die Auflösung der Widersprüche diskutiert wird, entfalten sie sich im sich ausbreitenden Gefühls-Innenraum des sensibler werdenden Menschen immer ungenierter.

 

Zudem hatte der Nominalismus, dessen früher und kritischer Meister Abaelard ist, den Unterschied zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten (wieder) entdeckt, und bei Heloysa kulminiert das wie in den Texten von Abaelard und anderen in der Unterscheidung zwischen innerer Wahrheit und äußerem Schein. Ihr Anliegen ist es, diese innere Wahrheit zu verändern, dass heißt, das sexuelle Begehren so zu verändern, dass es „keusch“ wird, in Übereinstimmung kommt zu ihrem Leben in der Klausur.

 

Dem direkt analog ist jener Passus im ersten Brief der Heloysa, in dem sie schreibt: plurimum nocens, plurimum, ut nosti, sum innocens (II,9: „Ganz schuldig bin ich, und doch auch, du weißt es, ganz und gar unschuldig. Denn nicht die erfolgte Tat, sondern die innere Einstellung des Täters ist anzuklagen"). Hier folge ich noch einmal ganz und gar Étienne Gilson (s.o., S.60f): Sie ist schuldig, weil sie wie Eva der Anlass für die Schuld Adams/Abaelards ist. Zugleich ist sie unschuldig, da ihre reine Liebe nicht das wollte, was sie dann geschehen ließ, sondern die reine gute Absicht ist.

 

Gilson bezieht das unmittelbar auf Abaelards Ethik seines 'Scito te ipsum'. Die gute oder schlechte Qualität einer Handlung beruht ausschließlich auf der Absicht, die ethisch ganz von der Tat getrennt wird: „die gute Handlung fügt also zur guten Absicht nichts hinzu.“ (Gilson, S.60), und die schlechte nimmt der guten nichts weg. Da nun vor Gott nur die Absicht zählt, die im übrigen außer dem Individuum nur er selbst kennt, ist die böse Tat bei guter Absicht keine Sünde. „Diese etwas überraschende Doktrin nimmt an, dass eine Handlung zugleich schuldhaft und rechtmäßig sein kann.“ (Gilson, s.o.) Darum kann Gilson eine Seite weiter sagen: „Der Richter, der auf Herz und Nieren prüft, war für Abälard Gott; für Heloise spielt, wie man sieht, Abälard diese Rolle, während der Richter selbst sich in Anklagezustand versetzt sieht.“ Heloise wird in den ersten beiden Briefen Gott für ihr Unglück anklagen. Sie wird sich mit seinen unerforschlichen Wegen nicht abfinden. Abaelard aber ist schuldig, denn seine Absicht bei der Verführung war keine uneigennützige Liebe, sondern eigennütziger Geschlechtstrieb: Er wollte sie haben, koste es, was es wolle.

 

Diese Ansicht, dass die Sünde in der Absicht schon enthalten sei, lässt sich von Abaelards Lehrern Wilhelm von Champeaux und Anselm von Laon herleiten, die bereits die Subjektivität der Sünde betonten. Bei Wilhelm heißt, es, die Sünde selbst sei unwesentlich, da nicht von Gott herkommend. „einzig und allein die Absicht und die Willensentscheidung, die aus hier herrührt, ist von Übel.“ (in Clanchy, Abaelard, S. 119)

 

Wie weit sich diese Ansicht über Europa verbreitet, zeigt Rogers II. Assise 18 des vatikanischen Manuskripts von etwa 1140 für sein sizilisch-süditalienisches Reich:

 

Wer mit einem oder mehreren Rittern oder einem Privaten einen frevelhaften Aufstand begeht oder den Schwur zu einem Aufstand leistet oder entgegennimmt oder wer den Tod der erlauchten Personen, die unserem Rat und Konsistorium angehören, plant oder ausführt - das Recht verlangt, dass die Absicht eines Verbrechens mit derselben Strenge bestraft wird wie die Ausführung - soll als Majestätsverbrecher mit dem Schwert hingerichtet werden. (Houben, Roger II., S....)

 

Die Ethik gründet also auf der Verantwortung für die Gesinnung, nicht auf der für die Tat alleine. Nur: Bei beiden,- Heloysa wie Abaelard, bleibt das – wie sollte es auch anders sein – eine Kopfgeburt, Material zum Argumentieren. Mit seiner Gesinnungsschuld ist Abaelard für sie verantwortlich und bei beiden ist es die gemeinsame erste Tat, die alle Probleme auslöst - da sie erwischt werden, was auf die Dauer unausbleiblich war. Und mit den schlechten Absichten, die Abaelard in seine Heirat investierte, machte er sich wieder schuldig. Aber schuldiger war er in der Tat, weil er die Ehe verheimlichte, und damit die Krise mit Fulbert heraufbeschwor, und noch schuldiger, als er Heloysa ins Kloster steckte und dadurch diesen veranlasste, ihn zu kastrieren.

 

Fatal an dem ganzen Raisonnement bleibt zuletzt, dass Heloysa, gefangen in ihrer vorgegebenen und für sie schwer veränderbaren (Jung)Frauen-Situation (um das übernutzte Wort „Rolle“ einmal zu vermeiden), sich nur auf entsprechende Passivität zurückziehen kann: Ihr bleibt gar nichts anderes als die Gesinnung, wenn Männer die Taten bestimmen und begehen. Das aber bleibt außerhalb des Horizontes ihrer überlieferten Texte, was nicht verwunderlich ist, und es bleibt allemal außerhalb der männlichen Vorstellungswelten, die es nicht anders wollen: Nur im Bett beim Geschlechtsakt ist die Frau mit dem Mann gleich, denn in diesem Moment ist für den Moment alle Rangordnung aufgehoben. Das aber klingt schön und ist vermutlich auch im Fall der beiden graue Theorie. Auch insofern ist wohl „die Frau unten und der Mann oben“.

 

Zum zweiten, dem Auftrag an Abaelard. Dieser ist geknüpft an die Schuld des Geliebten: Du musst wissen, dass du an mich mit einer Verpflichtung gebunden bist, die noch größer ist durch das Band des Sakraments der Ehe. Und als Steigerung im selben ersten Brief: Du bist mir allezeit in noch größerem Maße verpflichtet , wie jeder weiß, und zwar aufgrund der ungebundenen Liebe, mit der ich dich umarmt habe.

 

Nun der Auftrag: Wenn ich schon ohne eigenen Wunsch, ohne Berufung im düsteren Kloster bin, dann hilf mir wenigstens dabei, es dort auszuhalten, fleht sie, fordert sie, wütet sie. Gefangen in seinem kastrierten Leib und weder willens noch imstande, aus Heloysa eine Katharina von Bora zu machen, was sie so wohl auch nicht möchte, versucht er ihr nun aufzuzeigen, dass sie vom Zustand seiner Geliebten und Ehefrau nun in den höheren, heiligen Zustand der Braut Christi aufgestiegen sei. Vergebens, sie hadert mit ihm und mit Gott.

 

Jedenfalls will sie ihm lieber in die Hölle folgen, als ohne ihn den Himmel annehmen, das heißt, die Berufung zum heiligen Leben. In welchem Zustand sich auch mein Leben befindet, Gott weiß, ich fürchte mehr, dich zu beleidigen als ihn; dir wünsche ich mehr zu gefallen als ihm. Nicht aus Liebe zu Gott, sondern auf deinen Befehl hin bin ich in den Ordensstand eingetreten. (Ihr zweiter Brief)

 

Nun erbittet sie von ihm nur noch eine Klosterregel, die ein möglichst angenehmes Leben bei uneingeschränkter Frömmigkeit erlaubt: Wenig körperliche Arbeit, weibliche Kleidung, die hilft, die Menstruation besser zu ertragen, Konzessionen beim Essen und beim Wein usw. Wie wenig sie zur Nonne berufen ist, wird deutlich, wenn sie beim Thema Gastfreundschaft im Kloster nach einem kurzen Hiernonymus-Zitat ein langes aus Ovids Liebeskunst (I) über die die erotischen Gelegenheiten beim Gastmahl nutzt, welches sie in folgenden zwei Zeilen endet: Hier ward oft der Jünglinge Herz von den Mädchen erbeutet / Venus barg sich im Wein, Glut war versteckt in der Glut. (Brief VI, 2)

 

Gilson beschreibt sehr deutlich, was das Ergebnis ihres Nachdenkens über das akzeptable klösterliche Leben ist (s.o. ab S. 105): Die Nonnen sollen keinen anderen Verpflichtungen unterliegen als der gerade in Reform begriffene Weltklerus, ja, bis auf die sexuelle Enthaltsamkeit sollen sie denselben Ansprüchen genügen, die Paulus auch an die Laien stellt. Da im Sinne von Paulus der Glaube, verbunden mit der Gnade Gottes, allein seligmachend ist, ist das gesamte sonstige Regelwerk, soweit es die Natur und die Vernunft übersteigt, überflüssig.

 

Abaelards Ausgangspunkt gegenüber dem Paraklet war folgender: Nachdem ich über diese Dinge viel nachgedacht hatte, beschloss ich, soweit es mir möglich war, mich um jene Schwestern zu kümmern und für sie zu sorgen, und sie auch durch meine körperliche Anwesenheit zu beschützen, wodurch sie mich stärker ehren würden, und sie so auch stärker in allem Lebensnotwendigen zu unterstützen. (Zeilen 1283ff)

 

Dies ist das letzte, was Abaelard in seiner 'Historia' noch zum Paraklet-Kloster schreibt, und was nach Hilfsbereitschaft klingt, kann auch als Übernahme von Kontrolle gedeutet werden. Unmittelbar davor war er nämlich in der gängigen mönchischen Manier der Zeit über Frauen hergezogen, die es sich herausnehmen, über Männer zu herrschen, was die natürliche Ordnung durcheinanderbringt (ordine perturbato naturali). Und dann kommt ein Juvenalzitat aus der sechsten Satire, welches das bestätigen soll: Nichts ist unerträglicher als eine reiche Frau. Was Juvenal davor satirisch angreift, und Abaelard erwähnt es nicht extra, ist eine „kluge Frau“, die genauso unerträglich ist.

 

In der persönlichen Auseinandersetzung mit Heloysa, wie sie in den Briefen der beiden miteinander dokumentiert ist, verwandelt sich dann die Position Abaelards in ihr Gegenteil. Die nun einsetzende (geistliche) Aufwertung der Frau ist enorm. Eva wurde im Gegensatz zu Adam schon im Paradies erschaffen, Adam noch, bevor Gott dieses erschuf. Frauen haben im monastischen Leben dieselbe Autorität wie Männer. Maria Magdalena ist das Musterbeispiel für die Frauen, die Jesus näher standen als die Apostel.

 

Tatsächlich kommt Abaelard Heloysas Wunsch nach einer Gemeinschaft enthaltsamer Frauen ohne zu detailliertes Regelwerk ein Stück weit entgegen, aber in der nach der Kastration gefundenen und angenommenen Enge (oder Weite) mönchischer Ideale, die seine schwache Persönlichkeit in ein ihn haltendes Korsett zwängen (tatsächlich ist er ein schlechter Mönch!), kann er nicht den ganzen Weg mit ihr gehen, der, wie Gilson richtig erwähnt, bei ihr nicht mehr weit von Erasmus von Rotterdam entfernt ist.

 

Ein Aspekt bleibt dabei noch anzusprechen: Abaelard scheint seit frühen Jahren Robert d'Arbrissel geschätzt zu haben. In seinem üblen Brief an den Pariser Bischof gegen seinen ehemaligen Lehrer Roscelin bezeichnet er Robert als egregium illum praeconem Christi, also jenen hervorragenden Verkündiger Christi. Vielleicht hatte Abaelard den eigenartigen Heiligen während seiner Lehrzeit bei Roscelin kennengelernt.

 

Werner Robl ( in 'Heloisas Herkunft') verweist auf die Verwandtschaft vom Paraklet der Heloysa samt dem Entwurf des Abaelard für das Kloster mit dem Fontevrault des Robert. Er betont einmal die Autonomie (das Paraklet gehörte keinem Orden an, seine Töchterklöster gehören zum ordo Paraclitensis), dann das Doppelklosterkonzept, das am Ende im Paraklet nicht Bestand hat, und darauf, dass die Leitung nicht jemandem aus dem Hochadel zufallen sollte, da das Verweltlichung nach sich ziehe – wie nach Robert in Fontevrault.

 

Fast nichts davon wird aber am Ende in die Lebenswirklichkeit des Paraklet-Klosters eingehen, so wie es Papst Innozenz II. dann anerkennt. Und Heloysa wird, nach allem was wir hören, noch zwanzig Jahre lang nach dem Tod Abaelards eine vorbildliche, geliebte und verehrte Äbtissin sein.

 

10. Quanta Qualia

 

Abaelard hatte Liebeslieder geschrieben, mit denen er in der Zeit seiner Affaire mit Heloysa berühmt war. Nun schreibt er Hymnen von poetischer Schönheit, die im Kloster gesungen werden sollen. Die Kunst wird, ganz wie es Sigmund Freud beschreibt, zum höchsten Medium der Sublimation von Triebhaftigkeit.

 

O quanta qualia sunt illa sabbata quae semper celebra superna curia quae fessis requies que merces fortibus cum erit omnia deus in omnibus.

Wie groß und wie herrlich sind jene Sonntage, die sie oben im himmlischen Hofstaat feiern, welch Lohn für die Müden, welch Gut für die Tapferen, wenn Gott alles sein wird in allem.

 

Vere Ierusalem est illa civitas cuius pax iugis est summa iucunditas ubi non praevenit rem desiderio minus es praemium.

Und wahrhaft ist Jerusalem jene Stadt, in der Friede und das Vergnügen vereint sind, wo die Dinge nicht dem Begehren vorauseilen und der Preis nicht geringer ist als das Verlangen.

 

Quis rex quae curia quale palatium quae pax quae requies quod illum gaudium huius participes exponant gloriae si quantum sentiunt possint exprimere

Was für ein König, für ein Hofstaat, welch ein Palast, was für ein Friede, welche Ruhe, welch Freude. Wer dort teilnimmt möge den Glanz verkünden, wenn sie ihn, so wie sie ihn spüren, ausdrücken können.

 

nostrum est interim mentem erigere et totis patriam votis appetere et ad Jerusalem a Babylonia post longa regredi tandem exilia

An uns ist es vorher, den Geist zu erheben und mit all unserem Bitten unser Zuhause zu erstreben, aus Babylon nach Jerusalem aus langem Exil zurückzukehren.

 

Illic molestiis finitis omnibus securi cantica Sion cantabimus et iuges gratiae beata referat plebs tibi domine

Wenn dann alle Beschwernisse zu Ende sind werden wir befreit, Lieder auf Zion singen und beständigen Dank für die Gnade wird das Volk dir abstatten.

 

Illic ex Sabbato succedet Sabbatum perpes laetitia sabbatizantium nec ineffabiles cessabunt iubili quos decant abimus et nos et angeli

Dort folgt Feiertag auf Feiertag, beständig ist die Freude der Feiernden und die unermesslichen Jubelgesänge hören nicht auf, die wir singen werden, wir und die Engel.

 

Perenni Domino peres sit gloria ex quo sunt per quem sunt in quo sunt omnia es quo sunt pater est per quem sunt filius in quo sunt et filii spiritus

Dem ewigen Herrn sei ewiger Ruhm aus dem und durch den und in dem alles ist, aus dem Vater, aus dem Sohn und dem (heiligen) Geist.

 

Indem Abaelard die durch Verführung zur Mutter gewordene Heloysa ins Kloster abschob und das Kind zu seiner Schwester am Südrand der Bretagne, versuchte er sein Magisterium zu retten. Nach der brutalen Kastration als nächtlichem Überfall kippt seine Karriere. Er wird ebenfalls Mönch und verlegt das Schwergewicht von Forschung und Lehre von der Logik (also der Untersuchung der Möglichkeiten von Sprache nach Aristoteles) auf die „divinitates“, die er „theologia“ benennt.

 

In der Hymne für das Paraklet-Kloster der Heloysa wird Erlösung als Loslösung von allem Irdischen, Menschlichen, Erdhaft-Lebendigen beschrieben. Abaelard war diese „Lösung“ durch brutale physische Vernichtung seines sexuellen Begehrens oder zumindest dessen Auslebens (Entfernung der Hoden) wenigstens sexuell gegeben, der Heloysa umgekehrt aber nicht. Sie beschreibt nicht nur das regelmäßige Aufflackern des Begehrens und erotischer Phantasien in ihrem Dasein als Klosterfrau und Äbtissin, sondern verlangt von dem, der das alles in ihr erweckt hat, die Einlösung seiner Schuld.

 

Im Kern geht es um die radikale Bewältigung einer Haltung, die auf konsequenter Domestikation des unmittelbaren Auslebens ungehemmter Triebhaftigkeit beruht. Die Kehrseite davon ist die Intensivierung des Ekels, der Scham und der Schuldgefühle angesichts der eigenen Körperlichkeit. Das kulminiert immer wieder in der ambivalenten Auseinandersetzung mit den Ausscheidungen der Verdauungsorgane, den Körpersekreten der Geschlechtlichkeit und der völlig ungerechtfertigt „animalisch“ genannten Gier und Rauschhaftigkeit menschlicher Sexualität, von der in der Natur wenig zu sehen ist, in der mit derselben Gleichgültigkeit kopuliert wie getötet und Verdautes ausgeschieden wird.

 

Ekel, Scham und Schuldgefühle, die Vermittlungs-Instanzen der Domestikation, der Verhäuslichung, konnten im Mittelalter Laien in karnevalistischen Feiern immer wieder zwischendrin abschütteln, indem sie das alles als Obszönität positiv wendeten. In den grotesken und obszönen Figuren romanischer Kirchen ist dieser Aspekt bewusst dargestellt. Beim Übergang in die Kultur der Gotik wird diese Entlastungsmöglichkeit immer mehr aus dem Hauptstrom der Macht ausgegliedert und auf die Randgruppen der Bevölkerungsmehrheit abgeschoben.

 

Der gelehrte Kleriker und der in die höfische Kultur hineinverwandelte höhere Adel wendet (im Text) der Physis den Rücken zu und kultiviert ein sublimes Selbstbild, wobei die Künste behilflich sind, und zwar zuallererst die Poesie. Das Stichwort wird Ritterlichkeit und darauf in den Städten Bürgerlichkeit, also Ehre und dagegen gesetzt Ehrbarkeit.

 

Der Erlösungshymnus des Abaelard ist so ein Loblied auf das „Eigentliche“, und das ist die Lösung vom sterblichen Körper und ganz im Gegensatz zum Karneval das Hinter-Sich-Lassen von Ekel, Scham und Schuld. Die Mühen und Kehrseiten von Zivilisation und Kultur verschwinden, sobald jener Zustand von Glückseligkeit erreicht wird, in dem alles „eins“ ist, der Zwiespalt des Menschen mit sich selbst, wie er in Ekel, Scham und Schuld sich niederschlägt, verschwunden ist.

 

Die Bildersprache für das Unsagbare entstammt der höfischen Kultur genauso wie dem monastischen Leben. Es ist dies die Zeit, in der der „cantus canticorum“, das „Lied der Lieder“ des legendären Salomo hervorgeholt wird und seine sublimen erotisch-poetischen Bilder mal wieder an Gewicht gewinnen, legitimiert dadurch, dass sie aus einem heiligen Buch stammen, zudem allegorisch-christlich umgedeutet.

 

Abaelard war poetisch geschult, denn er hatte vor seiner Kastration heute verlorene Liebeslieder geschrieben, die wohl irgendwo zwischen frühester Troubadourlyrik und den Vagantenliedern angesiedelt waren, wie sie aus den Carmina Burana bekannt sind, zu denen er vielleicht beigetragen hat.

 

Was seine Hymnen völlig unterscheidet von der merkwürdigen Erotisierung des Christentums im populären Barock (bis hin zum Herz-Jesu-Kitsch und der extremen Erotisierung der Heiligenverehrung) ist der nüchterne Rationalismus des logischen Dialektikers, des Intellektuellen. Die Hymne schwebt auf dem Niveau einer spirituellen Prächtigkeit, der Fremde der „Welt“ wird das himmlische Zu-Hause-Sein entgegengesetzt, der Freudlosigkeit der Mühen des Alltags der ewige Feiertag, und dem unentwegt enttäuschten Begehren das Ruhen in sich selbst.

 

Die Abwendung vom Uneigentlichen der Wirklichkeit zum Eigentlichen der Vorstellung geschieht über Medien der Sinnlichkeit, Pracht für die Augen als höfischer Luxus, für die Ohren als Musik (Gesang vor allem), für den Geist als lautlichen, rhythmischen und bildlichen Reichtum. Uns, so wir verlernt haben, Gott zu denken, was Abaelard mit Glauben gleichsetzte, bleibt hier nicht viel mehr, als solch einen Hymnus in einer Betrachtungsweise aufzufassen, die viele Jahrhunderte später erst mit „Kunst“ benannt wird.

 

11. Abaelards Prozess und Ende

 

Irgendwann um 1133 verlässt Abaelard mit offizieller Genehmigung St.Gildas. Ohne seine 'Historia' ist nun wenig über sein Leben bekannt. Nach 1133 und spätestens 1136 taucht er dann als Lehrer in Paris auf, wo er auf dem Mont Sainte Geneviève unterrichtet, wohl noch unter dem Schutz von dessen Dekan, Stephan de Garlande. Dort hört ihm dann zum Beispiel Johannes von Salisbury zu:

 

Zuerst zog ich als Jüngling nach Gallien, eben zu Studienzwecken, und zwar im Jahr nach dem Tode des glanzvollen Königs von England, Heinrichs des Löwen der Gerechtigkeit, und begab mich zum Peripatetiker aus Palatium, der damals auf dem Genovevaberg als glanzvoller und bewundernswerter Gelehrter alle überragte. Ich saß dort zu seinen Füßen und erhielt den Anfangsunterricht in der ersten der Künste, und nach dem Maß meines noch unentwickelten Verstandes nahm ich jedes Wort seines Mundes mit der ganzen Begierde meines Geistes auf. Nach seinem - wie mir schien - allzu frühen Weggang war ich Schüler des Meisters Alberich, der als der ansehnlichste Dialektiker unter den übrigen hervorstach und in der Tat der heftigste Feind des Nominalismus war. So blieb ich ungefähr zwei Jahre auf dem Berg und habe bei den Lehrern dieser Kunst studiert, bei Alberich und Magister Robert von Melun - der Beiname schildert den Ort seiner Schulleitung, er stammte eigentlich aus England (Angligena est)... (Metalogicon II, 10)

 

Eine Weile später verschwindet Abaelard also zum Bedauern des Johannes von dort und fast ganz aus unserem Gesichtsfeld, um gesichert erst wieder aufzutauchen, als der letzte und nun ganz und gar erfolgreiche Angriff der mönchischen und klerikalen Orthodoxie gegen ihn gestartet wird. Mit Leif Grane kann man voraussetzen, dass er weiter ein dominanter Lehrer und Gelehrter blieb, denn sonst hätte es niemand für nötig gehalten, ihn zum zweiten Mal so massiv zu attackieren.

 

Laut Werner Robl (abaelard.de) lassen sich aber Spuren des Gelehrten weiterverfolgen: „Wahrscheinlich hat Abaelards Verlassen des Genovefabergs, welches von Johann von Salisbury für den Zeitraum 1137/1138 referiert wird, nicht allein mit dem Machtverlust seines früheren Mentors Stephan von Garlande nach dem Tod König Ludwigs VI. zu tun, sondern auch mit Abaelards Lehrtätigkeit an der Kirche Saint-Hilaire. Nach Sichtung einiger Quellen steht fest, dass Saint-Hilaire, eine Pfarrkirche an der Nordflanke des Genovefaberges, zu dem südöstlich gelegenen Säkularkanonikerstift Saint-Marcel gehörte. Vermutlich zog Abaelard mit seiner Schule dorthin um, weil er hier bessere Lehrbedingungen vorfand als am Genovefastift selbst. Saint-Marcel hatte ... eine eigene Lehrtradition: Der damalige Dekan des Stifts könnte nach einigen Indizien kein anderer gewesen sein als der berühmte Gilbert de la Porrée, einst selbst ein „dialektischer Theologe“ wie Peter Abaelard und nachweislich dessen persönlicher Bekannter. Gilbert, der Paris im Jahr von Abaelards Verurteilung verließ, um im Folgejahr Bischof von Poitiers zu werden, wurde sieben Jahre später wie Abaelard von Bernhard von Clairvaux wegen Trinitätshäresie vor ein Konzil zitiert!“

 

Und nochmals Werner Robl (von derselben Internet-Seite): „Abaelards Umzug nach Saint-Hilaire erscheint dennoch etwas eigenartig, da er sich damit in die direkte kirchenrechtliche Aufsicht des Pariser Bischofs Stephan von Senlis begab, der als hyperorthodoxer „Hardliner“ und Förderer victorinischen Geistesgutes bekannt war. Das scheinbare Paradoxon löst sich vor dem Hintergrund auf, dass sich der Pariser Bischof alsbald wegen eines wie auch immer gearteten Gebrechens in das Stift Saint-Victor zurückzog und spätestens ab 1139 seine öffentlichen Aufgaben und Pflichten vernachlässigte. Durch diese faktische Sedisvakanz in Paris könnten gerade „Modernisten“ wie die Theologen Peter Abaelard und Gilbert de la Porrée an einem kleinen Stift die für ihre Methodik und Lehrinhalte notwendige Freiheit gefunden haben. Selbst einem Agitator wie Arnold von Brescia, der nach Abaelards Weggang in Saint-Hilaire gegen die Besitzansprüche des verderbten Episkopats wetterte, dürfte dieser Umstand noch zugute gekommen sein. Der frühe Rückzug des Pariser Bischofs, lange vor seinem Tod am 29. Juli 1142, erklärt auch, warum gerade seine Unterschrift neben derjenigen Fromonds von Nevers auf den Konzilsdokumenten von Sens fehlt, obwohl gerade Stephan als der für Abaelard zuständige Ortsbischof dort eine bedeutsame Rolle gespielt haben sollte.“

 

1138/39 gerät eine Handschrift von Abaelards 'Theologia' in einem Zisterzienserkloster in die Hände von Wilhelm von Thierry. Der ist darüber beunruhigt und schreibt einen Brief, den er an Bernhard von Clairvaux und an den päpstlichen Legaten in Frankreich, Gottfried von Chartres schickt:

 

Peter Abaelard lehrt wieder Neuheiten, schreibt wieder Neuheiten (nova docet, nova scribit), seine Bücher überqueren die Meere, überschreiten die Alpen, und seine neuen Glaubenssätze (sententiae de fide) und neuen Glaubenslehren (nova dogmata) verbreiten sich durch Provinzen und Königreiche, werden eilends verkündet und frei verteidigt und selbst an der römischen Kurie genießen sie Autorität.

... Zufällig geriet ich neulich an die Lektüre des Buches jenes Mannes, das den Titel Theologia Petri Abailardi hat. Ich gestehe, der Titel bewegte mich dazu, es zu lesen.

Die ungewohnten Neuigkeiten der Worte in Glaubensdingen haben mich verstört, und die neuen Erfindungen unerhörter Bedeutungen. Da ich niemanden habe, an den ich mich wenden kann, wählte ich euch unter allen in der Sache Gottes, und ich rufe die ganze lateinische Kirche an … (Epistel gegen Abaelard, 1.14)

 

An diesen Brief schließt Wilhelm eine Aufzählung von Abaelards Häresien in dreizehn Punkten an, die für die weiteren Vorgänge wichtig wird. Die Antwort Bernhards dürfte diesem Wilhelm gefallen haben. Am Anfang lobt er dessen Text und verspricht eine Unterredung für die Zeit nach Ostern:

Eure Aufregung halte ich gleichermaßen für berechtigt und notwendig. Dass sie aber auch nicht müßig ist, beweist die Abhandlung, deren feindselige Rede zerstört und verdunkelt . Nicht, dass ich sie bis jetzt schon mit größerer Sorgfalt geprüft hätte, wie du gewünscht hast; aber nach dem, was ich flüchtig durchsehen konnte, bekenne ich, dass sie mir gefällt, und ich halte sie für wirksam, die gottlosen Lehren zu ersticken. Weil ich aber, wie Ihr bestens wisst, meinem Urteil nicht recht zu trauen pflege, vor allem in so gewichtigen Angelegenheiten, halte ich es der Mühe wert, dass wir uns bei günstiger Gelegenheit an irgendeinem Ort treffen und über alles uns austauschen (conferre). Ich glaube jedoch nicht, dass dies vor Ostern geschehen kann; derzeit hindert uns – wie es der Zeit gebührt - eifriges Gebet. Habt also Geduld mit meinem Schweigen und meiner fehlenden Eile über diese Angelegenheit, da mir das meiste davon, ja fast alles, bisher unbekannt war. Gott aber hat die Macht, mir durch Eure Gebete einen klugen Geist zu geben für das, worum ihr bittet.

 

Wir sehen, Bernhard ist zunächst nicht sehr begierig auf einen Konflikt mit Abaelard. Offenbar trifft er sich dann aber doch laut Heinrich von Sens und Gottfried von Auxerre mit Abaelard. Gemäß letzterem lässt sich Abaelard von Anhängern davon überzeugen, nicht klein beizugeben.

 

Als nächstes wendet sich Bernhard schriftlich an den Erzbischof von Sens und dann an den Bischof von Paris, jedoch offenbar, ohne dass die Schritte gegen Abaelard einleiten möchten. Abaelard reagiert, indem er neue Versionen seiner 'Theologia' schreibt. Also schreibt Bernhard einen Brief (Nr.190) an den Papst, der im Rahmen von Schisma und normannischer Übermacht in Süditalien dringend auf den einflussreichen Verbündeten angewiesen ist:

 

Uns ist in Frankreich aus einem alten Magister ein neuer Theologe geworden (novum de veteri magistro theologum), der seit dem Jugendalter Dialektik gespielt hat (in arte dialectica lusit) und jetzt in den heiligen Schriften herumtollt (insanit). Lehrmeinungen - sowohl eigene als auch fremde -,die schon längst abgeurteilt und zur Ruhe gebracht worden sind, versucht er zu neuem Leben zu erwecken (vgl. Roscelin) und fügt obendrein noch neue hinzu. Indem er nichts, was IM HIMMEL DORT OBEN UND AUF DER ERDE HIER UNTEN ist, nicht des Nichtwissens würdig findet– außer alleine Nescio -, streckt er seine Rede in den Himmel und erforscht die Höhen Gottes, und wenn er zurückkehrt spricht er unaussprechliche Worte, die zu erwähnen keinem Menschen erlaubt ist. Während er sich anschickt, für alles einen Vernunftgrund anzugeben, auch beim dem, die über die Vernunft hinausgeht und gegen den Glauben. Denn was ist mehr gegen die Vernunft als zu versuchen, mit Vernunft die Vernunft zu übersteigen? Und was mehr gegen den Glauben, als nicht glauben zu wollen, was die Vernunft nicht erreichen kann? (I, l Quid enim magis contra rationem quam ratione rationem conari transcendere? Et quid magis contra fidem quam credere nolle quidquid non possit ratione attingere? mH)

 

Abgesehen von den scharfen Tönen am Anfang hat Bernhard hier natürlich à la longue recht, wenn er befürchtet, dass das Mysterium der Vernunft nicht standhalten wird, aber auch darin, dass man ihm mit der Vernunft nicht beikommen kann. Sicher ist der Zisterzienserabt nur, wenn er den Schriften des Apostels Paulus folgen kann und dann genau weiß, dass man mich nicht verwirren wird. (Brief 190) 

 

Darauf schreibt Bernhard anklagende Briefe an die Bischöfe (Nr. 188) und an einzelne Mitglieder der Kurie, die offenbar erst einmal auch nicht reagieren, wobei man wissen muss, dass Abaelard dort eine ganze Anzahl Freunde hatte, von denen übrigens zwei später zu Päpsten werden. Im Brief an Kardinal Guido von Castello warnt er diesen, achtzugeben, dass seine Liebe zu Abaelard nicht irdisch, tierisch und diabolisch werde (Brief 142)

 

Zunehmend werden Bernhards Briefe gehässiger und verleumderischer. Als nächstes versucht das Haupt der Zisterzienser in einer Predigt in Paris, den dortigen Anhang Abaelards gegen diesen zu mobilisieren, allerdings ohne den Namen zu erwähnen. In seinem Brief an seine Freunde und Schüler verteidigt sich Abaelard nun und erwähnt auch das, was Bernhard „aus der Tiefe seiner Schlechtigkeit herausgespien“ hat (in Grane, S.157) Abaelard erklärt sich bereit, am Sonntag nach Pfingsten seine „Sentenzen“ zu verteidigen.

 

Der Erzbischof von Sens als oberster Kirchenherr Abaelards stimmt zu, seinen Ort für ein Streitgespräch zur Verfügung zu stellen. Er hatte eine Reliquienausstellung in kostbaren Behältnissen zum heiligen Pfingstfest herrichten lassen. Bernhard will sich mangels Argumenten zunächst drücken, muss aber dann doch antreten.

 

Heinrich von Sens ist nicht unbedingt ein Parteigänger Bernhards, der ihm vor ein paar Jahren vorgeworfen hatte, du glaubst nur an deine Macht und hast überhaupt keine Ehrfurcht vor Gott. (Brief 182, in Clanchy, S. 398) Zu Abaelard stoßen unter anderen Arnold von Brescia und der römische Subdiakon Hyazinth Boboni, ein zukünftiger Papst. Jedenfalls erwähnt das Johannes von Salisbury.

 

Bernhard sorgt dafür, dass der ganze hohe Klerus des Erzbistums anwesend ist. Er hatte die häretischen Ansichten Abaelards in 19 Punkten zusammengefasst. Der Trick war, nicht mehr die Schriften selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu stellen, sondern nur noch kurze Exzerpte, wodurch komplexe Zusammenhänge zerrissen werden und das Niveau der Debatte gesenkt wird. In seiner 'Apologia' wird Abaelard dazu schreiben:

 

In der Tat bist du von meinen Worten ebenso weit entfernt wie von ihrer Bedeutung. Emsig argumentierst du mit deinen eigenen Phantasien, statt dich wirklich auf meine Behauptungen zu beziehen. ... Vielleicht wirst du nun sagen, dass, obwohl dies nicht die genauen Worte sind, die ich geschrieben oder aufgesetzt habe, ich diese Bedeutung in sie hineingelegt habe, wenngleich die Worte sich davon unterscheiden. In diesem Falle verlange ich, dass du meine darin enthaltene Bedeutung zum Ausdruck bringst, um sie nicht mit einzelnen Worten zu entstellen. Wenn das geschehen ist, wird nichts von dieser Verleumdung in deiner Diskussion übrig bleiben. (in Clanchy, Abaelard, S.393)

 

Aber darum geht es hier so wenig wie in den bolschewistischen Schauprozessen gegen Abweichler. Es geht um Macht, Gehorsam und Unterordnung. Im Brief 331 schreibt Bernhard: Peter Abaelard beweist mit seinem Lebenswandel, mit seinem Verhalten und mit seinen Büchern, die nun ans Licht gebracht wurden, dass er ein Verfolger des katholischen Glaubens und ein Feind des Kreuzes Christi ist. Rein äußerlich sieht er aus wie ein Mönch, aber in seinem Inneren ist er ein Häretiker. Und damit basta!

 

Am Abend des 2. Juni versammelt Bernhard die Bischöfe und überredet sie – wie auch immer – dazu, Abaelard anhand der ihm untergeschobenen Sentenzen bereits vor einem Streitgespräch als Ketzer vorzuverurteilen. Heinrich von Sens schreibt: Die Anklagepunkte wurden wiederholt vor einem öffentlichen Auditorium ausführlich vorgelesen und noch einmal gelesen und so auf überzeugende Weise nicht nur als falsch, sondern mit genauen Begründungen sowie anhand der Berufung auf die kirchlichen Autoritäten wie Augustinus und andere Kirchenväter als häretisch bewiesen. (deutsch in Clanchy, Abaelard, S. 391)

 

Berengar von Poitiers berichtet später davon, Bernhard habe das erreicht, nachdem die Prälaten bereits hinreichend betrunken waren. Johannes von Salisbury wird in seiner 'Historia Pontificalis' ähnliches vom Prozess gegen Gilbert von Porrée von 1148 berichten.

 

Am nächsten Morgen ist für Abaelard klar, dass kein Streitgespräch mehr stattfinden würde, sondern dass über ihn ein Ketzergericht standfinden sollte. Kein intellektueller Disput soll es werden, sondern das summarische Abkanzeln mehr oder weniger fragwürdig zusammengestellter Sätze, die sein Ketzertum belegen sollen...

 

Er weigert sich darauf, die inkriminierten „Sätze“ zu verteidigen und appelliert stattdessen an Rom. Darauf werden die 19 Sentenzen von dem Konzil förmlich als ketzerisch verdammt und Abaelards Person wird dem Urteil des Papstes überlassen, den Bernhard nun weiter mit Briefen bombardiert. Berengar von Poitiers meint, Bernhard habe Abaelard aus der Fassung gebracht mit seinen donnernden Reden. Otto von Freising vermutet, Abaelard habe direkt an den Papst appelliert, weil er die Lynchjustiz der Straße fürchtete. (Während dort wegen seines Glaubens diskutiert wurde, fürchtete er einen Aufstand des Volkes und appellierte an den Heiligen Stuhl. (I, 50))

 

Immerhin hatte Bernhard von Clairvaux im Brief 190 an den Papst geschrieben: Sollte nicht der Mund, der solche Dinge spricht, eher mit Knüppel zerschmettert als mit vernünftigen Argumenten widerlegt werden? Fordert nicht gerade er, dessen Hand sich gegen alle Menschen richtet, verdientermaßen aller Leute Hände gegen sich selbst heraus? (Ob er allerdings den Brief in dieser Formulierung abgeschickt hat, ist nicht nachweisbar).

 

Das Ganze sollte von einigen aus zunächst ein großes Disputationsspektakel werden. Aber auch ohne die Vorabendpräparation der Bischöfe durch Bernhard waren die Umstände nicht gut, und am Ende war es, so sah es aus, „keine ruhige oder exklusive Versammlung von Geistlichen, sondern mehr ein Schaukampf, ein spektakuläres Turnier der Worte“ (Clanchy). König Ludwig war da, Graf Thibaud (Theobald) von der Champagne, Graf Wilhelm II. von Nevers und unzählige andere Adelige und Leute aus dem Volk (Otto von Freising in den Gesta Friderici), zudem eine Anzahl Magistri. Das der römische Kardinaldiakon Hyacinth und Arnold von Brescia Abaelard verteidigen, hilft auch nicht mehr.

 

Der Rest ist bekannt. Abaelard, offensichtlich schon durch Krankheit geschwächt, begibt sich zu Peter Venerabilis nach Cluny, um dort sein Urteil aus Rom abzuwarten. Abt Peter schreibt dem Papst, die Auseinandersetzungen mit Bernhard seien beigelegt und ignoriert den peinlichen Prozess von Sens völlig:

 

Magister Peter, Eurer Heiligkeit wohl bekannt, glaube ich, kam vor kurzem auf seinem Weg aus der Francia in Cluny vorbei. Wir fragten ihn, wohin er unterwegs sei. ... Er erzählte, dass er von gewissen Leuten auf üble Weise geplagt werde, die ihn einen Häretiker nennen – eine Bezeichnung übrigens, die er ganz und gar verabscheue – und er habe den Heiligen Stuhl angerufen und bemühe sich darum, dort Schutz zu finden. (Brief 98)

 

Im Brief 189 schreibt Bernhard an den Papst: Dummerweise versprach ich mir vor kurzem Ruhe, wenn die Wut der Pierleoni sich gelegt hätte und der Kirche der Friede zurückgegeben würde. ... Dem Löwen sind wir entronnen, doch auf den Drachen stoßen wir nun. ... Wären doch seine giftigen Schriften noch in den Schränken verborgen und würden sie doch nicht landauf landab gelesen! Die Bücher verbreiten sich im Flug, und die, die das Licht hassten, weil sie böse sind, haben sich ins Licht gedrängt, weil sie Licht für Finsternis hielten. Auf Städte und Burgen fällt statt Licht nun Schatten. Statt Honig - oder besser gesagt im Honig - wird allen im ganzen Land Gift eingeschenkt. ... Ein Goliath tritt hervor mit hohem Wuchs, gerüstet mit stattlichem Kriegszeug. Ihm schreitet sein Waffenträger Arnold von Brescia voran. ... und während alle vor seinem Antlitz fliehen, fordert er mich, den Allergeringsten, zu einem Zweikampf heraus. ... Auf sein ständiges Drängen hin hat mir schließlich der Erzbischof von Sens geschrieben und einen Termin für das Aufeinandertreffen festgesetzt. An diesem Tag sollte jener, wenn er dazu imstande wäre, in Gegenwart des Erzbischofs und seiner Mitbischöfe seine verkehrten Lehren offen legen, gegen die aufzubegehren ich gewagt hätte. Ich weigerte mich, erstens, weil ich ein Kind bin, jener aber ein von Jugend auf kriegserfahrener Mann ist, zweitens, weil ich es für würdelos hielte, wenn man es gestattete, dass über die Vernunftbasis des Glaubens, der doch unzweifelhaft auf einer so gewissen und festen Wahrheit begründet steht, mit windigen menschlichen Argumenten verhandelt würde. Seine Schriften, so sagte ich, reichten aus, ihn anzuklagen, und es sei auch nicht meine Aufgabe, sondern die der Bischöfe, die die Aufgabe hätten, über Glaubenslehren zu urteilen. Nichtsdestotrotz rief jener umso lauter, zitierte viele herbei und umgab sich mit Komplizen. Darüber, was er über mich seinen Schülern geschrieben hat, halte ich lieber den Mund. Er posaunte überall hin aus, er werde mir an diesem Termin in Sens Rede und Antwort stehen. Die Kunde ging an alle und konnte auch mir nicht verborgen bleiben. Zuerst kümmerte ich mich nicht darum und ließ mich durch das allgemeine Gerede nicht sonderlich berühren. Schließlich gab ich doch - wenn auch nur widerwillig und unter Tränen - dem Rat meiner Freunde nach. Weil sie sahen, wie alle sich gleichsam zu einem Schaukampf bereit machten, hegten sie die Befürchtung, durch unser Fernbleiben würden dem Volk ein öffentliches Ärgernis und dem Widersacher Hörner wachsen. Denn sein Irrtum werde umso mehr bestärkt, wenn niemand sich fände, zu antworten oder zu widersprechen. So stellte ich mich dem Ort und dem Termin, freilich unvorbereitet und ohne Schutz ... Du aber, Nachfolger Petri, wirst Dein Urteil darüber fällen, ob derjenige beim Stuhl Petri Zuflucht finden soll, der den Glauben Petri bekämpft.

 

Abaelard wird vom Papst im Schnellverfahren und ohne Anhörung zum Verzicht aufs Lehren und Publizieren und lebenslangem Schweigen und der Exkommunikation (samt seinen Anhängern) verurteilt und in einem nicht öffentlichen Brief zum Eingesperrtsein in einem Kloster samt Verbrennung aller seiner Bücher verdammt. Niemand sollte versuchen, den christlichen Glauben in aller Öffentlichkeit zu diskutieren, schreibt er im ersten und öffentlichen Brief. Die Sympathien für Peter unter den Kardinalen reichen nicht aus. Abt Peterus (Venerabilis) sorgt dafür, dass Abaelard sich beugt und behauptet, er habe sich sogar mit Bernhard ausgesöhnt. Er stirbt bald darauf, um 1142, in einem Tochterkloster von Cluny bei Châlons-sur-Marne.

 

Aus dem Brief des Abtes, der eine Anfrage Heloysas über Abaelard beantwortet:

 

Denn wenn ich mich nicht täusche, erinnere ich mich nicht, einen ihm an demütiger Haltung und Gestik ähnlichen Menschen je erblickt zu haben - in solchem Maße, dass einem gut Informierten weder Germanus erniedrigter, noch Martinus selbst ärmer erscheinen konnte. Obwohl er in jener großen Herde unserer Brüder auf mein Drängen hin einen ziemlich hohen Rang hielt, schien er seiner äußerst ungepflegten Bekleidung nach der letzte von allen zu sein. Ich wunderte mich oft, wenn er in den Prozessionen mit mir und den übrigen der Sitte nach voranschritt, ja ich war geradezu verdutzt, dass ein Mensch von so bedeutendem und berühmtem Namen sich selbst so verachten und so erniedrigen konnte. Und obwohl es manche Ordensleute gibt, denen gerade ihr Habit nicht aufwendig genug sein kann, war jener ganz und gar sparsam in diesen Dingen und mit einfacher Kleidung jeglicher Art zufrieden und begehrte nichts darüber hinaus. So hielt er es auch mit dem Essen und Trinken und mit seiner Körperpflege. Er verurteilte - um nicht zu sagen Überflüssiges - überhaupt alles abgesehen vom Allernotwendigsten - nicht nur bei sich, sondern bei allen, in Wort und Lebensstil. Er las ständig, betete häufig unter dem Joch des Schweigens - außer, dass ihn entweder die vertraute Versammlung der Brüder oder die öffentliche Predigt an dieselben im Konvent - z.B. über das Gotteswort - zu reden zwang. Die himmlischen Sakramente besuchte er so oft als möglich, indem er Gott das Opfer des unsterblichen Lammes anbot. Auch als ihm durch meinen Brief und Einsatz die Gnade des Heiligen Stuhles zurückgegeben war, ließ er darin nicht nach. Was soll ich noch mehr sagen? Sein Geist, seine Sprache, sein Werk: Immer war es gottgeweiht, immer philosophisch, immer gebildet, was er meditierte, lehrte und bekannte. So lebte der Mann, einfach und gerade, gottesfürchtig, das Böse vermeidend, noch eine Zeit lang mit uns. Er weihte so die letzten Tage seines Lebens Gott, bis er zur Erholung - denn er fühlte sich ungewöhnlich stark von der Krätze und anderen körperlichen Beschwerden belastet - von mir nach Chalon geschickt wurde. Denn wegen dessen milden Klimas, das fast alle Teile unseres Burgund übertrifft, hatte ich dort einen für ihn geeigneten Platz vorgesehen: zwar nahe der Stadt, aber trotzdem mit dem Fluß Saône dazwischen. Dort griff er, soweit es seine Krankheit erlaubte, seine alten Studien wieder auf, vertiefte sich in seine Bücher und ließ - wie man auch von Gregor dem Großen liest - keinen Augenblick verstreichen, ohne ständig zu beten, zu lesen, zu schreiben oder zu diktieren. Als er in diesen heiligen Studien verweilte, fand ihn jener evangelische Besucher bei seiner Ankunft und er traf ihn nicht schlafend, wie viele, sondern wachend an. Wahrhaftig wachend fand er ihn und er berief ihn nicht wie die törichte, sondern wie die kluge Jungfrau, zur endgültigen und ewigen Hochzeit. Denn er trug bei sich die ölgefüllte Lampe, d. h. ein Gewissen (conscientia), erfüllt vom Zeugnis eines heiligen Lebens. Denn um die gemeinsame Schuld aller Menschen einzulösen, wurde er von Krankheit dahin gerafft und, als sie sich verschlimmerte, in kurzer Zeit ans Ende seines Lebens geführt. Doch wie heilig, wie ergeben, wie rechtgläubig er dann zunächst ein Bekenntnis seines Glaubens, daraufhin seiner Sünden ablegte, mit welch brennendem Wunsch er die letzte Wegzehrung auf seiner Pilgerreise, das Pfand des ewigen Lebens, nämlich den Leib des Herrn Erlösers, empfing, wie gläubig er seinen Leib und seine Seele hier und in Ewigkeit ihm anvertraute, dafür sind Zeugen die frommen Brüder und der gesamte Konvent jenes Klosters, in welchem der Leib des heiligen Märtyrers Marcellus liegt. So vollendete Meister Peter seine letzten Tage und er verharrte, der er auf Grund seines einzigartigen Wissens und Lehramtes fast dem ganzen Erdkreis bekannt und überall berühmt war, sanft und demütig in der Lehre dessen, der gesagt hat: Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen. Und so ist er, wie es sich zu glauben gebührt, zu ihm selbst hinübergegangen.

 

Heloysa bittet um die Überführung seiner Leiche, was Peter Venerabilis gewährt, wobei er sich auch höchstpersönlich zum Parakletkloster begibt.

 

Diesen Mann also, ehrwürdige und teuerste Schwester im Herrn, an dem du nach der fleischlichen Verbindung (post carnalem copulam) mit der viel stärkeren und besseren Fessel der göttlichen Liebe hingst, mit dem und unter dem du lange dem Herrn dientest, diesen Mann also hegt Er an Deiner Stelle, vielmehr als ein zweites du in seinem Schoß, und bei der Ankunft des Herrn, in der Stimme des Erzengels und im Tubaschall Gottes, der vom Himmel herabsteigt, bewahrt er ihn für dich, damit du einst durch seine Gnade mit ihm wiedervereinigt wirst.

 

Peter Venerabilis bricht dabei die Regel, dass ein Mönch in seinem Kloster beerdigt wird und in seinem Orden. Danach schreibt ihm Heloysa:

 

Abbas noster, dominus noster, apud nos anno praeterito XVI kal. Decembris missam celebrastis, in qua spiritui sancto nos commendastis. In capitulo, divini nos sermonis eulogio cibastis. Corpus magistri nobis dedistis, ac beneficium Cluniacense concessistis. Michi quoque, quam nec ancillae nomine dignam, sublimis humilitas vestra tam scripto quam verbo sororem vocare non dedignata est, singulare quoddam velut amoris et sinceritatis privilegium donastis. Tricenarium scilicet, quod michi defunctae conventus Cluniacensis persolveret. Indixistis etiam, quod donum illud sigillatis confirmareris apicibus. Quod itaque sorori immo ancillae concessistis, frater immo dominus impleatis. Placeat etiam vobis aliud michi sigillum mittere, in quo magistri absolutio litteris apertis contineatur, ut sepulchro eius suspendatur. Memineritis et amore dei et nostri Astralabii vestri, ut aliquam ei vel a Parisiensi, vel ab alio quolibet episcopo praebendam adquiratis. Vale, dominus vos custodiat et praesentiam vestram quandoque nobis exhibeat.

 

(Als unser Abt und unser Herr habt Ihr bei uns am 16. November des vorigen Jahres eine Messe gelesen, in welcher Ihr uns dem Heiligen Geist anempfohlen habt. In unserem Kapitelsaal habt Ihr uns mit dem Segen des göttlichen Wortes gespeist. Ihr habt uns den Leichnam unseres Meisters übergeben und ein kluniazensisches Benefizium zugestanden. Auch nicht entblößt, Mir selbst, die ich nicht einmal des Namens Magd würdig bin, hat sich Eure erhabene Demut nicht für zu würdig gehalten, durch Schrift wie durch Wort den Titel Schwester zu verleihen. Vielmehr habt Ihr mir ein einzigartiges Zeichen Eurer Liebe und Aufrichtigkeit geschenkt: Dreißig Seelenmessen, die nach meinem Tod der Konvent von Cluny einzulösen hat. Ihr habt mir auch angekündigt, dass Ihr dieses Geschenk zur Bekräftigung mit Eurem Siegel und Schriftzug versehen werdet. Was Ihr so der Schwester, vielmehr Magd, zugestanden habt, möget Ihr als Herr, vielmehr als Bruder, auch einlösen. Wärt Ihr auch so freundlich, mir ein anderes versiegeltes Schreiben zu schicken, welches durch offene Worte die Absolution unseres Meisters enthält, damit es an seinem Grab befestigt werde? Gedenkt bitte in der Liebe zu Gott und zu mir Eures Astralabius: Bitte besorgt ihm eine Pfründe, entweder vom Bischof in Paris oder von einem anderen Ortsbischof. Lebt wohl, der Herr beschütze Euch und gewähre uns irgendwann in der Zukunft erneut Eure Gegenwart. (Alle Übersetzungen von Peter Venerablis und Heloysa hier sind meine korrigierte Version von: http://www.abaelard.de/abaelard/Main.htm)

 

Darauf verfasst er eine Absolution für das Grabmahl Abaelards (Ego Petrus Cluniacensis abbas, qui Petrum Abaelardum in monachum Cluniacensem recepi, et corpus eius furtim delatum Heloissae abbatissae et monialibus Paracleti concessi, auctoritate omnipotentis Dei et omnium sanctorum absolvo eum pro officio ab omnibus peccatis.) und verspricht, sich um eine Stelle für den Sohn der beiden, Astrolabius zu kümmern:

 

Rependo et ego in hoc vobis vicem quam possum, quia et longe antequam vos viderem, et maxime ex quo vestri notitiam habui, singularem vobis in intimis mentis meae recessibus verae non fictae caritatis locum servavi, donum quod de tricenario vobis praesens feci, absens ut voluistis, scriptum et sigillatum transmitto. Mitto etiam sicut mandastis magistri Petri absolutionem, in carta similiter scriptam et sigillatam. Astralabio vestro, vestrique causa nostro, mox ut facultas data fuerit, in aliqua nobilium aecclesiarum praebendam libens adquirere laborabo. Res tamen difficilis est, quia ut sepe probavi, ad dandas in aecclesiis suis praebendas variis obiectis occasionibus valde se difficiles prebere episcopi solent. Faciam tamen causa vestri quod potero, mox ut potero. (mH)

 

Berengar von Poitiers, der anlässlich der Schande des Konzils von Sens einen Verteidigungstext für Abaelard schreibt, wird später gezwungen, ihn zu widerrufen (ist bloß als ein Scherz zu verstehen). In diesem Text vergleicht er den Prozess von Sens mit dem von Jerusalem: Da versammelten sich die Hohepriester und Pharisäer zu einem Konzil und sprachen: „Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Wunder. Lassen wir ihn, dann werden alle Leute an ihn glauben.“ Einer aber unter ihnen mit Namen Abt Bernhard, der desselben Jahres Hohepriester des Konzils war, sprach zu ihnen: „Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ Von diesem Tage an trachteten sie ihn zu verurteilen.

 

Diese Transformation der Stelle aus dem Johannes-Evangelium wird Abaelard dann an das 'Glaubensbekenntnis', welches er für Heloysa schreibt, dranhängen. Es gibt eine zweitausendjährige Tradition, der Kirche vorzuwerfen, Jesus immer wieder aufs Neue gekreuzigt zu haben, man muss es nicht erst heute so sehen.

 

Kardinal Guido von Castello wird als Papst Coelestin II. 1144 seine Handschriften von 'Theologia' und 'Sicet non' seiner Kirche in Città di Castello vererben. Hyazinth wird Papst werden. Arnold von Brescia wird um 1155 als Ketzer in Rom aufgehängt, Gilbert von Porrée, der (wohl als Unterstützer Abaelards) in Sens dabei war, bekommt als nächster eine Art Ketzerprozess. Der kritische Intellekt und die Kirche werden zunehmend getrennte Wege gehen.

 

Das allegorische Gedicht 'Metamorphosis Goliae'', wahrscheinlich 1143 verfasst, macht aus Abaelard einen Mönchshasser im Kreis der großen antik-römischen Dichter, die alle mit ihren Frauen bei der Hochzeit der Philologie mit Merkur auftreten. Frau Philologia, das gebildete Mädchen, sucht im himmlischen Palast vergeblich nach ihrem „Paladin“, „dessen Geist sich als vollkommen göttlich erwies.“

 

„Als man Heloise wegen ihrer außerordentlichen Bildung rühmte und Abaelard palatinus nannte, entsprach jene Frau Philologia in diesem greifbaren Kontext ganz augenscheinlich Heloise. Die Dame „fragt, warum er sich geradezu wie ein Verbannter davongeschlichen habe, er, den sie an ihren Brüsten und ihrem Schoß umsorgt hat“. Frau Philologia erhält die Antwort, dass der cucullatus populi primas cucullati den großen Seher verstummen lässt.“ (Clanchy, Abaelard, s.o.S.197) Cucullatus heißt – mit einer Kapuze verhüllt:

 

Secum suam duxerat Getam Naso pullus,
Cynthiam Propercius, Delyam Tibullus,
Tullius Terenciam, Lesbiam Catullus,
Vates huc convenerant, sine sua nullus.

 

Queque suo suus est ardor et favilla,
Plinium Calpurnie succendit scintilla,
Urit Apuleium sua Prudentilla,
Hunc et hunc amplexibus tenet hec et illa ...

 

Nupta querit ubi sit suus Palatinus,
Cuius totus extitit spiritus divinus,
Querit cur se subtrahat quasi peregrinus,
Quem ad sua ubera foverat et sinus.

 

Clamant a philosopho plures educati:
Cucullatus populi primas cucullati
Et ut cepe tunicis tribus tunicati,
Imponi silencium fecit tanto vati.

 

(Mit sich führte der betrübte Ovid seine Getin, / Properz die Cynthia, Tibull die Delia, / Cicero die Terentia und Catull die Lesbia, / hier kamen die Sänger zusammen, keiner ohne die Seine.

 

Jede ist dem Ihren Glut und Asche, / Calpurnia entzündet des Plinius Funken, / seine Prudentilla entflammt den Apuleius, / jede hält den Ihren in ihren Armen.

 

Die Braut fragt, wo ihr Palatinus sei, / dessen ganzer Geist sich als göttlich erwies, / sie fragt, warum er sich ihr wie ein Fremder entzieht, / den sie im Schoß und am Busen wärmte.

 

Viele der vom Philosophen Unterrichteten rufen: / Der kuttentragende Primas der Kuttenträger / und des wie eine Zwiebel dreifach in Tuniken gewandeten Volkes / hat einem solchen Propheten Schweigen auferlegen lassen.)

 

Wir halten kurz inne und vergewissern uns der politischen Rahmenbedingungen. Werner Robl schreibt: „Das Konzilsereignis von Sens stellt sich hier als der absolute Endpunkt einer politischen Schönwetterlage dar, als ein Treffen, auf dem der König und die Kirchenführung der Franzia zum letzten Mal einmütig vereint erscheinen, um sich anlässlich der geplanten Reliquienschau dem Volk in ihrer Machtfülle zu präsentieren.“ (abaelard.de)

 

Ludwig VII. wurde unmittelbar nach dem Tod seines älteren Bruders in Reims gekrönt, da Ungewissheit über den Gesundheitszustand des Vaters bestand. Der stirbt aber erst 1137, als der Sohn gerade auf dem Rückweg von Bordeaux ist, wo er Eleonore von Aquitanien geheiratet hatte. Der Thronfolger ist erst 16 und war ursprünglich für ein geistliches Amt vorgesehen gewesen.

 

Suger kontrolliert zunächst die Regierungsgeschäfte und erreicht eine kurze Unterwerfung von Theobald (Thibaud) von der Champagne, die aber zerbricht, als der dann auf königlichen Kriegszügen keine Gefolgschaft leistet. Zunächst wird die Kommunalbewegung in Orléans niedergeworfen, dann werden der von Reims erst Konzessionen gemacht und bald widerrufen. Dann geht es gegen einen Aufstand im Poitou und einen in Aquitanien. Direkt nach dem Konzil von Sens wird Ludwig für seine Gemahlin den Versuch unternehmen, die Grafschaft Toulouse zu unterwerfen.

 

1141 kommt es zum Konflikt mit dem Papsttum, als Ludwig seinen Kandidaten für das Bischofsamt von Bourges gegen den des Papstes durchsetzt, der das Interdikt über ihn ausruft. Als nächstes verlangt Raoul (Radolf) de Vermandois die Annullierung seiner Ehe mit Eleonore, der Nichte des Theobald von der Champagne, denn er möchte Petronilla heiraten, die Schwester der aquitanischen Eleonore. Die andere flüchtet zu ihrem Onkel, der beim Papst appeliert. Raoul wird exkommuniziert, aber desungeachtet vertritt der König seine Interessen mit Waffengewalt, denn es gilt, die Champagne niederzuringen. Dabei ist nun Theobald mit dem radikalen Flügel der Kirchenreform im Bunde. Abaelards Konzil kommt ein Jahr zu früh für ihn...

 

Um 1164 stirbt Heloysa, und sie, die Nonne und Äbtissin, wird im Grabmal des Mönches und Abtes und Priesters Abaelard beerdigt.

Wer sich für Menschen interessiert, wird darüber von den beiden mehr erfahren können als von jenen, die für sich "Menschlichkeit" in Anspruch nehmen und nicht wissen, was sie tun...