ANHANG 1: TEXT VOR ALLER WEITEREN ERSTELLUNG VON TEXT

 

 

Sprache ist die Weiterentwicklung von Formen des Ausdrucks und der Kommunikation bei den übrigen Tieren. Sie erweitert das Machtpotential des Einzelnen wie der Gattung Mensch parallel zu dem, was wir gemeinhin heute als Technik fassen. Beide zusammen bringen seine Überlegenheit über alle Mit-Lebewesen hervor, deren katastrophale Ergebnisse für den Lebensraum Erde längst absehbar sind.

Sprache ist dabei Teil einer verheerenden Erfolgsgeschichte, an der zwei Dinge heute unumkehrbar erscheinen: Die massive Überbevölkerung mit einer Art von Lebewesen, deren steigende Ansprüche die immer rabiatere und zudem längst nicht mehr reparable Ausplünderung des Planeten immer stärker forcieren, und die Bereitstellung eines ausgeklügelten Instrumentariums zur schlagartigen Vernichtung alles komplexeren Lebens zumindest, das jederzeit das Ende des Lebensraums Erde herbeiführen kann.

 

Sprache setzt die Herausbildung eines komplexen Sprechapparates und zugleich eines damit verbundenen Teils des Gehirns voraus. Zweierlei wird damit erreicht: Vorgänge im Gehirn werden als Ergebnis in der Form bewusst, dass sie als Text wahrgenommen werden können, und der Umfang der Mitteilungen an Artgenossen nimmt zu. Menschen gewinnen dadurch an Macht gegenüber allen anderen Lebewesen und gegeneinander.

 

Mit der altgriechischen Philosophie setzt dann neben dem Zusammenspinnen von von der Erfahrung abstrahierenden Gedankengebäuden auch das Nachdenken über Sprache selbst ein. In der Folge werden die ersten Grammatiken entwickelt, von gramma, dem griechischen Wort für Buchstabe, und im späten römischen Imperium werden sie zum Erlernen des richtigen Gebrauches des Lateinischen im Unterricht eingesetzt, neben Rhetorik und Dialektik. Sprache beschreibend laden sie aber auch zur Reflektion über Sprache ein, was dann im 11. Jahrhundert nach und nach auch Einkehr in das lateinisch-christliche Abendland findet.

 

Schon auf dem Weg zum großen Abaelard wird dabei deutlich, dass Wörter bei unterschiedlichen Menschen durchaus mehr oder weniger unterschiedliche Bedeutungen haben können. Am einfachsten ist es noch mit Namen für einzelne Gegenstände, einen bestimmten Menschen, Berg oder Baum. Schwieriger wird es schon, wenn man von ihnen jeweils abstrahiert, was all diese drei Wörter implizit tun. Sie verallgemeinern bzw. abstrahieren, sehen vom einzelnen Gegenstand ab. Das lässt sich begründen durch Definition, Bestimmung, und es ist bekannt, dass die meisten Menschen beim Spracherwerb diese Definitionen nur mangelhaft oder gar nicht nachvollziehen, Sprache besteht üblicherweise auf unreflektierter Übernahme.

 

Noch schwieriger wird es bei der Benennung von Tätigkeiten bzw. Vorgängen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten in einem Wort zusammenfassen können, wie arbeiten, denken, herrschen, singen, lieben. Die Abstraktion vom einzelnen Vorgang schafft Namen für sie, die vergessen lassen, wie vielfältig das sein kann, was sich dahinter verbirgt. Nicht zuletzt wandeln sich Bedeutungen von Worten unentwegt. Manchmal, wie bei der Liebe oder der Herrschaft vergisst man geradezu die Vielfalt an Aktivität, die sich dahinter verbirgt, und das kann sogar beabsichtigt sein.

 

Ganz schwierig wird es, wenn Eigenschaften, die ja einen Gegenstand benötigen, an den sie geheftet sind, von ihm gelöst werden. "Gibt" es überhaupt das Richtige, das Gute, die Schwere, das Runde oder das Helle, gar die Helligkeit oder Wahrheit jenseits von Gegenständen, die damit ausgezeichnet sind? Das deutsche "Geben" ist dabei noch einmal eine Besonderheit mit seinem neutralen "es" als Gebendem.  

 

Das alltägliche Gespräch verweigert sich dem Nachdenken über das, was es gerade tut, hat es doch oft ohnehin eher psychisch erklärliche Antriebe als irgendwelche andere. Und wie steht es um das Philosophieren und die Wissenschaft(en), um die es bald auch gehen soll? Die ersteren nehmen Grundbegriffe einfach als selbstverständlich an, wie zum Beispiel im Mittelalter die Worte "Gott", "Wahrheit" oder "Natur", die letzteren, immer stärker an technisches Interesse gebunden, definieren gerade so, dass es in den jeweiligen Kontext passt. 

 

Hier soll das als Vorwort versuchsweise angedeutet werden, was den Worten/Wörtern ursprünglich zukam, als sie vor aller Zivilisation in den jeweiligen Kulturen entwickelt wurden. Alle Wörter nämlich hatten ursprünglich eine der menschlichen Erfahrung unmittelbar entstammende Bedeutung, bevor sich beispielsweise die Propaganda institutionalisierter Macht darüber stülpte.

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Wenn man sich mit einem späten Abschnitt der Geschichte der Menschen beschäftigt, wie dem des entstehenden Kapitalismus, muss man sich entscheiden, ob man die Sprache der Mächtigen annehmen möchte, die ihre Sicht der Dinge transportiert, oder eine, die bei den Untertanen manchmal noch eine Weile überlebte und die in den Worten bei genauerem Hinsehen noch enthalten ist, auch wenn heute alles daran gesetzt wird, das zu vergessen.

 

 

Ein wenig Etymologie als Versuch: Vom Verstehen, Wissen, Glauben, dem Denken und vom Unwesen des Geistes

 

Als ich anfing, aus meinen Studien einen Textzusammenhang zu machen, hatte ich die Hoffnung, dass das Gießen von Text in eine konzise Form eine heilsame Disziplin herbeiführen würde. Ich wollte ein wenig Welt verstehen, das heißt, die Menschen darin, und war in meinem bisherigen Leben doch nicht weiter gekommen, als zu entdecken, daß jeder Ansatz von Verständnis durch das Kennenlernen von Neuem wieder zerstört werden kann: Alles ist verschieden und nichts ist gleich, - außer in der Mathematik mit ihren Postulaten.

 

Texte, die Menschen verstehen wollen und sollen, sind allerdings in Gefahr, sich mathematischen Formeln anzunähern, um eine gewisse Allgemeingültigkeit vorzugeben. So wie die Mathematik ihre Gebäude auf Axiomen aufbaut, besteht eben auch beim Umgang mit Menschen (die in der Mathematik nur als Zahlen vorkommen) die Möglichkeit, letzte oder erste Wahrheiten zugrunde zu legen und auf ihnen aufbauend oder zu ihnen hinführend zu systematisieren. Wir sind gezwungen zu verstehen, um nicht irre zu werden, dürfen aber im Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit, “Wissenschaftsreligion” nennt das Freud, keine Glaubenssätze zugrunde legen; also neigen wir dazu, sie zu ignorieren oder zu verleugnen, - sie, ohne die wir keine Texte über uns Menschen zustande bekommen. Dabei ist das Nachdenken über das, was wir da tun, gar nicht so schwierig; viele halten es nur für unangenehm und lästig., 

 

Verstehen zum Beispiel ist offensichtlich etwas, was nach dem Stehen kommt. Der Stand macht uns körperlich aufrecht, Kopf oben, Füße unten, Verdauung und Fortpflanzung im unteren Mittel. Nur wenn wir stehen, können wir etwas mit Händen greifen, begreifen, comprehendere. Die romanischen Sprachen setzen ohnehin Verstehen als Begreifen. Das Greifen kommt offensichtlich vor dem Begreifen, welches bei Schreibtischtätern im Sitzen, aber nicht ohne die Fähigkeit zum Stehen veranstaltet wird; im Mittelalter schrieb (und las) man noch oft aus dem Stand, am Stehpult.

 

Im Begreifen wird besser als beim Verstehen deutlich, daß wir es zunächst mit einem körperlichen Vorgang zu tun haben: Beim Greifen (alternativ dem Fassen des Erfassens) führt der Tastsinn zur Wahrnehmung, deren letzte Instanz im Hirn ist, welches den Text produziert: Von der sinnlichen Erfahrung bis zum Text besteht ein unzerreißbarer Zusammenhang, wir vermeinen, Wahrheit produziert zu haben. Leider ist diese (“nur”) höchstpersönlich, wir sind sinnlich nur recht ähnlich, aber nicht gleich ausgestattet, und auch die Qualität und Struktur unserer Hirne unterscheidet uns voneinander.

 

Zwischen den Gegenständen unserer Erfahrung und den Texten, mit denen wir sie verarbeiten, besteht aber auch eine unaufhebbare Trennlinie, die die lateinische Grammatik zwischen Subjekt und Objekt definiert. Skepsis oder Einsicht in mangelhafte Erkenntnis ist also angebracht. Diese verstärkt sich, wenn wir uns germanischer Sprachlichkeit bedienen (und oft auch, wenn wir aufs alte Griechisch verfallen); während den Romanen die ratio, raison, razon Hoffnung macht, den res einer Realität näher zu kommen, eine beliebte Illusion seitdem, ist das angelsächsische Unterstehen (understanding) und das deutsche Verstehen zunächst doch eher mysteriös.

 

Einen festen Stand haben will von klein auf erst einmal gelernt werden und erfordert Kraft, aber stehen muß man als Mensch können. Ver- ist ein Präfix, das dazu neigt, eine gründliche Tätigkeit zu beschreiben, bei der am Schluß fast entropisch kaum etwas übrig bleibt: verbrauchen, vergehen, vergeuden, verderben; noch zerstörerischer mutet nur die Vorsilbe zer- an. Das Verstehen sollte also eine so gründliche Tätigkeit sein, daß kein Rest beim Prozeß einer Transformation als Veränderung (die jede Tätigkeit ist) mehr übrigbleibt, - eine substantielle Verwandlung, und dazu eine unabweisbar nötige, denn ohne Verstand und Verständnis sind wir zumindest extrem hilfsbedürftig.

 

Der Verstand ist nicht etwas, wie ein Haus, ein Baum oder ein Gehirn, auch wenn die substantivische Form zu dieser Annahme verleiten mag. Er existiert vielmehr als Vorgang, eine Tätigkeit, die wir sprachlich zum Gegenstand gemacht haben, dem wir dann auch einen Namen geben, - wir haben die Tätigkeit nominalisiert.

 

Bei dieser Tätigkeit handelt es sich um eine schwer verständliche, die des Verstehens nämlich, eine Nominalisierung, die nicht ganz so fehlleitet, aber leichthin doch immer noch sehr täuscht. Überhaupt muss man sich bewusst machen, dass Nominalisierungen von Tätigkeiten wie von Eigenschaften (Selbst)Täuschungsmanöver sind: Hinter die Liebe und hinter dem Kapital verstecken wir gerne Vorgänge, in die wir Tätigkeiten verkleiden, und wenn wir das Gute oder das Wahre formulieren, ignorieren wir ungeniert, dass Eigenschaften immer an Gegenstände gebunden sind. Sprache hat eben auch einen psychischen Urgrund, und der hat mit Täuschung und Selbst-Täuschung zu tun. 

 

Als Nietzsche von der Lüge im außermoralischen Sinne schrieb, näherte er sich (in der 'Genalogie der Moral') diesem Phänomen, dass das Bedrohliche von Erkenntnis durch Sprache gemildert werden muss: Indem dabei jeder sich die ihm gemäße, überlebens-notwendige Welt schafft, schaffen wir uns gemeinsam in Sprache eine jenseits aller Erkenntnismöglichkeit für uns erträgliche. Wenn es hier um die Entstehung des Kapitalismus geht, ist in einer Zivilisation inzwischen Sprache zudem zur Machtfrage geworden: Sie ist zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert längst mit physischer Gewalt der Machthaber über die Menschen hinweg gezogen. 

 

Das Verstehen ist eine recht deutsche, d.h. deutschsprachige Angelegenheit, aber das Stehen dabei ist germanisches Gemeingut. Die Engländer zwischenstehen zum Beispiel: to understand. (Im Altenglischen gab es noch forstandan). Under meinte eben bei den Angelsachsen wie den übrigen Germanen nicht nur „unter“, sondern auch „zwischen“. Mitten drin sein ist also ihre Vorstellung von „verstehen“.

 

Sinngemäß stellten sie sich verstehen und kennenlernen als ziemlich identisch vor, jedenfalls ganz anders als in unserer Vorstellung vom Verstand heute, der (leider) weithin auf wirkliche Kenntnis verzichtet. Im Indogermanischen lassen sich dabei noch zwei Wörter erschließen, die im Lateinischen als infra (unter) und inter (zwischen) unterschieden sind. Im Deutschen ist „unter“ als „zwischen“ auch noch erhalten: in „unterdessen“ und in „unter anderem“ zum Beispiel.

 

Dafür kennen die Engländer nicht die Vorstellung vom Verstand, sondern nur die des Verstehens, des understanding. Ansonsten sind sie gute Lateiner und benutzen das oft attributiv verstärkte sense (sensus) für Verstand, was ihrem sensualistisch begründeten Empirismus sehr zugute kommen wird: Der Verstand ver-arbeitet das sinnlich Aufgenommene und möglichst sonst nichts. Im 18. Jahrhundert kulminiert das im good sense, wie bei Jane Austen dann zum Beispiel, bei den Gemeineren eher im common sense, dem nämlich, was die Engländer manchmal den Deutschen voraus hatten, denen die Erfahrung nur allzu oft nicht geholfen hat, weswegen sie auf den Hegel und den Marx gekommen sind und Kant es schon vorher nicht bei seiner ersten Kritik belassen hat.

 

Die lateinisch verwurzelten Franzosen spalten das Verstehen - wie so manches andere auch - in zwei Vorstellungen auf, das entendre (verstehen als richtig-hören) und das comprendre (verstehen als be-greifen). Das lateinische com-prehendere, das Begreifen als eine Form des Ergreifens, ist eine vom Verstehen völlig verschiedene Angelegenheit, es ist englisch comprehensive, um-fassend, und weil wir nur zwei Hände haben, naturgemäß ziemlich beschränkt: Die „Beschränkung“ ziemt sich hier und ist noch nicht diminutiv, verkleinernd als peiorativ, abwertend gemeint. Die Komprehension als mit (den) Händen greifen ist dabei allzu oft eine fragwürdige Annektion (der nexus ist die Ver-Knüpfung). Das Be-Greifen ist eine manuelle Form der Be-Rührung, das Subjekt tritt mit dem Objekt tastend in Kontakt, verwandelt es aber dabei nicht, eignet es sich nicht an, es bleibt bestehen, hat Bestand, Kon-stanz (con-stare).

 

Das Begreifen, wortwörtlich genommen, läßt den Gegenstand intakt, nachdem er taktil in Angriff genommen wurde: Die Greiforgane werden wieder zurückgezogen. Das Realitätsprinzip der lateinischen Kultur belässt die Dinge nach der (subjektiven) Wahrnehmung und der Textproduktion objektiv. Das Verstehen aber transformiert die Gegenstände in einem Prozeß der Aneignung in Anteile des Subjekts: Etwas nicht begreifen (wollen) kann der (freudige) Verzicht auf eine Tätigkeit sein, etwas nicht verstehen tendiert dazu, auf einen aggressiven Akt zurückgeführt zu werden, der seinerseits Aggression hervorruft: Es ist oft ein gravierendes Verdikt, wenn man für etwas kein Verständnis hat, und kann bis zum Tod des Gegenübers führen. Für etwas keinen Begriff haben hingegen wird gerne durch die blinde Übernahme eines solchen ohne Vorgang des Begreifens ersetzt. Es gibt also verschiedene Auf-Fassungen von dem, was Deutsche Verstehen nennen.

 

Dieses Verständnis meint ein Einverständnis, das fast synonym mit Zustimmung ist. Der andere Akt des Verstehens beruht auf vielen im unübersehbaren Klicken unserer Synapsen kaum wahrnehmbaren Urteilen, dieser aber auf einem einzigen, der Übereinstimmung signalisiert, einen wohltuenden Zustand unter Ausschüttung der richtigen Botenstoffe im Gehirn. Wenn ich “kein Verständnis habe”, drücke ich mit dieser Botschaft Ablehnung aus, wenn ich aber etwas nicht verstehe, widersetzt sich mir der Gegenstand meiner Betrachtung. Das ist so unangenehm, dass wir dazu neigen, es zu ignorieren und Verstehen vorzutäuschen.

 

Wenn wir meinen, etwas verstanden zu haben, besitzen wir einen (neuen) Text, mit dem wir einverstanden sind: Der Text stimmt. Diese Übereinstimmung entsteht durch die gelungene Aneignung eines Gegenstandes, durch jenen Vorgang des Verstehens, der aus etwas Fremdem etwas Eigenes macht. Etwas stimmt, wenn es sich in Übereinstimmung mit allem bzw, allen anderen befindet. Die Stimmung ist die Tonlage der Harmonie, das Fremde ist dissonant. Verstehen ist also zugleich produktiv und illusorisch.

 

Der Prozeß des Verstehens führt zu einer Veränderung des Menschen, wenn das Fremde, Andere in der Aneignung nicht allzu sehr verloren geht, Einfluß ausübt. Widersetzt sich der Wahrnehmende dem Anderen in der Aneignung, so formt er dies so um, dass es leichter verdaulich wird, - die Metaphern der Wahrnehmung entstammen alle dem Reich elementarer Körperlichkeit. Wer sich seiner lebendigen Leiblichkeit gewiß und sicher ist und spürt, dass sie seinen Verstand auf eine heilsame Weise regiert, wird das Andere als äußerlich begreifen und sich weniger bedroht fühlen. Das Andere, das Fremde, das Unverstandene aushalten bedingt Stärke, die auch aber nicht nur Muskelkraft beinhaltet, sondern jene Kraft, “die von innen kommt”, je nach Belieben aus der Seele, der Psyche, dem Gemüt.

 

Verstehen müssen wir alle und immer wieder, und keiner kann sich zurücklehnen und die Augen verschließen davor, daß das Außen für das Innen eine stete Herausforderung ist: Wir produzieren ständig Text und besonders deutlich, wenn wir die Augen ver-schließen, zusätzlich Bilder. Eine angenehme und eher schlichte Art des Umgangs ist es, vieles für selbstverständlich zu halten; von selbst versteht sich in der Regel das, was uns keine Anstrengung des Verstehens wert ist. Etwas ist ein Baum, wir definieren, ohne uns die Kriterien bewußt zu machen. Wir spüren spontan, daß etwas gut oder schlecht oder jemand gar böse ist, ohne uns immer davon Rechenschaft abzulegen. Wir sind unkritisch. Das zugehörige Stichwort heißt “Tradition” oder “Gewohnheit” oder “Vorurteil”, praeiudicium. In der Zeit des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts werden daraus die Schimpfwörter, mit denen die Fortschrittlichen die Reaktionäre, die Abergläubischen, die nicht Illuminierten bedenken. Aber fast alle “alltäglichen” Wahrnehmungen und Urteile sind spontan, unwillkürlich und präjudiziert. Die richtige Stimmung des Wahrgenommenen resultiert im angenehmen Gefühl, so wie Zeiten ohne viel Verstehen willkommene Entspannung sind; entspannend ist das Selbstverständliche, das gerne auch mit dem scheinbar unauffälligen Adjektiv natürlich versehen wird. Das meint, es sei "einfach" da...

 

Wir haben also keinen Verstand als Besitz und wir besitzen auch keine Vernunft, sondern nur mehr oder weniger die Anlage dazu. In ersterem Wort ist eine Flut von Vorgängen enthalten, das zweite benennt eine Instanz, die nämlich, die unser Denken mehr oder weniger formatiert (formuliert), und zwar nicht in Begrifflichkeiten, wie der eine oder andere gerne hofft, sondern in Zusammenhänge.

 

Verstehen tun wir ständig, wenn auch höchst unterschiedlich, immer dabei uns jeweils gemäß. Wir verstehen, sobald wir stehen und sprechen können, wenn auch manchmal Bahnhof. Das war übrigens das, was die Soldaten im ersten Weltkrieg als einziges verstehen wollten, sie wollten nämlich in den Zug nach Hause. Aber jenes Verstehen ist nur ein misslungener Vorgang des Hörens, bei dem er in den Konnex oberflächlicher oder sich hochschiebender Teile der memoria, der Erinnerung, mehr oder minder erfolglos eingeht.

 

Das, was wir Vernunft nennen, ist, um Kant einmal Recht zu geben, hingegen als Form angeboren, wir müssen es aber wie das Stehen, Gehen, und Essen ein-üben.

 

Das Repertoire der Vernunft ist, wie schon von Aristoteles schön dargelegt, recht klein, wenn auch lebenswichtig. Es formatiert uns so, daß wir lebensfähig sind, und wir üben sie vor allem in der Betrachtung des anzueignenden Anderen ein, dem, woraus unsere große Welt in unseren Augen besteht, zu der aber auch die Erfahrung mit uns selbst und unseren Nächsten gehört.

 

Die Vernunft ist es, mit der wir Sätze formulieren, lateinisch Sentenzen, Urteile also. Das einfachste Urteil setzt einen Gegenstand und ein Wort in Beziehung zueinander. In der Subjekt-Objekt-Grammatik sind alle Aussagen solche Relationen. Wenn das Kind auf einen Baum zeigt und „Baum“ sagt, stellt es eine Beziehung zwischen sich und dem Baum her, als Urteil bzw. Satz heißt das: „Das ist ein Baum.“ Urteile sind soweit immer diskutabel. Bei obigem kindlichen Satz brauchen wir für den Diskurs eine Definition: was „ist“ ein Baum für uns?

 

Definieren kommt von der lateinischen Grenze (finis) und führt dann zu definire, abgrenzen. Was wird da abgegrenzt: Ein Gegenstand vom anderen, und zwar dadurch, dass er einen Namen erhält, der ihn von jedem anderen Gegenstand wie Namen abgrenzt.

 

Bekanntlich bringt uns die Vernunft alleine nicht gut durchs Leben. Wir brauchen zwar Sätze wie den: „Der Baum ist umgefallen, weil er alt ist“, in ihm gewinnt unsere Welt ein kausales Format. „Ich arbeite, um zu leben“ kleidet dieselbe Welt in ein finales Gewand. Aber unsere meisten alltäglichen Urteile, in denen Sätze zunächst eine eher kleine Welt zusammensetzen, sind zunächst bar jeder Vernunft, wie der Satz: „Es ist schlecht (oder gut), dass der Baum umgefallen ist“. Erst die Begründung macht den Satz diskutabel, also „der Vernunft“ zugänglich.

 

Ein Satz wie „Ich möchte ein Auto haben“ ist schließlich in dieser Form gar nicht diskutabel, denn das Mögen, oder das Wollen, das Meinen und das Lieben sind allesamt nicht rundherum vernünftig, wenn auch zutiefst menschlich. Auch solche Sätze sind Urteile, aber keine, die „ich“ fälle, sondern solche, die mir vorgegeben werden wie der Hunger und der Durst. Wir sind „zu ihnen verurteilt“, solange wir dabei nicht unterscheiden können, zum Beispiel zwischen dem Notwendigen und dem Luxus, dem Sinnvollen und dem Unsinnigen. Wenn „ich finde, dass dies Bild schön ist“, landen wir am Ende unmittelbar bei dem lateinischen Spruch, dass über die gustibus nicht disputandem sei.

 

Dennoch kann man sich über solche Sätze verständigen (Ich liebe die Therese, ich mag Mozartmusik, ich hätte gerne eine schlankere Figur). Dazu muß man sie transponieren in eine Tonart, die der Vernunft zugänglich ist. Manchmal ist das sogar nötig, selten allerdings ist es angenehm. Die Vernunft wie das Geld und die Mathematik schert alles über einen Kamm, sie ist ein großer Gleichmacher.

 

„Ich liebe Therese / Mozart, weil…“ ist ein in letzter Instanz zerstörerischer Text, während der Satz, „Das Auto ist viel zu teuer für dich“ immerhin noch enttäuschend ist, weil einengend, das Mögen mit dem anstrengenden Korsett der Bescheidenheit unangenehm verschlankend. Die Liebe am Objekt begründen zerstört den Urgrund der Liebe, der im Schenken von Liebe gegründet ist und im Beschenktwerden mit derselben, - das eben, was glückliche Kinder schon im frühesten Alter kennen-lernen, durch Kennen lernen sollten: das Beschenktwerden mit Liebe durch die Eltern nämlich, wodurch das Leben zu einem Geschenk wird, und nur so.

 

Dem emotiven Wollen mit dem starren Knochengerüst der Vernunft entgegentreten führt in schönstem Neudeutsch zu der Notwendigkeit, Frustrationsbewältigung zu betreiben, (die Not der Vereitelung muß gewendet werden, frustrare ist vereiteln). Das ist die eine Seite dessen, was menschliche Kulturleistung durch die Zeiten war. Die andere Seite ist die, das Knochengerüst mit schönen Gewändern zu schmücken, uns (Fleisch)Ersatz als Entschädigung zu ver-schaffen, der Mühe der Arbeitstage genügend ausgelassene Festtage entgegen zu setzen, der schnöden Notwendigkeit des Ab-Wendens der Not im Tanz und Gesang, im Rausch von Minuten einen Ausgleich zu geben, der das Leben für manche erst hinreichend lebenswert macht. Wo das gelingt, hatte jene Einheit ihren Platz, die wir längst in Religion und Kunst abgespalten und weithin aufgegeben haben. Der Rausch, wo nicht in solche (Fest)Kultur eingefügt, ist dann keine kulturelle Verarbeitung mehr, sondern nur noch Flucht.

 

Gelegentlich wird seit der Aufklärung das Begreifen als Tätigkeit der Vernunft gesehen, im Unterschied zum Verstehen, welches eben dem Verstand verbunden ist. Seit dem 19. Jahrhundert wird zum Begreifen gesagt, es bringe etwas auf den Begriff. Lessing war einer der ersten, der einen, genauer hier keinen, Begriff von etwas hatte: man kann sagen, der Gegenstand einer transcendentalen Idee sei etwas, wovon man keinen Begrif hat, obgleich diese Idee nothwendig von der Vernunft erzeugt worden. (Zitiert nach dem Grimmschen Wörterbuch). Eine Vernunftidee kann also nicht begriffen werden (mit Händen zum Beispiel). Ich möchte ergänzen, sie kann auch nicht anders als psychologisch verstanden werden. Wenn Goethe an die Frau von Stein schreibt, er zeichne etwas für sie zum leichteren Begrif des Unbegreiflichen (dieselbe Quelle), dann will er es gewiß nicht hegelianisch auf den Begriff bringen, sondern ganz im Gegenteil veranschaulichen, heute könnten wir sagen, vom (problematischen) Begriff zur Anschauung bringen.

 

Tatsächlich neigen dann philosophisch eingefärbte (idealistische) Leute im 19. Jahrhundert dazu, das zum Begriff zu machen, was sich jeder Anschauung widersetzt, in der Folge von Lessings Zitat und insbesondere von Kant zum Beispiel: Transzendenz und Idee sind beide unanschaulich, der Geist ebenso, außer im englischen Schloss als Gespenst.

 

Wörter wie Verstand oder Vernunft werden in unseren Schulen heute und schon seit längerem in der Regel nicht erklärt. Sie werden für selbstverständlich genommen, d.h. sie bleiben hochgradig unklar, worauf man aber nicht achten soll: Sie sind Material für Geschwätz. Die sprachliche Wurzel der Vernunft ist das Vernehmen, und soweit ist die Vernunft vom Verstehen nur undeutlich unterschieden. In Grimms Lexikon stand aber schon folgendes:

die bedeutung ist ursprünglich: das richtige auffassen, das aufnehmen, aber schon im ältesten deutsch ist es das vermögen womit wir die aufgenommenen gegenstände in uns verarbeiten, die überlegung. ahd. ist schon die rein geistige bedeutung die einzig herrschende, ...

 

Also: Der Verstand versteht, die Vernunft überlegt und vernimmt nicht nur, das Stehen und das Nehmen bedienen sich beide des Präfixes -ver. Der Unterschied wird deutlicher im ebenfalls im Grimm zitierten ‚Engelhard’ des Konrad von Würzburg, wo es heißt: ich was in minem herzen / verdaht uf iuwer minne also / daz ich von rechter minne do / vernunst und sinne gar verlos.

 

Hier wird die Vernunft von den Sinnen unterschieden. Die Sinne aber sind es, durch die etwas zum Verstand gelangt, dem Sinn in der Einzahl, sensus, englisch sense, und das Sinnen führt zum Verstehen, wenn es kein Grübeln ist. Da der Sinn aber zugleich die Richtung meint, sind Verstand und Vernunft miteinander verbunden, denn die Vernunft gibt dem Verstand seine Richtung, anders gesagt, seine Ordnung. Schon vor Kant wurde dabei der Richtungs- oder Ordnungsfaktor der Vernunft des Menschen mit dem der Natur gleichgesetzt, sind wir doch Teil der Natur. Bei Luther heißt das: begert nichts weiters, dann die vernunft der natur begert.

 

Eine weitere Doppelung findet sich im ‚Simplicissimus’ des Grimmelshausen: ermahnungen beydes von der gesunden vernunft und seinem gewissen empfand ...Avarus. Vernunft und Gewissen sind hier etwas verschiedenes, zwei Instanzen eines Oberstübchens. Was immer aber genau unter Vernunft verstanden wird, bleibt unklar und soll es wohl auch. Denn eine gesunde Vernunft von einer ungesunden zu unterscheiden, ist wenig plausibel, es sei denn, die Gesundheit der Vernunft ist moralisch gemeint, oder aber hier ist der englische common sense gemeint, der „gesunde Menschenverstand“. Dieser aber ist bekanntlich ein undurchdringliches Gemisch aus Erfahrung, Vernunft und oft flagranter, trotziger Dummheit. Wir sehen, die frühe Neuzeit nutzt das Wort Vernunft in seiner ganzen umgangssprachlichen Unklarheit, so, wie es an Schulen noch heute vorkommt, nicht zuletzt in der drohenden Version: „Nun werd’ doch endlich mal vernünftig“, oder: „nimm doch Vernunft an“, was beides zu nichts anderem als der Einsicht in die Notwendigkeit der Unterwerfung führen soll.

 

Erst im 18. Jahrhundert ebnet der Weg in die Aufklärung für die wenigen, die daran teilhaben, die Chance auf mehr Klarheit: In den ‚vernünftige Gedanken von Gott’ formuliert Christian Wolff: je mehr man den zusammenhang der wahrheiten einsiehet je mehr hat man vernunft ... wo man gar nicht einsiehet, wie die dinge zusammenhängen, da ist gar keine vernunft. (Alles auch weiterhin aus Grimms Wörterbuch). Solche Zusammenhänge sind zeitlich, räumlich, kausal oder final.

 

Also: Die Vernunft setzt im Verstand in Beziehungen. Diese sind abstrakt, sie ordnen das zu Verstehende nach menschlichem Maß, dem Maß seiner Abstraktionsfähigkeit. Diese letztere Erkenntnis als theoretische ist das Verdienst der englischen Aufklärung und von Kant, bei dem es dann heißt:

alle unsere erkenntnisz hebt von den sinnen an, geht von da zum verstande und endigt bey der vernunft, über welche nichts höheres in uns angetroffen wird, den stoff der anschauung zu bearbeiten und unter die höchste einheit des denkens zu bringen. Und: vernunft ist das vermögen, die verknüpfung des allgemeinen mit dem besonderen einzusehen. Und: verstand ist die erkenntnisz des allgemeinen; urtheilskraft die anwendung des allgemeinen auf das besondere; vernunft ist das vermögen, die verknüpfung des allgemeinen mit dem besonderen einzusehen. (Alles zitiert nach Grimm)

 

Unübersehbar haben wir es hier mit einer problematischen Hierarchie zu tun, mit der Vernunft als absolutem Fürsten im Oberstübchen, mit der aufgeklärten Despotie par excellence. Das Problem ist nicht die Definition selbst, sondern die im Hintergrund drohende implizite Einladung, die sinnliche Wahrnehmung und die Verständigung auszuschalten, die Möglichkeiten der Vernunft beliebig einzusetzen und dabei die eigenen psychischen Störungen und unbewußten Regungen außer Acht zu lassen. Dann wird man wie Zeitgenosse William Godwin darüber spekulieren, daß die Vernunft als „politische Gerechtigkeit“ Krankheit, Tod und überhaupt jegliches Leid abschaffen kann. Dann wird man wie seine kurzzeitige Ehefrau Mary Wollstonecraft darüber spekulieren, daß die Abschaffung von Weiblichkeit und erotischen Reizen im Sinne eines aberwitzigen "Feminismus" die Vermeidung von Leiden bedeutet. Dann wird man mit Robespierre die Vernunft als Tugend zum Fallbeil machen, mit Hitler die Logik der Biologie zum höchsten Politikum. Alles das ist höchst aktuell.

 

Ich habe weiter oben den Unterschied zwischen Verstehen und Begreifen angedeutet. Ich meine, mehr ist (für uns) nicht drin. Das eine ist nicht vernünftiger als das andere und beides erweist sich nur zu oft eben, bald und auch: als unvernünftig

 

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Die Aufrichtigkeit, die kristalline Durchsichtigkeit (des Berlin-Weimarischen Tugendbundes zum Beispiel, die schon zuvor bei Rousseau zwischen Julie und Saint-Preux flirrte), ist Wahrhaftigkeit, jene moderne Illusion, die später auf die spät-mittelalterliche Eigenschaft wahrhaft folgt. Bis zur Wahrheit ist es dann noch ein gutes Stück Weges.

 

Ganz alt ist hingegen die Wahrheit, jene veritas, der am Anfang deutsch noch das -h- fehlt. Das Wahre (ware) ist das, dem man Vertrauen schenken kann, das, was man damals glauben kann, was gewiss intensiver als wissen ist, immerhin kann man ganz fest glauben, aber nur sicher wissen, und das Wissen unterliegt leider dabei immer dem Irrtum, der Glaube eben nie, - weswegen er viel bedrohlicher werden kann als das Wissen und zugleich um so leichter gewechselt. Die Slawen haben das alles immer schon gewusst und haben darum aus derselben Wurzel eine vera gezogen, die wir heute noch mit Glauben übersetzen.

 

Bekanntlich war Jesus als Christus, zu dem er nach seinem Tod gemacht wurde, der Weg, die Wahrheit und das Leben. Er ist das eigentliche Leben, das geistige, jenseitige. Aber was ist die Wahrheit in diesem Fall? Ist es mit Kant das, was man wissen kann oder das, was man glauben muss? (Müssen heißt hier: nicht anders können, wie Kant in den ‚Prolegomena’ darlegt).

 

Der Rabbi Jesus wird so Christus, Messias, und zwar der einzig wahre, - denn es gab damals im Judenland auch falsche Fuffziger. Aber als Wahrheit ist er ohne Zweifel Repräsentant der sich dann langsam herausbildenden Trinität: Vater, Sohn und heiliger Geist, zusammen der wahre Gott eben. Insofern ist er das Wahre oder der Richtige. Ganz früh hätte man gesagt, es sei der rechte Gott (der Juden, der Christen, der Muslime). Mit ihm hat man jeweils recht (bzw. Recht). Mit der Wahrheit hat es also seine Richtigkeit und mit ihr ist man im Recht, bevor die Justiz es einem wegnimmt.

 

Wer dem zum Beispiel christlich vertraut, weiß, was er hat: Glauben nämlich, wenn auch seit Boccaccio und Lessing nicht mehr den einzig wahren, aber immer noch einen ein bisschen wahren … Was machen aber Leute, denen dieser Glaube fehlt, die aber auch hin und wieder glauben (und übrigens auch wieder und wieder mal dieses und mal jenes)? Und: Geht das überhaupt - ein bisschen Wahrheit (nur).

 

Eine schwierige Frage gewiss, besonders wenn man bedenkt, wie verlottert unsere Sprache inzwischen ist. Verlassen wir darum zunächst einmal das „an etwas glauben“ und beschränken uns auf das „etwas glauben“. Wir bemerken gleich, dass es sich vom Meinen in der Intensität unterscheidet: Glauben ist schwächer und stärker als Wissen, Meinen nur schwächer. Meinungen halten meist nicht lange an, denn sie sind von außen beeinflussbar. Richtiges Wissen kann man nicht derart beeinflussen, denn es wird nicht abgekupfert, sondern erworben. Erwerben als Übernehmen kann man nur den Glauben an etwas, aber man kann auch ohne solchen Erwerb einfach etwas glauben.

Etwas glauben ist nämlich einfach, denn es beruht auf einem unbewussten Urteil, und: Urteilen ist dergestelt einfach, solange es nur gläubig ist: Ich glaube nicht, dass du Recht hast... Dabei ist soweit ganz gleich, ob das Urteil richtig ist oder falsch.

 

Wie erwirbt man Wissen? Doch wohl nur über In-Kenntnis-Nahme, über das Erkennen, Kennenlernen, den Prozess der Erfahrung. Dementsprechend wissen wir ohne Raumkapsel nicht, dass die Erde fast rund ist, aber wir können es mit gutem Grund glauben, wenn wir der Vernunft folgen, die richtige Schlüsse zieht. Die Vernunft kann allerdings auch Schlüsse ziehen, denen zufolge die Erde eine Scheibe ist.

Wir können gute Gründe haben, die einsteinische Relativitätstheorie zu glauben oder auch nicht, aber zu wissen gibt es dabei gar nichts: ich glaube, das mir Herr Einstein hier folgen würde. Die ganzen modernen Naturwissenschaften beruhen nicht mehr auf: kennen, sondern auf: urteilen und immerhin: überprüfen.

 

Kennen muss dabei noch etwas erläutert werden. Ursprünglich meint es „bekannt machen“, noch ursprünglicher die Fähigkeit, etwas zur Kenntnis zu geben. In „bekennen“ schimmert das „zur Kenntnis geben“ noch durch. Später wird daraus das Kennen als Voraussetzung für die Bekanntmachung, bevor es dann in der Moderne zur Übernahme der Propaganda als "Information" wird.

 

Womit wir zum guten Schluss bei der Erkenntnis wären, der sich Kant mit akribischer Hingabe gewidmet hat, wiewohl er keine „Erkenntnistheorie“ schrieb, sondern eine Erkenntniskritik. Theorien sind nämlich nie kritisch, sie unterscheiden, also: kritisieren nicht so sehr, sondern konstruieren vor allem. 

 

Die aufkommende Moderne hat vielleicht nur zweimal den Versuch gemacht, den Glauben an einen Gott der Vernunft plausibel zu machen, beide Male im Bekenntnis zur existentiellen Unvernunft. Im 17. Jahrhundert erklärt der eine der beiden Großen, Blaise Pascal, ein von Augustinus beeinflußter Mathematiker und Naturwissenschaftler, seinen Glauben gemäß seiner logique du coeur als Wagnis einer Wette auf Gott. Sie ist notwendig, denn ohne ihn können wir seiner Ansicht nach nicht auf ein gutes Leben hoffen. Von demselben Mut zur Paradoxie des Glaubens ist der Miguel de Unamuno des zwanzigsten Jahrhunderts, der den Glauben an Gott als den todesverachtenden Sprung ins Ungewisse formuliert. Der Glaube nimmt jene Angst, die durch die Sterblichkeit für jeden konstitutiv ist. Es bleibt allerdings problematisch, das Argument der Vernunft für die Unvernunft einzusetzen. Aber jenseits des Textes geht es schließlich nur um die existentielle Fundierung des eigenen Lebens unter den Bedingungen zunächst fehlender Selbstverständlichkeit, die als persönliches Manko empfunden wird.

 

Nochmal schiebe ich ein wenig Wortgeschichte nach. Vor allem Glauben stand, seit es vordeutsche Texte gibt, die Liebe, die ein lieb machen und lieb werden war. Diese erzeugt das Loben, welches im Schwedischen als lova noch dem englischen love sehr nahe steht: Lieb machen und für lieb halten führt zum Loben. Das Glauben war im Althochdeutschen das gilouben. Darin lässt sich das Loben wahrnehmen. Im altenglischen geliefan, welches später zu believe wird, wird das Glauben als für-lieb-Halten noch sehr deutlich.

 

Ähnlich wie bei den alten Griechen und Römern drückt das Glauben bei den Germanen ein inniges Zutrauen zu den Göttern aus, denen man sich im Kultus freundschaftlich ergeben verbindet.

 

In der christlichen Religion wird dieses persönliche Verhältnis durch die Kirche mediatisiert, vermittelt. Glaube wird zur Akzeptanz einer Institution und ihrer Doktrin und Rituale. Damit wird die Grundlage dafür gelegt, dass Glaube etwas beliebiges, etwas propagiertes, etwas institutionalisiertes und etwas ist, was man zur Not auch wechseln kann. Am Ende des Mittelalters wird das durch die Bildung des Adjektivs „glaubwürdig“ dokumentiert. Der Glaube wird dabei sprachlich zur Gewissenssache, zur persönlichen Entscheidung, in die Willkür des Einzelnen gelegt. Bevor hundert Jahre später der Kredit aus dem Italienischen übernommen wird, die Glaubwürdigkeit dessen, der etwas leiht, bilden die Deutschen im 15. Jahrhundert zugleich den „Gläubiger“, den, der dem Glaubwürdigen glaubt. Wir sind im Zeitalter der Refomationen angekommen, der Suche nach dem glaubwürdigen Gott und dem Glauben an den Kredit (lateinisch: credo. Ich glaube)

 

Das Glauben erschließt sich (sprachlich) aus dem Lieben, nicht allerdings aus dem, was seit dem späteren Mittelalter darunter verstanden wird. Es ist eine Haltung, die aus jener Erfahrung hervorgeht, die Zutrauen hervorruft. Das Wissen geht unmittelbar aus Erfahrung hervor, der sinnlicher Wahrnehmung nämlich. Glauben beruht auf dem Geschenk der Liebe, welches Vertrauen erzeugt. Wissen beruht darauf, dass man erst sehen muss, um dann fühlen zu können.

 

Das altdeutsche wizzan entspricht dem lateinischen videre (sehen) und dem altgriechischen idein (sehen), aus dem eidenai gebildet wird: wissen. Wer also nichts gesehen hat, mag informiert sein, aber er weiß nichts. Als nach dem Mittelalter analog zur lateinischen scientia die deutsche „Wissenschaft“ gebildet wird, wird nicht mehr spekuliert, sondern im Sinne von Francis Bacon experimentiert und analysiert. Der schreibt im ‚Novum Organum’ in deutscher Übersetzung: Daher müssen wir die Natur erst einmal auflösen und zersplittern, nicht durch Kohlefeuer, sondern durch das göttliche Feuer des Geistes… Hundert Jahre später beginnt das Zeitalter vorurteilsfreien Experimentierens, zu dessen konsequentesten Protagonisten ein Arzt namens Mengele und seine heutigen Nachfolger gehören werden, ebenso wie Physiker, Chemiker und Biologen.

 

Übrigens: Nur wer nichts kennenlernt, muss sich laufend informieren. Anstatt etwas zu wissen, glaubt er (?) an die Information, besser gesagt, er meint etwas, was ihm „vorgemeint“ wurde. In der Sprache fehlender Nachdenklichkeit bzw. der der Gedankenlosigkeit wird aus dem (etwas) Glauben aufgrund von Urteilen ein an etwas Glauben aufgrund einer gewissen Wahrscheinlichkeit bzw. ein: Jemandem Glauben. Die Wahrscheinlichkeit gibt es im deutschen Sprachraum erst im Barock, als ein Bedarf entsteht, das lateinische verisimilis einzudeutschen. Verus meint wahr und similis ähnlich.

 

Was der Wahrheit ähnlich sieht, kann aber völlig falsch sein, so wie das, was bloß wahr zu sein scheint. Jemandem (etwas) glauben macht nur Sinn, wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass er oder sie und nur darum etwas des Glaubens würdig ist. Die Vorstellung, dass etwas oder jemand es wert sei, geglaubt zu werden, bildet sich erst am Ausgang des Mittelalters, als der Schwundprozess des sogenannten christlichen Glaubens einsetzt und zugleich mit der Buchdruckerkunst immer mehr Lügen schwarz auf weiß in Umlauf kommen („Er lügt wie gedruckt“.)

Für die meisten glaubwürdig ist aber vor allem der, der neben seine Verkündigungen jemanden bereitstellt, der die Waffe entweder in der Hand, oder noch besser in der Hinterhand hat. So jemand ist überzeugend, er zeugt nämlich besser als andere. Das deutsche Zeugen fand ursprünglich vor Gericht statt, wohin man den Zeugen zog. Das „über“ wiederum gehört der oben-unten-Bildersprache an: Oben ist der Stärkere, Mächtigere, der andere ist untergeben. Der Über-Zeuge schafft es, Recht zu bekommen, ob er nun recht hat oder nicht.

 

Wer nur eine Meinung „hat“, also dem Meinen verfällt, ist im Mittelalter jemand, der etwas glaubt im Sinne von Wähnen. Dieses bewegte sich zwischen Gespür und Verdacht. Vermeinen war: irrtümlich meinen. Wer das sehr obstinat tut, verfällt in der späteren Neuzeit dem Wahn. Das Problem mit dem Meinen wird im Englischen deutlicher. Dort heißt es (meanan, später mean) schon im früheren Mittelalter sowohl beabsichtigen, meinen (im Sinne von: sagen) und bedeuten. Das Meinen ist also subjektiv, intentional und interaktiv. Deshalb kann man in der deutschen Neuzeit etwas anderes meinen als sagen, und man kann die bloße Meinung als ein vorübergehendes Geschwätz hinstellen. In diesen Zusammenhang gehört die Kenntnislosigkeit des politischen Tagesjournalismus, der Meinung produziert, wo er Information liefert. Zur Meinung fühlt sich aber nur der nicht genötigt, der sich nicht über etwas äußert, wovon er möglichst keine Ahnung hat.

 

In diesen Zusammenhang gehört schließlich noch das Denken, welches sich erst in der Äußerung offenbart. Wer umgangssprachlich „etwas denkt“, meint etwas (in seinem Gehirn ist etwas vorgegangen), was nach Ausdruck verlangt. Dieses sogenannte Denken bringt immer einmal wieder grammatisch korrekte Sätze zustande, aber da es vorwiegend in der exkulpierenden Vergangenheitsform des „ich dachte doch nur, dass…“ oder so ähnlich vorkommt, ist es gewiss die verächtlichste Form der Textproduktion.

 

Kurioserweise wird mit Denken auch jene Betätigung vernunftgeleiteter Verständigkeit gemeint, die die Spontaneität einer Äußerung dem Nach-Denken unterzieht, bevor sie anderen zugänglich gemacht wird. Dann ist das Nachdenken eher ein Vordenken. Ohne gewaltiges Training ist das im Gespräch nicht möglich. Dann ist aber der Gedanke nicht bloß etwas, was jemand gerade „gedacht“ hat, sondern das Ergebnis jener lebenslangen Wahrnehmung, aus der (immer vorläufige) Kenntnis entsteht, die als Erfahrung einen auch einmal etwas halbwegs solide glauben lassen kann.

 

Das Nachdenken unterscheidet sich geringfügig von Nietzsches „es denkt“ (in einem), das heißt von der Passivität dessen, in dessen Kopf Gedanken sich breitmachen. Es versieht das Denken als die Flatterhaftigkeit von Gedanken einem mehr oder weniger genau definierten Vorsatz: Es soll mehr bringen als nur den Sprechwerkzeugen Aktivität ermöglichen. Dabei darf man nicht vergessen, dass Sprechen meist nur die Erweiterung außersprachlicher Kommunikation ist, also ihre Ziele verstärken soll und darüber hinaus wenig bedeutsame Inhalte zu vermitteln hat. Wir reden alle viel mehr, als wir zu sagen haben.

 

Das Glauben ist ein weites Feld, das Wissen immer eng beschränkt. Soweit ich sehen kann, brauchen wir für ein gutes Leben beides. Dabei kommt es aufs Unterscheiden an, die Kritik, die Analyse!

 

Etwas „nur glauben“ betont, es nicht zu wissen. Wenn das Glauben dann nicht mehr auf Urteilen beruht, und auch nicht auf Schlüssen, die auf Erfahrung mit den Quellen der Mitteilung beruhen, dann haben wir es mit jenem üblichen Meinen zu tun, welches bloßes Nachplappern ist. Die Freiheit, die ich meine, war ursprünglich die, die ich liebte. Wenn es später einmal die wurde, die ich bloß noch meine, dann hat meine Sprache ein Wort verloren, weil es bloß noch Chiffre für den Ersatz von Wahrnehmung durch diffuse Bedürfnisse nach Gefühlen ist.

 

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Eine besondere abendländische Unheilsgeschichte nimmt mit dem Wort Geist (spirit / esprit etc.) und seiner Nutzung ihren Lauf, jenem Wort, welches seine Vorläufer auch im griechischen pneuma und dem lateinischen spiritus hat. In diesen Fällen handelt es sich um etwas körperlich-materiell kaum fassbares, um den Lufthauch, den Atem, oder als psyche mit Lebensgeistern verbunden, anima im Lateinischen, also dann mit einem kaum fassbaren Innenleben. Vom germanischen Ursprung her hat das Wort zudem mit einer ominösen inneren Bewegung zu tun, die sich etwa als von außen affiziertes Erschauern oder Schaudern übersetzen lässt. Der Gegenstand, der schaudern lässt, ist eben dann ein Geist in dem Sinne, wie er später ein wenig als Gespenst weiterlebt.

 

Es wird dann ein zweifelhafter Verdienst der Philosophen, Geist ganz ernsthaft nicht mehr nur in Vorgängen des menschlichen Gehirns zu verorten, sondern auch außerhalb. Er schwebt dann frei in einer Welt von Vorstellungen, die es eigentlich nur im Kopf ihrer Erzeuger gibt, die aber losgelassen ein Eigenleben zu führen beginnen. In diesem Sinne kann ein paulinisches pneuma als Emanation des Christengottes zum hagion pneuma werden, dem spiritus sanctus (heiligen Geist) der lateinischen Kirche, als dessen Vorläufer schon der altjüdische Atem (ruach) Gottes auftauchte.

 

Ein menschlicher Vorstellung entsprungender Gott kann in der Folge diesen „Geist“ oder „Atem“ aus seinem schwer vorstellbaren Mund in den Auserwählter einhauchen, was lateinisch inspirare heißt und zur Inspiration führt. Solche Berufenen oder eher sich selbst Berufenden können daraus einen Text fabrizieren, der einen gewissen Vorzug der Heiligkeit erhält, also unhinterfragbarer Wahrheit. Leute mit solch erstaunlichen Talenten heißen gelegentlich Propheten, und sie produzieren auf diese Weise Offenbarungen. Dazu imstande sehen sich in zunehmendem Maße insbesondere stadtrömische Bischöfe. Ihr direkter Draht zum Christengott vermittelt sich dadurch, dass dessen angeblicher Sohn Jesus in seiner überschaubaren Anhängerschaft einen Simon hatte, dem eine spätere Einfügung ins Evangelium die besonders frohe Botschaft beigibt, er sei der Fels, auf den Gott seine Kirche bauen werde, und darum mit Beinamen Petrus (petros) heißen solle. Dieser Auftrag zur Kirchengründung, für den Gott entweder die aramäische oder die griechische Sprache verwandte, wurde dann nachträglich auch noch mit dem Phänomen einer Dauer-Inspiration durch diesen Gott ausgestattet, und dieser Vorzug ging dann nach und nach immer mehr auf diejenigen Bischöfe über, die an einem möglicherweise dort irgendwo vorhandenen Petrusgrab dauer-inspiriert werden – und das bis heute.

 

Derart entstandene heilige Wahrheiten, auf solch mysteriöse Weise in den Besitz der Kirche gelangt, werden seit dem vierten Jahrhundert mit blutiger Gewalt und brutalem Terrror den Menschen in Europa aufgezwungen: Mensch glaub oder stirb! heißt es nun. Die im Koran später aufgeschriebenen Wahrheiten wurden angeblich ähnlich vom Engel Gabriel einem Mohammed eingeflüstert, so leise und unbemerkt von allen anderen, dass man vielleicht auch hier von Einhauchen sprechen kann. Jedenfalls sind auch sie, wie zudem die Texte der jüdischen Thorarollen, so unglaublich wahr, dass sie nur aus nebulösen oder numinosen Sphären ins Menschengehirn und bis in dessen Sprachzentrum gelangt sein konnten.

 

Für die Entstehung des Kapitalismus wichtig wird, dass sie in einer solchen Welt unumstößlicher Wahrheiten stattfindet, diese dann für sich nutzt und verändert, um sie am Ende als einzige noch normative Kraft komplett wegzufegen. Dafür wichtig aber war, dass die Philosophen sich mit dieser wohlinspirierten Welt von Priestern aller Arten nicht zufrieden gaben, sondern sie durch Vorstellungen und Abstraktionen verfeinerten, die zwar nur ihren Köpfen entsprangen, aber sich gut in Schriften verbreiten ließen. In ihren Köpfen waltete Geist, nicht immer ganz heilig, aber produktiv. Der kleine Mann, mit seiner täglichen Mühe und Arbeit beschäftigt, ließ sie machen, besonders, da er von ihrem Wirken unmittelbar gar nichts merkte. Mit den radikalen Nominalisten, die Abstraktionen darauf zurückführen, dass sie den Köpfen geistig tätiger Menschen entspringen, beginnt die Bindekraft christlicher Wahrheiten und philosophischer Gedankenarbeit auf einem langen Weg sich aufzulösen. Nach und nach merkt man: Der sich in den Menschenköpfen entfaltende „Geist“, also seine vernunftgeleitete Gedankenarbeit, hatte ganze Gedankengebäude aus Wörtern erfunden, die außerhalb der Köpfe keinen Gegenstand haben, und behauptete indirekt, es gäbe sie schon alleine deshalb, weil ihre klugen Köpfe sie erfinden konnten. Solche Menschen werden dem Kapitalismus die Wege freimachen, die Religion und Gebräuche versperren wollten.

 

Mit dem Niedergang der Priestermacht und der geringen Zugänglichkeit der Philosophien brauchte es nun ein Neues, um einer Welt des schnöden Mammons und der nackten Gewalt ein hübsches Gewand zu weben. Zu diesem Zweck wurde eine neue Bedeutung für das Wort Kunst erfunden. Sie leitet sich nicht mehr von handwerklichem Können und auch nicht aus dem lateinischen artes-Begriff ab, sondern sie wird zu einem zusätzlichen Feld für sinnlich gestaltete Inspirationsergebnisse und schafft Kunstwerke aller Arten, die nun Offenbarungscharakter bekomen und von den Reichen und Mächtigen finanziert wurden. Max Weber nannte so etas ganz trefflich Rückverzauberung der Welt.

 

Woher diesen begnadeten Künstlern das geoffenbarte Kunstwerk eingehaucht wurde, bleibt in der angenommenen Sphäre von irgendetwas Geistigem oder gar unbestimmt Göttlichem. Hauptsache es propagiert die immer weniger gottgewollten und immer mehr „natürlichen“ Machtstrukturen der Geldgeber. Dazu holte man sich aus dem Römerreich den genius und verpflanzte ihn in begnadete menschliche Innenräume. Wenn einige Dichter um 1800 so auftreten, als haben sie die Nachfolge der Priester angetreten, dann kann das noch mehr als zuvor das Heim der neuartigen Bürger-Schicht zwischen Industrieproletariat und Großkapital schmücken.

 

Ganz geisterhaft werden seit dem 18. Jahrhundert jene Texte, die man Verfassungen nennt, welche die jeweiligen Machtverhältnisse politisierend zur Gänze in Rechtsverhältnisse umdeuten. Sie werden von keinem Gott und keinem Engel mehr eingehaucht oder eingeflüstert, weswegen man längst propagandistisch erprobte Wahrheiten hernimmt und sie zu ewigen umstilisiert: Das Zeitalter des Glaubens ist zu Ende und das der mindestens genauso großen Selbstverständlichkeiten angebrochen: Die Wahrheiten seien aus sich selbst heraus verständlich, heißt es nun, niemand muss sich mehr die Mühe machen, sie zu verstehen: es lohnt sich nicht und führte auch ohnehin nur zu offensiven Lügengebilden wie dem, die Menschen eines Staates hätten sich in der Verfassung zusammengeschlossen, um so ihre Freiheit zu genießen. In den letzten Jahrtausenden hatten die meisten ihre Bibel nicht gelesen und auch nicht die Texte der Philosophen – man konnte sicher sein, dass sie die Verfassungen ebenfalls nicht lesen würden, wozu auch, sie würden ihnen weiterhin vorgesetzt werden wie vorher die religiösen Glaubenssätze, um einfach nur hingenommen zu werden.

 

Der Geist bedarf am Ende nur noch der Inspiration durch die Macht des Tatsächlichen als der tatsächlichen Macht, die der jeweiligen Machthaber eben, inzwischen die Herren und zugleich Untergebenen der Finanzströme. Er verlässt sein Gehäuse, wird zu Text und verfasst Wahrheiten, die auf Texten beruhen. Sobald er sich dabei mit der Macht verbindet, werden diese ewig, selbst wenn sie manchmal nur kurze Zeiten überdauern. Und wer sich lauthals dagegen wendet, weil sein Geist andere Vorstellungen produziert, verliert leicht schon mal seinen Lebensunterhalt, manchmal seine Freiheit und gelegentlich auch sein Leben.

 

Bevor es später zur Entstehung und Frühphase einer christlich gefärbten Intellektualität gehen wird, die auffällig parallel zur Entstehung von Kapitalismus agiert, sollen einige Wörter und (Schein)Begriffe ihrer gern gesehenen Selbstverständlichkeit benommen werden. Ein Jahrhundert vor der Einführung des Intellektes in die deutsche Sprache wurde im 18. Jahrhundert, dem der sogenannten Aufklärung, die Intelligenz entdeckt, jenes vernunftgemäße Erkenntnisvermögen von Dingen, die über schiere Sinneswahrnehmung hinausgehen. Damit wurde der Geist re-latinisiert und stärker wieder in das Verstandesvermögen des menschlichen Gehirns hineingenommen, welches auf der Ebene reiner, sprachlich gefasster Vorstellungen, welches man auch als Abstraktionsvermögen bezeichnen kann, dann zum Intellekt wurde.

 

Wenn nun hier von Intellektualität die Rede sein soll, so ist damit keine Schickeria vom passenderweise linken Seineufer anfangs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint, sondern das Erwachen eines Bewusstsein davon, dass sich Gedanken als Sprache reflektieren lassen und so einer kritischen Untersuchung zugänglich werden.

 

Worte und aus ihnen gebildete Aussagen kann man so, anstatt sie bloß als von einem heiligen Geist gesandt hinzunehmen, zu verstehen versuchen. Der Geist beginnt dahin zurückzukehren, wovon er einmal ausging: vom menschlichen Verstand. Dieser aber ist die Instanz, die einmal sinnliche Wahrnehmung versprachlicht und zum anderen die Lücken des nicht Wahrnehmbaren zu schließen versucht. Er kommt also zunächst dem menschlichen Bedürfnis nach Vergewisserung im Text nach, und zum anderen der Selbst-Beruhigung über das, was Menschen nicht wissen können. Das Nicht-Aushalten-Können von Nichtwissen aber ist wesentlich ein Phänomen von Zivilisationen, in denen mit der Macht auch die Macht des Wissens und über das Wissen verbunden ist.

 

Verstehen ist so primär ein psychisches Phänomen, bevor es zu Text gerinnt. Im Verstehen wird „Welt“ menschengemäß anverwandelt und nach menschlichem Maß gerechtfertigt. Sie wird zu etwas gemacht, was sie auch für Menschen aushaltbar macht, deren Verstand zwar primär immer noch dem Überleben und Fortpflanzen dienstbar ist, dabei aber Strukturen entwickelt hat, die zu den Gedanken, die ihn überfallen, noch das Nachdenken ermöglicht. Dieses kritische Vermögen, also jenes Talent zu unterscheiden, welches das griechische Wort einmal meinte, wird gerne der Vernunft unterschoben, aber im Deutschen entwickeln sich beide Wörter – Verstand und Vernunft - als Angabe einer Instanz im Menschen erst in der Neuzeit mit ihrem sich erweiternden Institutionen-Wesen auseinander.

 

Das Stehen des Verstehens hieß wohl zunächst, dass etwas fest-gestellt wurde, es wurde zur „Wahrheit“, und das Nehmen der Vernunft, des Vernehmens also, war wohl zuerst dem schieren Erkenntnisvorgang geschuldet. Erst in der Identifizierung der Vernunft mit der lateinischen ratio und deren Verortung im Gehirn bekommt sie nach und nach jede Bedeutung, die sie zum Ausführungsorgan für das macht, was man nach dem Griechischen Logik nennt, also einer schlüssigen Verbindung von Gedanken, die Wörter sind oder ganze Sätze.

 

Kritik als Unterscheidung (kritein) und Logik als Schlüssigkeit sind zunächst einmal als Vermögen mehr oder weniger dem voll ausgebildeten Menschen naturgegeben, aber sie können auch bewusst eingesetzt werden. Dann tut sich allerdings für aufmerksame Beobachter ein Zwiespalt zum Glauben auf, und das ist in Zivilisationen jener, den institutionalisierte Macht propagiert. Damit wird nach dem Jahr 1000 nicht nur der ein zu verfolgender Ketzer, der am offiziellen Glauben vorbeiglaubt, sondern auch schon derjenige, der ihm kritisch und logisch und zunehmend ergebnisoffen zu Leibe rückt, auch wenn er noch an solche Absurditäten wie die Dreifaltigkeit des Christengottes, an Jungfrauengeburten und die magische Verwandlung von Wasser in Wein oder von Wein in Blut glaubt. Das betrifft heute diejenigen zum Beispiel, die öffentlich nicht an eine Realität von Verfassungen jenseits ihres schönen jeweiligen Textes oder an die heilsamen Absichten regierender Politiker glauben, hinter denen sich die Macht globaler Finanzströme verbirgt.

 

Die Ergebnisoffenheit eines Selbstdenkens ohne Glaubensfundament wird erst mit Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud ansatzweise erreicht werden, und sie führt bei beiden in die Aporie, die Ausweglosigkeit eines befreiten Denkens, dem der Trostcharakter abhanden kommt, und zudem in psychisch verursachte Ausflüchte, beim ersten ins späte Phantasieren bis zum Zusammenbruch, beim letzteren in eine erst spät wohl aufgegebene Wissenschaftsgläubigkeit. Es ist schwer, sich ohne die Tröstungen der Ausflüchte aus gelungener Selbsterkenntnis heraus selbst auszuhalten

 

Das lateinische Mittelalter war da noch anders. Die Welt war noch nicht generell out of joint, vielmehr gab es solide Angelpunkte, sei es Gott oder das noch nebelhaftere Göttliche, sei es eine Natur, in die Göttliches einfloss, sei es eine wie auch immer geartete Eigentlichkeit, zum Beispiel das ideale Humane (die moderne "Menschlichkeit"), sei es der Fortschritt zu immer Besserem im Sinne von Vervollkommung. Aber in exakter zeitlicher und räumlicher Parallelität zum Aufstieg des Kapitalismus wird die Entschleierung der Welt des christlichen Glaubens und die Verschleierung der Welt der Kapitalverwertung betrieben, an deren Ende Karl Marx in parareligiösem Engagement sie als notwendigen Weg in irdische Paradiese hochlobt.