Anhang 6: VERWANDLUNGEN

 

 

Gemeinden und Kirche 

Die antike Herausforderung

Keuschheit

Die Legende von Thekla und Paulus

Perpetua

Tertullian und die Spektakel

Konstantin und Christentum

Heiligungen des Geistes (Eigentlichkeit / Askese / Antonius / Mönchtum / Reinheit)

Priscillian

Spanisches Gemeindeleben um 300

Der Martin des Sulpicius Severus (Das andere Extrem: Synesios von Kyrene)

 

Die Entstehungsgeschichte des Judentums und des Christentums liegt weitgehend im historischen Dunkel. Die dafür wirklich verlässlichen archäologischen Zeugnisse sind spärlich und die Texte allesamt problematisch. Aber für unsere Zwecke ist vor allem wichtig, was davon rezipiert, also geschichtsmächtig wird, - und das ist der Mythos, der für bare Münze genommen wird, das ist die sich verengende Glaubenslehre und die entstehende Institution mit ihren Machtmitteln.

 

Gemeinden und Kirche

 

Über das später so genannte 'Alte Testament' wird der jüdische Mythos zur Vorgeschichte für den christlichen. Andererseits kommt es aber schon im ersten Jahrhundert (n.d.Zt.) zur förmlichen Loslösung vom Judentum. Zudem schwindet das Judenchristentum in zwei Vorgängen vor allem: Die Jerusalemer Gemeinde nimmt nicht am jüdischen Aufstand teil, der mit der Zerstörung des Tempels endet, sondern verlässt ihren heiligen Ort und verliert dann ihren Einfluss. Zum anderen setzen sich immer mehr Heidenchristen im hellenistischen Raum durch: der jüdische Einfluss unterliegt dem griechischen. Zwischen Juden und Christen kommt es punktuell zu immer stärkeren Aversionen, wobei sich das entstehende Christentum zum einzigen wahren Erben des Judentums erklärt.

 

Die judenchristliche Gemeinde von Rom wird in der neronischen Verfolgung 64 vernichtet und später durch eine heidenchristliche ersetzt. Christliche Gemeinden florieren vor allem in Kleinasien und im syrischen Raum, breiten sich aber über die Küsten des gesamten Mittelmeeres aus, besonders in den nordafrikanischen Raum.

 

Gemeinden in unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen kulturellen Traditionen (und Volkssprachen) entwickeln dabei voneinander durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Christentum. Neben den Paulusbriefen und den Evangelien und der „Johannes“- Apokalypse kursiert eine Vielzahl von „christlichen“ Texten, von denen heute viele verloren sind, manche auch deshalb, weil sie die entstehende Großkirche zu vernichten suchte. Andere wurden nach und nach als „apokryph“ ausgeschieden, bleiben aber bis ins hohe Mittelalter volkstümlich.

 

Das Wachstum der Christenheit geht dabei scheinbar paradoxerweise einher mit dem Ausscheiden immer neuer Häresien, also mit einer Verengung der Glaubenslehre hin zu einheitlichen Definitionen. Die sporadisch auftretenden lokalen und regionalen Verfolgungen helfen bei der Verfestigung eines Gemeinschaftsgefühls, welches auch darauf beruht, dass zunächst die gemeinsame Glaubenslehre den Vorrang vor allem Kultisch-Rituellen hat. Der Eingottglaube (samt dem einen Gottessohn) mit seinem spezifischen Wahrheitsanspruch fördert ebenfalls diesen Drang zur Vereinheitlichung.

 

Der „Geist“ als heiliger Geist der Inspiration und Offenbarung bleibt zwar, aber er wird im zweiten Jahrhundert unter dem Einfluss hellenistischer Bildung zum Werkzeug von Gelehrten, die ihn zunehmend mit Aspekten griechischer Philosophie zu verbinden suchen, um Intellektualität und Offenbarung miteinander zu verbinden. Auf die zu glaubende wundersame Offenbarung wird damit eine etwas vernunftgemäßere Lehre mit nicht kritisch reflektierter philosophischer Begrifflichkeit gesetzt, aus der dann die einzigartige katholische Theologie entsteht.

 

Die Herausbildung einer einheitlichen Glaubenslehre als Verengung der Definitionen wird umso dringlicher, als die Wiederkunft des Herrn, die Parusie, ausbleibt. Der Glaube daran wird zwar nicht aufgegeben, aber die Vorstellung davon verschiebt das Ereignis in immer weitere Ferne. Man muss sich also zunehmend im Erdendasein einrichten.

 

Die herumziehenden Missionare werden in den Gemeinden immer stärker durch feste Amtsträger ersetzt. Es entsteht so der „Aufseher“ (episcopos/Bischof) und daneben der Presbyter (Ältester), deutsch am Ende „Priester“, wobei sich im Laufe des zweiten Jahrhunderts eine Hierarchie durchsetzt: Der Bischof wird zum Aufseher über die Priester, die er durch Handauflegen weiht. Die Zusammenkünfte der Gemeinde im „Gottesdienst“ werden langsam stärker ritualisiert. Das Liebesmahl (agape), welches zunächst auch der Armenspeisung diente, wandelt sich zur Eucharistie, die des geweihten Priesters bedarf, ebenso wie die Taufe und die Beerdigung.

 

Die Gläubigen werden dabei in zunehmende Passivität gedrängt, sie "empfangen" etwas, der Priester aber vollzieht alle entscheidenden Handlungen alleine. Daneben hören sie der Lesung und der Predigt zu, rituelle Vorgänge werden von ihnen nur noch in kurzen Floskeln bestätigt. Das magische Element mit seinen Amtswaltern wird gewichtiger, dafür müssen sich die Gläubigen allerdings "rein" halten, die Verdauungsorgane sollen vor dem Kommunizieren leer sein, denn mit dem Einnehmen von Nahrung könnten böse Dämonen in den Körper gelangen, und sie sollten zuvor auch sexuell enthaltsam sein, "unbefleckt".

 

Schon jüdische Propheten hatten die Schlachtopfer im Tempel kritisiert. Mit dem paulinischen Glauben und dem evangelischen Jesus wurden sie vollends entbehrlich, denn die Gnade der Auserwähltheit durch Gott wird nicht mehr durch die Leistung für ihn, sondern vor allem durch die ihr unterliegende Gesinnung unterstützt. Der frühe Christ opfert nicht etwas, sondern sich selbst seinem Gott, wie Paulus im Römerbrief schreibt (12,1: ...euch leibhaftig darzubringen als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer...).

 

Dieser Intentionalismus schwindet aber mit der Verwandlung des „Liebesmahles“ in eine symbolische Handlung, die durch Sakramentalisierung gesteigert wird, um am Ende ihren symbolischen Charakter zugunsten der magischen Verwandlung (Transsubstantiation) zu verlieren. Damit ist das Opfer zurückgekehrt, und es ist auf magische Weise nun nicht mehr unblutig. Wieder ganz in der Hand geweihter Priester, tritt die Gemeinde ihm gegenüber. Die Selbstopferung wird dabei zudem immer mehr durch Opfergaben und Opferleistungen der Gläubigen ersetzt, die die Kirche an Bedürftige verteilt.

 Für viele Gläubige wird also die „Vergeistigung“ des Religiösen wieder zurückgenommen zugunsten einer Verdinglichung und eines Leistungsdenkens, welches außer bei allen davon sich absetzenden Seitenbewegungen bis zu Luther immer weiter zunehmen wird.

 

Schließlich wird bei entsprechender Größe der Gemeinde ein hauptamtlicher Klerus finanziert, wodurch eine Finanzverwaltung der zunächst noch freiwilligen Spenden der Gemeindemitglieder nötig wird, die zudem dem Unterhalt von Bedürftigen dienen. Das macht das ebenfalls bezahlte Amt des Diakons nötig. Die verbeamtete Kirche gewinnt ein zunehmendes Eigeninteresse.

 

Der Weg in die Einheitlichkeit der Lehre wird nun begleitet durch den der Debatte über die Einheitlichkeit der professionalisierten Institutionen. Die Wahrheit verlangt nach Autorität, und die nach Unterordnung. Zudem brechen in den Gemeinden immer wieder Streitereien aus, in denen sich Machtfragen mit solchen der Glaubenslehre und der Rolle von Institutionen treffen.

 

Das erste überlieferte Dokument dazu ist der Brief eines römischen Presbyters Clemens an die Gemeinde von Korinth um 100. So wie die ganze Welt einer naturhaften Ordnung gehorcht, soll es auch eine solche aus der apostolischen Autorität abgeleitete Ordnung in den Gemeinden geben:

Männer, Brüder! Leisten wir also unseren Kriegsdienst mit aller Beharrlichkeit unter seinen (des Gemeindeoberen) Anordnungen! Betrachten wir die Soldaten im Dienst unserer Obrigkeit, wie geordnet, wie willig, wie sie die Anordnungen ausführen. Nicht alle sind Befehlshaber, Anführer von Tausendschaften, Hundertschaften, Fünfzigschaften und so weiter, sondern jeder führt auf seinem Posten die Anordnungen des Königs und der Obrigkeit aus... (in Jacobs, S. 20)

Und wie die Soldaten ihre Offiziere nicht abwählen dürfen, so darf auch die Gemeinde ihre Oberen nicht absetzen: Sie sind damit auf Lebenszeit gewählt bzw. eingesetzt.

 

Solche Vorstellungen werden zunächst brieflich ausgetauscht, dann aber zunehmend auf regionalen Zusammenkünften des Klerus (Synoden) beschlossen. Etwa in dieser Zeit prägt der Bischof Ignatius von Antiochia den Begriff catholicos für die entstehende Kirche: Sie ist „allgemein“, allen gemeinsam, und damit auch einheitlich.

Ein anderes erhaltenes Beispiel ist die auch etwa um 100 verfasste syrische 'Didache' (Lehre), die zum Beispiel einen zu sprechenden Text für den Taufvorgang (möglichst in fließendem Wasser) enthält, der eine Art Glaubenskenntnis darstellt.

 

Für Tacitus wie viele andere im Imperium Romanum ist das Christentum der verderbliche Aberglaube..., nicht nur in Judäa, von wo das Unheil ausgegangen ist, sondern auch in Rom, wo sich nun einmal die Greuel und Gemeinheiten aus aller Welt zusammenfinden und begeisterten Anklang finden. (Annales 15, 44).

Dennoch leben Christen und „Heiden“ die meiste Zeit wohl mehr oder weniger gedeihlich zusammen, auch wenn darüber wenig überliefert ist. Gegen die Anfeindungen entwickeln sie Verteidigungslinien, Apologien, die auf „heidnische" Argumentationslinien eingehen und in der Antwort darauf diese christlich partiell integrieren.

 

Der Integration des sich entwickelnden Christentums ins römische Reich dient derart zunehmend die Integration von Aspekten der hellenistischen Philosophie, die es Gebildeten ermöglicht, sich dem Glauben anzunähern, so wie dann auch philosophisch Geschulte sich bekehren und ihren Horizont in die Lehre einbringen.

Justin betont um 150 in seiner Apologie die Überlegenheit einer "aufgeklärten" christlichen Lehre über den heidnischen Aberglauben:

(Der Sohn) Gottes ist Mensch geworden, nach dem Willen Gottes des Vaters zur Welt gekommen für die gläubigen Menschen und zum Sturz der Dämonen... Gaben doch viele von den Unsrigen, nämlich von den Christen, eine ganze Menge von Besessenen in der ganzen Welt und auch in eurer Hauptstadt, die von allen anderen Beschwörern, Zauberern und Kräutermischern nicht geheilt worden waren, durch Beschwörung im Namen Christi, des unter Pontius Pilatus Gekreuzigten, geheilt und heilen sie noch, indem sie die Dämonen, welche die Menschen festhalten, außer Kraft setzen und vertreiben. (II,5, in: Jacobs, S.53)

 

In den Metropolen des römischen Reiches wie Antiochia, Alexandria und später auch Rom entwickeln sich schließlich Gemeinden, die zehntausende von Menschen umfassen. Zwischen den theologisch Gebildeten und der Masse der „Gläubigen“ tut sich dabei ein immer größerer Graben auf, wobei die schlichter gestrickten Neuzugänge immer wieder heidnische Elemente mitbringen.

 

Die Großorganisation Kirche macht sich nun daran, fließende Übergänge zwischen Christentum und Heidentum in seiner ganzen Vielfalt durch Abgrenzung zu verhindern. Indem das nicht unerhebliche magische Moment bei den Christen vom Klerus monopolisiert wird, werden Wunderglauben, Zauberei und Wahrsagerei (Prophetie, Astrologie, Beschwörungen etc.) immer mehr kanalisiert.

 

Dokumente einer synkretistischen Volksfrömmigkeit sind einige der später als apokryph ausgeschiedenen Evangelien und Offenbarungen, die zum Beispiel eigenartigste Geschichten vom Jesuskind erzählen oder das Marienleben, von dem die Evangelien noch nichts wussten, immer ausführlicher ausschmücken (Thomas – und Jakobus-Evangelium). Ende des zweiten Jahrhunderts entstehen sogenannte 'Petrusakten', die mit einem sagenhaften Martyrium des Apostels Petrus in Rom enden, womit dann auch bald die Sonderrolle Roms für die Christenheit begründet werden wird.

 

Ein bezeichnender Klassiker dieser Volksfrömmigkeit wird die Paulus-Apokalypse des 2. Jahrhunderts, die dem sehr unevangelischen Bedürfnis entgegenkommt, sich das „Jenseits“ handfest und noch etwas jüdisch verwurzelt vorzustellen. Angenendt fasst den relevanten Teil so zusammen:

„Die guten Seelen werden von den Engeln jubelnd empfangen, dabei gegen alle Anwürfe und Angriffe der bösen Engel verteidigt und in den Paradiesgarten geleitet, wobei der Erzengel Michael die Führung übernimmt. Ganz bösartig werden dagegen die Schlechten von ihren dämonischen Verführern und Gesinnungsgenossen in Empfang genommen. Während das Paradies sich als ein überaus köstlicher Garten mit vier Strömen darbietet, fallen die mit Sünden Behafteten in einen siedendheißen Strom, in den sie je nach Sündenschwere unterschiedlich tief einsinken. Sonntags allerdings wird die Peinigung ausgesetzt. Am Ende steht der Ort der ewigen Qual, ein unendlich tiefer Brunnen, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.“ (S.695)

 

Schon vor einer ausgefeilten Theologie entsteht also eine phantastische Literatur aus Geschichten, Geschichtchen und Visionen, die aus dem zunächst und dann auch theologisch unanschaulichen Christentum eines schaffen, welches dem Vorstellungsvermögen „ungebildeterer“ Massen eher entgegenkommt. Ähnlich phantasievoll und wirkungsvoll wie die 'Visio Pauli' ist die derselben Zeit angehörende Petrus-Apokalypse, in der die Hölle eindrucksvoll nach dem Talionsprinzip in der Vergeltung der Sünden geschildert wird:

Die Bösewichter, Sünder und Heuchler aber werden in den Tiefen nicht, verschwindender Finsternis stehen, und ihre Strafe ist das Feuer, und Engel bringen ihre Sünden herbei … An ihrer Zunge, mit der sie den Weg der Gerechtigkeit gelästert haben, wird man sie aufhängen. Man bereitet ihnen ein nie verlöschendes Feuer … Und wiederum zwei Weiber: Man hängt sie an ihren Nacken und Haaren auf, in die Grube wirft man sie. Das sind die, welche sich Haarflechten gemacht haben, nicht zur Schaffung des Schönen, sondern um sich zur Hurerei zu wenden, damit sie fingen Männerseelen zum Verderben. Und die Männer, die sich mit ihnen in Hurerei niedergelegt haben, hängt man an ihren Schenkeln in diesen brennenden Ort … Hölle der Männer: … und nimmer schlafendes Gewürm frisst ihre Eingeweide. Das sind die Verfolger und Verräter meiner Gerechten … und die Säule ist spitzer als ein Schwert – Männer und Weiber, die man kleidet in Plunder und schmutzige Lumpen darauf wirft, damit sie das Gericht unvergänglicher Qual erleiden. Das sind die, welche vertrauen auf ihren Reichtum und Witwen und Weib (mit) Waisen … verachtet haben, Gott ins Angesicht. Und an einem andern Ort wirft man mit Ausscheidungen Gesättigte, Männer und Weiber, hinein bis an die Knie. Das sind die, welche leihen und Zins nehmen. (Angenendt, S. 737)

 

Das Christentum verlangt eine Zurücknahme der Aggressionen, ja, der Emotionen, jeder Impulsivität. Die unterdrückten Aggressionen bahnen sich hier nun ihren Weg zurück in religiös gerechtfertigte sadistische Phantasien. Die massive Selbst-Disziplinierung, hinter der die Buße sich bald als Strafe darstellt, macht aus Auserwählten Gottes hochmütige Bessergestellte, die ihr irdisches Disziplinierungsleiden denen zurückgeben, die auf Erden in ihren Augen weniger leiden.

 

Die Apologeten des 2./3. Jhs. begründen das Christentum einmal gedanklich in der Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und bieten es andererseits als staatstragend an. Die geforderte christliche Sittlichkeit wird dabei als hervorragender Ordnungsfaktor für das Reich beschrieben:

Ihr habt aber in der ganzen Welt keine besseren Helfer und Verbündeten zur Aufrechterhaltung der Ordnung als uns, die wir solches lehren, wie dass ein Betrüger, Wucherer und Meuchelmörder so wenig wie ein Tugendhafter Gott verborgen bleiben könne, und dass jeder ewiger Strafe oder ewigem Heil nach Verdienst seiner Taten entgegengehe. … Denn diejenigen, welche jetzt wegen der von euch aufgestellten Gesetze und Strafen einerseits bei ihren Vergehen unentdeckt zu bleiben suchen, andererseits aber doch Verbrechen begehen, weil sie sich der Möglichkeit bewusst sind, dass sie vor euch, die ihr Menschen seid, unentdeckt bleiben können, die würden, wenn sie unterrichtet und überzeugt wären, dass vor Gott weder eine Handlung noch auch ein Gedanke verborgen bleiben kann, schon um dessentwillen, was ihnen bevorsteht, auf alle Weise in Schranken bleiben, wie ihr auch zugestehen werdet. (Justin, Apologie I, 12 in: Jacobs, S.74) Abgaben und Steuern suchen wir überall vor allen anderen euren Beamten zu entrichten … (s.o. Apologie I,17)

 

Gott wird also im Gewissen etabliert als Instanz, die zwingender wirkt als die Unterwerfung unter weltliche Gesetze, und zugleich wird die Sünde mit dem crimen gleichgesetzt. Das gelingt deswegen, weil die christlichen ethischen Normen eher strenger, aber grundsätzlich denen der heidnischen Römer ähnlich sind.

 

Justin verwendet häufig Vorstellungen, die der griechischen Philosophie entlehnt sind, und verbindet sie auf eigenartige Weise mit der Offenbarungsreligion :

Gottes Logos aber ist sein Sohn, wie wir früher gesagt haben. Auch Engel und Gesandter wird er genannt; denn er verkündet, was zu wissen nottut, und wird gesandt, um alles zu melden, was von Gott geoffenbart wird... dass Jesus Christus Gottes Sohn und Gesandter ist, der zuerst Logos war... (Apologie an Tryphon, I, 63, in: Jacobs, S.72)

Wie schon bei Johannes verschwindet dabei der Mensch Jesus (jener der Evangelien) zugunsten seiner göttlichen Person. Als Logos ist er die Verkörperung der Weltvernunft, Offenbarung und vernünftige Welterklärung werden so zusammengebracht.

 

Neben die schwächer werdende Parusie-Vorstellung tritt die von der unsterblichen Seele, die nach dem Tod auf das Gericht wartet. Die Christen richten sich zunehmend in der Welt ein und begreifen das Imperium Romanum als ihren noch auf längere Zeit hin angelegten Staat.

 

Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts werden einheitlich gesehene Tradition (der Wahrheitsanspruch lässt die Unterschiede verschwinden), einheitliche Glaubenslehre und eine einheitliche Kirche unter dem Begriff „katholisch“ eingeordnet. Das Christentum wird immer mehr zur geschlossenen Gesellschaft, die „Kirche“ ist nun im Alleinbesitz der Wahrheit (Bischof Irenäus von Lyon), alles Wichtige ist bereits entschieden, Unwichtiges kann man den Autoritäten zur Entscheidung überlassen. (Jacobs, S. 81)

 

So werden im dritten Jahrhundert nun, insbesondere im Zusammenhang mit dem Taufritual, Glaubensbekenntnisse entwickelt, denen allen die Trias Gott, Sohn, (heiliger) Geist zugrunde liegt. Dabei verändert sich zugleich der Charakter der Taufe. „Der Täufling bekennt nicht seine persönliche Ansicht, sondern nimmt die Überlieferung der Kirche an und wird so auch selbst der Erkenntnis Gottes teilhaftig.“ (Jacobs, S.87)

 

Die geschlossene Gesellschaft der Kirche vertritt eine immer geschlossenere Lehre, und dies zunehmend über die Autorität ihrer Institutionen. Dies ist ihr Angebot an einen Staat immer mehr orientalischen Despoten ähnelnder Kaiser, deren Macht im wesentlichen auf dem Militär beruht.

 

Die Vereinheitlichung der Glaubenslehre als ihre Verengung führt zur Einengung des Kanons der heiligen Schriften auf diejenigen, die am ehesten zu dieser entstehenden Glaubenslehre passen. Die höchste Autorität gewinnen dabei die Bischöfe, die von Städten aus die Aufsicht über ganze Regionen mit ihrer Priesterschaft gewinnen. Im 3./4. Jahrhundert schließt sich der Kanon des „Neuen Testamentes“ ab: Die wenig intellektuellen Texte der Volksfrömmigkeit sind nun davon ausgeschlossen.

 

Bischöfe werden von Bischöfen geweiht und weihen selbst wieder die Priester. Ursprünglich im Kern die Verwalter der Lehre, herrschen sie nun auch zunehmend monarchisch in ihrem Bistum als Verwalter von Machtbefugnissen. Anfang des dritten Jahrhunderts erweist sich im Konflikt des bedeutendsten christlichen Gelehrten seiner Zeit mit seinem Bischof, wie weit die bischöfliche Macht gediehen ist. Origenes von Alexandria wird von seinem Bischof Demetrius die Kompetenz abgesprochen, ohne bischöfliche Erlaubnis „zum Volk zu sprechen“, wenn wir der späteren Kirchengeschichte des Eusebius glauben können (VI,19).

 

War in den synoptischen Evangelien Jesus der einzige „Lehrer“, so wird nun, freilich unter Bezug auf ihn, immer deutlicher die kirchliche Lehrmeinung zur einzig wahren.

Macht und Einfluss der Bischöfe steigen nicht nur mit ihrer immer exklusiveren Lehrautorität und Aufsicht über ihr Personal, sondern auch mit der Anzahl der Gläubigen in ihrem Bistum. Dort, wo die disziplinierende Macht des Klerus dann nicht hinreicht, verfallen Christen jedoch nicht selten in „Laxheit“, so beteiligen sie sich zum Beispiel auch am römischen Amüsierbetrieb, der subventionierten Massenunterhaltung. Frauen schmücken sich so, dass sie mehr als nur ihren Ehemännern gefallen. Eigentum gewinnt auch für Christen immer mehr an Bedeutung. Es beginnt ein Gewöhnungsprozess daran, dass die Kirche, ursprünglich Gemeinschaft von Heiligen, zu einer von kleinen und größeren Sündern wird.

 

Ein klassisches Beispiel aus Tertullian 'De virginibus velandis':

Einige nämlich bedienen sich der Baschlicks und wollener Binden und verschleiern nicht sowohl ihr Haupt, als dass sie es umwickeln, ihre Stirn ist dann wohl bedeckt, aber das eigentliche Haupt nicht. Andere, vermutlich um den Kopf nicht zu drücken, bedecken sich mit kleinen Leintüchern, die nicht einmal bis zu den Ohren reichen, den Oberkopf. Es thut mir leid, wenn ihr Gehör so schwach ist, dass sie durch eine Umhüllung hindurch nicht hören können. Sie sollten wissen, dass ihr ganzer Kopf ein Weiberkopf ist, seine Grenzen und Enden erstrecken sich bis dahin, wo das Kleid anfängt. So weit als sich das aufgelöste Haar erstreckt, so weit geht das Gebiet des Schleiers, so dass auch der Nacken umhüllt wird. Denn dieser ist es, der unterwürfig sein soll, um dessentwillen das Weib auch eine Gewalt über seinem Haupte haben muss. Der Schleier ist also das Joch für ihn. Es werden Euch die heidnischen Frauen Arabiens beschämen, welche nicht bloss ihr Haupt, sondern auch das ganze Gesicht derart verhüllen, dass es ihnen genügt, wenn sie ein einziges Auge frei haben und die lieber das Licht nur halb geniessen, als ihr ganzes Antlitz prostituieren. Die Frau will lieber sehen, als gesehen werden. Eine römische Königin nennt sie darum höchst unglückliche Wesen, weil sie Liebe zu empfinden, aber nicht Liebe einzuflössen imstande seien, obwohl sie gerade glücklich sind wegen ihrer Freiheit von dem andern und zwar häufigeren Übel, da Frauen eher geliebt werden als lieben können. Die Sittsamkeit, welche die heidnische Sittenzucht verlangt, ist unverfälschter und sozusagen naturwüchsiger. (Aus: http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/extra_02_de_virginibus_velandis.htm)

 

Hippolyt über die römische Gemeinde unter Bischof Callixt:

Und so begannen sogenannte Christinnen, empfängnisverhütende Mittel zu gebrauchen und sich zu schnüren, um die Leibesfrucht abzutreiben, weil sie wegen ihrer hohen Geburt und ihres Riesenvermögens kein Kind von einem Sklaven oder einem gewöhnlichen Mann haben wollten.... Um diese Zeit wagten sie zuerst, eine zweite Taufe zu spenden. (in Jacobs S.97)

Es handelt sich um eine frühe Form des Bußsakramentes zur Sündenvergebung durch den Bischof. Die stadtrömische Gemeinde umfasst inzwischen Zehntausende bei einer Einwohnerschaft von vielleicht 700 000. Dieser Menge sind die früheren Anforderungen an die Christen nicht mehr aufzuerlegen. Mit dem Streit zwischen Hippolyt und Callixt wird eine Entwicklung deutlich, in der zunehmend ein Konflikt zwischen einem rigorosen und einem volkskirchlichen Christentum auftaucht, zwischen Heiligen und Sündern. Aus der zweiten Taufe nach Ausschluss aus der Gemeinschaft wegen Sündigens entsteht so das den Evangelien völlig fremde Sakrament der Buße, an dessen Ende die Wiederaufnahme des Sünders steht.

 

Unterhalb der Diakone gibt es in der zunehmend hierarchischen Kirche neben Exorzisten, Lektoren und Akolythen dafür nun auch das Amt des Ostiariers, des Türhüters, der nicht nur Katechumenen, sondern auch zur Buße Verurteilte aus dem Kirchenraum fernhält.

Tertullian schreibt 198: ...es ist ein höchst ergreifendes Vorgericht des künftigen Gerichts, wenn jemand so gefehlt hat, dass er von der Gemeinschaft des Gebetes, der Zusammenkünfte und des gesamten heiligen Verkehrs ausgewiesen wird. (Apologeticum 39 in Jacobs, S.120)

Er wendet sich vehement gegen die um sich greifende Lauheit und wird sich schließlich von der "katholischen" Großkirche verabschieden.

Diese wird dann schon im nächsten Jahrhundert zunehmend von Bischöfen kontrolliert, die aus jener Oberschicht kommen, die seit eh und je das öffentliche Leben in den römischen Städten kontrolliert hatten.

 

***Eine widersprüchliche Praxis***

 

Der Grundwiderspruch christlichen Daseins bis ins hohe Mittelalter zumindest betrifft vor allem die Laien, während er beim Klerus und im klösterlichen Bereich dadurch immer wieder aufgelöst wird, dass „Reformen“ die Rückführung auf ursprüngliche Positionen durchzusetzen versuchen. Diese beinhalten vor allem Besitzlosigkeit, auch als Armut bezeichnet, Keuschheit (Unterdrückung sexuellen Begehrens) und Gehorsam.

In allen drei Punkten unterscheidet sich die Laienwelt durch den Bruch mit den jesuanischen Forderungen, von denen nur die Keuschheit eine spätere Interpretation darstellt, beruhend auf Jesu Forderung, alles irdische Begehren und alle Bindungen abzulegen.

 

Damit unterscheidet sich das Laien-Christentum von allen anderen Glaubensvorstellungen und Schriftreligionen: Die Differenz zwischen dem Geforderten und dem von den meisten willig Leistbaren ist riesengroß. Auch damit eben tritt das Christentum aus dem Judentum heraus, dessen Vorschriften allesamt einlösbar sind: Sie beinhalten nichts anderes als „das (mosaische) Gesetz“ und seine Einhaltung: Essens- und Ehevorschriften, Feiertage, rituelles Bad, Opfer im Tempel etc.

 

In den Evangelien gibt es nur die Trennung in Hirte und Schafe, der oberste Hirte ist Gott, der den guten Hirten Jesus auf Erden geschickt hat, Bilder einer von Viehzucht und Weinbau geprägten Psalmenwelt. Eingeschoben wird dann das spezifische Hirtenamt des Petrus und den Auftrag, „seine Schafe zu weiden“, womit die entstehende Kirche daraus ein Hirtenamt des Klerus über die Laien ableiten kann.

 

Die Laien (Schafe, die Herde) begründen sich aus der Tatsache, dass die meisten „Christen“ schon bald entdecken, dass sie außerstande sind, den Geboten Jesu nachzukommen und zudem die Mission den Missionar und die zu Missionierenden unterscheidet, den, der den Geboten nachkommt und die, die nur zu missionieren sind, indem man konzediert, dass sie zwischen bekanntem Glauben samt Geboten und Lebenspraxis andererseits unterscheiden .

 

Insofern begründet die wenig jesuanisch beeinflusste Laienwelt überhaupt den Bestand einer Kirche als Institution über die Mission hinaus. Anstatt ernstlich Schüler Jesu zu sein und in seine Fußstapfen zu treten, vermittelt für sie erst die Kirche die Option auf das ewige Leben, wobei schon bald für die Laien an den Rand gedrängt wird, dass bereits in den Evangelien die Auserwähltheit der zu Rettenden nicht an ihren Leistungen hängt, sondern ausschließlich an Gottes unerfindlichem Ratschluss bzw. seiner weisen Voraussicht bis in alle Zeit.

 

Die Erfindung der Sakramente ist in Jesu Botschaft nicht vorgesehen - vielleicht von der Taufe einmal abgesehen, aber selbst ein sakramentaler, mehr als symbolischer Charakter der Taufe bleibt unklar (Wer an mich glaubt und getauft wird, wird gerettet werden. Markus XVI,19). Mit Hilfe der Sakramente aber, die nur von denen verliehen werden können, die Jesu Geboten möglichst wörtlich folgen und durch Ordination geheiligt sind, also Teil einer sakralen Welt wurden, kann auch die wenig jesuanisch lebende Laienwelt auf Erlösung hoffen. Die Sakramente, bzw. ihre Verabreichung durch ordinierte Geistliche wiederum begründeten das Dasein der Kirche als Institution bis zum Ende der Zeit und dem Anbruch der Ewigkeit.

 

Anders gesagt wird den Laien, also fast allen Christen außer den Mönchen und dem Klerus, ein Christentum zweiter Klasse zugebilligt, was dazu führt, dass sie tatsächlich unweigerlich und unentwegt in hohem Maße in der Sünde leben, also in einem Zustand tiefer Schuld, den die Kirche hilft, abzutragen, worauf alleine sich ihre Macht begründet.

 

Neben den kirchlichen Hilfen zum Abtragen dieser Schuld, wozu vorrangig die Sakramente gehören, in denen sich Irdisches und Himmlisches magisch treffen, steht es den Laien frei, zusätzliche Leistungen zu erbringen, um zu den künftig Geretteten zu gehören. Auf dem Weg ins hohe Mittelalter bekommen diese Leistungen immer mehr den Charakter eines sich „Einkaufens“ ins ewige Leben.

 

Je mehr jemand besitzt, desto leichter fällt es ihm, davon abzugeben, als Ausdruck einer gemindert vorhandenen oder zurückgenommenen Besitzgier. Dafür gab es eine ganze Anzahl Möglichkeiten. Die evangelische gibt Jesus vor mit seiner Aufforderung, seinen Besitz an die Armen zu verschenken, wenn man ihm folgen wolle. Die weniger evangelische und bei den Besitzenden üblichere wird es, etwas vom Besitz an Arme abzugeben, mit dem Wort Almosen belegt, vom griechischen eleemosýne (Mitleid, Mildtätigkeit) abgeleitet. Noch weniger jesuanisch ist die sich dann daraus entwickelnde Vorstellung, man könne mit Almosen, „guten Werken“ sein eigenes Sündenkonto etwas schmälern.

 

Eine Variante ist die Spende an Institutionen, also Kirche oder Kloster, die zwar nicht zur institutionellen, aber zur individuellen Besitzlosigkeit verpflichtet sind. Beide Einrichtungen sind zur Armenfürsorge verpflichtet, einem Ausfluss des Gebotes der Nächstenliebe (caritas).

Besonders gut dokumentiert sind schließlich über Gründungsurkunden Spenden zur Errichtung von Kirchen (Pfarrkirchen) und Klöstern und/oder für deren Unterhaltung, weit entfernt schon vom jesuanischen Horizont.

 

Dieser Weg, das jesuanische Armutsgebot durch „gute Werke“ zu unterlaufen, indem man es relativiert, hat die völlig der evangelischen Intention zuwiderlaufende Nebenwirkung einer Steigerung des persönlichen Prestiges und der Macht der Familie über die Verbindung mit Kirchen und Klöstern.

 

Mit der Übernahme des weströmischen Reiches durch Germanen verstärkt sich die „christliche“ Neigung, sich das Himmelreich durch gute Werke zu erkaufen, da das Aufrechnen von Schuld und Sühne deren Gerechtigkeitsempfinden entspricht, wie es sich nach der „Volkerwanderung“ in ihrem Recht niederschlägt.

 

Die christlichen Laien gehen also in ihren Augen und durch die Kirche bestärkt Kompromisse ein, eine Art Verträge mit Gott (compromettere – sich gegenseitig versprechen). Präzise das hatte Jesus, wie man in den Evangelien nachlesen kann, gegen die jüdischen „Pharisäer und Schriftgelehrten“, wie die Evangelisten vermutlich etwas unjesuanisch formulierten, als wesentlichen Kern seiner Lehre abgelehnt: Gottes Gerechtigkeit lässt sich nicht menschlich berechnen, ja, sie widerspricht ganz wesentlich menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen.

 

Wie weit sich dieser Gedanke des Einkaufens ins Paradies durch den gläubigen Sünder vermittels guter Werke auf dem Weg ins Hochmittelalter durchgesetzt hat, erweisen Urkunden für Kirchen und Abteien, wie die von 1028 für Saint-Junien de Nouaillé durch Guilhem, Graf von Poitou, die der Abtei den Verzicht auf Besetzung mit Laienäbten verkündet und das mit der Angst vor dem Jüngsten Gericht begründet:

Es ist die Angst aller Sterblichen, die noch in ihren Körpern leben, vor das Gericht des gerechten Königs geführt zu werden, ohne mit guten Werken und ohne mit deren Früchten versehen zu sein. (Nach Audebert/Treffort, S.106)

 

Die antike Herausforderung

 

Das Christentum trifft in der antiken hellenistisch-römischen Welt auf eine Körperlichkeit und insbesondere auf ein Verhältnis zur Geschlechtlichkeit, welches weit von den neuen religiösen Vorstellungen abweicht.

 

Keine der folgenden Abbildungen vermittelt eine negative, abwertende Einstellung zur menschlichen Sexualität, das erste und vierte feiern eine verfeinerte Erotik, im ersten Fall ausgesprochen sublim, im letzten von verschmitzterer Deutlichkeit. Erst in Bildhauerei der Romanik wird solch ästhetisierte Erotik wieder ansatzweise wahrgenommen werden, um dann stärkere Aufmerksamkeit in der sogenannten Frührenaissance zu gewinnen. Vorsichtige Annäherungen an das im zweiten Bild Dargestellte wird die Buchmalerei des Hochmittelalters entwickeln, und die fröhlich-übertreibende Darstellung des kuriosen Phallusträgers wird in obszön-grotesteker und zweifellos moralisierend abschreckender Version sich in kirchlich-klösterlichen Kleinplastiken vage Entsprechungen bei anderer Absicht finden. Letztlich wird diese Art erotisierter Körperlichkeit zwar ganz spät auf Nachahmung stoßen, aber der enorme Bruch, den das Christentum markiert, wird die Wiedererstehung vergleichsweise unbefangener Sexualität unmöglich machen

 

Die Venus, welche nach hinten, auf ihre wohlgeformten Pobacken schaut, wird mit folgender Geschichte des Athenaios in Verbindung gebracht: Danach geht der Name auf die Geschichte zweier Mädchen aus Syrakus zurück. Sie stritten sich, welche von ihnen den schöneren Hintern habe. Ein vorbeigehender junger Mann wird aufgefordert, als Schiedsrichter darüber zu urteilen. Er entscheidet für die Ältere und vermählt sich mit ihr. Sein Bruder heiratet die jüngere der beiden Schwestern. Die Mädchen, die durch die Ehen reich werden, errichten daraufhin einen der Aphrodite geweihten Tempel in Syrakus. Die dort aufgestellte Statue blickt über ihre Schulter und versucht ihren Hintern zu sehen (Buch zwölf der Deipnosophistai, aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Aphrodite_Kallipygos)

 

Diese Wandmalerei aus einem Haus der wohlhabenden Oberschicht von Pompeii beschreibt einen wohl lustvollen Koitus, der es nicht nötig hat, sich durch irgendetwas zu rechtfertigen. Noch im hohen Mittelalter wird der Beischlaf in Buchmalerei und Kleinskulptur nur angedeutet werden, was allerdings in letzterer nicht hindert, männliche und weibliche Geschlechtsteile darzustellen, allerdings nicht, um sie zu feiern.

 

Der priapische Mann links soll zum Lachen anregen. Sein Penis ist so abartig riesengroß, dass der arme Mann ihn an einem Band vor sich hertragen muss. Phalloi als Artefakte und Kultgegenstände waren in der griechischen und römischen Antike nicht selten und konnten sowohl auf Fruchtbarkeit wie auf sexuelle Lust verweisen. Erst angstgeleitete christliche Sexualmoral und darauf dann später aufbauender pornographischer Blick verstellen den Zugang zu so einem (spöttischen) Gemälde.

 

Der Übergang von der römischen zur romanischen Kunst wird, wie Weir/Jerman überzeugend dargestellt haben, nirgendwo deutlicher als beim Motiv des Dornenausziehers, des spinarius, wie er zum Beispiel auf dem römischen Kapitol durch das ganze Mittelalter sichtbar bleibt, und wohl in ähnlicher Gestalt auch anderswo.

Das erotische Moment der Nacktheit des ebenmäßigen Körpers ist so nicht mehr nachvollziehbar, seitdem das zwanzigste Jahrhundert die zunehmende Entblößung als "Natürlichkeit" feiert, während für Antike und das Mittelalter die weitgehende Verhüllung des Menschen durch Bekleidung alltäglich und selbstverständlich war und erst im frühkapitalistischen Spätmittelalter erste Auflösungstendenzen dabei sichtbar werden.

Dass die wie nebenbei durch das Dornausziehen erfolgte Bloss-Stellung von Penis und Hoden im Kunstwerk erotisch und nicht pornographisch gemeint ist, was sie heute in solchen Fällen eher wäre, ist nach Christentum und Kapitalismus in der Verbindung von Sexualangst und damit zusammenhängender Kommerzialisierung der Sexualität nicht mehr leicht wahrnehmbar.

 

 

Eine kulturell in den Alltag eingeordnete Geschlechtlichkeit ist sicher nie unproblematisch gewesen, aber doch wohl weit entfernt von den Kuriositäten, in die das Christentum verfiel. Die römische Zivilisation hatte aber bereits insbesondere in den wohlhabenderen Kreisen zu einer Verselbständigung, Emanzipation des Sexuellen aus Bindungen geführt, die einen Alltag formten. Die Bereitwilligkeit, mit der insbesondere Frauen höherer Kreise auf die christliche Forderung nach Heiligung durch Keuschheit eingingen, kann auch als Reaktion darauf gesehen werden.

 

Ein völlig unbefangener Umgang mit Geschlechtlichkeit ist für Menschen wohl kaum möglich, und Sexus und eine affirmativ propagierte "Natürlichkeit" zu vereinen zeugt entweder von der Unkenntnis von Natur, wie sie in den spätkapitalistischen Strukturen üblich geworden ist, oder aber von der Lösung des Geschlechtstriebes aus der Bindung an den Gefühlshaushalt, einem Abspaltungsprozess, wie er derzeit in der konsumistischen Einheitswelt mit Macht propagiert wird.

 

Der vergleichsweisen Schamlosigkeit in der erotischen bzw. offen sexualisierten Kunst der hochzivilisierten Griechen und Römer entspricht auf andere Weise und bezüglich anderer Körperfunktionen die in den Großstädten der römischen Kaiserzeit praktizierte des öffentlichen Urinierens und Scheißens. Da die meisten Großstadtmenschen in winzigen Mietwohnungen hausen müssen, denen es an Toiletten (und Bädern) fehlt, finden die Vorgänge der Ausscheidung entweder einfach in der Deckung von Mauern oder Sockeln von Statuen statt, oder aber in gemeinschaftlichen Defäkierräumen, wo man nebeneinander beim Ablassen der faeces und des Urins hockt, und deren Abfälle in der Cloaca Maxima und dann über den Tiber im Meer landen. Für Herculaneum haben die Ausgräber große Schachtanlagen entdecken, die von Sklaven gereinigt wurden. Öffentlich sind im kaiserlichen Rom auch Gelegenheiten zum Pinkeln in Amphoren, deren Inhalt dann an Gerber verkauft wird (pecunia non olet).

 

Keuschheit

 

Der Jesus der Evangelien ist als Gottessohn ein Mann, so wie sein Gott als „Vater“ und „Herr“ männlich ist – ist es doch der Gott einer männlichen jüdischen Priesterschaft. Zudem konnte Jesus als jüdischer Wanderprediger nur männlich sein, die jüdische Frau gehörte ins Haus und unter die Aufsicht des Mannes, wo sie möglichst viele jüdische Kinder bekam.

 

Die führenden Leute der Qumram-Texte, die Essener, überhaupt alle radikalen Gruppen und Prediger sind Männer. Entsprechend hatt Jesus zwölf männliche Apostel. Einige von ihnen sind unverheiratet, andere wie Petrus haben ihre Familie verlassen, wie es Jesus für seine „Jünger“ fordert.

 

Das sexuelle Begehren und die Fortpflanzung sind für Jesus offenbar kein relevantes Thema, und das erscheint plausibel angesichts der nahen Wiederkunft des „Herrn“. Jesus und die Apostel erscheinen in den Evangelien wie ohne eigenes Geschlechtsleben, Jesus insbesondere geradezu asexuell. Der auf seinem Weg in den Tod immer deutlicher werdende Frauenanteil in seiner Anhängerschaft wirkt ebenfalls so, als ob sie ihr geschlechtliches Begehren zu einer intensiven Gefühlsbindung zu Jesus hin sublimiert hätten.

 

Das alles lässt sich implizit als Vorleben von „Keuschheit“ (castitas) lesen. Aber die evangelische Botschaft ist nicht ganz konsistent. Nachfolge Jesu ist der Verzicht auf das Ausleben des Geschlechtstriebes, überhaupt auf Ehe und Familie. Aber zugleich taucht da auch unter den Jesus-Worten ein Verbot der Ehescheidung auf, was auf eine besondere Heiligung der Ehe verweist – einer der schwerwiegendsten Widersprüche in den Evangelien.

 

Der Gott der Texte katholischer Theologie ist geschlechtslos. Er begehrt nicht, sondern er schenkt denen, die sich ihm unterwerfen. In den jüdischen und evangelischen Texten aber taucht er immer wieder als Vatergott auf. Bei Johannes und Paulus erklärt sich das folgendermaßen: Er ist ganz Geist, reiner Geist, und die beiden gehen davon aus, dass mehr Geist sich beim Mann versammelt als bei der Frau.

 

Wenn man sich etwas durch die spätantiken Texte arbeitet, dann kommt die Vermutung auf, dass die so ausführliche und augenfällige Ausstattung der Frauen als Objekt männlichen Begehrens, fürs Kinderkriegen und deren frühe Ernährung sie (für Männer) stärker als Geschlechtswesen wahrnehmbar macht als den Mann. Zudem sind die wohl damit verbundene andere Art sozialer Kompetenz, wie man das heute nennt, und der etwas anders strukturierte Gefühlshaushalt mitverantwortlich. Tendenziell sind die Talentschwerpunkte bei Männern und Frauen etwas anders verteilt. Im Zweifelsfall ist darum Gott nicht nur vom grammatischen Geschlecht her männlich, auch wenn er anders als bei Griechen und Römern kein mythisches Geschlechtsleben führt.

 

Das Mysterium der Gottessohnschaft hat notwendig im Gefolge, dass Jesus einmal ein Mann ist, Sohn eines Vaters, andererseits aber kein Geschlechtsleben haben kann, denn sonst wäre er ein Mensch wie alle anderen. Das ist er aber nicht als fleischgewordenes Wort Gottes, Verkünder einer allumfassenden Liebesbotschaft, die keine begehrende, sondern eine schenkende Liebe ist, Verkünder der Abkehr von einer vom Satan kontaminierten Welt, von der es sich abzuwenden gilt zugunsten ewiger Seligkeit.

 

Seine wenigen Äußerungen zur menschlichen Geschlechtlichkeit sind in den evangelischen Traditionen durch die Bank widersprüchlich: Einmal deutet er die Unauflöslichkeit der Ehe an, einmal fordert er den Bruch mit Ehe und Familie. Die vitale Triebhaftigkeit des Menschen wird dabei weithin ignoriert, aber sie wird bei ihm auch kaum diabolisiert. Eine ganz eigenartige Rolle spielen dabei die Frauen in den Evangelien, die nicht in den Kreis der Apostel aufgenommen werden, aber zu seiner engsten und überzeugtesten Anhängerschaft gehören.

 

Eva hatte die Sünde in die Welt gebracht, Maria den Erlöser davon, Maria Magdalena aber wird im Mittelalter zu der Frau, die bewies, wie man durch Unterwerfung und Abkehr von der Welt auch als (beispielhaft sündige) Frau in die Gnade gelangen kann.

Die Maria aus Magdala des Lukas ist eine Frau, von der waren sieben Dämonen ausgefahren. Sie hatte also sieben Lastern gedient, folgte nun aber Jesus aus Liebe nach Jerusalem und ist am Ende die, die seinen Leichnam nach dem Sabbat mit parfümierten Ölen einbalsamieren möchte. Sie begegnet einem von ihr für einen Gärtner gehaltenen Mann (noli me tangere), entdeckt in ihm den Auferstandenen und verkündet das den „Jüngern“.

 

Eine zweite Maria ist womöglich eine Hure im Haus eines Pharisäers (ebenfalls bei Lukas), die spontan vor ihm niederkniet, ihm die Füße salbt und von Jesus darauf in den Stand der Reinheit erhoben wird: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat mich sehr geliebt.

 

Eine dritte Maria erleben wir bei Markus und Matthäus in einem Haus in Bethanien: Auch diese Frau nimmt spontan ein Glas mit „Nardenöl“ und gießt es auf Jesu Haupt. Laut Johannes heißt auch diese Frau Maria und ist die Schwester von Martha und Lazarus. Bei Lukas sitzt sie gerne zu Füßen Jesu und lauscht seinen Worten.

 

Aus diesen drei Frauen macht Papst Gregor der Große eine einzige, der Einfachheit halber, und das wird dann zur mittelalterlichen Tradition.

 

Interessanter wäre die Frage nach einem erotischen Moment, denn alle drei Frauen werden von Jesus nicht angenommen, weil sie irgendein Schuld- oder Sündenbewusstsein zeigen, sondern weil sie Jesus „lieben“. Zumindest bei der Maria aus Magdala ist diese Liebe so groß, dass sie Jesus nach Jerusalem folgt, seinen Tod erlebt und seine Auferstehung. Dem Zeugnis der Evangelien nach ist sie eine konsequentere Jüngerin als fast alle männlichen Apostel zusammen, und im Unterschied zu ihnen Zeugin der beiden wichtigsten christlichen Ereignisse, der von Opfertod und Auferstehung.

 

Zu verwegenen Spekulationen gibt das alles keinen Anlass: Den Liebesbekundungen der Frauen (knien, salben, nachfolgen etc) tritt Jesus mit Worten der Vergebung, des Verzeihens gegenüber, das ist hier seine (einzige) Gegenliebe. Die Liebe dieser Frauen zu analysieren, fehlt jedes Textmaterial.

 

Das Konzept der Evangelisten hinterlässt Widersprüche: Wenn Jesus nicht nur ganz Gott, sondern auch „ganz Mensch“ war, dann müsste er sexuelles Begehren am eigenen Leibe erfahren haben. Die Auseinandersetzung damit, die Unterdrückung der Triebhaftigkeit wäre ein gewaltiges Thema seines Lebens, sie findet aber in den Texten nicht statt. Nicht er, sondern die Evangelisten würden also ein Konzept systematischer Verleugnung hier betreiben. Stattdessen lässt sich in die drei Frauen eine Liebe mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit hineinlesen, jedenfalls mit einer Komponente von Sinnlichkeit – sie berühren Jesu, schmücken ihn mit wohlduftenden Kostbarkeiten, scheinen deshalb auch recht wohlhabend zu sein im Gegensatz zu ihm, der allen Besitz ablehnte.

 

Mehr bleibt nicht als die vage Vermutung, die Leidenschaftlichkeit seiner sublimen Liebesbotschaft habe Frauen angezogen und eine sehr weibliche Flamme der Liebe (in einem sehr abendländischen Sinne) in ihnen angezündet. Dann wäre es das seltene männliche Angebot einer nicht begehrenden, sondern gebenden Liebe, welches diese Frauen in ihren Bann gezogen hätte.

 

Paulus hatte die Wiederkunft Christi noch für seine Lebenszeit und die seiner Mitchristen erwartet. Die Vorbereitung darauf würde durch geschlechtliches Begehren nur behindert, und Kinder wären nicht mehr unbedingt vonnöten für eine Zukunft, in der der Tod, die Folge des ersten Sündenfalls, überwunden wäre:

 

Das sage ich euch, die Zeit (bis dahin) ist kurz. (1.Kor.7,29) .... denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich wollte aber, dass ihr ohne Sorgen wärt. Wer ledig ist, der sorgt für das, was dem Herrn angehört, wie es dem Herrn gefällt. Wer aber freit, der sorgt sich um das, was der Welt angehört, wie er dem Weibe gefalle. Es ist ein Unterschied zwischen einem Weib und einer Jungfrau. Die, welche nicht freit, die sorgt sich um das, was dem Herrn angehört, dass sie heilig sei, beide am Leib und am Geist (kai somati kai pneumati), die aber freit, die ist besorgt um das, was der Welt angehört, wie sie dem Manne gefalle. (1.Kor.7,32-34)

 

Dabei lässt sich aus Paulus keine spezifische Sexualfeindlichkeit ablesen, wie sie späteres Christentum hin und wieder auszeichnen wird, sondern eher eine dem Judentum entnommene Sexualmoral und Rollenzuordnung für Mann und Frau. Die Heiligkeit, von der Paulus hier schreibt, ist offensichtlich nur eine für wenige, für die meisten Menschen ist eher das Leben in frommen Familien mit ihrer Haushaltung vorgesehen.

 

In den nächsten zwei Generationen nach Paulus, als die Naherwartung von der Wiederkunft Christi bereits nachlässt, entstehen in den paulinischen Gemeinden pseudo-paulinische Pastoralbriefe, die die Betonung auf die jüdische Familienmoral legen:

Die Weiber seien ihren Männern wie dem Herrn (to kyrio) untertan. Denn der Mann ist das Haupt des Weibes, so wie Christus das Haupt der Gemeinde (tes ekklesias) ist und seines Leibes Heiland. Aber wie die Gemeinde Christus untertan ist, so auch die Weiber den Männern in allen Dingen. (Epheser 5,22-24)

 

Das ist nicht nur idealtypisch jüdisch, sondern auch genauso römisch und erinnert an entsprechende Plutarchtexte. Aber was Juden und Römer praktisch begründen (Frauen sollen jüdische (!) Kinder bekommen / Frauen bedürfen der strengen Hand des Mannes, um nicht die Welt ins Chaos zu ziehen), wird nun religiös, oder besser gesagt, das soziale Fundament für Kirchengemeinden und ihre Hierarchien. In der für die lateinische Welt maßgeblichen Vulgata-Version:

Viri, diligite uxores vestras, sicut et Christus dilexit ecclesiam et se ipsum tradidit pro ea, ut illam sanctificaret. (Ephes 5,25-26)

 

Luther übersetzt die Ekklesia mit Gemeinde, aber die King James Bibel schon mit „Church“, und so wird es die lateinische Kirche auch von Anfang an gelesen haben: als Hierarchie Christus – Kirche – Familienvater, eine rein männliche Hierarchie, die im übrigen so geistlich wie weltlich gemeint ist.

 

Aber die Abkehr von Paulus in einem „Paulusbrief“ wird noch deutlicher:

Und so sollen die Männer auch ihre Weiber lieben, recht so wie ihre eigenen Leiber (ut corpora sua). Wer sein Weib liebt, liebt sich selbst. Denn niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehasst (carnem suam odio habuit), sondern er nährt und pflegt es, so wie auch Christus die Ekklesia. ... Um dessentwillen wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hängen und es werden die zwei ein Fleisch sein (duo in carne una) (Epheser 5,28-32)

 

Man erinnere sich: Die Jünger sollten ihre Eltern, Frau und Kinder verlassen, um Jesus zu folgen...

 

Die entstehende Kirche ist eine der Familien und ihrer Haushalte, und keine von Wanderpredigern und keuschen Heiligen, mit ihr wird das Christentum sesshaft und griechisch/römisch. Christliche Hausväter haben gehorsame Frauen, disziplinierte Kinder und Sklaven, die nach Möglichkeit daran gehindert werden sollen, sich freikaufen zu können. Heiraten sollen, wie Bischof Ignatius von Antiochia um 110 an Polycarp schreibt, vom Bischof selbst arrangiert werden, damit die Ehe in Übereinstimmung mit dem Herrn ist und nicht in Übereinstimmung mit dem Bedürfnis nach sexueller Lust. (Nach Brown, S.58f)

 

Damit alleine aber ist die alltägliche Trennlinie von den jüdischen Gemeinden noch unscharf, bzw. vor allem negativ definiert: Es fehlen die Feiertage des jüdischen Nationalmythos, es fehlen die Essensvorschriften und es fehlt das ins Fleisch des Fortpflanzungsorgans geschnittene physische Merkmal. Einiges davon werden Christen in der nächsten Zeit ersetzen. Aber zunächst kann Justin in seiner Apologie vor allem auf die strikte Einhaltung der Sexualmoral pochen, und auf ihre Steigerung in dem Verbot der Ehescheidung und der Tendenz zur Ablehnung der Wiederverheiratung von Witwen und Witwern: Keuschheit der Älteren, die ihre Fortpflanzungspflichten absolviert haben, wird nun propagiert. Dazu kommt unter dem Einfluss eines radikaleren östlichen Christentums, von Gruppen der sogenannten Gnosis, von Montanisten und Enkratisten, als vorzeigbare Besonderheit das Phänomen der absoluten Keuschheit bei einer kleinen heiligen Minderheit.

 

 

In seiner wohl einflussreichsten und schönsten Text-Passage redet Paulus zu den Korinthers mit Engelszungen über die mächtigsten Gottesgaben, die charísmata ta kreítona:

Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönernes Erz, oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte, und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben also, dass ich Berge versetzte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht. Sie stellet sich nicht ungeberdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbitten, sie trachtet nicht nach Schaden. Sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. Sie verträget alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.

Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntniß aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.

Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindliche Anschläge, da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war.

Wir sehen itzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ichs stückweise, dann aber werde ichs erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Strebet nach der Liebe. (Diókete ten agápen... Ad Corinthos I, XIII)

 

Agape, die Liebe, um die es geht, ist hier tatsächlich eine Himmelsmacht. Und dazu passt, dass Paulus in diesem Text so nahe an einem vulgarisierten Platonismus dran ist wie nirgendwo sonst: Des Paulus Definition der Liebe ist die seines Gottes, jenes "Einen", von dem alles ausgeht und in das alles, so es seine Gnade annimmt, wieder hinfließt. Das "through a glass, darkly" der King-James-Bibel (wer denkt heute dabei nicht an Lewis Carroll) gemahnt an Platos Höhlengleichnis, in dem Menschen Schatten von Schatten sehen, und Platos meditativ-mystische Ideenschau wird im Mittelalter wieder auftauchen.

 

Nur ist diese wunderschöne Liebesbotschaft eine, die auf die Ablösung von allem "fleischlichen" Begehren abzielt. Es ist präzise jene Botschaft, die Jesus in Markus X,17 dem reichen Jüngling gab. Das Streben nach der Liebe ist das Streben nach Gott, von Glaube und Hoffnung begleitet. Jeder soll sich nach Maßgabe seiner Talente von allem irdischen Begehren lösen und es soweit als möglich auf Gott richten. Eine Form von Erotisierung ist allerdings auch dies, der Sublimierung und Transformation libidinöser Energien hin auf ein religiös definiertes Ziel.

 

 

Die Legende von Thekla und Paulus

 

Während für Juden die Fortpflanzung eine zentrale Pflicht war und bleibt (Wer nicht die Fortpflanzung der Rasse betreibt, ist so, als ob er menschliches Blut vergießen würde. Babylon. Talmud, nach Brown, S.63), wird sie im zweiten Jahrhundert für die Kirche überhöht durch das schmückende Ausnahmephänomen keuscher Heiligkeit. Und so kommt es mit der legendären Thekla von Iconium (Konya) dann auch zur ersten weiblichen Heiligen in der christlichen Kirche.

 

Die „Akten“ (acta) des Paulus, also ein Tatenbericht des selbsternannten Apostels, gehören zu den vielen apokyphen christlichen Schriften, die nicht in den Kanon der Kirche aufgenommen werden, weil sie entweder gedanklich zu beschränkt oder aber, und das ist häufig der Fall, weil sie häretisch und insbesondere wenig dienlich für die Entwicklung einer einheitlichen Institution Kirche sind. Die Geschichte von Thekla und Paulus, Teil der Paulusakten, ist nicht nur sehr märchenhaft, sondern in Teilen auch wohl von gnostischen oder ähnlichen Vorstellungen beeinflusst. Als historischer Kern lässt sich eine Reise des Paulus in der Apostelgeschichte festmachen, die auch nach Iconium führt. Von einer Thekla und ihren Abenteuern ist darin allerdings nicht die Rede. Diese lassen sich so zusammenfassen:

 

Paulus muss fort aus Antiochia und zieht mit zwei nicht allzu frommen Begleitern nach Iconium. Dort wird er von einem Familienvater namens Onesiphoros, seiner Frau und seinen zwei Söhnen empfangen. Der Apostel erscheint ihm einmal als Mensch/Mann, andererseits manchmal auch sah er wie ein Engel aus.

Paulus wird von der Familie eingeladen, sie brechen das Brot miteinander und Paulus predigt für sie:

... Selig sind die, welche ihr Fleisch rein erhalten, denn sie werden der Tempel Gottes sein ... Selig sind die, die allen weltlichen Vergnügungen entsagen, denn Gott wird sie aufnehmen ... Selig sind die, die Frauen so haben, als hätten sie sie nicht, denn sie werden zu Engeln Gottes werden ... Selig sind die Körper und Seelen der Jungfrauen, denn Gott wird sie annehmen und sie werden den Lohn für ihre Jungfräulichkeit haben, denn das Wort des Vaters wird ihre Rettung am Tag seines Sohnes bewirken, und sie werden Ruhe genießen auf ewig.

 

Das sind vier von zehn Seligpreisungen, und die erste bis in den lateinischen Westen verehrte weibliche Heilige des Christentums ist davon fasziniert, denn sie sitzt am Fenster und hört den heiligen Mann. Davon beunruhigt, lässt ihre Mutter Theoclia Theklas Verlobten Thamyris holen. Verlobter, Mutter und Mägde reden auf Thekla ein, sie soll sich von dieser Aufforderung zur Keuschheit nicht verführen lassen. Aber sie gibt nicht nach, will nun auch eine keusche Jungfrau bleiben.

 

Darauf trifft sich Thamyris mit den beiden falschen Begleitern des Paulus, um herauszufinden, was das für ein Mann sei. Die beiden sagen, Paulus solle vor die Behörden gebracht werden, damit er zum Tode verurteilt werde

... wodurch du dein Weib erhalten wirst. Denn währenddessen werden wir sie lehren, dass die Auferstehung, von der er redet, schon da ist und darin besteht, dass wir Kinder bekommen...

 

Paulus wird eingesperrt und Thekla besucht ihn heimlich nachts und hört ihm zu, was sie noch gläubiger macht. Aber beide werden verraten und vor die Behörde gebracht. Paulus soll mit Peitschenhieben aus der Stadt vertrieben werden, Thekla aber soll verbrannt werden. Auf dem Scheiterhaufen macht sie das Zeichen des Kreuzes, worauf Gott soviel Regen schickt, dass das Feuer gelöscht wird, während zugleich ein Erdbeben die Leute vertreibt.

 

Paulus ist mit der Familie des Onesiphoros in einer Höhle untergekommen, wo Thekla sie findet. Sie möchte Paulus begleiten. Der antwortet ihr:

Die Menschen sind derzeit so sehr der Unzucht verfallen, und du bist schön, so dass ich fürchte, dass du größeren Heimsuchungen als der letzten ausgesetzt sein würdest.

Sie antwortet damit, dass sie um das Siegel Christi bittet (die Taufe), um keinen Gefahren mehr ausgeliefert zu sein. Paulus verlangt aber von ihr, damit noch zu warten. Dann schickt er Onesiphoros und seine Familie zurück und nimmt Thekla mit.

 

In Antiochia verliebt sich ein vornehmer Syrer, bedeutender Magistrat der Stadt, in Thekla, zwingt ihr auf der Straße Küsse auf, wogegen sie sich wehrt, indem sie ihn in der Öffentlichkeit bloßstellt. Darauf zerrt sie dieser Alexander vor die Behörde, die sie zum Tod durch Tiere in der Arena verurteilt.

 

Thekla bittet nur darum, dass ihre Keuschheit bewahrt bleibe, und sie kommt bis zum Zirkus-Spektakel bei Tryphaina unter, einer reichen Witwe. Diese beeindruckt sie mit ihrer Frömmigkeit und ihrem Gebet dafür, dass Gott ihrer verstorbenen Tochter das ewige Leben schenken möge.

Thekla und die Bestien, 5.Jh.
Thekla und die Bestien, 5.Jh.

Kurz gesagt: Die fast nackte Thekla überlebt die Angriffe von Löwen, Bären, Stieren und anderen wilden Tieren in der Arena und tauft sich selbst zwischendurch, indem sie sich in ein Wasserbecken voller Seelöwen stürzt, die aber gleich auch tot sind. Entsprechend beeindruckt von ihrer wunderbaren Errettung wird Thekla freigelassen und wohnt bei Tryphaina, die zwischendrin gestorben und dann wieder zum Leben erweckt worden war. Dabei bekehrt sie viele junge Männer und Frauen (u.a. zur Keuschheit, kann man annehmen.), und manche begleiten sie dann, als sie sich aufmacht, nach Myra zu gehen, wo sich Paulus inzwischen aufhält (nachdem er sie offenbar in Antiochia ihrem Schicksal überlassen hatte...).

 

Dem Paulus berichtet Thekla von ihren Erlebnissen, und dass sie sich selbst getauft habe (was bei Paulus keine Kritik auslöst!!!). Der sagt ihr, sie solle nun nach Iconium zurückreisen und dort missionieren. In Iconium nennt der Text sie jetzt Märtyrerin, Glaubenszeugin also. Aber nicht einmal ihre Mutter will etwas von ihrem Christentum hören. Und so zieht sie nach Seleucia (Silifke) und bekehrt dort viele Leute, darunter einige vornehme Damen, und viele von ihnen verließen diese Welt und führten ein klösterliches Leben. Zudem heilt sie viele Kranke, aus denen unreine Geister ausfahren, und sie ist dabei so erfolgreich, dass die Ärzte von Seleucia arbeitslos werden. Die bezahlen nun einige Halunken dafür, sie zu vergewaltigen, denn sie vermuten, sie sei eine der Göttin Diana geweihte Jungfrau und würde mit ihrer Jungfräulichkeit auch ihre Heilkraft verlieren.

 

Thekla-Kloster, Maaloula
Thekla-Kloster, Maaloula

Als sie aber die inzwischen alte Thekla in ihrer Höhle aufsuchen, um über sie herzufallen, bittet diese Gott, ihr auch weiterhin ihre Jungfräulichkeit zu erhalten, die sie sich nur für ihn bewahrt hat, und Gott errettet sie, indem er einen Felsspalt öffnet, durch den sie entkommt – und damit auch aus dieser Welt.

 

Die Thekla-Geschichte wird schon früh aus dem Kontext der Paulusakten gelöst und für sich überliefert. Auffällig ist, dass sie in ganzen langen Passagen (in Antiochia und Seleucia) auch inhaltlich von den legendären Paulusgeschichten abgelöst ist und offenbar deutlich mehr Popularität als diese gewinnt.

 

Für die entstehende Kirche war sie in mancherlei Beziehung inakzeptabel. Wäre sie historisch, würde sie für die Pauluszeit eine Frau als Missionarin fast von der Bedeutung eines Paulus beschreiben, was damals vermutlich undenkbar war. Falls es einen historischen Kern gibt, so schickt sie Paulus sicher nicht mit einem Missionsauftrag nach Iconium zurück, sondern zurück nach Hause.

 

Völlig inakzeptabel wäre es auch, wenn eine Frau sich selbst taufen würde, und zwar durch einen schlichten Sprung ins Wasser, - und der Gott der Kirche gäbe sich damit zufrieden. Da spielen in den Text östliche Vorstellungen eines gelebten Christentums ohne kirchliche Hierarchien mit ihrem Monopol auf rituelle Handlungen herein. Vielleicht knapp zwei Generationen nach Entstehung des Textes äußert sich denn auch Tertullian dazu in aller Deutlichkeit:

Das höchste Recht, die Taufe zu spenden, hat der Priester, d. h. der Bischof; dann auch die Presbyter und Diakone, jedoch nur im Auftrag des Bischofs. In manchen Fällen haben auch die Laien das Recht. Die weibliche Frechheit aber, die sich anmaßt, zu lehren, möge nicht auch noch das Recht zu taufen an sich reißen. Wenn gewisse Frauen jene zu Unrecht "Paulusakten" genannte Schrift und das Beispiel Theklas verteidigen im Hinblick auf das Recht der Frauen, zu lehren und zu taufen, so mögen sie wissen, dass in Asien der Presbyter, der diese Schrift verfasst und dabei seine eigene Erfindung Paulus untergeschoben hat, zugab, er habe dies aus Liebe zu Paulus getan. Wie sollte man auch glauben, dass Paulus der Frau die Vollmacht erteilt haben soll, zu taufen und zu lehren, der doch den Frauen sagte: Schweigen sollen sie und zu Hause ihre Männer fragen? ('De baptismo', Übersetzung in: http://www.piaristen.at/stthekla/pfarre_2008/paulusundthekla.pdf)

 

Das ist nicht nur die intellektuelle Antwort auf einen naiven, märchenhaften Text, sondern auch eine lateinische Antwort auf die Vorstellung, Keuschheit, also sexuelle Abstinenz bis hin zur Abtötung des Geschlechtstriebes könne eine Vergeistigung hervorrufen, die immun mache gegen sexuelle Reize.

 

In 'De virginibus velandis' (Über die Verschleierung der Jungfrauen) wird er noch deutlicher:

Es wird dem Weibe nicht gestattet, in der Kirche Reden zu halten, auch nicht zu lehren, zu taufen, zu opfern, und sich einen Anteil an irgend welchem Amte des Mannes, geschweige denn gar der priesterlichen Obliegenheiten, anzumaßen. Sehen wir zu, ob der Jungfrau etwas davon erlaubt sei! Wenn der Jungfrau nichts davon erlaubt ist, sondern wenn sie in allen Dingen denselben Bedingungen unterworfen ist und in der Notwendigkeit der Demut gleich steht mit dem Weibe, warum sollte ihr denn in jenem einen Punkte gestattet sein, was dem Weibe nicht gestattet ist? Wenn eine eine Jungfrau ist und ihren Leib heilig zu halten sich vorgenommen hat, verdient sie dann etwa eine Bevorzugung, die ihrem Lose zuwider ist? (Aus: http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/extra_02_de_virginibus_velandis.htm)

 

Hat nicht Enthaltsamkeit den Vorzug vor der Jungfräulichkeit? sei es die der Witwer oder sei es, dass man infolge einer Übereinkunft sich der gemeinsamen Herabwürdigung bereits begeben habe. Denn die Jungfräulichkeit ist Gnade, die Enthaltsamkeit aber Tugend. Das nicht mehr zu begehren, in dessen Begehren man alt geworden ist, das kostet gewaltigen Kampf. Die Dinge aber, deren Genuss man nicht kennt, wird man nicht begehren, da man die genossene Begierde nicht zu überwinden hat. (s.o.)

 

Es geht darum, dass in der afrikanischen Gemeinde des Tertullian die Gruppe der Jungfrauen in der Kirche unverschleiert auftaucht, um so ihre unantastbare Heiligkeit zu demonstrieren. Für Tertullian ist aber auch die (heilige) Jungfrau noch ein Mensch mit seiner sexuellen Attraktivität und seinem sexuell definierten Körper:

Es bleibt nun noch übrig, dass wir uns auch an die Betreffenden selbst wenden, damit sie es desto bereitwilliger thun. Ich bitte dich also, seiest du nun Mutter, seiest du Schwester, seiest du Tochter, um mich den Altersbezeichnungen gemäss auszudrücken, verschleiere dein Haupt, wenn du Mutter bist, wegen der Söhne, wenn du Schwester bist, wegen der Brüder, wenn du Tochter bist, wegen der Väter! Du bist allen Altersstufen gefährlich. Lege an die Waffenrüstung der Sittsamkeit, ziehe um dich den Wall der Ehrbarkeit, errichte zum Schütze deines Geschlechtes eine Mauer, welche weder deine Blicke heraus noch die Blicke der andern hineinlässt. Nimm die Kleidung des Weibes vollständig an, um den jungfräulichen Stand zu bewahren. (s.o., meine Hervorhebung)

 

Die Thekla des griechischen Ostens benimmt sich in der Legende wie eine keusche Heilige, die aus dem ganzen hergebrachten Regelwerk menschlicher Ordnung aussteigt und ihre eigene Vorstellung von der Nachfolge Christi lebt, jenseits jeder kirchlicher Ordnung. Der heilige Geist hat sozusagen ihren Körper verwandelt, dessen Qualitätsmerkmal nun die lebenslange Virginität ist. Tertullians Jungfrauen hingegen, lebenslange wie auch Witwen, behalten ihre sehr irdische Weiblichkeit, ihren Geschlechtstrieb und ihre sexuelle Attraktivität (auf Männer). Für sie sei Keuschheit stete Arbeit gegen ihre niedere Natur.

 

Für Juden und „heidnische“ Römern sind beide Positionen indiskutabel. Für Juden, seit Jahrhunderten überwiegend in der Diaspora, ist das Produzieren jüdischer Kinder moralische Pflicht, um das eigene „Volk“ zu stärken. Für pagane Römer sind Kinder elementar wichtig für den Fortbestand der jeweiligen civitas. Man hat geschätzt, dass die fruchtbaren und verheirateten römischen Frauen etwa fünf Kinder bekommen mussten, damit am Ende die Bevölkerung nicht schrumpft (Brown, S.6 mit Quelle).

 

Aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammt eine 'Vita et miracula S. Theclae'. In dieser ausgeschmückt romanhaften Version macht Thamyris vor dem Herrn von Iconium ausführlich deutlich, was für einen nichtchristlichen Römer an diesem (sehr unhistorischen) Paulus indiskutabel war:

Wahre Auferstehung ist das, was die Natur des menschlichen Körpers selbst geschehen macht, das, was jeden Tag vollbracht wird ... die Abfolge von Kindern, die uns geboren werden, wodurch das Bild derer, die sie zeugten, in ihrer Nachkommenschaft erneuert wird, so dass es scheint, als ob die, die vor langer Zeit starben, immer noch unter den Lebenden wandeln, als ob sie von den Toten auferstanden wären.

(...) Dieser Mann hat eine neue Lehre eingeführt, die bizarr und zerstörerisch für die Menschheit ist. Er schwärzt die Ehe an, ja, die Ehe, von welcher man sagen kann, sie sei der Anfang, die Wurzel und der Springquell unserer Natur. Aus ihr entstehen Väter, Mütter, Kinder und Familien. Städte, Dörfer und Kultur sind daraus hervorgegangen. Landwirtschaft, das Befahren der Weltmeere und alle Fertigkeiten dieses Staates – Höfe, Armee, das Oberkommando, Philosophie, Rhetorik, der ganze summende Schwarm der Rhetoren – hängen davon ab. Was noch mehr ist, aus der Ehe erwachsen Tempel und Heiligtümer unseres Landes, die Opfer, Rituale, Initiationen, Gebete und die feierlichen Tage der Fürbitte.(In: Brown, S.7/5, m.Üb.)

 

Was hätten Christen antworten können: Adam und Eva hatten mit ihrem Ungehorsam gegen Gott das ewige Leben verloren und den Tod gewonnen. Als kleine Gnade gab ihnen der Herr aber den Fortpflanzungstrieb, das sexuelle Begehren, und das Talent zur Erzeugung von Nachkommen. Mit dem ersten Erscheinen des Gottessohnes kam aber das Versprechen in die Welt, dass alle Gläubigen, die Jesus nachfolgen, bzw. ihr Leben ganz auf ihn hin ausrichten, in eine andere Welt erlöst werden, in der der Makel, der auf dem Urpaar lastet, bereinigt ist: Sich auf diese Welt hin auszurichten, heißt nichts anderes, als dieses wunderbare neue Angebot Gottes auszuschlagen.

 

4. Perpetua

Die Euphrasiusbasilika im heutigen Porec ist neben dem erhaltenen Innenraum der stadtrömischen Santa Maria Maggiore und den alten Kirchen von Ravenna eines der eindrucksvollsten erhaltenen Kirchengebäude spätantiker Zeit. Das wohl hochmittelalterliche Mosaik der Perpetua dort verbindet für mich in verblüffender Weise Aspekte der frühchristlichen Bildsprache mit spätbyzantinischen. Ohne ihr Zutun hatte man sie zur Heiligen gemacht und in Goldglitzer gesteckt. Aber ihr Gesicht vermittelt recht unbyzantinisch die Illusion einer lebendigen, klugen jungen Frau. Und das war sie offenbar auch.


203 weigert sich die junge, noch nicht getaufte Vibia Perpetua, eine Katechumenin, in Karthago zusammen mit ein paar anderen, an einem Tieropfer zu Ehren des Kaisers teilzunehmen, einer „heidnisch“-kultischen Handlung, die zugleich eine zivile, das heißt, staatsbürgerliche Pflicht war.

 

Ihre passio, also ihre (selbstverfasste) Leidensgeschichte, ist die einzige derartige weibliche frühchristliche, die überliefert ist, und im Original ganz unentstellt von jenen kirchenväterlichen Sichtweisen eines Hieronymus oder Augustinus. In ihren literarischen Qualitäten wird sie bis ins 9. Jahrhundert einzigartig bleiben. Darüber hinaus erfahren wir etwas von einem Christentum, welches in den nächsten Jahrhunderten fast völlig verschwinden wird.


Aus dem lateinischen Original: Als wir erst einmal nur unter staatlicher Aufsicht waren, und als mein Vater aus Liebe zu mir versuchte, mich mit Argumenten zu widerlegen und meine Entschlusskraft zu brechen, sagte ich: 'Vater, siehst du zum Beispiel jenes Gefäß dort, - einen Krug oder so etwas? Und er sagte: 'Ja, sehe ich'. Und ich sagte ihm: 'Es kann als nichts anderes bezeichnet werden als es ist, oder?' Und er sagte: 'Nein'. 'Also kann ich mich auch nicht anders nennen als ich bin: eine Christin (christiana). ...

Nach ein paar Tagen wurden wir ins Gefängnis gesteckt, und ich bekam Angst, denn ich hatte nie solche Dunkelheit gekannt. Oh harter Tag! - starke Hitze wegen der Menschenmenge, Erpressungen durch die Soldaten. Außerdem war ich in ständiger Sorge wegen meines Kindes.

Man beachte die sprachliche Schönheit in jener Einfachheit, die einem Hieronymus und insbesondere Augustinus so abgehen wird: ...tales tenebras. O diem asperum! Aestas validus, turbarum beneficio, concussurae militum.


(Sie wird darauf in eine erträglichere Abteilung des Gefängnisses verlegt.) Ich ernährte mein Kind an der Brust, das schon vor Hunger ganz schwach war. Besorgt sprach ich mit meiner Mutter, tröstete meinen Bruder (sie kamen zu Besuch) ... (III)


An einem anderen Tag, als wir zu Mittag aßen, wurden wir plötzlich zu der Anhörung abgeführt und kamen zum Forum. Eine Gerüchtewelle überschwemmte die Nachbarschaft, und eine riesige Menge bildete sich. Wir stiegen zum Gericht hinauf. Die anderen, als sie befragt wurden, gestanden (dass sie Christen waren). Dann kam ich an die Reihe. Und mein Vater erschien nun mit meinem Sohn, riss mich von den Stufen herunter und sagte: 'Vollzieh das Opfer! Hab Mitleid mit deinem Kind!' Und so sprach auch der Provinzchef, Hilarius, der das Amt der Rechtsprechung von dem Prokonsul Minucius Timinianus übernommen hatte: 'Verschone das Alter deines Vaters, verschone die Kindlichkeit deines kleinen Jungen! Vollzieh das Ritual für das Wohlergehen des Kaisers.' Und ich antwortete: 'Ich bin eine Christin.' Als mein Vater immer noch dabei war und mich umzustimmen versuchte, befahl Hilarianus, ihn hinauszuwerfen, wobei er Peitschenhiebe abbekam. Ich hatte großen Kummer wegen dieser Erniedrigung meines Vaters, so als ob ich selbst geschlagen würde. So trauerte ich um seine bejammernswerten alten Tage.

Dann verurteilte der Provinzführer uns alle und verdammte uns zu den wilden Tieren in der Arena. Und voller Freude gingen wir zurück ins Gefängnis.


Dann schickte ich, da der Säugling an die Brust gewöhnt war und daran, mit mir im Gefängnis zu sein, den Diakon Pomponius zu meinem Vater, um ihn zu bitten, dass ich das Kind zurückbekäme. Aber mein Vater wollte es nicht gehen lassen. Und irgendwie, durch Gottes Willen, brauchte es die Brust nicht länger, auch wurden deshalb meine Brüste nicht entzündet – und so wurde ich nicht mit Sorgen um mein Kind gequält, und nicht mit Wundheit. (VI) ...


Das habe ich alles getan bis zu dem Tag vor den Zirkusspielen; wenn jemand über das schreiben mag, was dort geschieht, dann lasst ihn dies tun. (X. Ein solcher Bericht ist meines Wissens nicht überliefert.)

 

Sie wird zur Gaudi des anwesenden Pöbels und zu Ehren des Geburtstags des Kaisersohnes von den Tieren in der Arena zerrissen.


Der Weg ins Mittelalter setzt sich aus unzähligen Entwicklungslinien zusammen. Die wohl erfreulichste ist der vorübergehende Untergang der Amüsierindustrie der römischen Welt, den der christliche Einfluss und die zurückgehende Finanzkraft der Reichen und Mächtigen, die diese Industrie finanzierten, hervorbrachten.


Entstanden in der Republik aus kultischen Wettkämpfen, am Ende finanziert von den Führern der Bürgerkriegsparteien zur Gewinnung eines militanten Anhangs unter dem großstädtischen Pöbel, entwickelten sich insbesondere die Wagenrennen und die Zirkusspiele neben den Lebensmittelgeschenken der Kaiser an die Massen in der Stadt Rom zum panem et circenses des Juvenal.


Solche Amüsierveranstaltungen, deren Höhepunkte das Massakrieren von Tier und Mensch sind, sind in der Regel Geschenke der Magnaten an das „Volk“, der Eintritt ist also gratis. Wenn man die großen Bäder dazu nimmt, können allein in Rom selbst auf einmal über hunderttausend Leute mit kostenlosen Amüsierprogrammen versorgt werden. Die Lust an der Grausamkeit, an Unfällen bei Wagenrennen, zotigen Scherzen usw. ist das Ventil für die völlige Machtlosigkeit dieser Massen, denen schon um das Jahr 100 Tertullian sein 'De spaectaculis' entgegensetzt, worin er die Christen mit bitterer Rigorosität aufruft, sich an solchen Widerlichkeiten nicht zu beteiligen - mit durchwachsenem Erfolg schon damals, wie man weiß.


Perpetua nahm ihr Christentum ernst. Sie will dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und ihrem „wahren“ Gott, was Gottes ist. Die Trennlinie ist der zivile Ungehorsam bei den Staatskulten; schon für Paulus war die „Obrigkeit“ (exousía) nicht der Gegner, aber notgedrungen ein Feind. Der Christ hat sich ihren Ansprüchen zu entziehen, möglichst ohne ihr zum Opfer zu fallen. Diese Staatsferne, Ferne zur Macht mit ihrer Praxis der inneren Emigration in die Gemeinde hinein, die ekklesía, macht den befreienden Aspekt des frühen Christentums aus: Es war keines des sich Duckens, des Mitmachens, sondern des Standhaltens und zur Not des Widerstehens.


Dieses christliche Menschenbild verschwindet im Verlaufe des vierten Jahrhunderts, in dem ein völlig verändertes „Christentum“ sich mit der Macht verbündet, die Botschaften des Evangeliums und des Paulus für die meisten sausen lässt und sich mit den „weltlichen“ Zeitläuften arrangiert. Aber dies Christentum verbietet in derselben Zeit erst das Dahinmorden von Menschen in der Arena als Volksbelustigung und dann die Tieropfer auf den Altären.


Die Perpetua unseres Mosaiks hat auf ihre Weise gewonnen und sie schaut wie eine Gewinnerin. Der Sinn des christlichen Lebens ist (damals) die Gewinnung des ewigen Lebens. Der vorletzte Satz ihres Gefängnistagebuches lautet: Und ich wusste, ich musste nicht gegen wilde Tiere kämpfen, sondern gegen den bösen Feind (Teufel). Aber ich wusste, der Sieg würde mein sein. (X)


Das ist uns allen heute fremd, auch den meisten, die sich selbst Christen nennen, was immer das heißen mag. In der Version der Passio Perpetuas durch ihren Mitchristen Saturus ist ihr persönlicher Bericht stilistisch ins Unpersönliche verändert. Aber mit Peter Dronke glaube ich, dass folgender Satz der Perpetua, den er nur hier wiedergibt, authentisch klingt: Gott sei gedankt, dass ich in meinem bisherigen Leben glücklich (hilarius) war, und in meiner jetzigen Situation (im Kerker) noch glücklicher bin. (In Dronke, Women Writers of the Middle Ages).


Bis ins hohe Mittelalter wird man durch die "öffentliche Meinung" „heilig“, erst dann beginnt die Kirche, diesen Prozess an sich zu ziehen und zu einer Art juristisch angehauchter Verwaltungsmaßnahme zu machen. Die Heiligenlegenden – und auch Perpetuas Bericht wird zu einer solchen umgearbeitet – haben seit dem frühen Mittelalter die Aufgabe, ein solches Verhalten zu neutralisieren, indem es als verehrungswürdig dargestellt wird. Damit wird es zur Ausnahme gemacht. Das Christentum überfordert eben fast alle.

Die frühen Heiligen sind „Märtyrer“, also Glaubenszeugen. Das griechische martyréo heißt bezeugen, bestätigen, rühmen. Ein Märtyrer opfert nicht sich selbst, aber er bleibt seinem Glauben treu bis in den Tod.

 

Zur Trennung in Heilige und Sünder kommt die zwischen Märtyrern und. „Gefallenen“. Verfolgungen der Christen sind zunächst sporadisch und regional, aber der Märtyrertod ist oft von erheblicher Grausamkeit, oft ein Teil des römischen Amüsierbetriebes. Leiden und Tod werden als unmittelbare Nachfolge der Passion Christi betrachtet und führen zu der Vorstellung, dass diese Heiligen ohne Wartezeit sofort in die Nähe Gottes kommen, in den „Himmel“.

 

Dieser direkte Weg zu Gott ist etwas anderes als das Warten auf die Wiederkunft des „Sohnes“, das Auferwecken von den Toten und das Gericht. Für die sündige Masse der Christen werden diese „Heiligen“ zu sie stellvertretenden Repräsentanten der Heiligkeit und damit zu Gegenständen der Verehrung. Indem ihre Passion weitererzählt und ausgeschmückt wird, entsteht ein Heiligenkult, der vertieft wird durch die Verehrung am Ort ihres Begräbnisses.

 

Die Nähe dieser Heiligen zu Gott macht sie zu Fürsprechern beim Allmächtigen. Aus dem evangelischen Gebet als Glaubensbekenntnis wird so das Bitten um allerlei Erleichterungen für sich selbst, die Angehörigen und die schon Verstorbenen. Zumindest in Zeiten ohne Verfolgungen setzt in der Gemeinde offenbar außerdem das Gebet für die Kaiser ein, zumindest wird es in den Quellen erwähnt.

 

Tertullian und die Spektakel

 

Während Perpetua in einem schrecklichen Martyrium zum Amüsement einer breiten Zuschauerschaft in der Arena stirbt, schreibt Tertullian um 200 in einem Text an die Christenheit, vom Besuch solcher Vergnügungsstätten abzusehen: 'De spectaculis'. Kurz danach werden auch in Karthago Christenverfolgungen ausbrechen.

 

Tertullian, rhetorisch und philosophisch geschult, gilt einerseits als Vater der lateinischen Theologie, dessen Leistung auch darin besteht, griechische christliche Begrifflichkeit in die lateinische Sprache übertragen zu haben (trinitas, damnatio). Andererseits wird er schon bald selbst in manchen Punkten als Häretiker betrachtet. Davon bricht etwas auch in unserem Text ('De spectaculis') hier durch, nämlich sein Millenarismus (Chiliasmus), der Glaube an ein in Bälde anbrechendes tausendjähriges Reich Christi vor dem endgültigen Gericht und Weltuntergang.

 

Hier soll Tertullian auf zwei Dinge untersucht werden: Einmal die Selbstsicht eines belesenen Christen von seinem Christentum und zum anderen die Problematik christlichen Lebens in einer unchristlichen Welt, ein grundlegendes Problem seit den Schriften des Paulus.

 

In 'De cultu feminorum' spricht Tertullian eines von vielen sich daraus ergebenden Probleme an. Die christliche Minderheit lebt in einem „heidnisch“ geprägten Umfeld, in dem die „Putzsucht“ der Frauen ihre sexuelle Attraktivität steigert, die ihre ureigenste Form der Machtausübung in einem Umfeld vergnügungssüchtiger städtischer Massen ist. Tertullian nun erwartet von Christinnen die völlige Zurücknahme weiblicher Eitelkeit, ein keusches öffentliches Auftreten bezüglich Kleidung, Haartracht, Haarefärben und Kosmetik.

 

Du bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat, du hast das Siegel jenes Baumes gebrochen, du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, du bist es auch, die denjenigen betört hat, dem der Teufel nicht zu nahen vermochte. So leicht hast du den Mann, das Ebenbild Gottes, zu Boden geworfen. Wegen deiner Schuld, d. h. um des Todes willen, musste auch der Sohn Gottes sterben, und da kommt es dir noch in den Sinn, über deinen Rock von Fellen Schmucksachen anzulegen.

(Tu es diaboli ianua; tu es arboris illius resignatrix; tu es diuinae legis prima desertrix; tu es quae eum suasisti, quem diabolus aggredi non ualuit; tu imaginem Dei, hominem, tam facile elisisti; propter tuum meritum, id est mortem, etiam filius Dei mori habuit: et adornari tibi in mente est super pelliceas tuas tunicas? 1,1)

http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv07_16_de_cultu_feminarum.htm

 

Eva stachelt das männliche Begehren, seine Triebhaftigkeit nicht nur an, sondern sie hat dasselbe überhaupt erst verursacht.

In Schmerzen und Ängsten musst du gebären, o Weib, zum Manne musst du dich halten, und er ist dein Herr, und du wolltest nicht wissen, dass du eine Eva bist? (1,1)

 

Die Aufgabe der Christin ist es, keusche Jungfrau und Ehefrau zu sein und sich als Witwe nicht mehr neu zu verheiraten. Alles das scheint um 200 bei manchen Christinnen nicht (mehr?) selbstverständlich zu sein, wenn Tertullian es so eindringlich fordert.

 

Ein christliches Leben, wie es sich Tertullian nach biblischen Vorstellungen erwartet, verlangt ein hohes Maß an Zurückgezogenheit vom Alltag im Imperium Romanum. Dazu gehört der gesamte Amüsierbetrieb. Bräuchten wir uns doch nur überhaupt nicht gemeinsam in der Welt mit jenen Menschen aufhalten! Aber immerhin halten wir uns in den weltlichen Dingen von ihnen fern; denn die Welt gehört Gott, die weltlichen Dinge aber gehören dem Teufel." (15,8, Übers. Weeber: Utinam ne in saeculo quidem simul cum illis moraremur! Sed tamen in saecularibus separamur, quia saeculum dei est. saecularia autem diaboli.)

 

Das panem et circenses des Juvenal verwies bereits hundert Jahre zuvor auf jene Entwicklung in der späten Republik, in der Massen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr auf dem Lande gewinnen können, in die Städte und insbesondere in die urbs Roma strömten und dort zur Manövriermasse für Demagogen, senatorische Familien und Kaiser wurden. Sie werden durchgefüttert und mit einer Vielzahl von Spektakeln, viele davon gratis, bei Laune gehalten. Der populus wird zum städtischen Pöbel.

 

Tertullian geht es in 'De spectaculis' um das Schauspiel, die Wagenrennen, das Amphitheater. und die Schaukämpfe, Ringen, Boxen und Pankration, letzteres eine Verbindung von beidem. Wenn man genau hinschaut, lehnt er alle „weltlichen“ Vergnügungen ab, da sie von der Konzentration auf die Wiederkunft Christi ablenken, abhalten. Aber offensichtlich kommt er mit solch einer Position bei manchen seiner christlichen Mitmenschen nicht mehr durch. Deshalb argumentiert er zunächst mit dem pagan-kultischen Ursprung all diesen Amüsierbetriebs: Er wird von den Dämonen (römischen Göttern) beherrscht und ist ihnen geweiht.

 

Borghese-Museum, Gladiatoren
Borghese-Museum, Gladiatoren

Was die Evangelien erzählen, ist von tiefem, unerbittlichem Ernst durchzogen: Das Christentum entsteht aus der Bereitschaft Gottes, seinen Sohn am Kreuz zu opfern, um den Gläubigen Erlösung anzubieten. Der Glauben aber zieht die Nachfolge, die Jüngerschaft, Schülerschaft nach sich. Und Jesus lacht nicht einmal.

 

Tertullian erlaubt den Christen nur ein Vergnügen (voluptas), das der Hoffnung darauf, bald ewige Freude zu erleben, während alle anderen in der Hölle leiden werden. Christen sind „Diener Gottes“ (dei servi, 1,1), stets zum Sterben bereit (expeditum morti genus, 1,5); vitam contemnere, das Leben verachten, soll ihre Haltung sein. Die Haltetaue (retinacula), die sie an diese Welt fesseln, sollen gekappt sein (amputatus, 1,5).

 

Diese Welt ist das saeculum, und alle saecularia sind des Teufels: totum saeculum satanas et angeli eius repleverunt (8,9), die Welt ist völlig vom Satan und seinen gefallenen Engeln, den Dämonen erfüllt. Und zu den pompa diaboli gehören all die Vergnügen, um die es hier geht.

 

Die voluptas ist als Vergnügen, Lust, Freude zunächst etwas Positives in der römischen Welt. Sie hängt  mit dem Willen (velle) und seiner Erfüllung zusammen und ist als solche auch Wollust, die bei Tertullian sich in concupiscentia und libido aufteilen kann, in das Begehren, Verlangen, welches in der libido noch einen Geschmack subjektiver Willkür annimmt. Der damit verbundene Wille wird mit dem Teufel gleichgesetzt.

 

Dagegen setzt er die recht altrömische disciplina (15,4) des discipulus, des Schülers. Sie bedeutet sowohl Selbstzucht wie Unterordnung, Zähmung, Domestikation. Lehrer ist Jesus und die heilige Schrift. Aber der philosophisch gebildete Tertullian kann den jüdischen Jesus auch mit ursprünglich griechischer Philosophie anreichern und so kann er von der voluptas auch sagen:

Gewisse Philosophen haben diesen Begriff mit quies, friedlicher Ruhe, und tranquillitas, stiller Gemütsruhe, verbunden. Darin finden sie Freude, darin zerstreuen sie sich (avocare), darin finden sie auch ihren Ruhm (gloria). (28,4)

 

Was vielleicht nach epikuräischer hedoné klingt, lässt sich andernorts bei ihm auch als stoische Gemütsruhe verstehen: Christen, die Heiligen (sancti, 16,7), die sacerdotes pacis (16,4), Priester des Friedens, sind zart und sanft, sie streben nach Stille, Ruhe, Milde, Frieden (15,3). Kein Wunder, dass so viele Bekehrungen der frühen Spätantike in gesetzterem Alter stattfinden.

 

Der Gegenpol ist die concussio spiritus (15,3), ja, jeder affectus, worunter er hier die Gemütsbewegung versteht. (Nemo ad voluptatem venit sine affectu, 15,3) Dazu gehören für ihn Zorn, Wut und Schmerz, aber auch studium (ubi enim voluptas, ibi et studium, 15,3), furor/furia, tumultus, concitatus (alles 16,1), discordia (16,4). Für den Christen heißt es: sui non sunt (16,5).

 

All das bezieht Tertullian insbesondere auf die dementia (15,2/3) der Wagenrennen im Zirkus, die auch jede moderne Sportveranstaltung treffen würde.

Römisches Theater, Mérida
Römisches Theater, Mérida

Während die atrocitas, Grausamkeit im Amphitheater Christen leicht nahegebracht werden kann (aber Christen gingen eben auch dorthin), gibt er sich besondere Mühe, ihnen das Theater abspenstig zu machen, wobei er einräumen muss, dass dort nicht alles schlecht ist.

 

Das Theater (scaenicas res, 10,1) ist für ihn arx omnium turpitudinum (10,5), eine Hochburg hässlicher Unsittlichkeit. Hier findet eine spezifische Form der voluptas Platz, die lascivia (10,4), eine Mischung aus Fröhlichkeit, Ausgelassenheit und Zügellosigkeit, und die libido hat freien Lauf, Mischung aus Begierde, Wollust und Launenhaftigkeit.

 

Damit trifft Tertullian tatsächlich das kaiserlich römische Theater als Amüsierbetrieb für die Massen. Als solches ist es ein consistorium impuditiae (17,1), eine Stätte der Schamlosigkeit, der spurcitia (17,2), Unflätigkeit, und der scurrilitas (17,5), der Possenreißerei. Das Moment geschlechtlicher Unmoral wird vor allem in folgender Passage angesprochen:

Und ganz offensichtlich sind Liber und Venus die Schirmherren auch der Schauspielkunst. Was besonders charakteristisch für die Bühne ist, die Weichheit von Gestik und geschmeidiger Körperbewegung, das opfern sie der Venus und dem Liber, von denen die eine in geschlechtlicher Hinsicht, der andere durch Gaumenfreuden verworfen (dissolutus) ist. (10,8)

 

An zwei Dingen macht Tertullian also seine Ablehnung des Unterhaltungsgewerbes fest: An den schamlosen und grausamen Gegenständen des Amüsements und andererseits an ihrem Aufweichen und Zerstören der disciplina, jener Selbstzucht, die den Emotionen Zügel anlegt, ein ruhiges, gleichförmiges Innenleben betreibt.

 

Dazu formuliert er eine Aufteilung des Menschen in edlere und unedlere Teile. Edel ist das, was zum Kopf gehört, Augen und Ohren (13,5), denn beide dienen dem Geist (17,5). Extrem unedel sind die intestina (13,5), die Eingeweide, Gedärme. Jedem Teil aber ordnet er Laster zu: Den Augen die concupiscentia (das Begehren), den Ohren und der Zunge das maliloquium, die üble Rede, dem Gaumen und Magen das gulae crimen, die Schlemmerei, den Genitalien den excessus impuditiae, den Händen vis, hier zur Gewalttätigkeit geworden, den Füßen die vagans vita, das in die Irre Laufen (alles 2,10) Damit ist all das, was Römer gemeinhin als vergnügliche Lebensfreude betrachteten, jedes gaudium, verboten, denn es ist fructus saeculi (1,2) und direkt danach erwähnt er jene, die sich vom Christentum lösen, weil sie mehr fürchten, auf Vergnügungen (voluptates) verzichten als dass sie Angst vor dem Tod haben. (1,3)

 

All das ist Verbrechen, crimen, scelus (1,3), malignitas – irgendwann wird aus all dem in den Sprachen germanischer Herkunft das Wort Sünde. Tertullian verlangt damit umgekehrt von seinen Christen das, was einige Jahrhunderte später als Weltverachtung zum mönchischen Programm wird. Genau damit wird aber dann die Nachfolge Jesu, der Anspruch der Heiligkeit aus der Laienwelt ausgegliedert. Aus der von Tertullian bei seinen Christen angeprangerten Doppelmoral werden zwei unterschiedliche Ansprüche.

 

Indem Tertullian einmal historisch argumentiert, mit der pagan-kultischen Herkunft des Amüsierbetriebes, und zum anderen zur Zügelung der Gemütsbewegungen aufruft, zur disciplina, operiert er in den hergebrachten und ihm vertrauten römischen Zusammenhängen. Implizit verweist er auf die hedoné Epikurs und die ataraxia der Stoa. Seine Argumentation verweist auf die ratio und die natura (1,4), das naturalis ius (1,5), welche auch den Heiden zugänglich sind. Diese werden für Christen "nur" ergänzt durch die bona natura des heiligen Geistes (15,2) und durch die Botschaft der heiligen Schriften (3,1), aus der auch der Glaube an magische Kräfte, an Dämonen und wirksame Zaubersprüche entnommen werden kann: Mit magicis devinctiones kann sogar jemand getötet werden (2,8), so wie ja auch Jesus umgekehrt mit einem Spruch von den Toten auferstehen ließ. Da die Welt von der göttlichen Vernunft geschaffen wurde, sind auch Dämonen und Engel ein Teil von ihr.

 Aber die Disziplin eines vernunftgeleiteten Lebens war schon immer nur etwas für wenige. Die Vernünftigkeit der römischen Theologie wird sich in einen Dauerkampf mit der lebendigen Unvernunft der meisten begeben und rund tausend Jahre später diesen Kampf verlieren. Stattdessen wird sie den inneren Widerspruch in die Menschen pflanzen, die Moral als Doppelmoral und das Abheben der Theorie von der Lebenspraxis.

 

 

6. Konstantin und Christentum

 

Monumentalkopf des Konstantin, Konservatorenpalast, Rom
Monumentalkopf des Konstantin, Konservatorenpalast, Rom

Dem Monotheismus im Abendland wurde der Weg nicht nur vom Judentum vorgebildet, sondern auch durch die griechische Philosophie, die „in rücksichtsloser Konsequenz (…) das Denken von Tradition und Alltagserfahrung“ löst (Angenandt, S.17) und in gründlicher Abstraktion um seine eigene Begrifflichkeit kreisen lässt. Was die Tradition in den Mythos fasst und die Erfahrung als Vielfalt sieht, wird von Denkmustern einer neuen, von allem abstrahierenden eigenen Vernunft abgelöst, die von der impliziten bis zur expliziten Kritik am Götterglauben vordringt.

 

Das Denken schritt dabei von der Vielheit zur Einheit und zum Einen, welches ethisch aufgefasst zum höchsten Guten (summum bonum) wird und ontologisch zum einen höchsten Seienden als Urquell einer Vielfalt von Erscheinungen, die einer erstrebten Wahrheit uneigentlich sind.

 

Im dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung dringen dann immer machtvoller letztlich monotheistisch ausgerichtete Kulte von Osten ins Reich ein, insbesondere der Mithraskult, der Serapiskult und die Verehrung des Sonnengottes Sol, zusätzlich zu Judentum und Christentum. Das Reich pendelt zwischen Restaurationsversuchen der alten Götterwelt und kaiserlichen Tendenzen, eine „Gottheit“ zu privilegieren, die ihre Macht und den Staat legitimieren könnte. So gibt es abwechselnd Zeiten des Friedens für die Christen (als einer Glaubensrichtung unter vielen) und solche, in denen sie verfolgt werden, da sie als Risiko für die despotische Macht der Kaiser und die Einheit des Reiches gesehen werden.

 

Das Christentum, im dritten Jahrhundert zahlenmäßig gewachsen und über immer größere Teile des Reiches auch im Westen zumindest in den Städten verbreitet, ist, da es im Kern eine Lehre mit absolutem Wahrheitsanspruch und nicht vor allem ein Kult ist, zunehmend missionarisch und unduldsam, und es wird gelegentlich von Nichtchristen als arrogant betrachtet. Mit seiner das Reich überziehenden bischöflich-monarchisch institutionalisierten Hierarchie drängt sich dadurch immer weniger die Frage der Duldung auf, sondern die der Unterdrückung oder der Privilegierung. Das wird das Problem der Tetrarchie (zwei Augusti, zwei Caesaren) unter Diokletian.

 

Mit den mehreren zentral für das ganze Reich angeordneten, allerdings regional verschieden intensiv durchgeführten Verfolgungswellen kommt es zur Aufspaltung der Christenheit in die kleinere Gruppe der Märtyrer und die nicht unerhebliche derer, die mehr oder weniger von der Kirche abfallen, um Leben und Freiheit zu retten. Diese „Abgefallenen“ (lapsi) versuchen nach dem Ende der jeweiligen Verfolgungsaktion zum großen Teil wieder in die Kirche zurück zu gelangen, wobei diese sich auch darüber in rigorose und nachgiebigere Flügel spaltet; schließlich gilt der Abfall von der Kirche ebenso wie Unzucht/Hurerei bis Mitte des dritten Jahrhunderts als an sich nicht abbüßbare Todsünde. Dazu kommt die Frage, ob diese Leute nun neu getauft werden müssen oder durch einfache Handauflegung zurück kommen dürfen. Und: Darf ein „gefallener“ Bischof taufen und weihen? Besonders eklatant wird diese Auseinandersetzung im Donatistenstreit, der das ganze vierte Jahrhundert durchziehen wird.

 

Dennoch verbreitet sich das Christentum in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts weiter und erreicht an einzelnen Orten insbesondere in Kleinasien schließlich sogar die Bevölkerungsmehrheit, auch wenn die Christen insgesamt wohl noch deutlich weniger als zehn Prozent der Reichsbevölkerung ausmachen. Einer Kirche mit auf Lebenszeit bezahlten Amtsträgern stehen so immer mehr „Laien“ gegenüber, von denen vermutlich ein immer größerer Teil den rigorosen Ansprüchen eines Tertullian oder Cyprian und anderer nordafrikanischer Bischöfe und Kirchenlehrer nicht mehr genügen kann und will.

 

In dieser Situation tun sich römische Bischöfe wie Stephan seit Mitte des Jahrhunderts hervor mit einer Position des Verständnisses und Entgegenkommens für diese etwas „laxeren“ Laien. Als sich dann die Petrus- und Pauluslegenden von deren historisch nicht belegbaren Martyrien in Rom immer mehr verbreiten, zeigen sich erste Ansätze für die stadtrömische Herausarbeitung einer Sonderstellung, die aber zunächst von anderen Bischöfen zurückgewiesen wird.

 

Der Zerfall des Imperium Romanum ist ein langsamer Prozess, an dem vieles Anteil hat. Dazu gehört ein offensichtlich auflebender Regionalismus in Britannien, Gallien und Nordafrika wie eine zunehmende Zweiteilung in einen lateinischen und griechischen Raum mit unterschiedlichen Traditionen, der sich gelegentlich auch in unterschiedlichen christlichen Theologien äußert.

 

Dazu kommt eine Überfremdung des „römischen“ Heeres durch germanische Völkerschaften, damit verbunden eine Ansiedlungspolitik von solchen im römischen Reich, um entvölkerte Regionen neu zu bevölkern und um das Heer aufzufüllen. Dabei wächst der Druck militärischer Verbände germanischer Völkerschaften auf die Grenzen.

Auf der anderen Seite steigt der persische Druck auf die weit nach Osten vorgeschobenen römischen Grenzen. Diokletian macht den auf Dauer nicht funktionsfähigen paradoxen Versuch, die Reichseinheit durch Aufteilung des Reiches in zwei plus zwei Herrschaftsbereiche zu sichern: Ein östlicher und ein westlicher Augustus sollen durch zwei Caesaren flankiert werden, das monarchische Geblütsrecht samt Adoptionsrecht mit seinen massiven Konflikten soll durch eine nur auf dem Papier kunstvolle Konstruktion ersetzt werden. Die beiden Caesaren sollen nach einer festen Zeit zu Augusti aufsteigen, die bisherigen sollen zurücktreten.

 

Diese nicht-dynastische Konstruktion soll durch eine neue Form des Kaiserkultes verstärkt werden, und so bezeichnet sich Diokletian als Sohn des Jupiter, während Kollege Maximian zum Sohn des vergöttlichten Herkules erklärt wird. West-Caesar Constantius Chlorus wird der Sonnengott "zugeordnet" und Galerius Mars. Der Weg ist eröffnet hin zum Gottesgnadentum Konstantins und der Potentaten, die später das weströmische Reich beerben werden.

 

Der Kaiserkult, der auf den tradierten römischen Kulten basiert, soll wieder gestärkt werden. Darauf gründet vor allem die sich entwickelnde Verfolgung jener monotheistischen Religionen, die im Reich auf einer Sonderrolle beharren. 297 kommt es zunächst zum Reskript gegen die Manichäer, einer dem Christentum benachbarten Religion aus Persien:

...denn sie haben ruhige Völkerschaften in Unruhe versetzt und den Städten größten Schaden zugefügt (populos namque quietos perturbare nec non et civitatibus maxima detrimenta inserere). (in: Hermann-Otto, S.67/221)

 

Ausführlicher sei das Edikt des Galerius gegen die Christen angeführt, um deutlich zu machen, wie wenig die Verfolgungen im heutigen Wortsinn „religiös“ begründet sind, - und um als Entsprechung dann die Verfügungen zur Duldung, Legalisierung und Privilegierung der Christen dazu zu sehen:

Unter den übrigen Anordnungen, die wir immer zu Nutz und Frommen des Gemeinwesens treffen, waren wir bisher willens gewesen im Einklang mit den alten Gesetzen und der staatlichen Verfassung der Römer, alles zu ordnen und auch dafür Sorge zu tragen, dass auch die Christen, welche die Religion ihrer Väter verlassen hatten, zu vernünftiger Gesinnung zurückkehrten. Denn aus irgendeinem Grunde hatte eben diese Christen ein solcher Eigenwille erfasst und solche Torheit ergriffen, dass sie nicht den Einrichtungen der Alten folgten, die vielleicht ihre eigenen Vorfahren zuerst eingeführt hatten, sondern sich nach eigenem Gutdünken und Belieben Gesetze zur Beobachtung schufen und in verschiedenen Gegenden verschiedene Bevölkerungen zu einer Gemeinschaft vereinigten.

(Laktanz, De mortibus persecutorum, 34,1-2 in Hermann-Otto, S.67. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost04/Lactantius/lac_mort.html)

 

Nicht religiöse Inhalte, sondern ihre Absonderung, Segregation wird den Christen vorgeworfen: … sibimet leges facerent, quas observarent, et per diversa varios populos congregarent. Dieser römische Blick auf das Christentum wird bei Konstantin unter entgegengesetzten Vorzeichen erhalten bleiben, und genau darum wird er Spaltungen in der Christenheit nicht dulden können. Es geht um den Erhalt der Reichseinheit vermittels der Durchsetzung von Herrschergewalt, „Religion“ im neuen Sinne ist den Herrschern vorläufig noch fremd, der Götter-Kult und die Machtausübung gehören zusammen.

 

Ab 303 kommt es dann erneut zu Christenverfolgungen, die vor allem den Osten heimsuchen, jene Gebiete, in denen die christliche Kirche einen gewissen Einfluss errungen hat und eine konkurrierende Ordnungsmacht geworden ist. Noch die Verfolgungen des Decius 249 waren nicht dezidiert gegen die Christen gerichtet gewesen, verlangt wurde vielmehr, und das nun zum ersten Mal, ein Opfer für den Kaiser von allen Bürgern im Reich. Dass es Christen zum ersten Mal überhaupt reichsweit traf, lag daran, dass einige das Opfer verweigerten. Diese "Christen fielen diesen Maßnahmen zum Opfer, nicht weil sie Christen waren, sondern weil sie nicht opferten." (Piepenbrink, S. 22)

 

Die Maßnahmen unter den Tetrarchen nun richten sich zum ersten Mal reichsweit und gezielt gegen die Christen, gegen ihre Geistlichen und ihren Gebäudebestand, ja ihr Eigentum überhaupt. Womöglich erreichen sie ihr Ziel genau deswegen nicht.

 

Die Vierteilung des Reiches, Tetrarchie, scheitert ab 305, als die beiden Augusti Diokletian (für den Osten) und Maximian (für den Westen) vereinbarungsgemäß zurücktreten. Galerius und Constantius werden jeweils Augustus, und als neue Caesaren werden nicht deren Söhne Konstantin und und Maxentius eingesetzt, sondern für den Osten Maximinus Daja und für den Westen Severus, der bald durch Licinius ersetzt wird, der aber auch im Westen kaum Fuß fassen kann.

 

Beide Caesarensöhne akzeptieren das nicht. Konstantin wird von den Truppen seines gerade verstorbenen Vaters Constantius in York (Eburiacum) zum Augustus des Westen ausgerufen und Maxentius, der Sohn des Maximian, kurz darauf ebenfalls in Rom. Letzterer setzt sowohl auf den Senat und die Christen, erlaubt ihre Versammlungen, gibt ihnen ihre Gebäude zurück, während Konstantin den in Gallien verbreiteten Apollokult und damit verbunden auch den des unbesiegbaren Sonnengottes, Sol invictus unterstützt.

Goldmedaille mit Sonnengott (nach 317)
Goldmedaille mit Sonnengott (nach 317)

 

Dieser Sonnen- und Lichtgott lädt schon seit über hundert Jahren ein zu einem henotheistischen Kult, der dazu neigt, ihn von einer Gottheit der ersten Wahl, von einer obersten Gottheit zur einzigen zu machen. Schon Aurelian (270-75) zeigt auf Münzen, "wie er vom Sonnengott die Weltkugel als Symbol seiner Weltherrschaft erhält, und der Gott in den Münzlegenden als Bewahrer (conservator) und Gefährte des Kaisers und seiner Machtausübung gepriesen wird,..." (Brandt, S.19)

 

Die Licht-Metaphorik lässt ihn dabei in die Nähe des Christengottes rücken, und Konstantin wird nach 312 gelegentlich auf Abbildungen auf Münzen ein christliches Symbol und die Abbildung des Sonnenkultes nebeneinander stellen. Daneben gibt es zunächst weiter solche, die nur den Sonnengott zeigen.

 

Konstantin ist nicht nur unehelich geboren, später heißt es, seine Mutter Helena sei eine Stallmagd in einer Herberge gewesen, von der sich Vater Constantius trennt, als er Karriere macht und die Stieftochter des Maximian heiratet. Der Sohn wird im Zuge seines Aufstieges Fausta, Tochter des Augustus Maximian, heiraten. Usurpatoren benötigen außer der Unterstützung durch ein Heer zusätzliche Formen der Legitimierung.

 

Offensichtlich wird inzwischen das Phänomen mangelnder Legitimität auch zunehmend religiös aufgefüllt. Constantius hatte wohl am Hof des Diokletian in Nikomedia mitangesehen, dass sich die Kirche nicht mehr mit Gewalt beseitigen ließ. Sein Vater schon hatte die Christenverfolgung in Gallien nur halbherzig betrieben. Im Osten dagegen kommt es zu immer neuen Verfolgungswellen, bis dann 311 der Augustus Galerius „kapituliert“ und in einem Edikt, welches Laktanz, der zukünftige Erzieher eines Konstantinsohnes, überliefert hat, den Christen eine Art Bestandsgarantie gewährt:

 

Als wir schließlich ein Edikt mit dem Inhalt erließen, dass sie sich den Bräuchen der Alten anschließen sollten, gerieten viele in Anklagen auf Leben und Tod, und viele sind sogar von Haus und Hof verjagt worden. Und da so viele an ihrem Vorsatz festhielten und wir sahen, dass sie den Göttern nicht den Dienst und die Verehrung erwiesen, die ihnen zukam, und auch nicht den Gott der Christen verehrten (observare), sind wir auch in Anbetracht unseres außerordentlich milden Wohlwollens und unter Berücksichtigung unserer unveränderlichen Gewohnheit, wonach wir allen Menschen Gnade zu erweisen pflegen, zu der Ansicht gelangt, dass unsere Nachsicht auch diese umfassen soll, weshalb sie wieder Christen sein und ihre Versammlungen (conventicula) ausrichten können, jedoch so, dass sie nichts gegen die öffentliche Ordnung unternehmen; in einem anderen Schreiben werden wir den Provinzgouverneuren Anweisungen geben, was sie zu tun haben. Deshalb sollen sie in Übereinstimmung mit unserem Wohlwollen für unser, des Staates und ihr eigenes Heil beten, damit der Staat in jeder Weise unbeschädigt bleibe (ita ut ne quid contra disciplinam agant) und sie an ihren Wohnsitzen in Sicherheit leben können. (De mortibus persec., 34)

 

Zum ersten Mal wird damit die christliche Kirche legalisiert, nicht nur toleriert, und zugleich wird deutlich, dass es sich um eine Maßnahme der Staatsraison handelt und nichts anderes: Die Christen sollen für das Heil der Kaiser und des Staates beten, etwas, wozu sie ohnehin bereit waren, und damit zu einem der Fundamente der Herrschaft, des Staatswesens und von Recht und Ordnung werden. Damit wird implizit verzichtet, dass sie an den Opfern zum Kaiserkult teilnehmen und der erste Schritt zu einer neuen Form der Legitimierung der Herrschergewalt ist getan.

 

Genau daran wird Konstantin auf dem Weg zur Alleinherrschaft, zur Rückkehr und dem Ausbau einer despotischen Monarchie anknüpfen. Die Geschichte von einer Vision des Konstantin vor der Schlacht an der Milvischen Brücke 312 mit dem Sieg über Maxentius beruht womöglich auf einer viel späteren Erzählung des Herrschers an den Bischof Eusebius von Caesarea, der längst zu einem glühenden Anhänger seines Kaisers geworden ist. Aber etwa in dieser Zeit findet wohl tatsächlich eine Annäherung Konstantins an den Christengott statt. Die Feier des Sieges über Maxentius in Rom zeigt Veränderung: "Constantin ging nicht auf das Kapitol, um Iupiter Optimus Maximus zu opfern (...). Ebenso bedeutsam war es, dass der Festredner die Gottheit, der Constantin seinen Sieg zuschrieb, nur mit dem unbestimmten Namen >Schöpfer aller Dinge< apostrophierte. (Bellen, S.11) Dankbar gibt der Kaiser der Kirche von Karthago Immunität.

 

Das sogenannte Mailänder Edikt, jene Übereinkunft zwischen Konstantin und Licinius 313, vertieft dann das Gebot der Religionsfreiheit für alle,

so dass die summa divinitas , deren Religion wir im freien Sinne folgen, in allem ihre gewohnte Güte und Gnade erweisen kann, damit so die öffentliche Ruhe durch unsere Milde bewahrt wird.

Den Christen werden dabei ihre Güter zurückerstattet, und zwar nicht nur den Einzelnen, sondern auch der Körperschaft der Christen, also den einzelnen als solche anerkannten Gemeinden. (Laktanz, de mortibus, 48, in: Piepenbrink, S.44).).

 

Konstantinsbogen: Opfer an Apollo
Konstantinsbogen: Opfer an Apollo

Der vom Senat 315 fertiggestellte Konstantinsbogen in Rom neben dem Colosseum ist kein Triumphbogen. Teile sind von anderswo hergeholt, nur einiges wird extra für dieses Denkmal hergestellt. Nichts aber verweist auf einen christlichen Kaiser, das Bildprogramm ist komplett „heidnisch“. Konstantin hatte keine äußeren Feinde besiegt, sondern nach späterer christlicher Auffassung nur Rom von einem Tyrannen befreit.

Auf der Inschrift wird zwar gepriesen, Konstantin habe Erfolg gehabt "aufgrund der Eingebung einer Gottheit" (instinctu divinitatis), aber welches diese zum Sieg verhelfende "Gottheit" sei, bleibt ungesagt.

 

Goldmedaille von 313
Goldmedaille von 313

Dies Goldmedaillon links zeigt 313 den Sonnengott Seite an Seite mit dem Kaiser als sein comes (Gefährte). Comites hießen auch Leute im direkten Umfeld des Kaisers, die eine neue, abgestufte Gefolgschaft bildeten, je nach Nähe zum Herrscher. Das Frankenreich wird diesen Titel erben und aus ihm wird sowohl der comte wie der Graf hervorgehen.

Bellen meint, Konstantin sei noch „offen … für jede Form des Monotheismus.“ (S.15) Wir können nicht wissen, was in dem Kaiser vorgeht, wahrnehmbar ist für uns nur, was er damals der Öffentlichkeit darbietet.

 

Erst ab 324 sind Münzen eindeutig christlich geprägt. Die öffentliche Entscheidung für das Christentum geht zusammen mit seiner Alleinherrschaft im Reich. Andererseits bekennt sich offenbar Konstantin auf der von ihm 314 nach Arles berufenen Synode vor einer Anzahl von Bischöfen zur "Güte unseres Gottes" (pietas dei nostri), der nicht erlaubt, dass das Menschengeschlecht längere Zeit im Dunkeln irrt, aber wie christlich sein Gott inzwischen ist, ist nicht leicht eruierbar. Das hell leuchtende Licht dieses allmächtigen Gott, der im Himmel sitzt, welches zur Regel der Gerechtigkeit bekehrt und den bösen Willen mancher besiegt, klingt noch sehr nach dem alten Sonnengott. Wenn Hartwin Brandt dort eine konstantinische Wende sieht (S.77), so lässt sich auch ein Hinübergleiten des Sonnengottes in einen "christlicheren" Gott erschließen.

 

Um 315 taucht ganz winzig in geringer Auflage auf einer Münze das erste christliche Symbol bei Konstantin auf, nachdem er schon vorher sich in nicht öffentlichen Briefen nach Nordafrika mit dem Christentum (oder was er darunter verstand) identifiziert hatte.

Silbermedaillon von 315 (?). München, Staatl.Münzsammlung
Silbermedaillon von 315 (?). München, Staatl.Münzsammlung

„Mit der rechten Hand hält Konstantin ein Pferd am Zügel und vor der linken Schulter einen Schild, auf dem die römische Wölfin Romulus und Remus säugend dargestellt ist. Hinter dem Schild ragt ein Kugelszepter hervor. Der (…) Spangenhelm trägt vorn am Federhelmbusch eine runde Schreibe, in die das Christogramm eingeschrieben ist.“ (Ehling in: Ehling/Weber, S.27) Dieses verbindet das Chi (X) und das Rho (P) miteinander, die ersten beiden griechischen Buchstaben von christós.

 

Kai Ehling (in: Ehling/Weber S.33ff) stellt überzeugend dar, dass der von Maximinus Daja im Osten favorisierte Serapiskult bei einem Sieg über seine Kontrahenten Licinius und Konstantin eine kaiserliche Alternative zum Christentum hätte sein können, und zwar mit einem Monotheismus, der aus der populären Identifizierung des Serapis mit dem Sonnengott Helios hätte erwachsen können, verbunden mit der Entwicklung einer kaiserlich kontrollierten, einheitlichen Priesterschaft.

 

Im Kern ging es mehreren der Kaiser um das Bündnis mit einer solchen einheitlichen Priesterschaft und reichsweitem staatstragendem Kultus. Genau dies wird auch Julian eine knappe Generation später mit seiner spezifischen Version von Re-Privilegierung der altrömischen Kulte bezwecken, und vielleicht sollten wir tunlichst bezweifeln, dass bis Mitte des vierten Jahrhunderts der Weg in die Christianisierung des römischen Reiches notwendig so hätte stattfinden müssen.

 

Martin Wallraff schreibt über den Despoten Konstantin in seiner späteren Residenz Konstantinopel: „Der Kaiserkult, gegen den die Christen einst heftig protestiert hatten und dessentwegen einige ihr Leben gelassen hatten, bestand ungebrochen weiter in der nun christlich gewordenen Gesellschaft. Ausrotten konnte man ihn nicht; man konnte nur versuchen, dem so heidnisch wirkenden Sonnenkönig notdürftig einen christlichen Sinn unterzuschieben.“ (Ehling/Weber, S. 43)

Katakombe Pietro e Marcellino, Rom
Katakombe Pietro e Marcellino, Rom

Die Nähe von Christus/Christen-Gott zum Sonnengott wird nicht zuletzt über die Lichtmetaphorik vemittelt. Auf dem Fresko links fährt Christus wie der Sonnengott mit seinem Wagen über den Himmel, ganz ähnlich wie in dem kreisförmigen Relief auf dem Konstantinsbogen, wo es sich eindeutig um Sol handelt. Verwandt sind etwa gleichzeitige Darstellungen mit dem goldenen Nimbus um den Kopf Christi, von dem Strahlen ausgehen.

 

323/24 ist Konstantin dann Alleinherrscher. Aus einem Nebeneinander des Sonnengottes und des Christengottes entwickelt sich immer deutlicher eine leichte Privilegierung der Anhänger des letzteren. Zunächst wird der katholische Klerus von Steuern und Abgaben befreit und damit den übrigen Priestern gleichgestellt, bringen sie doch ersichtlich dadurch, dass sie ihres höchsten Amtes gegenüber der Gottheit walten, unermesslichen Segen über den Staat. (Konstantin laut Eusebius, Kirchengeschichte X,7,2, in: Jacobs,S.172)

 

Die Spekulationen, ob Konstantin die Christen für seine Machtentfaltung missbraucht (Jakob Burckhardt) oder ob er inzwischen gläubiger Christ sei (Paul Veyne / Heinz Bellen) sind müßig. Keine Quelle verhilft uns dazu, in ihn hineinzuschauen, die von Eusebius und Laktanz, beides Christen, überlieferten Texte von ihm sowie die überlieferte Gesetzgebung lassen nicht erkennen, dass er die Feinheiten der christlichen Lehre überhaupt wahrgenommen hat.

 

Drei bei Eusebius in seiner Konstantinbiographie wiedergegebene Briefe lassen eher vermuten, dass der Kaiser sehr traditionell römische Vorstellungen von dem neuen Gott hatte, die sich wohl für ihn aus seinem Kult des unbesiegbaren Sonnengottes entwickelt hatten:

 

Meinen Dienst hat Gott gewollt und für geeignet gehalten, seinen Entschluss auszuführen, der ich am britannischen Meer und bei den Ländern, in denen die Sonne nach dem Gesetz der Natur untergeht, begonnen habe, die überall herrschenden Schrecken zu vertreiben und zu zerstreuen, damit das Menschengeschlecht, belehrt durch meine Vermittlung, zum Dienst des heiligsten Gesetzes zurückkehre und sich zugleich der seligste Glaube unter der göttlichen Leitung ausbreite. (II, 24 in: Piepenbrink, S.52)

Alles, was von den unabänderlichen Naturgesetzen beherrscht wird, lässt alle Menschen genugsam die Vorsehung und Weisheit in der göttlichen Weltregierung wahrnehmen, und es hegen auch die, deren Denken auf dem geraden Weg der Erkenntnis dem Ziel zueilt, gar keinen Zweifel darüber, dass der scharfe Blick einer gesunden Vernunft und selbst des Auges einzig unter dem Einfluss der wahren Tugend zur Erkenntnis Gottes hinführt. (II,48 in: Jacobs, S.183)

 

Wenn ich an dem göttlichen Glauben festhalte, werde ich des Lichtes der Wahrheit teilhaftig. Von dem Licht der Wahrheit geleitet, erkenne ich den göttlichen Glauben. Und dadurch erkenne ich wahrlich, wie die Geschehnisse es bestätigen, die heiligste Gottesverehrung. Als Lehrerin in der Erkenntnis des heiligsten Gottes habe ich, das bekenne ich offen, die Religion. (IV,9 in: Jacobs, S.185)

In letzterem Brief an den Perserkönig macht Konstantin danach deutlich, dass seine militärischen Erfolge auf dem Bündnis mit diesem Gott beruhen, der auch für Eusebius mit dem Sieg Konstantins gegen Maxentius an der Milvischen Brücke zum veritablen und übermächtigen Kriegsgott geworden ist.

 

Hartwin Brandt betont, dass gerade gebildete Heiden und Christen, "die ein gemeinsamer kultureller Hintergrund verband, keineswegs unversöhnliche Gegner sein mussten." (S.90) Bei Konstantin lässt sich eher eine gewisse Vereinbarkeit als Ausgangspunkt seiner Zuwendung zum Christengott erkennen: Dieser hatte in den letzten zweihundert Jahren eine Wandlung durchgemacht, die ihn einer "aufgeklärten" Verehrung eines der neuen heidnischen Götter aus dem Osten annäherte. Es liegt sogar nahe, anzunehmen, dass Konstantin den Christengott bis zum Schluss als eine "Emanation" des Sonnengottes begreift (Brandt, S. 96). Nichts aber könnte deutlicher machen, wie sehr das Christentum sich gewandelt hat, als die Akzeptanz dieser Haltung durch Eusebius, für den Licht, Sonne, Glanz, Konstantin und Gott geradezu in eins fallen.

 

Kraft schreibt in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Konstantinbuch:

„Die zuverlässigsten Quellen sind Konstantins eigene Briefe. Aus ihnen entnehmen wir, dass an der Aufrichtigkeit von Konstantins Christentum nicht zu zweifeln ist, während von einer Bekehrung nicht die Rede sein kann. Es liegt nicht an Konstantins Christentum, sondern an unserem Bekehrungsbegriff, dass wir vergeblich nach Konstantins Bekehrung fragen, vergeblich das Datum suchen, an dem aus dem Saulus ein Paulus wurde. Es gibt diesen Augenblick nicht.“ (Kraft, S. 4)

 

Konstantin ist auf dem Weg zum alleinigen Kaisertum, und die „religiöse“ Begründung dieses Kaisertum ist ihm wichtig und für ihn notwendig, aber Religion und Macht sind untrennbar miteinander verbunden, und Konstantins Religionsverständnis bleibt traditionell römisch; genau dieses wird über die Verehrung einer summa divinitas in sein Christentum führen. Die Kirche aber ist inzwischen soweit in die römischen Traditionen integriert, dass nun beide zusammenfinden.

 

Was im einzelnen wirklich geschieht, ist weder nachträglich feststellbar noch für die Zukunft von Bedeutung. Geschichtsträchtig wird wie meist die Legendenbildung, und für die wird Eusebius um 340, nach dem Tod des Kaisers, in seinem Konstantinbuch zuständig. Darin wird der Prototyp des christlichen Herrschers geschaffen, der von nun an Modellcharakter bekommt, und zwar ausgehend von der „Vision“ vor der Schlacht um Rom 312:

 

Während der Kaiser aber so betete und eifrig darum flehte, erschien ihm ein ganz unglaubliches Gotteszeichen, dass man wohl nicht leichtgläubig hinnehmen würde, wenn ein anderer davon berichtete; da es aber der siegreiche Kaiser selbst uns, die wir die Darstellung schreiben, lange Zeit hernach, als wir seine Freundschaft und des Verkehrs mit ihm gewürdigt worden waren, erzählt und sein Wort mit Eiden bekräftigt hat, wer sollte da noch Bedenken tragen...? Um die Stunde der Mittagszeit, da sich der Tag schon neigte, habe er – so sagte der Kaiser – mit eigenen Augen oben am Himmel über der Sonne das Siegeszeichen des Kreuzes, aus Licht gebildet, und dabei die Worte gesehen: 'Durch dieses siege!' Staunen aber habe bei diesem Gesicht ihn und das ganze Heer ergriffen, das ihm eben auf seinem Marsche, ich weiß nicht wohin, folgte und dieses Wunder schaute. Da sei er nun in Verlegenheit gewesen, was doch diese Erscheinung bedeute. Während er aber dieses erwogen und noch lange darüber nachgedacht habe, habe ihn die Nacht überrascht. Da habe sich ihm nun im Schlafe der Christus Gottes mit dem am Himmel erschienenen Zeichen gezeigt und ihm aufgetragen, das am Himmel geschaute Zeichen nachzubilden und es bei seinen Kämpfen mit den Feinden als Schutzpanier zu gebrauchen. (I, 28-29 in: Hermann-Otto, S.55f)

 

Man muss das ganz und gar Unglaubliche glauben, weil es der Kaiser erzählt, meint Eusebius. Wir hingegen können konstatieren, dass der Bischof hier eine kirchliche Wende (keine konstantinische!) unterschrieben hat, die rein weltliches Machtinteresse christlich verbrämt. Die Kirche ist inzwischen in der Person der Bischöfe mit ihren enormen Machtvollkommenheiten ganz in der Hand einer Oberschicht, die ihre Machtinteressen nun ebenfalls ganz analog christlich verbrämen wird. Inwieweit dieser Vorgang noch bewusst ist, als massive Veränderung erkennbar, kann man heute nicht mehr nachvollziehen. Es ist kein Text mehr vorhanden, der dies problematisiert. Mag sein, dass das Aufatmen nach dem Ende der Verfolgungen und die Freude der Bischöfe, in die Nähe der weltlichen Macht mit ihren Vergünstigungen zu gelangen, alles übertönte. Festzuhalten ist aber, dass das Christentum sich so massiv gewandelt hat, dass dieser Vorgang jedenfalls ohne kritische Spuren zu hinterlassen vonstatten geht...

 

Die Fixierung des christlichen Establishments auf den Herrscher geht so weit, dass Bischof Eusebius in seiner Kirchengeschichte über den Konstantin unterlegenen Maxentius voller Häme schreiben kann:

Sein Sohn Maxentius, der in Rom sich die Herrschaft angeeignet hatte, stellte sich anfänglich, um dem römischen Volk zu gefallen und zu schmeicheln, als bekenne er unseren Glauben, und befahl darum seinen Untertanen, die Christenverfolgung einzustellen. So heuchelte er Gottesfurcht und wollte entgegen den früheren Herrschern als gütig und gar milde erscheinen. (VIII, 14,1 in: Hermann-Otto, S.223)

 

Von der aufrichtigen Ernsthaftigkeit so unterschiedlicher Autoren wie Paulus, Tertullian oder Origenes ist nichts mehr übriggeblieben. Stattdessen heißt es im zehnten Buch der Kirchengeschichte über Konstantin unter Verwendung von Bibelzitaten:

Und du, jugendlicher Stolz des heiligen Gottestempels, von Gott mit ehrwürdiger Weisheit begabt, gefeiert ob der prächtigen Werke und Taten, die deine jugendlich frische Kraft vollbracht, dem Gott selbst, der die ganze Welt umfasst, die besondere Ehre verliehen, dass er das irdische Haus baue und erneuere für Christus, sein eingeborenes und erstgeborenes Wort, und dessen heilige und gotteswürdige Braut! Soll man dich einen neuen Beseeler, den Erbauer des göttlichen Zeltes, oder Salomon, den König des neuen und viel besseren Jerusalem, oder gar einen neuen Zorobabel nennen, der dem Tempel Gottes noch weit größere Herrlichkeit verlieh, als sie früher ihm eigen? (http://www.unifr.ch/bkv/kapitel56-3.htm)

Apotheose des Antoninus Pius
Apotheose des Antoninus Pius

 

337 stirbt Konstantin und wird zunächst ganz traditionell römisch vergöttlicht, er wird zum divus wie sein Vater und seine anderen Vorgänger. Schon im zweiten Jahrhundert gab es, wie man hier links sieht, die Auffahrt des vergöttlichten Kaisers zu den Göttern. Es ist eine Himmelfahrt mit dem Kaiser und seiner Frau oben, einem beflügelten Genius, fast schon einem Engel, links unten die Verkörperung des Marsfeldes, rechts die der Stadt Rom

 

Entsprechend wird auch der vergöttlichte Konstantin seine Himmelfahrt antreten, nachdem die Oberen der Macht unter dem Kaiser nichts an der gewohnten Sitte änderten: sie traten zu bestimmten Stunden ein, um dem Kaiser auf der Bahre wie bei seinen Lebzeiten so auch nach seinem Tode, auf die Knie gesunken, ihre Huldigung darzubringen. (Leben Konstantins, Iv, 67,1 in: Brandt, S.163)

Himmelfahrt des Konstantin
Himmelfahrt des Konstantin

Erst in einem zweiten Akt finden also die christlichen Trauerfeierlichkeiten „mit den Priestern und der christlichen Bevölkerung“ statt. (Hermann-Otto, S. 15) Die Münze mit seiner Himmelfahrt zeigt ihn, wie er mit dem Sonnenwagen zu seinem Gott auffährt, der von rechts oben die Hand nach ihm ausstreckt. Als Pontifex maximus bleibt Konstantin der Kaiser von allen und für alle bis zum Schluss...

 

****

In den inhaltlichen Konflikten zwischen den Vertretern einer laxeren Volkskirche (den Katholiken) und den rigoroseren „Donatisten“ in Nordafrika erkennt Konstantin, dass das Volk, in Spaltung begriffen, auf schlimmem Wege sich befindet, und die Bischöfe unter sich uneins sind...(Eusebius, Kirchengeschichte X,5,18, in: Jacobs, S.174). Eine „Gottheit“, soviel versteht Konstantin auf jeden Fall, heißt bei den Christen eine Kirche und eine Glaubenslehre; Meinungsverschiedenheiten müssen, soweit möglich, einvernehmlich geregelt werden, und wo das nicht geht, muss ein Machtwort gesprochen werden.

 

Genau so formuliert der Kaiser an Celsus, seinen Vikar in Afrika, nachdem sowohl Donatus als auch Caecilian, die Hauptkontrahenten, sich einer Verhaftung entziehen:

...ihre ungerechten Pläne sind dadurch offenbar, dass sie sich meiner Gegenwart durch die Flucht zu entziehen versucht haben, als ich beschlossen hatte, vollständig die verschiedenen Vorwürfe zwischen ihnen und Caecilian zu untersuchen... Die Leute aber, die diese Dinge ins Werk setzen und bewirken, dass dem höchsten Gott nicht mit der ihm gebührenden Verehrung gedient wird, werde ich vernichten und zerschmettern (perdam atque discutiam)... Was muss denn meinem Herrscheramt gemäß Wichtigeres von mir getan werden, als dass ich alle Irrtümer zerschlage, alle Verwegenheiten ausrotte und durchsetze, dass alle dem allmächtigen Gott die wahre Religionsausübung, einträchtige Einfalt und die gebührende Verehrung entgegengebracht werden.(in: Hermann-Otto, S.89)

 

Dem „omnipotenten“ Gott und dem überall siegreichen Kaiser muss offensichtlich die gleiche, analoge Verehrung entgegengebracht werden, und der Kaiser hat in beidem offenbar dasselbe letzte Wort. Dennoch gelingt es ihm nicht, den Streit zu beenden, in dem Donatus seinem Nachfolger schließlich sogar entgegenschleudert: Quid est imperatori cum ecclesia, Was geht den Kaiser überhaupt die Kirche an?

 

Die katholische Kirche auf dem Weg ihrer Integration in den römischen Staat wird die gegenteilige Position vertreten: Der (christliche) Staat ist geradezu verpflichtet, Häresien zur Not auch mit Gewalt niederzuschlagen, fehlen der Kirche selbst doch die Gewaltmittel dazu. Bischof Optatus von Mileve schreibt dazu in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, der Staat sei "nicht Teil der Kirche, sondern die Kirche sei Teil des Staates." (Non enim respublica est in eccesia, sed ecclesia est in republica, Piepenbrink, S.97f)

 

In der Frage des Glaubensbekenntnisses, des Streites zwischen den Anhängern des Arius und des Athanasius, lässt sich ein solches Machtwort vermuten. Der Presbyter Arius stellt sich dabei in Alexandria gegen seinen Bischof Alexander. Es geht darum, wie die Gottessohnschaft Jesu zu definieren sei, als wesensgleich oder wesensähnlich (Arius), als von Gott geschaffen (Arius) oder „gezeugt“. Ist er also ein Geschöpf Gottes oder selbst Gott, besser gesagt: Gott selbst. Unterstützt wird Arius von Teilen der Gemeinde und von Bischof Eusebius von Nicomedia.

 

Das darüber verhandelnde Konzil in Konstantins kaiserlichem Palast zu Nicaea einigt sich 325 unter seinem Vorsitz auf den Begriff der homo-ousias, der Wesensgleichheit von Vater und Sohn, was relativ schnell zur betonten Vergöttlichung des Menschen Jesu führt, erst wieder etwas zurückgenommen gegen Ende des Hochmittelalters, als der leidende Mensch an die Stelle des Triumphators tritt.

Die entscheidende Passage lautet:

Wir glauben … an unseren einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Einziggeborener aus dem Vater geboren, das heißt aus der Substanz des Vaters, Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, geboren, nicht geschaffen, von einer Substanz mit dem Vater. (in: Angenendt, S.122, meine Hervorhebung)

 

Diese interpretierende Übersetzung (aus dem Griechischen) macht deutlich, dass das Credo das durchschnittliche menschliche Verständnis übersteigt. Dieses Unverständnis wird dadurch vertieft, dass es 451 auf dem Konzil von Chalcedon wahrgenommen und darum erläutert wird in einem neuen Credo, welches durch seine Verdeutlichung weiteren Streit hervorrufen wird:

... derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheitein und derselbe ist Christus, der einzig geborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird … (in: Angenendt, S.122f)

 

Sein Interesse an diesem Konzil formuliert der Kaiser 324 in einem Schreiben an die Kontrahenten Arius und Athanasius, und es hört sich nicht spezifisch christlich an, außer dass er darin eine Kirche, einen Gott, einen Kaiser fordert:

 

Zuerst wollte ich die Vorstellung aller Völker über das Göttliche zu einer einheitlichen Haltung vereinigen. Dann wollte ich den Körper des gemeinsamen Weltganzen, der gleichsam an einer schlimmen Wunde litt, wiederherstellen und verbinden. Indem ich mir das überlegte, folgerte ich das eine mit dem geheimen Auge der Erkenntnis. Das andere aber versuchte ich durch die Kraft des kriegerischen Armes ins Werk zu setzen. Denn ich wusste: Wenn ich durch meine Gebete eine gemeinsame Einigkeit unter denen zustande bringen würde, die Gott verehren, dann würden auch die staatlichen Angelegenheiten durch die fromme Gesinnung aller Menschen eine Veränderung erfahren. (Eusebius, Leben Konstantins, 2, 61,1-2 in: Hermann-Otto, S.119f, meine Hervorhebungen)

 

Das Unverständnis des Kaisers zeigt sich daran, dass er den Donatistenstreit, der seine Macht in Nordafrika mehr zu gefährden scheint, für viel bedrohlicher hält als den um die Arianer, wiewohl es dort um die Substanz des Glaubens geht:

Als ich mir aber den Grund und den Gegenstand davon betrachtete, stellte sich der Vorwand als völlig unsinnig und einer solchen Streitsucht nicht wert herausWo aber der Streitpunkt, der dem Ganzen im Wege steht, hier klein und ziemlich geringfügig ist, wie sollte es mir da nicht schneller und um vieles leichter möglich sein, die Sache in Ordnung zu bringen. (s.o., 2, 68, 2-3, in: Hermann-Otto, S.120)

Es wäre schicklich gewesen, über solche Dinge von Anfang an weder Fragen zu stellen noch zu antworten, wenn man danach gefragt wird. Denn solche Untersuchungen, die nicht von der Notwendigkeit eines Gesetzes befohlen werden, sondern die der Spaß zu unnützem Müßiggang vorlegt, müssen wir im Verstand einschließen. Wir dürfen sie nicht leichtfertig in öffentliche Versammlungen hinaustragen und sie auch nicht den Ohren des Volkes unüberlegt anvertrauen. (s.o., 2, 69,2, in: Hermann-Otto, S.120)

 

Der Kaiser fühlt sich für die Einheit der Kirche zuständig und für die Glaubenslehre insofern, als deren Einheit gewahrt bleiben muss. Insofern ist der ungetaufte und keiner Kirchengemeinde zugehörige Konstantin eine Art oberster Bischof, eben der Pontifex maximus, der er ja auch lebenslang bleibt. Genau diese Rolle versucht bald zunehmend auch der Bischof von Rom einzunehmen, eine Rolle, die er mit dem Zusammenbruch der Reichseinheit wieder verliert, um dann mit der Mission der Angelsachsen später wieder daran anzuknüpfen.

 

Vorerst aber handelt es sich um eine Kirche der Bischöfe, die ihre Unterwerfung unter den Kaiser und seinen Herrschaftsapparat dankbar annimmt. Den großen Tag von Nicäa im Palast des Kaisers, beschreibt Eusebius so:

Als aber der festgesetzte Tag, an dem die Synode die Zwistigkeiten endlich beheben sollte, erschienen war, da kamen alle, die zur Synode berufen worden waren, in dem Saal mitten im kaiserlichen Palast zusammen … und alle nahmen den ihnen zukommenden Sitz ein. Als sich aber die ganze Versammlung mit der geziemenden Würde niedergelassen hatte, herrschte in der Erwartung des Einzugs vom Kaiser allgemeines Schweigen. Es zog nun erst einer, dann noch ein zweiter und dritter aus der Umgebung des Kaisers ein; voran gingen auch noch andere, nicht aus der Zahl seiner gewöhnlichen Trabanten und Leibwächter, sondern aus dem Kreise seiner gläubigen Freunde. Auf ein Zeichen aber, das die Ankunft des Kaisers verkündete, erhoben sich alle und nun trat er selber mitten in die Versammlung wie ein Engel Gottes vom Himmel her, leuchtend in seinem glänzenden Gewande, strahlend in der feurigen Glut des Purpurs, …. seine ganze Gestalt, die an Größe ebenso seine Begleiter überragte wie an blühender Schönheit, an majestätischer Würde und an unüberwindlicher Körperkraft. (Leben Konstantins, 3, 10f in: Hermann-Otto, S.131f)

 

Wir sehen: Die beachtliche Wende vollzieht nicht Konstantin, sondern die Kirche, die sich nicht nur in seinen Machtapparat, sondern auch in das immer orientalischere Hofzeremoniell begeistert integriert, dem Kaiser das erste Wort lässt, worauf er dann das Wort an die Synodalen weiter gibt.

 

Kurz nach Nicaea protestieren Eusebius von Nicomedia und ein weiterer Bischof gegen die Verbannung des Arius und werden selbst verbannt. 328 wird nach dem Tod Alexanders mit Athanasius ein rabiater Gegner des "Arianismus" Bischof von Alexandria. Die Konflikte steigern sich dort, bis der Kaiser ihn 335 auf einem Konzil verurteilen lässt und unter dem Einfluss von Eusebius nach Gallien verbannt. Arius wiederum bescheinigt der Kaiser nun Rechtgläubigkeit.

 

In Palästina lässt Konstantin eine Kirche über dem angeblichen Grab Jesu erbauen und diese wie andere christliche Kirchen im Land ziehen nun zunehmend Pilger an.

 

Der Kaiser, der sich erst kurz vor seinem Tod taufen lässt, begründet keine Christianisierung von Staat und Gesellschaft, auch wenn er sich gegen „Aberglauben“ wendet (superstitio) und bestimmte kultische Handlungen der „Heiden“ einschränkt sowie die der römischen Gesellschaft der Kaiserzeit inhärente Freude an Grausamkeit minimal zurückfährt. Vielmehr vollendet er die Integration des Christentums in die römische Welt durch Integration ihrer reichsweit vereinheitlichten Institutionen.

Die „konstantinische Wende“ ist kein Bruch in der (weltlichen) Geschichte Roms, sondern die Korrektur und Vollendung von Bestrebungen seiner Vorgänger, insbesondere der Diokletians. Eher schon mag man von der nunmehr vollendeten Abkehr der Kirche von paulinischen und evangelischen Vorstellungen insofern sprechen, als ihre Romanisierung jetzt an der Stelle eines distanzierten Nebeneinanders von Christen, Staat und Gesellschaft die rückhaltlose Bejahung weltlicher Macht und Strukturen mit sich bringt. Die Integration der aristokratischen Bischöfe in den weltlichen Machtapparat wird offensichtlich von ihnen als gebührende Aufwertung begriffen und die gelegentliche Bezeichnung des Eusebius von Caesarea als „Hofprediger Konstantins“ scheint gerechtfertigt, wenn man seine beiden Texte liest.

 

Es fehlt jede christliche Reaktion darauf, dass Konstantin Herrschaft wie selbstverständlich mindestens so gewalttätig und grausam ausübt wie seine Vorgänger, vielmehr lassen christliche Autoren diesen Aspekt einfach aus in ihren Texten weg, und wir erfahren davon nur von „heidnischen“ Autoren. Selbst die von ihm veranlasste Ermordung der Gemahlin Fausta und des Sohnes Crispus 326 scheint die christlichen Prälaten nicht sonderlich irritiert zu haben; Alexander Demandt zählt insgesamt „auf dem Weg zur Alleinherrschaft elf Familienangehörige“, für deren Tod er verantwortlich ist (Ehling/Weber, S.135). Ebenso wenig irritiert offenbar seine auch hier gelegentlich praktizierte, heidnisch-römischer Tradition entspringende damnatio memoriae, das vollständige Auslöschen der Erinnerung an getötete Feinde.

 

Der Weg zur Macht von der Usurpation bis durch die Bürgerkriege wird von den christlichen Autoren gefeiert; wenn Hunderttausende dabei aufgeboten und Zehntausende niedergemetzelt werden, wird das auf den siegreichen Christengott zurückgeführt, wenn Konstantin komplette Familien seiner Gegner mit Frauen und Kindern ermorden lässt, wird das verschwiegen. Bei Eusebius heißt das, im Fall des Licinius heimtückische Meuchelmorde beschönigend:

Darauf fällte er über den Gottverhassten und danach über seine Soldaten nach dem Kriegsrecht das Urteil und übergab sie der verdienten Strafe. Zugleich mit dem Tyrannen wurden alle, die ihm zum Kampf gegen Gott geraten hatten (sic!!!) abgeführt und, wie sie es verdienten, hingerichtet. (Leben des Konstantin, 2,18 in: Hermann-Otto, S.112)

 

Auch Licinius rottet nach seinem Sieg über den Rivalen Maximin dessen gesamte Familie aus sowie die Reste der Familie des verstorbenen Galerius. Aber Konstantin ist nun einmal laut Bischof Eusebius der „allerchristlichste Kaiser“ (cristianissime).

 

Ganz anders klingt es bei Zosimos (um 500) aus nichtchristlicher Sicht, als er hinführt zur Ermordung von Frau und Sohn:

Wie nun die gesamte Macht allein bei Konstantin lag, verhüllte er nicht mehr länger seine angeborene Schlechtigkeit, sondern nahm sich die Freiheit heraus, in all seinem Tun nach Gutdünken zu verfahren. Zwar hielt er noch an den väterlichen Sitten fest, freilich nicht so sehr aus Ehrfurcht als vielmehr aus Zweckmäßigkeit. Dabei hörte er auch auf die Wahrsager, da er ja erprobt hatte. dass sie ihm bei allen seinen Erfolgen die Wahrheit prophezeit hatten. Als er aber voll des Übermuts in Rom eingetroffen war, glaubte er, mit seiner Gottlosigkeit bei der eigenen Familie beginnen zu müssen. (in: Brandt, S.118f)

Gegenüber dem lobhudelnden Ton des Christen Eusebius wird hier wenigstens noch etwas differenziert, auch wenn die Verärgerung des nicht Bekehrten über den Christenfreund dabei deutlich wird.

 

Die Integration des Christentums in den Staat führte auch zur Hinnahme der überaus grausamen Strafen im Reich. Den einen wird flüssiges, heißes Blei in den Rachen gegossen, anderen die Zunge herausgeschnitten, Hände werden abgehackt, es wird bei lebendigem Leibe verbrannt, Verurteilte werden weiter öffentlich von Tieren zerrissen. Weniges wird von Konstantin abgemildert, vieles eher verschärft.

 

Die römische Grausamkeit und das Vergnügen an ihr ist von den Christen nicht erfunden worden, und einzelne Fromme werden sich dem immer wieder widersetzen, alles in allem aber wird öffentliche Grausamkeit und das Vergnügen an ihr Teil des christlichen Alltags werden. Erst die sinkende Macht der Kirche und die mächtigen Eigenbewegungen des Kapitals werden dieses Element zumindest etwas wieder zurückdrängen. Dabei wird die gemeinhin offiziell geleugnete menschliche Lust an der Grausamkeit allerdings nur verdrängt und taucht dann in genau dieser Zeit der Aufklärung und Romantik als Lust am Schrecken in der Literatur, bildenden Kunst und Musik „romantisch“ wieder auf.

 

Die Identifikation mit dem despotischen Staat ist wohl nur möglich gewesen durch die vorherige Einübung einer vergleichsweise despotischen geistlichen Monarchie durch die Bischöfe und durch die immer mehr zu Gewalttätigkeiten neigende „Rechthaberei“ der unterschiedlichen Lehrmeinungen, die unter dem Postulat der „Wahrheit“ keinen friedfertigen und freundlichen Disput mehr ermöglicht. Dem monarchischen Charakter der Bischofsmacht entspricht die immer deutlichere Hierarchisierung der Ämter darunter, Hermann-Otto spricht von der Assimilation des Klerus an die Beamtenschaft, wobei die Anreden („Eure Erhabenheit“ für den Bischof z.B.) denen bestimmter Amtsklassen im Reich entsprechen. (S.168)

 

Widerstand gegen den Kaiser leisteten nur noch die, deren Lehrmeinung er gerade einmal ablehnte. Anders wird es erst viel später, als der aristokratische Ambrosius Bischof von Mailand wird und kaiserliche Eingriffe in sein Regiment in seiner Stadt nicht mehr zulässt und sich mächtig genug fühlt, auch exzessive Greueltaten des Kaisers anzuprangern; - dies alles aber auf dem Hintergrund seiner eigenen gnadenlosen Unduldsamkeit.

 

 

Die Ansätze von Privilegierung einer reichseinheitlichen Kirche kulminieren in einem kaiserlichen Kirchenbauprogramm vor allem in und um Rom. Die Verwandlung der christlichen in eine imperiale Reichskirche wird am sichtbarsten in der Übernahme des profanen Basilikabaus in den sakralen Bereich als christliches Kirchengebäude, welches nun in seiner Monumentalität Macht ausstrahlt. Der Bischof erhält seinen Sitz auf dem Lateran im kaiserlichen Palast, wo Konstantin einen ersten basilikalen Kirchenbau samt Baptisterium errichten lässt. Im Vatikan wird eine Kirche als Basilika für Petrus gebaut, außerhalb danach eine für Paulus (San Paolo fuori le mura) neben anderen Kirchen an der Peripherie der Stadt. Dabei wird die weltliche Architektur der Basiliken (griechisch für: Königsbauten), gigantischer länglicher und hoher Hallenbauten (Konstantin lässt noch die von Vorgänger Maxentius in Rom vollenden, deren Reste ihre Dimensionen noch heute erahnen lassen) in den geistlichen Raum übertragen: Der Blick der Gemeinde auf den Priester und den Altar wird so fixiert wie der der Bittsteller, die den Kaiser in der erhaltenen „Basilika“ in Trier kniefällig aufsuchen.

Konstantin verordnet, dass die Kirchenbauten groß ausfallen sollen. (Bellen, S.32) Nach diesem Vorbild beginnen reiche Großgrundbesitzer, der Kirche weiteren Grund und Boden testamentarisch zu vermachen.

 

Das Gerichtetsein auf die Autorität wird verstärkt durch die bald einsetzende Ausrichtung der Kirchen nach Osten (Jerusalem) und die vollständige räumliche Trennung zwischen Laien und Klerus. Für die Christen sind diese neuen Monumentalbauten von palastartigem Format etwas völlig ungewöhnliches, wurde doch bislang der Gottesdienst zumindest im Westen des Reiches vorwiegend in Privaträumen abgehalten. Die konstantinische Laterankirche nun hat einen Innenraum von 100 mal 50 Metern!

Das Bauprogramm des Konstantin und seiner Nachfolger entzieht so alles Rituelle, Zeremonielle weiter der Privatsphäre und es erhält seinen eigenen sakralen Ort. Sobald dann die römische Sitte, Beerdigungen außerhalb der Ortschaften vorzunehmen, eingestellt wird, und die Friedhöfe bei und um den Kirchen entstehen, taucht wieder wie im heidnischen Raum ein heiliger temenos auf, ein geweihter sakraler Bezirk, ein Sonderraum mit eigenen Regeln und nun in der Machtvollkommenheit der Kirche. Das Finanzieren solcher Gebäude bringt schließlich ein weltliches Stifterwesen hervor, in dem sich geistliche und weltliche Macht verschränken.

 

Als Rundbauten kommen zu den basilikalen Hallenkirchen Baptisterien für die, die noch nicht an der Messe teilnehmen dürfen, und Mausoleen für die kaiserliche Familie wie das für die Mutter Helena oder die Tochter Constantia. Kirche und Kaisertum werden so auch baulich miteinander verbunden.

 

Der gemeinsame Gottesdienst, gerichtet auf die Predigt und heilige Handlungen wird eine christliche Besonderheit, indem er sich nicht mehr nur von der Gemeinde an Gott wendet, sondern von den Priestern an die Gemeinde. In den neuen, speziellen Gebäuden, „Kirchen“, verwandelt sich der Dienst ausschließlich an Gott in einen für die Gemeinde. Der Gottesdienstbesuch wird dabei von einem Akt des Glaubens zu einem verdienstvoller Leistung, die Gottes Lohn nach sich ziehen soll.

 

Inzwischen ist auch der Tisch, um den die frühchristliche Gemeinde saß, in die Sphäre des Priesters verlagert, entfernt von der nun stehenden und knieenden Gemeinde, er wird sakralisiert und nimmt die Funktion ein, die der Altar beim heidnischen Blutopfer hatte. Wie die Kirche wird er nun geweiht und Teil des verdinglichten Heiligen. Mit dem aufkommenden Reliquienkult wird er mit Überresten von Heiligen aufgefüllt und erlangt so endgültig magische Kraft.

 

Diese „Kirchen“ (von kyriakon, Haus des Herrn) sind zweierlei: Orte der Feier des Gottesdienstes und Gedenkstätten über Apostel- und Märtyrergräbern, oft auch solchen, die herbeigedichtet werden (die Gräber von Petrus und Paulus zum Beispiel). Kirchen werden so nicht nur Orte der Gottesverehrung, sondern auch der Verehrung von„Heiligen“, denen sie geweiht werden. Auch wenn manche Kirche ursprünglich dem Heiland bzw. Erlöser, Retter (soter/salvator) geweiht war, erhalten immer mehr einen Heiligen zugeordnet. Man neigt dabei zu der Ansicht, dass Heilige die Wartezeit bis zur Wiederkunft des Herrn überspringen und sofort der Nähe Gottes teilhaftig werden. Indem man nun diese verehrt, im Gebet anfleht und ihnen („ihrer“ Kirche) spendet, erhofft man sich von ihnen Fürsprache bei Gott.

 

Der karge Monotheismus, durch die Trinität ohnehin etwas aufgebrochen, findet jetzt weniger abstrakte Objekte der Verehrung durch hagiographisch-legendär aufgezeichnete „Biographen“ heroischer Frömmigkeit, in denen sich Heiligkeit immer mehr auch durch Wundertätigkeit von allerdings wenig alltäglichen Mitmenschen auszeichnet, ja, zu deren bestimmendem Charakterzug wird.

 

Die für uns Heutige so schwer verdaulichen „Wunder“ haben, sofern nicht nachträglich hinzu erfunden, wie schon beim evangelischen Jesus mit psychischen und medizinischen Vorgängen des Heilens zu tun, mit direkter und indirekt an Reliquien (Überreste) geknüpfter heilender Suggestivkraft. Sofern von rechtgläubigen und kirchlich akzeptierten Wundertätern vollführt, wird das von der heidnischen Zauberei scharf abgetrennt, der nun mit kaiserlicher Unterstützung der Kampf (bis aufs Messer) angesagt wird, wiewohl heidnische oder häretische Magie ebenfalls auf Suggestivkraft beruht, und obwohl ihre Wirksamkeit in der Regel ebenfalls nicht bestritten wird.

 

Der vergöttlichte "Heiland" (sotér) wird de facto in seiner Heilkraft von Menschen abgelöst, die ihre Heilkaft zwar "irgendwie" von ihm haben, sie nun aber an seiner Statt ausüben. Hatte Jesus solche geheilt, die an ihn glaubten, um seine Besonderheit an Beispielen zu verdeutlichen, so wird die Wundertätigkeit der neuen Heiligen über ihren Tod hinaus für die Masse der Christen ganz auf deren Person bezogen.

 

Nachdem die Stadtrömer wohl 326 mit Empörung auf die Ermordung der Ehefrau (der Augusta Fausta) und des Sohnes Crispus reagiert haben, kehrt Konstantin nicht mehr nach Rom zurück, sondern macht seine Neugründung Konstantinopel auf dem Boden des kleinen Byzantion zu seiner Residenz und de-facto-Hauptstadt. Mit Palast, Forum, Hippodrom und Thermen werden alle römischen Elemente dorthin übertragen. Mit der Apostelkirche, seiner Grabstätte, der Kirche der heiligen Weisheit (Hagia Sophia) und des heiligen Friedens (Hagia Eirene) betont er seine Vorstellung eines christlichen Monotheismus. Eine dezidiert christliche Stadt wird Konstantinopel erst unter seinen Nachfolgern.

 

Den dies solis (deutsch: Sonntag), den Tag nach dem jüdischen Sabbath macht Konstantin für viele zum arbeitsfreien Tag, den die Christen nun unbeschwerter als ihren „Herrentag“ (italienisch: domenica, deutsch und englisch bleibt es der "Tag der Sonne") feiern können. Die Offenheit des Kaisers für die weitere Entwicklung, abhängig vom Erfolg der Kirche, drückt sich darin aus, dass er der Entscheidung keine christliche Begründung gibt.

 

Offenbar versucht Konstantin, die Kirche als zivile Basis seiner Herrschaft neben dem Heer zu etablieren. Die zu einem großen Teil längst aus der römischen Oberschicht stammenden Bischöfe unterstützen ihn soweit begeistert, wie sie jeweils in den internen Streitigkeiten seiner Unterstützung bedürfen und sie erhalten. Das Musterbeispiel ist der Kirchenhistoriker und Konstantinbiograph Bischof Eusebius, der den „Christen“ Konstantin der Nachwelt überliefert.

 

Das christliche Geschichtsbewusstsein vollendet sich nunmehr weniger in der Vorstellung der Wiederkunft „des Herrn“, sondern im „Sieg“ der Kirche unter einem in allen vier Himmelsrichtungen siegreichen Herrscher. Christlich-kirchliche Architektur und Kunst beginnen, einen der weltlichen Herrschaft ähnlichen Triumphalismus zu entwickeln. Bald dehnt sich das kaiserliche Kirchenbauprogramm auch auf Jerusalem, die den Juden genommene römische Stadt aus, den Juden „heilige“ Stätten werden christlich überbaut und die seit zweihundert Jahren zunehmenden Aversionen zwischen Juden und Christen finden ihren Niederschlag in Entprivilegierung der Juden, begleitet von kaiserlichen Äußerungen der Abscheu und des Hasses, wenn man den christlichen Quellen der Zeit Glauben schenken kann.

 

Sich ermutigt fühlend von „ihrem“ Kaiser entfaltet sich eine zunehmende Unduldsamkeit der Kirche. Diese wird sich erst rund zwei Generationen später in Hass und Zerstörungswut gegenüber allen „Ungläubigen“ entladen, zunächst richtet sie sich nach innen, auf die immer neu definierten Häresien, und damit scheitert mehr, als Konstantin es ahnen konnte, die Hoffnung auf eine zivile reichseinheitliche Basis für Staat und Herrschaft. Die Bürgerkriege um die Macht werden nun emotional aufgeladen zu Glaubenskriegen.

 

Die Kirche hat sich in ihren Anfängen lauter Konfliktpotential aufgeladen, dessen Ursprünge alle in der schriftlich überlieferten Person Jesu zu suchen sind. Der Mensch war als Gottes Sohn zugleich Gott, ein schwieriges Problem für von hellenistischer Philosophie angereicherte Schriftgelehrte, für die Masse der „Christen“ wohl längst unverständlich, weswegen sie dies Thema mit ihren geistlichen Anführern zusammen immer rabiater austrägt, im Osten gelegentlich unterstützt von offenbar manchmal gewalttätig werdenden Mönchshorden. Das vierte und fünfte Jahrhundert wird das Problem in immer verfeinerteren Formeln zu lösen versuchen, und je dogmatischer die Doktrin wird, desto härter und gewalttätiger wird der Streit.

 

Aus dem Sohn Gottes, einer Art spätem Propheten, ist also seit dem zweiten Jahrhundert zunehmend ein Gott geworden, einer, der irgendwie mit Gottvater identisch ist. Noch bei Matthäus hieß es, er lehrte wie einer, der göttliche Vollmacht hat (Matthäus 7,28). Nun kann man sich an Jesus Christus als Gott wenden, wie es Konstantin zum Beispiel tut. „Im Übergang zum Mittelalter ist die Gottheit Christi derart überhöht worden (…), dass die Menschheit aus dem Blick geriet.“ (Angenendt, S.132)

 

Der immer mehr vergöttlichte Jesus kann keine menschlichen Eltern mehr haben, deshalb entwickelt sich in einigen Regionen ein zunehmender Marienkult, die „Mutter Gottes“ wird schon seit einiger Zeit selbst immer heiliger (und jungfräulicher). Die Kanonisierung von der Kirche genehmen heiligen Schriften schafft einen Kanon von Jesusworten, die damit unmittelbare Gottesworte sind, und durch die Kanonisierung einer schriftlichen „apostolischen“ Tradition wird die ursprüngliche Quelle der Inspiration, der „heilige Geist“, immer mehr von den Institutionen der Kirche monopolisiert: Sie allein interpretiert nun, was Gott gesagt haben soll.

 

Der Texte produzierende und gesetzgebende Gott, dessen Sprachrohr die Kirche nun auch ganz offiziell ist, macht die Glaubenslehre, die sich immer mehr zur allgemeinen Weltanschauung ausgeweitet hat, zur einzig erlaubten Wahrheit - erst nur für die Gläubigen, aber dann nach wenigen Generationen für alle. Im Konvergenzprozess von Staat und Kirche, nur kurz vom abtrünnigen Kaiser Julian unterbrochen, wird die Kirche zur zunehmend weltlichen und der Staat immer mehr zur weltanschaulichen Macht.

 

Verweltlichung: Im vierten und fünften Jahrhundert setzt sich der römische Bischof durch als oberster Herr und Vater (papa), wenn auch tatsächlich nur in der lateinischen Christenheit, sein Konkurrent wird zunehmend der Patriarch von Konstantinopel, der neuen Residenzstadt des Kaisers. Dadurch, dass Konstantin die („katholische“) Kirche und die Einzelgemeinden und Bistümer als Körperschaften rechtlich anerkannt und ihnen auch erlaubt, als testamentarisch beglaubigte Erben aufzutreten, gewinnt die Kirche an Wohlstand und Besitz.

 

Der despotische Charakter monarchischer Herrschaft findet seinen Abglanz in der „geistlichen“ Herrschaft des monarchischen Bischofs, der schließlich dank kaiserlichem Privileg bei zivilrechtlichen Konflikten in seinem Bistum als höchstrichterliche Instanz in seiner audientia angerufen werden kann. Und das Urteil, das von den bischöflichen Gerichten gesprochen wird, soll als unantastbar angesehen werden (Codex Theodosianus 1, 27). Was schon interne Praxis war, wird nun kaiserlich legalisiert. „Konstantin regelte allerdings nur die Verfahren, in denen das Bischofsgericht mit den staatlichen Gerichten in Konkurrenz trat. Verfahren, die direkt vor dem Bischof abgewickelt wurden, lagen außerhalb seiner Kompetenz. Sie galten als rein private Schiedsverfahren“ (Hermann-Otto, S. 166)

Zur traditionellen römische Selbstverwaltung der Städte tritt innerhalb der nächsten zwei Jahrhunderte immer mehr das Phänomen, dass Bischöfe wie Stadtherrn auftreten, insbesondere dort, wo es zu Auflösungserscheinungen des Imperium Romanum kommt.

 

Über den Bischof schreibt Eusebius:

Ihm zur Rechten steht der große Hohepriester des Alls, Jesus selbst, der Eingeborene Gottes, und nimmt von allen den wohlriechenden Weihrauch und die unblutigen und die geistigen Opfer der Gebete mit heiterem Blick und offenen Händen entgegen und übergibt sie dem himmlischen Vater und dem Gott des Alls. (Eusebius, in Jacobs, S.183)

Mit Jesus an seiner Seite wird der Bischof ein despotischer ("geistlicher") Potentat in seiner civitas, und gegen ihn kommt man nur noch an, wenn es gelingt, ihm mit der Rechtgläubigkeit auch Christus zu nehmen.

 

Die Etablierung der Bistümer in den Hauptorten der civitates des Reiches imitiert zunächst die Staatsordnung in der Kirchenordnung quasi naturwüchsig, ist doch das Christentum zunächst einmal ein städtisches Phänomen, und sind der Machtanspruch und die Lebensform des Bischofs einem städtischen Wohlstand und Lebensstil gemäß. Einige Jahre nach dem Tod Konstantins wird genau das dann 342 auf dem Konzil von Serdica (Sophia) förmlich festgelegt: si qua tam populosa est civitas vel locus, qui mereatur habere episcopum (Kanon 6, nach Groten, S.24). Ein vicus oder eine modica civitas hingegen seien eines Bischofs nicht würdig.

 

Mit der Integration des Christentums in den Staat bekommt aber auch dieser eine spirituelle Qualität, dafür wirkt der despotische Staat wie ein Modellbild für die Kirche, und diese überhöht das Ganze mit einem despotischen Himmelsstaat. Indem Staat und Kirche nun zwei Seiten einer Medaille werden, wird Weltanschauung (nicht nur kaiserliche Selbstbegründung) ganz und gar „politisch“ und umgekehrt wird Macht zu einem weltanschaulich ausgetragenen Streitobjekt. Es geht nicht mehr um die Präferenz irgendwelcher Kulte, sondern um die Meinungsführerschaft in allem und jedem.

 

Indem das Christentum mit seinen philosophisch angereicherten Konstrukten bis in alle feinen Verästelungen hinein dogmatisch wird und so dem despotischen Staat gefällig, wird es zugleich aber auch ungewollt eine noch nie dagewesene Streit“kultur“ entwickeln, in der es intellektuell auch immer ums Ganze geht und zugleich um sehr weltliche Macht.

Die Verbindung von Glaubenslehre mit Philosophie einerseits, also der Offenbarung und des Wunderglaubens mit dem rationalen Diskurs und zugleich mit der damit verbundenen Macht, und außerdem die ständige Öffnung des Diskurses durch eine immer enger werdende und sich verästelnde Dogmatik, die das ständige Entschlüpfen von Häresien erlaubt und sogar hervorruft, entfalten eine Dynamik, ein ständig neues Sich Öffnen in den Streit, die am Ende erlaubt, dass der Kapitalismus im sogenannten späten Mittelalter allen religiösen Bindungen entkommen und seine Eigendynamik entwickeln kann.

 

Weltanschaulicher Staat: Die Kaiser versuchen in den nächsten hundertfünfzig Jahren, ihre Vorstellung von Rechtgläubigkeit zur Not auch mit sehr weltlicher Gewalt durchzusetzen. Dabei geht es vorrangig um die Frage, ob der Sohn Gottes seinem Vatergott wesensähnlich sei, wofür bald die meisten christianisierten germanischen Völkerschaften votieren, oder wesensgleich, ein Streit, der nach den beiden Hauptprotagonisten Arius und Athanasius benannt wird, und später noch überlagert wird durch den um die „Monophysiten“.

 

In den hundert Jahren bis zur Gesetzgebung von Kaiser Theodosius kippt das Christentum dabei von einer Religionsgemeinschaft der Verfolgten und Märtyrer in die von Verfolgern um. Vermutlich beginnt schon Konstantin nach Erringung der Alleinherrschaft damit. Eusebius berichtet begeistert davon, dass ein phönizisches Aphrodite-Heiligtum ebenso auf kaiserlichen Befehl zerstört wird wie ein Asklepius-Heiligtum in Kilikien.

Das Angemessene tat da der Kaiser, der sich einzig an den eifernden Gott als den wahren Erlöser hielt, wenn er den Befehl gab, auch diesen Tempel dem Erdboden gleichzumachen. (Leben Konstantins, III, 56,1 in: Brandt, S.125)

 

Das scheinen aber Einzelfälle gewesen zu sein, denn andererseits erklärt Konstantin laut Eusebius:

Die gleiche Gabe von Frieden und Ruhe wie die Gläubigen sollen die Irrenden freudig erhalten. ... Die sich aber dem entziehen wollen, sollen die Heiligtümer ihres Truges nach ihrem Willen haben; wir besitzen das strahlende Haus Deiner Wahrheit, das Du in Übereinstimmung mit der Natur gegeben hast. Dieses erbitten wir auch für jene, damit nämlich durch die gemeinsame Eintracht auch sie sich das erwerben, was sie begehren. (II, 56,1-2 in Brandt, S.124)

Solche offensichtlich beschwichtigenden Worte sollen wohl Unruhe unter Nichtchristen dämpfen, andererseits wird sehr deutlich, dass Macht und Ohnmacht nun neu verteilt werden.

 

Die triumphierende Kirche äußert sich nirgendwo deutlicher als in den Texten des Eusebius:

Ja, die höchsten Kaiser erweiterten und mehrten durch fortgesetzte Gesetzgebung zugunsten der Christen die hohe Gnade, die Gott uns geschenkt, Bischöfe empfingen kaiserliche Schreiben und Ehrungen und Geldzuweisungen. (Kirchengeschichte, X,2,2 in Jacobs, S.180)

 

Das ist zwar damals noch auf Konstantin und Licinius bezogen, beschreibt aber die Identifikation von Staat und Kirche. „Sowohl die Überlieferung vom heiligen Krieg als auch die Theologie der Auferstehung werden ins Politische umgebogen.“ (Jacobs,S.181)

 

Eusebius versteigt sich sogar zu einer Passage, die nicht nur den Pontifex maximus zum obersten Bischof umdeutet, Vorläufer quasi des Papsttums, sondern den ungetauften Machthaber zu einem Kollegen der Bischöfe macht, was sicher nicht nur dem Kaiser, sondern auch vielen Bischöfen schmeichelt:

So war es ganz natürlich (sic!), dass er, als er einmal Bischöfe gastlich bewirtete, die Bemerkung fallen ließ, auch er sei ein Bischof... er übte bischöfliche Aufsicht über alle Untertanen aus und trieb sie dazu an, soweit es in seiner Macht stand, ein gottgefälliges Leben zu führen. (Leben Konstantins, IV,24, in: Brandt, S.131)

Mehrmals betont Eusebius das gemeinsame Mahl von Kaiser und Bischöfen, denen er jede Art von Ehre und Liebe erwies. (IV,46)

Das abendländische Mittelalter kündigt sich an, und man denkt unwillkürlich an den Kirchenherrn und Alleinherrscher Karl, den sie den Großen nennen werden.

 

Was wissen wir von den Menschen in den christlichen Gemeinden unterhalb der nun auch staatlicherseits etablierten kirchlichen Hierarchie? Wie nahmen sie die Legalisierung ihres Glaubens und ihrer Kirche auf? Wie die Integration in den Staatsapparat?

Das „Volk“ (Gottes), griechisch laos, die Laien werden zunächst einmal aufgeatmet haben. Die Vielen haben keine eigene Stimme, wir hören von ihnen vor allem in Texten ihrer Oberen, für die sie wie Verfügungsmasse ihrer eigenen Überlegenheit und Manövriermasse in Konfliktfällen auftauchen. Alles was uns heute bleibt sind Vermutungen.

 

Heiligungen des Geistes

 

Geist:

Unter Worten wie pneuma, nous, spiritus, anima, animus, mens, Geist sind in den letzten abendländischen Jahrtausenden (in Texten) eine Vielzahl sehr verschiedener "Dinge" verstanden worden. Soweit sich das überhaupt noch nachvollziehen lässt, ist das, was in diesem Wortfeld alles möglich ist, mit dem Aufkommen von Zivilisationen auf wenige Spezialisten abgeschoben worden, zunächst auf Priester, dann auch Philosophen und wenige Mächtige: Der Geist wird nun ein Feld für Virtuosen des Denkens und Nachdenkens, während Untertänigkeit und intellektuelles Mindervermögen eher Gedankenlosigkeit und die für Zivilisationen unerlässliche (Teil)Verblödung der Massen fördern.

 

Bei den Juden des Tempels ist Gottes Geist bereits als ruach ha-qodesh, heiliger Atem in ihrer Welt wirksam. Wörtlich ins Griechische übersetzt taucht er im Neuen Testament als πνεῦμα ἅγιον (pneuma hagion) auf, bei Johannes auch als παράκλητος (parákletos), als tröstlicher Beistand. Aber in der Welt der kanonischen Evangelien durchweht nicht nur Gottes Atem die Welt, der kurz in Jesus sichtbar wurde, sondern auch der Pesthauch des Satans, und so wie es Gottes gute Geistwesen gibt, die Engel (angeloi, Boten), so auch die teuflisch bösen, die Dämonen, als die dann später im germanischen Raum auch die „Geister“ und „Gespenster“ angesehen wurden.

 

Bekanntlich besteht ein stattlicher Teil der evangelischen Wundertätigkeit Jesu darin, böse Geister auszutreiben, Teufel, Dämonen. Der heilige Geist selbst aber taucht erst mit dem Pfingstwunder auf, welches im 2. Kapitel der Apostelgeschichte dargestellt wird (nach der Himmelfahrt Jesu als Christus.)

 

Pfingsten ist eine Eindeutschung des pentekosté hémera, des fünfzigsten Tages nach dem Passah(Pessach)-Fest, einem hohen jüdischen Fest.

 

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist (kai eplésthesan apantes pneúmatos hagíon) und fingen an, zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.

(…) das ist es, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen (…) Und es soll geschehen: wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.

Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen. Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr hier seht und hört (…)

So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat. Als sie aber das hörten, ging es ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den andern Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun? Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes. Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung, und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, herzu rufen wird (…) Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.

 

Mit Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingstwunder wird der vermutlich eher unbedeutende und unauffällige Wanderprediger Jesus in den Messias, griechisch Christos verwandelt. Das Pfingstwunder steht dabei unübersehbar noch in jüdischer Tradition und das Heilsgeschehen bezieht sich auch immer noch nur auf Juden, die Kinder Israels.

 

Beachtlicher noch ist, dass das Pfingstwunder zur Voraussetzung hat, dass Jesus erst jetzt (!) von Gottvater den heiligen Geist empfangen hat, und dass sehr deutlich gesagt wird, dass es für Menschen eine einmalige Erleuchtung ist. Um sie wiederzuerlangen, ist in Zukunft die Taufe nötig. Diese (griechisch: baptismós) war in den rituellen Waschungen der Juden vorgebildet, aber seit Johannes bedarf es dafür eines Täufers und es wird nur noch einmal getauft. Das soll dann lebenslang vorhalten.

 

Die Einmaligkeit des Pfingstwunders wird paulinische Gemeinden später nicht daran hindern, weiter ekstatisches Zungenreden bei ihren Treffen zu üben, und jenseits der dann entstehenden Kirche wird es weiter Leute geben, die sich unmittelbarer Erleuchtung durch Gott rühmen. Dazu gehört ein Montanus in Kleinasien, dem der Heilige Geist zum Beispiel das nahe Weltenende samt Wiederkunft Jesu eingibt.

Von Phrygien breitet sich seine Anhängerschaft in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts auch nach Westen aus, und gewinnt zeitweise fast die Mehrheit in Rom. Es handelt sich um eine Reaktion darauf, dass schon die entstehende Kirche starke Verweltlichungstendenzen in sich enthält und in ihren Gemeinden zulässt. Derartige Inspirationen prophetischer Natur werden aber nun und in Zukunft von der Kirche niedergekämpft: Die Verfügung über den Heiligen Geist ist von den Aposteln auf die apostolische Kirche übergegangen, die ein Monopol in Glaubensfragen anvertraut bekommen hat...

 

Eigentlichkeit

Das, was das Gehirn als Text produziert, gelegentlich für Eingebungen von außen zu halten, ist ein Element aller drei Religionen. Damit wird „Geist“, nous, spiritus in seiner immateriellen Ausformung zum Bindeglied zwischen innen und außen, zum späten religiösen und philosophischen Nachfahren des Animismus, nun aber nicht mehr die Welt belebend, sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit, sondern eine Sphäre jenseits von ihr, nur noch intelligibel, dem Intellekt zugänglich.

 

Frühe griechische Philosophie verfocht auch den umgekehrten Weg: Danach kann der menschliche „Geist“ über das sinnlich Erfahrbare und Überprüfbare hinaus ausfahren, reisen - in Bereiche, die keiner sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind. Eine solche ideale Reise als Aufstieg aus dem sinnlich Wahrnehmbaren in das bloß noch Vorgestellte vermittelt Platons Symposion.

 

Der Kern solcher Gedankenreisen ist die Suche nach einem Fixpunkt in einer Welt des Vergänglichen, welches genau darum unzuverlässig erscheint. Platon und seine Schüler konstruieren durch die Jahrhunderte gedanklich hinter der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit einen Kern der Eigentlichkeit, der solide, ewig, verlässlich sein soll. Als antike Griechen mit einem wohlgeordneten Kosmos formulieren sie im Unterschied zum späteren Christentum dabei keinen Widerspruch zwischen der Welt der Sinne und der des Intellekts, nur ist erstere bloß ein schwacher Abglanz der zweiten.

 

Eigentlichkeit durch die Pforte des Todes

Das Christentum lehnt die Konsistenz des griechischen Kosmos ab. Das Leben in der demnächst verschwindenden, sinnlich wahrnehmbaren Welt sollte keinen intellektuellen Aufstieg vollbringen, sondern einen praktischen: den der Vorbereitung auf die Wiederkunft Jesu als Christus, den des Bereitwerdens für seine Erlösungstat als Errettung aus dieser Welt in die eigentliche, die wahre ist.

 

Zurück zur Menschwerdungsgeschichte als Sündenfall, als Fall in die innere Zerissenheit, die inneren Widersprüche. Danach wäre Erlösung Aufhebung des spezifisch Menschlichen durch den Menschen selbst, seine Rückführung ins Paradies vor den Sündenfall (der Menschwerdung), Abwerfen der Last der Kultur und Rückkehr in eine paradiesisch gedachte Natur, bzw. die Umwandlung der wirklichen Natur in eine eigentliche, den Garten des jüdischen Gottes.

 

Für das Studium der Entstehung des Kapitalismus im christlichen Abendland wird dieser Aspekt eines Kultes des Eigentlichen wichtig werden: Jesus ruft dazu auf, alles das abzuwerfen, was das wirkliche Leben vom eigentlichen trennt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“

 

Um es deutlich zu machen: Zum eigentlichen Leben gelangt man über den Tod, den Opfertod Jesu und danach den eigenen. Der Tod öffnet die Pforte zur Eigentlichkeit, das wirkliche Leben und Lebendige hingegen gehört dem „Fürsten dieser Welt“, dem anheim zu fallen ewige Höllenqualen bedeutet. Die Abwertung des Wirklichen gegenüber dem Eigentlichen ist bei Sokrates/Plato noch eine graduelle, mit Jesus und dem Christentum wird sie eine absolute..

 

Der Tod wird also ambivalent: Der Schrecken des Sterbens und des Verschwindens aus dieser Welt ist zugleich mit der Möglichkeit eines Wiedererwachens in einer anderen, besseren Welt verbunden. Dazu erhält, umfangreicher seit den Karolingern, die Sterbebegleitung durch den Priester elementare Bedeutung: Beichte und Buße, heilige Salbung, letzte Ölung als spirituelle Wegzehrung ins Jenseits. Dazu kommen Gebete und Litaneien (Klagegebete, - gesänge), die die ganz handfest vorgestellten Dämonen abwehren sollen, die im Moment des Todes die Seele in ihren Besitz bringen wollen.

 

Nach dem Tod dann: Totenwaschung, Überführung zur Kirche, Totenmesse bei bedeutenderen Sterblichen, Geleit des Toten zum Grab und Begräbnis. Wohlhabendere werden in den Wochen nach dem Tod noch mit weiteren Totenmessen versorgt und mit jährlichen Gedächtnismessen. Audebert/Treffort zitieren ein Gebet anlässlich der Beerdigung aus dem 10. Jahrhundert:

Möge diese Seele niemals die Ränke der Dämonen ertragen müssen, denen sie begegnet, denn für sie hast du deinen einzigen Sohn auf die Erde geschickt. Befreie und erlöse diese Seele von den schrecklichen Abgründen der Hölle, denn du hast sie losgekauft um den Preis des Blutes deines einzigen Sohnes. Befreie und erlöse diese Seele von den brennenden Flammen der Dschehenna und rufe sie in die Süße des Paradieses. Oh du so guter Vater, mach dass sie nie spürt, , was in den Flammen brennt, was das Gesicht in den Qualen verzerrt. Sondern mach mit der siegreichen Barmherzigkeit deiner Größe, dass sie es verdient, beim Gericht den Züchtigungen zu entkommen und das Glück seligen Friedens und des ewigen Lichtes erhält. (S.141)

 

Während die wahrhaft Heiligen gleich ins ewige Leben der Seligen aufsteigen, ruht der Körper des Normalsterblichen im Grab bis zur Wiederkehr Jesu, dem Tag des Gerichts und der Entscheidung, wo er, wiedervereint mit der Seele, sich bis in alle Ewigkeit aufhalten wird.

 

Im Laufe der Zeit schleichen sich in die jesuanische Lehre völlig fremde Vorstellungen von einem Fegefeuer ein, einem quälenden Purgatorium, die erst im Hochmittelalter von der Kirche „offiziell“ übernommen werden.

Das hat zwei Folgen: Zum einen begründet das die Gebete und Messen für die Toten, die ihnen diese Qualen erleichtern und die Chancen auf das Himmelreich für die Verstorbenen vergrößern sollen. Zum anderen hilft diese Vorstellung, mit den Toten in Kontakt zu treten, und – was schwerwiegender noch ist – ihnen vor allem Nachts recht leibhaftig wieder zu begegnen.

 

Solche Wiedergänger-Vorstellungen gab es schon bei den Germanen und in vielen Kulturen, und gemeinhin wurde alles versucht, das bedrohliche Wiederauftauchen der Verstorbenen zu verhindern. Auf Berichte (geistlicher) Autoren im Hochmittelalter von solchen Begegnungen wird später einzugehen sein.

 

Eigentlichkeit als Vergeistigung

Während sich die Masse der Christen, immer noch eine kleine Minderheit in den antiken Städten vor allem, darin übt, jenseits kirchlicher Rituale weiter Teil des antiken Alltags zu bleiben, kommt es zu Absonderungs-Bewegungen von Einzelnen und von Gruppen aus diesem zunehmend „lauer“ werdenden Christentum. Für die im Weiteren zu betrachtende lateinische Kirche, genauer gesagt, für die Ausbildung ihrer Theologie, wird eine Anzahl intellektueller Christen wichtig, von denen die Kirche später einige mit dem Titel Kirchenväter bedenkt, während ihr andere eher unbequem bleiben – um dennoch Einfluss auszuüben.

 

Die beherrschende Figur der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts wird der Alexandriner Origenes, der offenbar eine gute Ausbildung unter dem Einfluss des seinerzeitigen Platonismus erhielt, und eine Versöhnung desselben mit dem Christentum anstrebt. Zu diesem Zweck betreibt er Bibelexegese (Auslegung)

 

Die griechische Dreiteilung des Menschen in Körper (soma), Seele (psyche) und Geist (nous) wird für ihn zur platonischen Aufstiegsperspektive auf der Ebene geistiger Erkenntnis und zugleich zur christlichen Aufstiegsperspektive auf der Ebene praktischer Askese, für die die unüberprüfbare Geschichte von seiner Selbstkastration bezeichnend ist.

Als ordentlicher Platoniker trennt er dabei zwischen den hoi polloi eines naiven Christentums, für die die Kirche zuständig ist, und jener winzigen Minderheit, die die verborgene Bedeutung der heiligen Schrift und ihrer Mysterien zu begreifen in der Lage ist.

 

Den Aufstiegsprozess des Einzelnen vom Materiell-Körperlichen über das Psychische – den vom Körperlichen verunreinigten Geist – zum rein Geistigen (Idealen, Göttlichen) sieht er im Zusammenhang mit einer Rückkehr der Welt, des Kosmos, in Gott, ins Reich des Idealen, wo alles wieder in allem ist.

Voraussetzung dafür ist, dass dem Körper seine Wichtigkeit genommen wird, Dazu müssen sinnliche Erfahrungen zugunsten spiritueller, intellektueller zurückgefahren werden, sowohl solche des Gesichtssinns, des Gehörs, des Geschmackssinnes, den ein übermäßiges Gewicht auf Essen und Trinken verstärkt, und solche des Auslebens des Geschlechtstriebes:

Denk nicht, dass so, wie der Bauch für Nahrung und Nahrung für den Bauch gemacht ist, so auch auf dieselbe Weise der Körper für Geschlechtsverkehr gemacht ist. Wenn du des Apostels (Paulus) Gedankengang dazu verstehen möchtest, wofür der Körper geschaffen wurde, dann höre: er wurde geschaffen, um ein Tempel des Herrn zu sein. (Fragmente über den 1. Korintherbrief, nach Brown, S.17)

Vergeistigung ist der Weg, auf dem diese Verwandlung eines schieren Körpers aus Fleisch und Blut in ein solches Gefäß Gottes grundsätzlich für Menschen möglich wird.

 

Zeitgenossen des christlichen Platonikers Origenes waren der „heidnische“ Neuplatoniker Plotin, der seine Bildungsimpulse wie Origenes in Alexandria erhäl,t und sein Schüler Porphyrius. Im Vergleich wird das christlich Neue deutlich: Gemeinsam ist ihnen die Askese als Aufstiegshilfe, wobei Plotin sich in der Tradition griechischer Philosophen wie selbstverständlich auch der Keuschheit bedient, ohne deren Bedeutung aber besonders herauszustellen. Porphyrius wiederum findet das Vegetariertum bedeutsamer als sexuelle Kontinenz, die allerdings für ihn auch selbstverständlich ist.

 

Ziel allen Philosophierens für Plotin und seine Schüler ist eine philosophische Lebensführung, die dem Einen (hen) näherbringt, welches für Origenes der christliche Gott ist. Reinheit und Heiligkeit (hagneia) sind für beide Seiten das Ziel, Ausstieg aus dem öffentlichen (weltlichen) Leben Voraussetzung. Der große Unterschied liegt in der christlichen Vorstellung eines Sündenfalls der Menschen, die einen Erlöser nötig machte (das jüdische Erbe), einer historischen Bruchstelle in der Welt zwischen dem Wirklichen und dem Eigentlichen, während ernsthafte Platoniker keine derartigen Bruchlinien erkennen, das Eigentliche (das Eine und die Ideen) tritt auf als höchste Form des Wahrnehmbaren, welches ein griechischer kosmos ist, der als Abglanz des Höchsten seinen Eigenwert hat.

 

Das Fehlen dieser Bruchlinie macht den „Idealismus“ zwischen Plato und Hegel so attraktiv für Sehnsüchte nach Affirmation und theoria, einer in sich geschlossenen und Introspektion ablehnenden Sichtweise. Der äußere Bruch in der Welt, die diese in zwei aufspaltet, wird wiederum die Selbstbeobachtung als die eines gebrochenen Innenlebens fördern, eine Linie, die ihren ersten Höhepunkt mit Augustinus erreichen wird, und die am Ende die Theologie und das Philosophieren in analytische Psychologie überführen wird.

 

Askese als Vergeistigung

Askese als Voraussetzung für Vergeistigung, die (auch) zu intellektuellem Vergnügen führt, wie auf ganz verschiedene Weise bei Tertullian oder Origenes (und Plotin) und später bei Hieronymus, ist eine andere Sache als jene Askese, die Vergeistigung als schieres Resultat des Versuches begreift, den Imperativen des Körpers möglichst wenig zu gehorchen. Bereits in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts zogen Männer in Ägypten an den Rand ihrer Dörfer oder weiter weg, ja sogar an den Rand des kultivierbaren Landes, „in die Wüste“, um ein asketisches Leben in der Einsamkeit zu führen.

 

Über den Kreis der wenigen Belesenen hinaus bekannt wird ein Antonius, weil über ihn der streitbare und dem theologischen Dogmatismus zuneigende Patriarch Athanasius von Alexandria (der Gegenspieler des Arius) eine Heiligen-Vita schreibt, die erste ihrer Art. Mit ihr wird ein Muster für Texte geschaffen, in denen wenige historisch korrekte Eckdaten verbunden werden mit legendären und erbaulichen Geschichten und Geschichtchen, die heiligmäßigen Lebenswandel bezeugen und in denen die kirchlich korrekte Ausrichtung des Glaubens des Heiligen dargestellt wird.

 

Der historische Antonius zeigt sich noch in einigen wenigen Briefen, die erhalten sind, als belesen in platonischen und gnostischen Vorstellungen und beeinflusst von Origenes, was alles sein Biograph wohl verdecken wollte. Danach meint Askese das Brechen jenes Willens, der Adam in die Sünde getrieben hatte, jenes Begehrens, welches ihn danach als Hunger, Durst und Geschlechtsgier befallen hatte. Ziel ist es, ein wenig von dem spirituellen Körper zu empfangen, welchen man annehmen muss in der Auferstehung der Gerechten. (Nach Brown, S. 224)

 

Askese als Vergeistigung heißt Reinigung:

Der Geist ... gibt ihnen Arbeiten, mit denen sie ihre Seele und ihren Körper bezwingen sollen, damit beide gereinigt werden und in ihr Erbteil eintreten ... Und es trennt uns von allen Früchten des Fleisches, welche sich mit allen Gliedern des Körpers verbunden haben seit der ersten Übertretung. (Nach Brown, S.223f)

 

Der Schmerz der Differenz, das psychische Unglück, sich selbst gegenüber zu treten, mit der Vernunft der Unvernunft körperlicher Regungen, mit dem ästhetischen Sinn den eigenen Exkrementen und den physischen Vorgängen der Geschlechtlichkeit, soll aufgehoben werden.

Ich sage dir, dass jeder Mann, der sich an einem eigenen Willen erfreut und seinen eigenen Gedanken unterworfen ist, und die Dinge aufnimmt, die in sein Herz gesäht werden, an ihnen Freude hat, und in seinem Herzen annimmt, dass sie ein großes Mysterium sind, und sich dabei rechtfertigt in dem, was er tut – die Seele eines solchen Menschen ist ein Schlupfwinkel böser Geister, die ihm Böses anraten, und sein Körper ist eine Lagerstätte böser Mysterien, in denen er sich verbirgt. (Nach Brown, S.231)

 

Die Wüste, die Eremitage, hieß Einsamkeit, Alleinsein, Konzentration auf sich selbst. Das Ergebnis ist eine spezifische Form der Selbsterfahrung. Durch Fasten wird der Körper so umgestellt, verändert, dass er lernt, mit einer Minimaldiät zu überleben. Die dahin führende Erfahrung der Überwindung des Hungers, bis der Körper nicht mehr als das Minimum nachfragt, eine durchaus heroische, stärkt das Selbstbewusstsein, indem sie die Organe so verändert, dass sie anscheinend sich dem Willen dessen unterwerfen, der sich bislang ihnen unterworfen gefühlt hat.

 

Die Reduktion der Ernährung auf ein lebenswichtiges Minimum (Antonius soll damit über hundert Jahre alt geworden sein) ist, so hart sie sein mag, dennoch leichter zu erreichen als der Triumph des Willens über den Geschlechtstrieb. Eremitage ist auch Entfernung von den Objekten der Begierde (Frauen, Knaben), aber die Asketen müssen erleben, dass das fehlende aktive Ausleben der Triebhaftigkeit zur Erfahrung gesteigertert nächtlicher Samenergüsse führte, mit dazugehörigen Traumphantasien, wenn man es denn geschafft hatte, sexuelle Tagträume zu vermeiden.

 

Warum Gott die Nachfahren Adams derart gestraft hatte, ließ sich nur mit artistischen Gedankensprüngen erklären, wie sie das nachevangelkische Christentum dann auszeichnen werden. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts wird der einsiedlerische Wüstenvater Barsanuphius an den Mönch Dorotheos von Gaza schreiben:

Oft, mein Bruder, wurde ich in meiner Jugend heftig versucht vom Dämon der Unzucht, und ich kämpfte hart mit aller Mühe gegen meine Gedanken... Und nachdem ich das fünf Jahre lang getan hatte, erlöste mich Gott davon... Gott könnte dich natürlich schnell davon befreien; aber wenn das geschähe, hättest du nicht die Kraft gewonnen, dich gegen die anderen Leidenschaften zu behaupten. (Nach Brown, S.234)

 

Sich „gegen die Leidenschaften zu behaupten“ ist zunächst einmal eine ganz übliche Kulturleistung, ohne die das Zusammenleben von Menschen nicht funktioniert. Zivilisierte, also der in der Regel latenten Gewalt von Institutionen unterworfene Menschen erleben den kulturellen Druck schwächer, da er ergänzt und partiell abgelöst wird durch den der Institutionen, das Rechtssystem, Gerichts- und Polizeiwesen. In der römischen Kaiserzeit, angefangen mit der Gesetzgebung des Augustus, und auf die Spitze getrieben mit der kaiserlichen Gesetzgebung zwischen Konstantin und Theodosius, verschärft sich zunehmend die Ablösung des kulturellen durch den zivilisatorischen Druck, was offensichtlich dazu führt, dass Kultur durch individuellen Heroismus der wenigen ersetzt wird, die sich sowohl den Arrangements der Untertänigkeit wie dem Zugriff der Institutionen selbst entziehen. Anstatt in der Unterwerfung unter die institutionalisierte Macht, die immer fremdbestimmter wird, Frustrationstoleranz zu üben, üben sie selbstbestimmt das Überwinden von Frustration durch die Überwindung des Begehrens selbst ein. Damit sind sie Aspekten des Hinduismus und Buddhismus näher als dem eigenen Evangelium, welches abgesehen von einigen paulinischen Passagen soviel Leistung nicht verlangt. Dabei nehmen sie aber die Trennung des Paulus zwischen Fleisch und Körper auf, jene zwischen einem begehrenden und einem vergeistigten Körper.

 

Die psychosomatischen Veränderungen dieses Vorgangs der „Vergeistigung“ des Körpers durch Fasten und sexuelle Abstinenz (bei weitestgehender Eigentumslosigkeit) sind natürlich bei jedem etwas anders. Der abgemagerte Körper bei geschrumpftem Magen und eingeschränkter Darmtätigkeit (neben all den anderen Veränderungen) verändert die Emotionalität, den Gefühlshaushalt, idealiter reduziert er die Aggressivität. Das Aushungern des Geschlechtstriebes, sein Einschläfern, wird im besten Fall begleitet von Formen von Sublimation. Der byzantinische Mönch Johannes Klímakos beschreibt in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts in seiner 'Himmelsleiter' den Aufstieg des Mönches zu Gott in dreißig Stufen der Heiligung als Vergeistigung des Körpers:

Ich habe unreine Seelen gesehen, die verrückt nach körperlicher Liebe waren, die aber das, was sie an solcher Liebe kannten, in den Grund ihrer Buße verwandelten und dann diese selbe Fähigkeit zur Liebe dem Herrn zuwandten. (Nach Brown, S.238)

 

Der Antonius des Athanasius

Ein so ereignisloses Leben wie das eines Heiligen in der ägyptischen Einsiedelei gibt wenig her für eine Biographie. Stattdessen erfindet Athanasius eine innere Biographie, die prototypisch wird für das Heiligenbild der nächsten Jahrhunderte. Anstelle von auf Belesenheit beruhendem Gedankengut wird allerdings ein Heiliger von volkstümlicher Schlichtheit vorgestellt, intensiv asketisch als Virtuose der Entsagung, im unentwegten Kampf mit einer Heerschar von Dämonen, die ihn unentwegt versuchen, nicht zuletzt sexuell, und in dem er immer siegreich bleibt, dessen Heiligkeit schließlich durch die wunderbaren Heilungen von Kranken Bestätigung findet.

 

Mit etwa zwanzig kämpft der junge Mann gegen sein geschlechtliches Begehren an: er selbst widmete sich von nun an vor seinem Hause der Askese (3) Später haust er alleine außerhalb des Dorfes:

Der Teufel gab ihm schmutzige Gedanken ein, Antonius verscheuchte sie durch sein Gebet; jener stachelte ihn an, er aber, gleichsam errötend, schirmte seinen Leib durch den Glauben, durch Gebet und Fasten. Der arme Teufel ließ sich sogar herbei, ihm nachts als Weib zu erscheinen und alles mögliche nachzumachen, nur um den Antonius zu verführen. Dieser aber dachte an Christus und den durch ihn erlangten Adel der Seele, an ihre geistige Art, und erstickte die glühende Kohle seines Wahnes. Dann wieder stellte ihm der böse Feind die Annehmlichkeit der Lust vor, er aber, voll Zorn und Schmerz, erwog bei sich die Drohung des ewigen Feuers und die Plage des Wurmes; dies hielt er ihm entgegen und ging aus den Versuchungen unversehrt hervor. (4)

...er wachte so lange, daß er oft sogar die ganze Nacht schlaflos zubrachte, und dies nicht etwa einmal, sondern oft und oft. (damit ihn der Teufel nicht im Schlaf zu unreinen Gedanken verführt) ... Nahrung nahm er einmal des Tages zu sich nach Sonnenuntergang; bisweilen aß er nur alle zwei, oft aber auch bloß alle vier Tage; er lebte von Brot und Salz, als Getränk diente ihm nur Wasser. ... Zum Schlafen begnügte er sich mit einer Binsenmatte; meist aber legte er sich auf die bloße Erde zur Ruhe nieder (7) ... Seinen Bekannten, die zu ihm kamen, erlaubte er nicht hineinzugehen; sie verweilten deshalb oft ganze Tage und Nächte außerhalb und hörten, wie drinnen ganze Scharen lärmten und tobten, klagten und schrien: "Gehe weg aus unserem Reich! Was hast du in der Wüste zu schaffen? Du hältst unsere Nachstellung nicht aus!" (13)

Viele von den Anwesenden, die ein körperliches Leiden hatten, heilte der Herr durch ihn, und andere befreite er von Dämonen. Er verlieh unserem Antonius auch die Freundlichkeit der Rede; und so tröstete er viele Trauernde, andere, die im Streite miteinander lagen, versöhnte er, so daß sie Freunde wurden; zu allen aber sagte er, sie sollten nichts von dem Irdischen der Liebe zu Christus vorziehen. (14)

 

Eine Rede des Antonius an Mönche, die sich um ihn versammeln, bietet der Patriarch von Alexandria als biedere athanasische Gemeindepredigt an:

Warum sollen wir uns nicht lieber jene Güter gewinnen, die wir mit uns nehmen können, was da ist Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Einsicht, Liebe, Sorge für die Armen, Glauben an Christus, Sanftmut und Gastfreundschaft? (17) Denn einst sprach der Herr: "Das Himmelreich ist in euch". Zur Tugend ist also nur nötig, daß wir selbst wollen, da sie in uns ist und aus uns entsteht. Denn die Tugend besteht darin, daß die Seele das Vernünftige in sich hat, wie es ihrer Natur gemäß ist. (20)

Fürs erste nun müssen wir einsehen, daß die Dämonen nicht so geschaffen sind, weshalb sie Dämonen heißen; denn Gott hat nichts Schlechtes gemacht; vielmehr sind auch sie gut gewesen; aber sie stürzten aus dem Reiche der himmlischen Weisheit, trieben sich auf der Erde herum und täuschten die Hellenen durch ihre Erscheinungen, auf uns Christen aber sind sie neidisch und setzen alles in Bewegung, da sie uns auf unserem Weg zum Himmel hindern wollen, damit wir nicht dahin gelangen, woher sie selbst herabgestürzt sind. Daher ist eifriges Gebet und Askese nötig, damit man, wenn man durch den Heiligen Geist die Gabe der Unterscheidung der Geister erhalten hat, ihre Art erkenne; damit man wisse, welche von ihnen weniger böse sind, welche schlechter, mit welcher Aufgabe sich jeder von ihnen besonders eifrig beschäftigt, wie jeder von ihnen verscheucht und vertrieben werden kann. Denn vielfach sind ihre Listen und ihre lauernden Bewegungen. (22)

 

Es folgen zahlreiche Kapitel der Rede vorwiegend über den Kampf gegen die Dämonen. (16-43)

 

Bezüglich der Christenverfolgung 310 durch Maximin (Daja) erfindet Athanasius aller Wahrscheinlichkeit nach, dass Antonius nach Alexandria geht, um Märtyrer zu werden, aber es gelingt ihm nicht, was ihn betrübt haben soll. Schließlich lässt er sich weit östlich, nahe dem Roten Meer, weit in der Wüste nieder.

...immer nämlich fastete er, als Bekleidung diente ihm ein Untergewand, das Haare hatte, während das Obergewand aus Fellen war; dies Gewand behielt er bis an sein Lebensende; seinen Körper wusch er nicht mit Wasser, um den Schmutz zu entfernen, die Füße badete er nicht oder ließ es sich auch nur gefallen, sie in das Wasser zu tauchen ohne dringende Not. Niemals sah ihn jemand nackt, und überhaupt erblickte kein Mensch den bloßen Körper des Antonius, ausgenommen damals, als er nach seinem Tode bestattet wurde. (47)

 

Solche Eremiten der Wüste, besser in der Regel des Wüstenrandes, haben unter dem Einfluss der Gnosis und des Origenes einen Weg gefunden, der zur Heiligung nicht mehr der Kirche bedarf. Die Funktion des Athanasiustextes ist deshalb nicht zuletzt auch die der posthumen Re-Integration des Antonius in die Kirche, und nicht nur der Einordnung, sondern auch der Unterordnung:

In seinem Wesen war er langmütig im Ertragen von Unrecht und demütig in seiner Seele; in dieser Gesinnung ehrte er den Kanon der Kirche über die Maßen und wünschte, daß jeder Kleriker an Ehre vor ihm käme; vor den Bischöfen und Presbytern sich zu verneigen, nahm er keinen Anstand, und wenn einmal ein Diakon der Erbauung wegen zu ihm kam, dann sprach er mit ihm über das, was nützlich war; im Gebete aber gab er ihm den Vortritt, da er gerne selbst lernte. (67)

 

Schamloser noch ist Athanasius, wenn er Antonius für seinen eigenen Kampf gegen Meletianer und Arianer verwendet:

Im Glauben war er überaus bewundernswert und fromm. Niemals hatte er Gemeinschaft mit den schismatischen Meletianern, da er ihre Schlechtigkeit von Anbeginn und ihren Abfall kannte. Auch mit den Manichäern oder irgendwelchen anderen Häretikern sprach er nicht freundschaftlich, außer wenn er sie ermahnte, zur wahren Frömmigkeit zurückzukehren. Denn er glaubte und sagte es auch offen, daß ihre Freundschaft und ihr Umgang der Seele schädlich und verderblich sei. So verabscheute er auch die Häresie der Arianer und verbot allen, ihnen zu nahen und ihren schlechten Glauben anzunehmen. Als einmal einige von denen, die vom Wahn des Arius besessen waren, zu ihm kamen, da erforschte und erkannte er ihre Gottlosigkeit und verjagte sie vom Berge, indem er erklärte, ihre Reden seien schlimmer als Schlangengift. (68)

 

Athanasius ist, wenn man dem wenigen Glauben schenkt, was von ihm überliefert ist, ein kämpferischer Machtmensch: Seine Wahl zum Patriarchen von Alexandria ist umstritten, er wird mehrmals, nicht zuletzt wegen seiner rigorosen Haltung gegenüber den „Arianern“, abgesetzt, verbannt, und hat das Leben des Antonius möglicherweise auch in der Verbannung niedergeschrieben, kurz nach dem Tod desselben.

 

Mönchtum

Während in der Kirche überall Machtkämpfe und dogmatische Streitereien aufkommen, beginnt mit Antonius die Organisation nahe beieinander hausender Eremiten in sich gegenseitig unterstützende Gemeinschaften unter Leitung eines charismatischen und besonders heiligen Führers.

Um 320 vereint ein Eremit Pachomius nördlich vom ägyptischen Theben andere Eremiten in einer Klostergemeinschaft und gibt ihr eine Regel. "Pachomius hatte eine Zeit lang im Heer gedient. Daher kannte er die Wichtigkeit der Disziplin für das Zusammenleben unterschiedlicher Menschentypen. Die >Regula Pachomii< war in koptischer Sprache zusammengefasst (...) Sie verpflichtete zur Abtötung von Fehlern und Begierden, zu Demut und Gehorsam, zu Gebet und Arbeit. Letzere Verpflichtung machte das Kloster zum Wirtschaftsbetrieb (..., Bellen, S.23) Seine Schwester gründet Frauenklöster. Immer mehr Anhänger führen zu immer neuen klösterlichen Gemeinschaften.

 

Innerhalb der Mauern dieser Klöster haben die Mönche ihre kleine Wohnung, wo sie auch schlafen, es gibt einen Speiseraum, Werkstätten, eine Kirche, einen Krankenraum und ein Gästehaus. Da die Mönche im wesentlichen in ihren Zellen leben, arbeiten und beten, sind sie wenigstens zeitweilig noch fast Eremiten. Leineweben, Mattenflechten, Schneidern, Schuhmacherei und Seilflechten gehören zu den in der Regel erwähnten Arbeiten. In ihr wird der leseunkundige Neuankömmling darauf verpflichtet, sich von Lehrern das Lesen beibringen zu lassen, auch wenn er es nicht mag.

 

Unter dem strenge Askese vertretenen Bischof Eustathius von Sebaste entwickelt sich um 360 eine weitere Mönchsbewegung: "Die Männer und Frauen, die sich der von Eustathius propagierten Askese verschrieben, lösten ihre Bindung an die Kirche, brachen aus ihrer Ehe aus, trugen eine für beide Geschlechter gleiche Trach, ermunterten die Sklaven, ihre Herren zu verlassen, und vertraten auch sonst Grundsätze, die sie von den anderen Christenmenschen unterschieden." (Bellen, S.74) Diese Leute versucht der fromme Basilius, später Bischof von Caesarea in Kappadokien, durch ein Regelwerk wieder stärker an die Kirche und ihre Vorstellungen zu binden.

 

Reinheit

Die Regungen des Körpers abzuwerten als solche, die vom Streben hin zu Gott ablenken und die Seele von ihnen zu reinigen, ist der Hauptgedanke der Kirche, und dazu gilt es, sich ihren magischen Mitteln zu unterwerfen. Je mehr die Seele von der Verunreinigung durch den Körper geläutert wird, desto christlicher wird sie.

 

Es geht um jenen in den Zwiespalt geratenen Blick des gebeugten Hauptes auf seinen nackten Leib, um die Entstehungsgeschichte der frenetisch werdenden Angst vor sich selbst, von Ekel, Scham und Schuld als Motoren eines Unheils, das sich dann verselbständigt. Und es geht um die immer umfangreicheren Strategien, das alles zu verleugnen. Es geht um die Entstehung von Angst und von Angstabwehr-Strategien.

 

Zu allererst geht es um den Ekel, die Abscheu vor Verdauung und Ausscheidung als Teil von Lebendigkeit. Dazu kommt der Ekel vor der eigenen Sexualität, dem eigenen Blut und Sperma. Aus dem Ekel entsteht die Scham, indem sich der sinnliche Ekel mit den moralischen Schuldgefühlen verbindet. Damit formt sich etwas aus, was schon Kulturen vor allen Zivilisationen beschäftigt hat, etwas elementar menschliches, welches im Christentum dann pervertiert wird.

Diese massiven moralischen Schuldgefühle verbinden sich mit enormen Aggressionen, und von christlicher Seite werden sie zum Teil autoaggressiv, das heißt, vom Träger der Aggressionen gegen sich selbst gewendet.

 

Das immer wiederkehrende Stichwort für all das ist die Reinheit, die Phantasie von einem wesentlich unlebendigen Körper, dem der vom Kopf herkommende Geist den Schmutz austreibt.So kann in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts der Bischof Ambrosius von Mailand in 'De virginitute' formulieren: Was ist jungfräuliche Keuchheit denn anderes, als rein und unbefleckt zu sein? (Mazo Karras, S.77)

 

Nichts glänzt so rein wie Gold und Silber. Gold oxidiert nicht, wird so wenig befleckt wie der weibliche Körper der Jungfrau durch das Sperma. Gold in gleichgewichtigen Stücken, unzerstörbar, ewig, lässt sich abwiegen, zählen, addieren und subtrahieren im Zustand ewiger Reinheit. Man kann es nicht essen, nicht trinken, es führt dem Körper keine Lustgefühle zu, es ist eben rein. Kein Urin und Kot, kein Blut und Sperma geht aus ihm hervor. Gold stirbt nicht. Der Gott des Abendlandes ist am Ende das Gold, das Silber und daraus das Geld, sein heiliger Geist transferiert in die Kapitalverwertung, ein sehr komplexer Vorgang.

 

Im Mittelalter entstehen die frühen Tafelbilder auf Goldgrund, es sind Kultbilder, deren Heiligkeit sich auch in dem reinsten Metall äußert. Diese Bilder kosten schon alleine vom Materialwert her Unsummen, denn das Gold ist echt. Gott ist gülden, denn er versinnbildlicht die Reinheit. Gott ist prächtig, denn in seinem Glanz ist aller phantasierte Reichtum aus Reinheit versammelt.

 

Der christliche Gott ist dabei der Tod aller Lebendigkeit zugunsten eines Triumphes des Geistes, des heiligen Geistes. Er ist das wahre Leben, das Leben in einer anderen Welt, zuungunsten alles Lebendigen auf Erden.

 

Bereits die alten Griechen und insbesondere die antiken Römer kannten einen Kult der Reinheit, den heute zu verstehen uns schwerfällt. Er bezieht sich auf Hestía bzw. Vesta, die Göttin des Herdfeuers. In Rom befand sich an prominenter Stelle auf dem Forum ihr Tempel und das Wohngebäude der virgines Vestalis, der sechs bis sieben Priesterinnen des göttlichen Herdfeuers. Dieses wurde von ihnen bewacht und ständig geschürt; nur zum Tag des Jahresanfangs wurde es rituell gelöscht und dann neu entfacht. Es handelt sich dabei um ein Relikt aus grauer Vorzeit, dessen Bedeutung in der römischen Zivilisation erstarrt.

 

Reinheit: Der Pontifex Maximus suchte eine neue Vestalin unter sechs-bis zehnjährigen Mädchen aus, die für die nächsten dreißig Jahre in der Gemeinschaft der Priesterinnen als Jungfrauen leben. Die ersten zehn Jahre werden sie unterrichtet, die letzten zehn unterrichten sie selbst.

 

Keuschheit: Eine unkeusche Vestalin wird nach dem Gesetz lebendig begraben, das heißt, vom Erdboden entfernt, was sehr selten geschieht (Plutarch). Reinheit und Ehrbarkeit fallen zusammen: Die angehende Vestalin muss aus einer ehrbaren Familie kommen, der Vater darf keinen unehrenhaften Tätigkeiten nachgehen.

 

Reinlichkeit: Die Vestalinnen säubern den Tempel mit Wasser aus der „heiligen“ Quelle der Nymphe Egeria. Dort hatte sich der Sage nach Numa Pompilius mit ihr getroffen und das Priestertum der Vestalinnen begründet.

Ihre Reinheit macht es möglich, dass sie rechtlich römischen Männern fast gleichgestellt sind, anders als die übrigen römischen Mädchen und Frauen, die immer unter der Kuratel eines männlichen Tutors stehen, wie auch später im lateinischen Mittelalter.

 

Feuer und Reinheit werden in der Antike oft nahe beieinander gesehen. In der Spätantike wird dann versucht, Jungfräulichkeit und Reinheit gedanklich zusammenzubringen, um so den Status der Virginität der Priesterinnen zu erklären. Es ließe sich aber genauso erklären, dass die Jungfräulichkeit alleine es möglich macht, dass sie überhaupt als Frauen Priester sein konnten, ein Amt, welches ansonsten nur Männer innehatten (auch das ein mittelalterliches Erbe aus der römischen Antike). Anerkannt war die nicht jungfräuliche Frau nur als mater familiae, als Matrone, und als solche konnte sie nur für das Feuer des eigenen Herdes zuständig sein.

 

Heiliges Feuer und heiliges Wasser: Die Vestalinnen wachen über das eine und bedienen sich des anderen. An beiden Elementaria hängt kultisch-symbolisch und rituell das Heil der Gemeinschaft der Römer, zum Beispiel auch das Kriegsheil. Aber Feuer und Wasser sind auch ganz praktisch Grundlagen einer bäuerlichen Welt, aus der dieser Kult herkommt, und die er überlebt.

 

Ehelosigkeit, Virginität, Askese sind ansonsten keine römischen Lebensformen sonderlicher Ehrbarkeit oder Tugendhaftigkeit, ganz im Gegnteil. Der im Neuen Testament entwickelte religiöse Sündenbegriff fehlt den Römern ursprünglich völlig. Vergehen gegen die Götter waren kultische Vergehen und damit qualitativ den übrigen Verbrechen benachbart. Die menschliche Sexualität, eingebunden in Ehe und Familie, war höchste Ehrbarkeit, etwas anders als bei den alten Griechen. Darum werden die Kirchenväter, Propagandisten der Jungfräulichkeit und der sexuellen Askese, die Vestalinnen eher mit Abscheu betrachten. Sie repräsentieren kurioserweise eine Welt, in der menschliche Sexualität nicht abqualifiziert ist.

 

Das kultische Element und seine Rituale, beim Jesus der Evangelisten bis hin zu Paulus nicht vorhanden, was ihre Vorstellungen ebenso neuartig macht wie die ansonsten durchaus anderen des Prinzen Gautama, schleichen sich erst langsam in die sich entwickelnde Kirche ein. Was immer beim letzten Abendessen Jesu mit seinen Anhängern geschah: In der bei Markus, Matthäus und Lukas fast gleichlautenden Beschreibung der Zeremonie, die Jesus mit Brot und Wein veranstaltet, bleibt dieser Vorgang einmalig. Die Ritualisierung des Abendmahles bis hin zur Zeremonie der Transsubstantiation in der Messe sind allesamt kirchliche Innovationen ohne jede evangelische Begründung.

 

Aber der kultische Charakter der Reinheit und Reinlichkeit, wie sie im Vestatempel zelebriert werden, wird von der kirchlichen Christenheit in die kultische Reinheit ihrer rein männlichen Priesterschaft übernommen. Der Gemeindeälteste, presbýteros, der im 2. Jahrhundert zum Priester aufsteigt, wie er später eingedeutscht heißt, wird zum männlichen Gegenstück vestalischer Jungfräulichkeit erklärt. Dies erscheint nötig, um seine Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen, wie sie sich in den Sakramenten nach und nach darstellt, wirksam zu machen.

 

Reinheit: Wenden wir uns dem Text des Kirchenvaters Hieronymus zu, in dem er die lebenslange Jungfräulichkeit Mariens gegen den Ketzer Helvidius begründet und verteidigt:

Wenn du so streitsüchtig bist, dann will ich dich mit deiner eigenen Auffassung schlagen. Du darfst überhaupt keinen Zwischenraum einfügen zwischen Geburt und Beiwohnung. Du darfst mir auch nicht etwa kommen mit der Vorschrift: "Wenn eine Frau empfangen und einen Sohn geboren hat, soll sie unrein sein sieben Tage lang, wie zur Zeit ihrer monatlichen Reinigung. Und am achten Tage soll sie das Fleisch seiner Vorhaut beschneiden. Dreiunddreißig Tage soll sie daheim bleiben im Blute ihrer Reinigung und nichts Heiliges anrühren u. s. w.". Sofort soll Joseph zudringlich werben; sofort soll von ihm das Prophetenwort gelten: "Gegen die Frauen sind sie geworden wie geile Hengste; ein jeder wieherte nach der Gattin seines Nächsten". Wie könnte man sonst die Worte rechtfertigen: "Er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar", wenn Joseph nachher die Zeit der Reinigung noch abwartet, wenn die so lange verhaltene Begierlichkeit von neuem um vierzig Tage verschoben wird? Die Mutter liegt noch im Blute da, die Ammen nehmen den weinenden Knaben in Empfang, der Gatte aber umarmt die erschöpfte Gattin. Unter solchen Umständen muß dann der eheliche Verkehr beginnen, nur damit der Evangelist nicht gelogen habe. Wie kann man so etwas von der Mutter des Erlösers und von einem gerechten Manne annehmen? Da gab es keine Hebammen oder anderer Frauen Geschäftigkeit. Sie selbst wickelte das Kind in Windeln; sie selbst war Mutter und Geburtshelferin. "Und sie legte es", so heißt es weiter, "in die Krippe, weil in der Herberge kein Platz war". Diese Stelle entkräftet auch die Phantastereien der Apokryphen, da Maria in eigener Person das Kind in Windeln wickelte; auch gestattet sie nicht, daß der eheliche Verkehr, wie Helvidius es will, gepflegt wurde, da hierzu in der Unterkunft kein Platz war. (Adversus Helvidius de perpetua virginitate b.Mariae)

 

Helvidius stützt sich hier offensichtlich auf Matthäus I, 25: Kaì ouk egínosken autén, héos ou éteke tón hýion autés tòn protótokon, kaì ekálese tò ónoma autoú Iesoún. Was man Hieronymus nicht vorwerfen kann, sind völlige Ehe- und Sexualfeindlichkeit, aber schon das Operieren mit Spitzfindigkeiten in seiner Textauslegung, die unter anderem aus wortwörtlichen Übernahmen und dann wieder dem Bestehen auf übertragenen Bedeutungen sich zusammensetzen.

 

Der rhetorische Trick hier besteht darin, das "bis" (héos) in ein "sofort nachdem" zu verwandeln, und da geht es dann um das Erregen von Ekel im Leser: Da ist der weit geöffnete blutüberströmte Schoß der Mutter und da ist das gigantische Geschlechtsteil des "geilen Hengstes" und daneben das Kind, dessen zarte Haut erst einmal zu reinigen wäre.

 

Aber man soll sich nicht täuschen, dieser an Cicero und den großen Stoikern geschulte Hieronymus ähnlich wie Augustinus vermittelt den Ekel nicht um des Ekels willen. Er ist eher Illustration, sinnliches Entgegenkommen, um jene Reinheitsvorstellung zu belegen, die nicht Reinlichkeit, sondern Vergeistigung, Spiritualität meint. In seiner Beschreibung des Weges der Paula in die Heiligkeit heißt es bei ihm:

Weiter geht es nach der Stadt No, die später Alexandria genannt wurde, und zur Stadt des Herrn, Nitria, wo Tag für Tag durch die reinigende Lauge der Tugendübungen der Schmutz vieler abgewaschen wird.

Der abzuwaschende Schmutz ist der der Sinnlichkeit, deren Wahrnehmungen vom spiritus ablenken. Ein ganzes Stück vorher schreibt unser Hieronymus nämlich über diese Paula:

Nach dem Tode ihres Gatten hat sie bis zum Tage ihres eigenen Hinscheidens niemals mit einem Manne zusammen gespeist, wenn er auch noch so heilig, ja selbst mit der bischöflichen Würde bekleidet war. Bäder besuchte sie nur bei gefährlicher Krankheit.

 

Schon Athanasius von Alexandria fördert bei einem Aufenthalt in Rom die inzwischen dort anzutreffenden christlichen Lebensgemeinschaften von Frauen der senatorischen Oberschicht, und zwischen 382 und 385 wird Hieronymus zum geistlichen Führer der reichen Witwen Marcella und Paula samt Paulas Tochter Eustochium, um deren von Gebet und Askese bestimmtes Leben sich viele andere Frauen sammeln. Blesilla, eine Tochter der Paula, stirbt an extremer Askese und Hieronymus muss darauf Rom verlassen. Paula und die andere Tochter folgen ihm nach Palästina und sie gründet dort ein Frauenkloster.  Die früh verwitwete (ältere) Melania zieht um 383 nach Jerusalem und gründet dort ebenfalls ein Kloster. Weibliche Askese heißt laut Hieronymus:

"Sie sollten einfache, dunkle Kleidung aus Ziegenhaar, Wolle oder Leinen tragen und diese Kleidung nie wechseln. Sie sollten sich nicht waschen, um sich niemandem, nicht einmal sich selbst, nackt zu zeigen, sie sollten allen Besitz aufgeben, in Armut und zölibatär leben." (Gleba, S.27)

Nicht alle Asketinnen zieht es in den Nahen Osten. Marcelina, die Schwester des Bischofs Ambrosius,  betreibt Askese in Rom.

 

Was dem spätantiken oder mittelalterlichen Frommen als Reinheit der Heiligkeit erscheint, löst tendenziell beim neuzeitlichen Menschen Ekel aus. Bevor also die Suche nach der Beziehung von Ekel, Geschlechtlichkeit und Christentum fortgesetzt werden kann, muss ein erster Klärungsversuch darüber stattfinden, wie Ekel sinnvoll verstanden werden kann.

 

Wichtig ist immerhin einmal festzuhalten, dass es bei der Verbindung von Christentum und Ekel und Scham nicht um jene Verbindung geht, die der Puritanismus und die Prüderie der Neuzeit hervorgebracht haben. Es ist wohl eben nicht so, dass der Ekel Sexualfeindlichkeit herstellt und Körperfeindlichkeit, sondern dass letztere erst zum Ekel und zur Abscheu führen.

 

Die Debatten zwischen Augustinus und Albertus Magnus darüber, ob es im Paradies vor dem Sündenfall ein Geschlechtsleben und sexuelle Lust gegeben habe, konzentrieren sich nicht darauf, geschlechtslose Wesen im Paradiese vorzustellen, also "Engel", sondern die insbesondere beim Mann so unwillkürlichen Regungen und Erregungen (Erektionen, Samenergüsse) noch der Willkür des Mannes anheim zu stellen, also seiner "Vernunft" zu übergeben ("zurück" zu geben). Im frühen Christentum löst die Sexualität also keinen Ekel aus, der in Sexualfeindlichkeit eingeht, was ganz unantik gewesen wäre, sondern der Ekel entsteht daraus, dass es selbst die recht Heiligen schwer damit haben, sich soweit von den Unwillkürlichkeiten ihrer Geschlechtlichkeiten zu lösen, dass sie ihren Willen einer Bewegung hin zu Gott durchsetzen können.

 

Augustinus (354-430) schreibt im 69. Kapitel eines 'Enchiridion oder Buch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe (De fide, spe et caritate 69):

Daß etwas Derartiges auch nach diesem Leben geschieht, ist nicht unglaublich; es läßt sich die Frage schon aufwerfen – vielleicht wird sie gelöst, vielleicht bleibt sie ungelöst–, ob eine Anzahl von Gläubigen durch eine Art von Fegefeuer gerettet wird, und zwar schneller oder langsamer, je nachdem sie die mehr oder weniger vergänglichen Güter geliebt haben. Natürlich kommen dabei keine solchen Menschen in Frage, von denen es heißt: „Sie werden das Reich Gottes nicht besitzen“, wenn sie nicht auf Grund einer entsprechenden Buße Nachlaß für diese schweren Vergehen erhalten. Ich habe aber absichtlich gesagt: „auf Grund einer entsprechenden Buße“, weil solche Leute nicht unfruchtbar im Almosengeben sein dürfen. Dieser Tugend schreibt ja die Heilige Schrift eine solche Kraft zu, daß der Herr nach seiner eigenen Voraussage den zu seiner Rechten Stehenden nur die Fruchtbarkeit im Almosengeben, den zu seiner Linken Stehenden aber gerade die Unfruchtbarkeit hierin anrechnen wird; denn zu den ersteren wird er sagen: „Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, empfanget das Reich!“, zu den letzteren aber: „Fort mit euch in das ewige Feuer!“

 

Heiligkeit ist Reinheit, und nur die reinen Heiligen werden von Gott in seinem Reich angenommen werden. Das schon von Tertullian als refrigerium oder später als "Abrahams Schoß" bezeichnete Fegefeuer erhält seine erste dogmatische Ausformung bei Papst Gregor d.Gr. in seinen 'Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum':

Man muss glauben,dass es vor dem Gericht für gewisse leichte Sünden noch ein Reinigungsfeuer gibt, weil die ewige Wahrheit sagt, dass, wenn jemand wieder den Heiligen Geist lästert, ihm "weder in dieser noch in der zukünftigen Welt" vergeben wird. Aus diesem Ausspruch geht hervor, dass einige Sünden in dieser, andere in jener Welt nachgelassen werden können. Die "ewige Wahrheit" ist hier das Matthäus-Evangelium.

 

Die sich erst im hohen Mittelalter im Zuge der Entfaltung von Kapitalismus allgemein ausbreitende Vorstellung von einem Purgatorium (Reinigungsort) ist also ein Ort, an dem unter strafenden Qualen der Körper von dem Schmutz seiner im Leben begangenen Sünden gereinigt wird.

 

 

Vom ursprünglichen Wortsinn her wird "Reinheit" hergestellt durch das Abscheiden von allem, was nicht zu etwas dazugehört. Soweit stimmt es mit dem lateinischen purus überein und wird in nichts so veranschaulicht wie dem Gold. Dieses purus enthält aber auch die Bedeutung von "sittlich rein", die mit dem althochdeutschen "sauber" gemeint ist. Sittllich rein meint aber im christlichen Sinne sündenfrei.

 

Damit sind wir bei der Verbindung der Vorstellungen von Sünde und Schmutz, die der Sünde jene sinnliche Anschaulichkeit gibt, die es erlaubt, im Extremfall Ekel vor ihr zu empfinden. Auf der korrekten metaphorischen Ebene wird der Schmutz abgewaschen (Wasser!) oder durch das Feuer gereinigt. Auf der Ebene alltäglicher Wirklichkeit wird die Sünde gebüßt, und die Buße ist ursprünglich keine Strafe, sondern eine Chance auf das ewige Leben. Mit der zunehmenden Popularisierung der Vorstellung vom Purgatorium, dem Ort der Reinigung, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, wird für diesen Ort nun als Abschreckung die reinigende Kraft des Feuers gewählt.

 

Um dieses purgierende Feuer zu reduzieren bzw. zu vermeiden, wird einmal nach dem Tod des Angehörigen um seine Seele im Gebet gerungen, zum anderen wird auf dem Weg der Buße möglichst viel Sündenschuld schon in diesem Leben abgetragen. Die Buße wird als Waschvorgang anschaulich dargestellt.

 

 

Priscillian: Unerträgliche Heiligkeit

 

Im vierten Jahrhundert sind die gallische wie die hispanische Kirche etablierte Bischofskirchen, und das Amt des Bischofs ist ein begehrenswerter Karriereposten für die reiche Oberschicht geworden. Kirche und Staat werden fast eine Einheit, Bistum und civitas werden so deckungsgleich wie provincia und Metropolitanbistum, und im Verfallsprozess der städtischen Selbstverwaltung fallen Bischöfen immer mehr weltliche Aufgaben zu. Das ist von Kaiser Konstantin so gedacht und wird unter Kaiser Theodosius vollendet.

 

Heiligkeit war längst dank Christenverfolgungen zu einem Spezifikum der Märtyrer geworden, deren radikale Glaubensstrenge erst mit ihrem (gewaltsamen) Tod belegt wird, weswegen sie einerseits vorzeigbar, andererseits ungefährlich waren. Mit Priscillian, Paulinus von Nola und Martin von Tours tritt eine neue Form von Heiligkeit auf, die sich in einem Leben in der Nachfolge Jesu erweist und damit implizit das Leben der hohen Geistlichkeit als wenig christlich denunziert. Die Hinrichtung Priscillians und vieler seiner Anhänger im Zusammenspiel von Kirche und Staat wird ein Versuch, solche neue Formen von Heiligkeit zu vernichten, bevor dann als Alternative die Integration solcher Außenseiter in die Kirche versucht wird.

 

Wie für Martin von Tours ist auch für Priscillian unsere Hauptquelle die Chronik des Sulpicius Severus, der nicht nur einerseits ein Kritiker der weltlichen Orientierung des Klerus ist (Unser Klerus scheint seine Glaubenslehre nicht nur vergessen zu haben, sondern überhaupt nicht zu kennen, so groß ist ihre Gier nach Besitz, die sich in unseren Tagen in ihren Seelen festgesetzt hat), sondern andererseits auch seine Kenntnisse von Priscillian, seinen Anhängern und seiner Lehre hauptsächlich von dessen Gegnern übernommen hat.

 

Danach stammt Priscillian aus einer wohlhabenden aristokratischen Familie und genießt eine gediegene klassische Ausbildung. Mitte des 4. Jahrhunderts trifft er sich zusammen mit seinem Lehrer Elpidius mit einer asketischen Laiengruppe. Dann zieht er nach Lusitanien, wo sich eine religiöse Gemeinschaft um ihn schart. Diese breitet sich dann über mehrere Bistümer aus.

 

Offenbar besonders beeinflusst von Paulus-Texten, entwickelt er eine konsequente Frömmigkeit, die den Glauben verbindet mit Ablehnung weltlicher Güter, mit Keuschheit, mit regelmäßigem sonntäglichem Fasten, Ablehnung von Fleischgenuss.

 

Zu den Ungeheuerlichkeiten für viele Bischöfe gehört auch die Teilnahme von Frauen an den frommen Auszeiten mit Rückzug in die Einsamkeit, was bei der etablierten Kirche Phantasien sexueller Orgien auslöst, und zudem die Zelebrierung der Eucharistie außerhalb von Kirchengebäuden und ohne geweihte Priester.

Für den galizischen Bischof und Chronisten Hidatius von Aquae Flaviae ist Priscillian noch schlimmer als die Barbaren, die in Hispanien eingefallen sind. Bischof Hidatius von Merida, sein Hauptgegner, versucht zunächst vergebens, ihm Häresie nachzuweisen. Zwei Bischöfe, deren Sitz wir nicht kennen, Instantius und Salvianus, werden dagegen von Priscillian gewonnen.

 

380 organisieren die Gegner ein Konzil in Caesaraugusta (Zaragoza), an dem 10 hispanische und zwei gallische Bischöfe teilnehmen. Der wesentliche Punkt der Anklage gegen die beiden mit Priscillian sympathisierenden und abwesenden Bischöfe ist wohl der, dass sie einen Laien unterstützen. Ansonsten versucht man, Priscillian in eine manichäische Ecke zu drängen (eine verbotene Häresie), ihm maleficere, also verbotene magische Praktiken zu unterstellen und die Nutzung apokrypher Texte.

Igitur post multa inter eos nec digna memoratu certamina apud Caesaraugustam synodus congregatur, cui tum etiam Aquitani episcopi interfuere. verum haeretici committere se indicio non ausi: in absentes tamen lata sentencia damnatique Instantius et Salvianus episcopi, Helpidius et Priscillianus laici. (Sulpicius Severus. Chronik II. 47. 2)

 

Im Ergebnis des Konzils kommt es aber zu keiner repressiven Praxis, insbesondere, nachdem Papst Damasius ablehnt, dass Bischöfe bei deren Abwesenheit verurteilt werden.

Nach längerer Gegnerschaft schließt sich Bischof Hyginus von Córdoba den beiden anderen Bischöfen an, die Priszillian unterstützen. 381 versuchen Priszillianer, den Bischofstuhl von Mérida zu besetzen, aber die städtischen Massen schlagen sich auf die Seiten ihres Bischofs Hidatius. Kurz darauf weihen Salvian und Instantius den Priszillian zum Bischof von Àvila, wo der Bischofsstuhl vakant geworden ist.

 

Nachdem dem Priszillianismus mit innerkirchlichen Mitteln nicht beizukommen ist, werfen Hidatius von Mérida und Itacius von Ossonoba dem allzu Frommen Erntezauber vor, was das Eingreifen der weltlichen Gerichtsbarkeit erzwingt. Bischof Ambrosius von Mailand und Kaiser Gratian werden informiert und letzterer um sein Eingreifen gebeten. Der setzt die drei Bischöfe ab, enteignet und verbannt sie.

Darauf ziehen diese nach Italien, um beim Kaiser zu appellieren. Eine vornehme Eucrocia, ihre Tochter und andere empfangen sie in Aquitanien. Der Papst weigert sich, sie in Rom zu empfangen, wo Salvian stirbt, ebenso wenig wie Ambrosius in Mailand, der wohl ein dezidierter Gegner des Priszillian ist.

 

Macedonius, magister officiorum des Gratian, stellt sich auf die Seite der beiden, und sie erhalten ein Schreiben, dass sie wieder in ihre Kirchen eingesetzt werden sollen. Unter dem Schutz des Prokonsuls der Diözese Hispania kehren die beiden Bischofe in ihre Bistümer zurück. Sie greifen nun ihrerseits Bischof Itacius von Ossonoba wegen Verleumdung an, der flieht nach Trier, wo er die Unterstützung des prätorianischen Präfekten Gregorius erhält, der negativ über Priszillian an Gratian schreibt.

 

Inzwischen, während Priszillian seine Kirchenreform in Galizien, Lusitanien und der Baetica betreibt, ist Gratian ermordet worden und Usurpator Magnus Maximus sucht die Unterstützung von Kaiser Theodosius, indem er Zeichen besonders unerbittlicher religiöser Orthodoxie abzuliefern versucht, die ihn vom zu toleranten Gratian positiv abheben sollen. 384 beruft er ein Konzil nach Bordeaux. Instantius, Priszillian, Hyginus, Hidatius und Itacius erscheinen. Instantius wird verurteilt und Priszillian, überzeugt von der Parteilichkeit des geistlichen Gerichtes, wendet sich nun an das weltliche in Trier.

 

Hier ergeht es ihm noch schlechter, vermutlich wird er gefoltert, jedenfalls gesteht er magische Praktiken, nächtliche Treffen mit Frauen, Predigten in nacktem Zustand etc. Der Kaiser verurteilt ihn und sechs Anhänger (Eucrocia eingeschlossen) zum Tod durch Enthauptung. Instantius wird auf die Scilly-Inseln verbannt. Dann schickt der Kaiser einen Tribunen nach Hispanien zur Unterdrückung der Häresie und zur Verhaftung und Enteignung der Anhänger.

 

Die Leichen werden nach Hispanien überführt und die Begräbnisstätte wird ein inoffizieller Wallfahrtsort. Zugleich reagieren viele mit Erschrecken über die Hinrichtung eines Bischofs durch eine weltliche Macht. Papst Siricius exkommuniziert alle daran Beteiligten - zumindest aus diesem Grund. Bischof Hidatius tritt darauf aus eigenen Stücken zurück und wird wie Idacius verbannt, weil beide an einem Verfahren beteiligt waren, dass zur Todesstrafe für einen hohen Geistlichen führte. Letzterer schreibt eine ausführliche Verteidigungsschrift, die zur Hauptquelle für Sulpicius Sdeverus und Hieronymus wird. (Hispania, S.209)

 

Und so schwankt denn auch Sulpicius Severus zwischen Bewunderung und Ablehnung, wenn er schreibt,

Priszillian stamme aus einer edlen und sehr reichen Familie, ist scharfsinnig, ruhelos und redegewandt, mit weiten und unterschiedlichsten Kenntnisse ausgestattet, talentiert im Gespräch und der Debatte und zu einem besseren Schicksal bestimmt, hätte er nur seine hervorragende Intelligenz nicht verdorben mit verderblicher Bitterkeit. Viel Gutes war an ihm, sowohl geistliches wie körperliches, denn er war imstande, völlig mittellos längere Zeit auszukommen, Hunger und Durst zu ertragen, hatte nicht den geringsten Wunsch, irgendetwas zu besitzen und benutzte kaum etwas. Aber gelegentlich war er eingebildet und von übertriebenem Stolz dem wegen seiner weltlichen Kenntnisse, bis zu dem Punkt, dass man glaubte, dass er sich seit seiner Jugend der Magie gewidmet hatte. Sobald er seine abscheuliche Lehre zusammen hatte, band er an sich mit seiner überzeugenden Autorität und seinem Talent zum Schmeicheln viele Edle und viele aus dem Volk. (Chronik II, 46, 1-5)

 

Mit der Hinrichtung Priszillians ist der Bewegung die Spitze genommen, aber offensichtlich lebt sie noch weiter. 400 wird auf einem Konzil in Toledo unter Leitung des Bischofs Patruinus von Mérida Priszillians Anhänger Bischof Simposius und sein Sohn dazu gebracht, ein orthodoxes Glaubensbekenntnis abzulegen und Priszillian und seine Lehren zu verurteilen:

69 Item Isonius, nuper baptizatum se a Simposio et, episcopum factum, hoc se tenere, quod in praesenti concilio Symphosius professus est, respondit. Vegetinus vero, olim ante Caesaraugustanum concilium episcopus sanctus, similiter libros Priscilliani cum auctore damnaverat, ut de caeteris Acta testantur. De quibus qui consuluntur episcopi iudicabunt.

(…) Vegetinum autem, in quem nulla specialiter dicta fuerat ante sententiam, data professione, quam synodus accepit, ustatuimus comunion nostrae esse reddendum.

Paternum, licet pro catolica fi dei veritate et publicatae haeresis errore libenter amplexi, ecclesiam in qua episcopus fuerat constitutus tenere permissimus; recepturi etiam in nostram communionem quum sedes apostolica rescripserit; (…) Sane Vegetinum solum cum Paterno communicare decrevimus; Symphosius autem senex religiosus, qui quod egerit supra scribimus, in ecclesia sua consistat, circumspectior circa eos, quos ei reddemus, futurus; inde expectabit communionem, unde prius spem futurae pacis acceperat. Quod observandum etiam Dictinio et Anterio esse decrevimus.

(J. Vives, Concilios Visigóticos e hispano-romanos, Barcelona-Madrid, 1963 CSIC, Concilio de Toledo I, pp. 13-14).

 

Die Repressionswelle lässt wohl erst etwas nach, als die “Barbaren” Spanien überrollen. 412 werden Bischof Lazarus von Aix-en-Provence und Bischof Herod von Arles unter den Vorwurf des Manichäismus aus ihren Ämtern vertrieben, andere vertreten asketische Ideale sogar von Metropolitan-Sitzen aus. 446, 447 und noch 563 verurteilen Synoden in Hispanien den Priszillianismus, inwieweit er da tatsächlich noch lebendig ist, lässt sich schwer feststellen. Um 527 schreibt Montano, der Metropolitanbischof von Toledo, an den Klerus von Palencia und wirft ihm zuviel Toleranz gegenüber den Priszillianern vor.

 

An Texten ist von Priszillian nur seine Auseinandersetzung mit Briefen von Paulus erhalten geblieben, an der sich nichts Häretisches im Sinne der Kirche erkennen lässt. Sie vertreten ein Leben in Frömmigkeit und Askese, im Zölibat (im Sinne des Paulus) und unter Verzicht auf den Genuss von Fleisch und Alkohol. Das Studium der heiligen Schriften wird betont, welches in der Kirche derzeit das Privileg der Wenigen wird.

 

Alles spricht dafür, dass die Vorwürfe der Häresie (Priszillian scheint nicht primär theologisch interessiert gewesen zu sein) und der unerlaubten Magie vorgeschoben wurden, und sein paulinisches Christentum durchaus konform mit offiziellen Lehren war. Sein asketisch-evangelisch orientiertes Christentum bedroht vielmehr die Institution einer reich gewordenen Bischofskirche, in der Bischöfe in ihren Stadt-Palästen das hergebrachte römische Aristokraten-Dasein weiter pflegen, durchaus auch weltliche Macht ausüben und weder der Keuschheit noch anderen Formen der Abstinenz einen hohen Stellenwert einräumen. Von Itacius von Mérida wird berichtet, er habe ein selbst für seine Geistlichkeit zu liederliches Lotterleben geführt.

Geduldet werden bestimmte klösterliche Einrichtungen, soweit sie unter der Aufsicht der Bischöfe bleiben, und die schon ältere römische Tradition der puellae Dei, der Mädchen, die im Schoß ihrer Familie einer heiligen Keuschheit, Virginität geweiht werden, die vom pater familias ebenso wie von den Vätern der Kirche beaufsichtigt werden kann.

 

Überhaupt scheint die Institution Kirche beunruhigt gewesen zu sein von dem relativ weiten Raum, der Frauen in diesen Zusammenhängen gewährt wird, in den asketischen kurzen Rückzügen von Gruppen in die Einsamkeit und wohl auch von ihrem Verhalten im regulären Gemeindeleben. Die Phantasien der etablierten Kirche über nächtliche sexuelle Aktivitäten verraten dabei wohl mehr über diese Kirchenherren als über die Priszillianer. Und dazu gehört dann auch ein Gerücht wie das, Priszillian habe in Gallien sexuelle Beziehungen zu Eucrocias Tochter Procula gehabt.

 

Drei Personen sind uns etwas besser bekannt, die der Askese eine ähnliche Bedeutung wie Priszillian beimaßen: Martin von Tours, Hieronymus und Paulinus von Nola. Der erstere bekam deswegen erhebliche Schwierigkeiten und setzte sich in Trier für Priszillian ein, und der Priszillian-Gegner Itacius wird ihn zur Empörung von Sulpicius Severus ebenfalls diffamieren: ausus etiam miser est ea tempestate Martino episcopo, viro plane Apostolis conferendo, palam obiectare haeresis infamiam. (Chron. II, 50. 4)

Der zweite entflieht wegen ähnlicher Vorwürfe (Verbindung von Askese und engem Verkehr mit heiligen Frauen) ins “Heilige Land” nach Bethehem.

 

Spanisches Gemeindeleben um 300

 

Selbst eingedenk regionaler Besonderheiten liefert ein Konzil kurz vor 303 im spanischen Elvira anschauliches Material über das Gemeindeleben schon Anfang des vierten Jahrhunderts. (http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_0306-0306__Concilium_Eliberitanum__Documenta_Omnia__EN.doc.html)

 

Es ist unübersehbar, dass das Christentum sich in den letzten zwei Jahrhunderten in der Welt – so wie sie nun einmal ist – eingerichtet hat. Der Hierarchie in “der Welt” entsprach die der Kirche – auf dem Weg nach oben entsteht eine ungenierte Bevorrechtigung, die den Bischof genauso betrifft wie den weltlichen Magistraten. Letzterer zum Beispiel darf als Christ, was den kleinen Leuten verboten ist, nämlich heidnische Spiele veranstalten und kultische Feste und dabei notgedrungen sündigen, nur darf er in dem Jahr, in dem er dazu verpflichtet ist, nicht die Kirche betreten (Kanon 56)

 

Sklaverei ist weiterhin für Christen eine normale Angelegenheit, und damit dem Herrn, der seinen Sklaven freigelassen hat (warum auch immer), nicht die Peinlichkeit geschehen kann, dass ihm dieser als Geistlicher vorgesetzt wird, ist das zu Lebzeiten des Herrn verboten. (Kanon 80)

 

Neben den Bestimmungen zur besonderen sexuellen Abstinenz des Klerus beschäftigt sich der größte Einzelkomplex mit sexuellen Verfehlungen und Ehebestimmungen (34 von 81 Kanones), die vor allem Frauen betreffen. Dabei kommt es zu einer verschärften Synthese aus jüdischen und römischen Moralvorstellungen: Jungfräulichkeit (der Mädchen!) vor der Ehe, unbedingte eheliche Treue, massive Kirchenstrafen auf Untreue, uneingeschränkte Unterordnung der Frau unter den (Ehe)Mann:

Eine Frau soll nicht einem anderen christlichen Laien ohne die Zustimmung ihres Ehemannes schreiben. Eine Frau darf keine freundschaftlichen Briefe empfangen, die nur an sie und nicht auch an ihren Ehemann gerichtet sind. (Kanon 81)

 

Ein besonderes Thema ist auch die (männliche) Homosexualität, von Heiden zumindest geduldet, von der Kirche verabscheut. Die, welche Knaben sexuell missbrauchen, dürfen nicht mehr zur Kommunion zugelassen werden, selbst wenn der Tod naht.

Leben unter Heiden, ohne deren heidnischen Angewohnheiten doch wieder zu verfallen, fällt offenbar schwer. Christen opfern heidnischen Göttern, praktizieren Magie mit dem Ziel zu töten, was beides schwere Kirchenstrafen nach sich zieht (Bußen, Entfernungen aus der Gemeinde über Jahre oder aber “für immer”).

 

Die magische Praxis, die Feldfrüchte zu segnen, wird von der Kirche übernommen, den Großgrundbesitzern wird aber untersagt, ihre Feldfrüchte danach noch einmal von Juden segnen zu lassen, was offenbar geschieht. Jeder, der das weiterhin macht, wird vollständig aus der Kirche ausgeschlossen. (Kanon 49)

 

Zehn Jahre Buße werden für denjenigen verhängt, der den Heiden zusieht, wie sie opfern, was offenbar ebenfalls geschieht – wenn man dort schon selbst nicht opfern darf. Der Kanon 59 sieht das Dabeisein für eine ebenso große Sünde an wie das aktive Opfern selbst.

 

Wagenrennen und Schauspielen sind eine Sünde, der diejenigen, die das als Lebensunterhalt betrieben haben, abschwören müssen, bevor sie in die Kirche aufgenommen werden. Selbstverständlich dürfen sich Christen bei so etwas auch nicht vergnügen. (Kanon 62) Verboten sind auch Würfelspiele um Geld (und vermutlich ähnliches), was, wenn man hinreichend bereut, nur zu einem Jahr Kommunions-Entzug als Strafe (Buße) führt. (Kanon 79)

 

Soweit das schon möglich, ist deutet sich bereits die ganze zukünftige Unduldsamkeit der Kirche an. Christen haben ihren Sklaven den Besitz von heidnischen Kultgegenständen zu verbieten, und wenn das nicht möglich ist, sich wenigstens von ihnen fernzuhalten, um nicht unrein zu werden. (Kanon 41: Der magische Charakter nicht nur der eigenen, sondern auch heidnischer Kultgegenstände scheint selbstverständlich zu sein.)

 

Wenn die Tochter eines Christen einen Häretiker, Juden oder Heiden heiratet, werden die Eltern mit Bußen belegt, genauso auch, wenn sie Juden dadurch aufwerten, dass sie mit ihnen zusammen essen.

 

In manchem scheinen sich hier paulinische Vorstellungen durchgesetzt zu haben. In einem unterscheidet sich der Klerus aber offensichtlich davon ganz erheblich. Im Kanon 19 wird nämlich folgendes bestimmt:

Bischöfe, Presbyter und Diakone sollen das Gebiet, in dem sie arbeiten, nicht verlassen oder in den Provinzen reisen, um gewinnbringenden Geschäften nachzugehen. Wenn es wirtschaftlich nötig ist, sollen sie einen Sohn, einen Freigelassenen, einen Angestellten, einen Freund oder sonst jemanden schicken. Sie sollen sich mit Geschäftsangelegenheiten nur in ihrem eigenen Gebiet befassen.

 

Wie man liest, gibt es noch kein Zölibat, aber auch kein Armutsgebot für den Klerus: ganz im Gegenteil. Andererseits müssen sich Klerus wie Laien an das biblische Zinsverbot halten, andernfalls werden sie ausgestoßen. Biblisch ist zudem das Bilderverbot, in Elvira wird beschlossen, dass keine Bilder in Kirchen sein dürfen, damit sie nicht Gegenstände der Verehrung werden. Ein eigener Kanon, Nummer 52, verbietet dann auch, ersatzweise eigene Kritzeleien in der Kirche zu hinterlassen, was es offenbar auch gibt.

 

Nachdem das Konzil, eher eine Synode, weithin Verbote formuliert, die mit Bußstrafen belegt werden, gibt es auch einige wenige Gebote, die auf die Lauheit eines Teils der Christen verweisen. Außer im heißen südspanischen Juli und August ist am Samstag strenges Fasten einzuhalten, um sich auf den heiligen Sonntag vorzubereiten. Der Gottesdienstbesuch am Sonntag ist dann Pflicht, sofern ein solcher erreichbar ist; wer ihn dreimal hintereinander auslässt, wird öffentlich bloßgestellt, indem er darauf für eine gewisse Zeit davon ausgeschlossen wird.

 

Was ist in knapp dreihundert Jahren aus dem evangelischen Christentum geworden: Eine nach Macht und Besitz strebende hierarchische Institution, rigoros verschärfte jüdisch-römische Sexualmoral mit dezidiert patriarchalen Vorstellungen, Praxis aus dem paganen Raum übernommener magischer Vorstellungen, und dazu passend eine Ritualisierung der Glaubensinhalte in Pflichten gegenüber der Institution.

 

Den geweihten Jungfrauen sind wir schon bei Tertullian begegnet. Ihrer Verpflichtung zur Keuschheit entkommen sie nur noch bei lebenslanger Strafe des Ausschlusses von der Kommunion. Handelt es sich um einen einmaligen Fehltritt, den sie bereuen, dürfen sie wenigstens im Angesicht des Todes noch einmal kommunizieren. (Kanon 13) Aus welchem Reservoir an Mädchen die Gemeinden dabei schöpfen können, erklärt Kanon 15: Christliche Mädchen sollen keine Heiden heiraten, wie wenige akzeptable Männer auch da sein mögen, denn solche Ehen führen zum seelischen Ehebruch.

 

Was also bedeutet hier inzwischen “katholisches” Christentum: Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinde und einer herarchisch gegliederten Amts-Kirche vor allem, Gehorsam gegenüber der Institution, Teilnahme an ihren Ritualen und Unterwerfung unter ihre rigorose Sexualmoral. Da kein Christus wiedergekommen ist, kommt stattdessen die Kirche und tritt als Erlöser an seine Stelle. Schon bevor sie sich unter Konstantin mit der weltlichen Macht zu verbünden beginnt, spiegelt sie in ihren Rängen die weltliche Rangordnung. Und genauso spiegelt sie Ängste einer Zivilisation in permanenter Gefahr der inneren Auflösung, als die sich die römische Kaiserzeit seit Augustus beschreiben lässt. Und von den Ehegesetzen des Augustus bis zu der noch wesentlich brachialeren Gesetzgebung des Konstantin treten bei Kirche und Staat sexuell vermittelte Ängste in den Mittelpunkt. Sie betreffen die voreheliche Jungfräulichkeit der Töchter, die väterliche Autorität darüber, die eheliche Treue besonders der Frauen, zunehmend die sexuelle Orientierung. Mädchen, die mit einem Liebhaber ihrer Wahl in eine Ehe ohne väterliche Einwilligung entkommen wollen, und darum von zuhause fortlaufen, werden 320 von Konstantin mit der Todesstrafe bedroht. Der für das Mädchen zuständigen weibliche Sklavin wird geschmolzenes Blei in den Rachen geschüttet. Das Einverständnis des Mädchens spielt keine Rolle, denn ihre Weiblichkeit macht sie unfähig, eigene Entscheidungen solcher Art zu treffen. (Brown, S. 207)

 

Zwei Dinge sind aber vor allem festzuhalten: Es gibt ganz offensichtlich einen solide gewordenen Gegensatz zwischen den hohen Ansprüchen der Kirche und der Lebenswirklichkeit der Menschen, zwischen "eigentlich" und "wirklich", und es gibt zwei fein säuberlich voneinander getrennte "Sorten" von Christen, die kirchlich beamteten und die Laien. Bei Eusebius in seiner 'Demonstratio Evangelica' heißt das so:

Zwei Lebensformen wurden der Kirche vom Herrn gegeben. Die eine steht über aller Natur, und jenseits üblichen menschlichen Lebens; sie lässt keine Heirat, kein Gebären von Kindern, kein Eigentum noch den Besitz von Reichtümern zu … Wie einige der himmlischen Wesen schauen sie herab auf das menschliche Leben, während sie für alle die Pflichten einer Priesterschaft für den allmächtigen Gott ausüben...

Und die niederere, menschlichere Lebensform veranlasst Leute, sich in reinen Ehen zu verbinden, Kinder zu zeugen, die Regierung zu übernehmen, Soldaten, die für das Recht kämpfen, Befehle zu erteilen; das erlaubt ihnen, die Gedanken der Landwirtschaft zuzuwenden, dem Handel und die anderen weltlichen Dinge genauso wie für die Religion (nach: Brown, S.105)

 

Der heilige Martinus des Sulpicius Severus

 

Das vierte Jahrhundert ist die Zeit zwischen Konstantin und Theodosius. Das Christentum wird erst toleriert, dann gefördert und dann Staatsreligion. Am Anfang stehen noch Christenverfolgungen, am Ende gibt es Heidenverfolgungen. Der griechische Osten trennt sich zunehmend deutlicher vom lateinischen Westen und fällt immer stärker aus dem Rahmen dieser Texte hier. Aber auch im Westen verselbständigen sich die Regionen langsam.

 

Die Staatseinnahmen werden immer stärker auf die Bedürfnisse des Heeres hin orientiert, das Militär ist Fundament der kaiserlichen Macht und gewinnt zunehmend an Bedeutung aufgrund des Druckes vor allem germanischer Völkerschaften.

 

Für die städtische Oberschicht ist es nun opportun, Christ zu werden, und mit dem Bischofsamt entwickelt sich jenseits des alten und immer obsoleter werdenden cursus honorum ein neues Karriereziel. Mit dem Verfall der alten städtischen Verfassung kommt Bischöfen auch im Raum weltlicher Aufgaben immer mehr Bedeutung zu, sowohl was die Regelungen innerhalb der Stadt wie ihre Vertretung nach außen betrifft. Unterstützung gewinnen sie dabei auch durch von ihnen gegründete Klöster, die wiederum die Heiligsprechung von ihren Bischöfen fördern. Diese wiederum zieht dann Pilgerströme an, die der Stadt wirtschaftlich helfen. Martin wird in der Basilika begraben werden, die sein Vorgänger hatte erbauen lassen, und darauf wird dann ein Kloster zur Pflege seines Grabes eingerichtet.

 

Seit den von Konstantin instrumentalisierten Konzilien entwickelt sich eine durch Beschlüsse vereinheitlichte römische Großkirche, eine religiöse Orthodoxie mit einheitlichem Glaubensbekenntnis und einem festgelegten Satz neutestamentlicher Texte. Abweichende christliche Positionen wie die der Arianer werden mit zunehmender Härte verfolgt.

 

Die Christianisierung erfasst vor allem die Städte, und auch dort je nach Gegend nur einen Teil der Menschen. Auf dem Lande herrschen weiter meist pagane Kulte. Mit den Gesetzen des Theodosius Ende des Jahrhunderts sieht sich nun der christliche Missionseifer legitimiert, heidnische Kulte und Kultstätten gewaltsam zu beseitigen.

 

Über jenen Martin, der Hauptheiliger im Merowingerreich der Franken werden wird, hätten wohl schon diese wenig gewusst, wenn nicht Sulpicius Severus um 396/397 seine Lebensgeschichte geschrieben hätte. Sie formt zusammen mit seinen anderen Texten über ihn das Heiligenbild, welches dann in immer neuen Versionen tradiert werden wird.

 

Severus, in der Mitte des Jahrhunderts geboren, ist Sohn einer aquitanischen Familie der Oberschicht, erhält eine gediegene Ausbildung und wird dann Anwalt. Seit Studienzeiten war er mit Paulinus befreundet, aus derselben Schicht wie Severus und wohl ebenfalls aus Aquitanien stammend. Der macht Karriere als Statthalter in Kampanien, beschäftigt sich dann aber immer mehr mit dem Christentum und lässt sich nach dem Tod seines einzigen Kindes in Nola nieder, wo er den Schrein des heiligen Felix erneuert und zur Wallfahrtsstätte mit Pilgerhaus ausbaut.

 

Unter dem Eindruck der Kontakte zu diesem Paulinus und auch eines Besuches bei Martin um 393 verzichtet Severus nach dem Tod seiner Frau auf fast all seinen Besitz und zieht sich 395 auf ein Landgut in Südgallien zurück, wo er eine asketische Gemeinschaft gründet und sich weitgehend mit Schreiben beschäftigt.

 

Ursprünglich war es Sache eines jeden Christen gewesen, Heiligkeit anzustreben, aber in den ersten Jahrhunderten wurden vor allem jene als Heilige angesehen, die als Märtyrer starben, also bis in den gewaltsamen Tod ihren Glauben bezeugten. Mit dem Martin des Severus entsteht nun ein neues Heiligenbild, eine neue Version von Heiligkeit, die an zwei Dinge gebunden wird: Da ist einerseits ein heiligmäßiges Leben, und andererseits das Phänomen der Wundertätigkeit, die schon bei Martin über den Tod hinausgehen wird. In beidem gestaltet Severus seinen Martin ganz nach dem Vorbild Jesu, dem er in manchem verblüffend ähnelt.

 

Was den historischen Martin angeht, sind wir hingegen auf ganz wenige halbwegs überprüfbare Fakten angewiesen: Er ist irgendwann zwischen 316 und 336 als Sohn eines römischen Offiziers in Pannonien geboren (im Szombathely des heutigen Ungarn). Er wird selbst Soldat, lässt sich in Amiens (?) taufen, scheidet zwei Jahre später aus dem Militär aus, soll sich kurz bei Bischof Hilarius in Poitiers aufgehalten haben und dort den niedrigen Klerikergrad eines Exorzisten angenommen haben. Er zieht dann in die alte Heimat nach Pannonien, um dort zu missionieren, fühlt sich dort von Arianern vertrieben, zieht in eine Einsiedelei bei Mailand, von wo er durch den arianischen Bischof vertrieben wird und landet schließlich als Einsiedler auf der Insel Gallinar(i)a im Golf von Genua.

 

Inzwischen ist Hilarius erst aus Poitiers vertrieben und schließlich doch zurückgerufen worden. Zu diesem zieht er nun und gründet die Einsiedlergemeinschaft von Ligugé südlich von der Stadt. 371 wird er Bischof von Tours und gründet das Kloster Marmoutier in der Nähe. 385/86 ist er im Rahmen von Streit mit Häretikern am kaiserlichen Hof zu Trier. Vermutlich 397 stirbt er in Candes bei Tours. (Alles nach: G. Huber-Rebenich, Severus, S.103ff)

 

Auch Heilige sind Menschen und als solche Sünder. Severus aber verzichtet völlig darauf, ihm auch nur eine solche zuzuschreiben, so dass er so sündenfrei wie Jesus selbst wirkt. Schon als kleines Kind strebt er zum Dienst an Gott, als Zehnjähriger flüchtet er in eine Kirche und möchte Taufschüler, Katechumene werden, als Zwölfjähriger schließlich zieht es ihn zum Eremitendasein. Das klingt unwahrscheinlich, wundersam, ist nur erklärlich, weil er eben von vorneherein Heiliger ist. (2,2-4)

 

Den Stolperstein, dass Martin dann wie sein Vater Soldat wird, wohl in einem unteren Offiziersrang, räumt Severus aus dem Weg, indem er dessen Abneigung dagegen deutlich macht: Man muss ihn gefesselt zum sacramentum, dem Fahneneid schleppen.

Zwar ist es schon lange üblich, dass auch Christen zum Militär gehen, und es gibt keine klare gemeinsame Haltung zu dem Thema. Augustinus wird demnächst sogar bestimmte Kriege rechtfertigen. Aber ein Papst Siricius (384-99) verweigert denen, die nach der Taufe noch Kriegsdienst leisteten, den Zugang zu kirchlichen Ämtern (Severus, S.113) und Paulinus lehnte ebenfalls jeden Militärdienst ab. Martins Nachfolger im Bischofsamt von Tours soll ihm einmal vorgeworfen haben, beim Militär gewesen zu sein, während er schon in seiner Jugend im Kloster war.

 

In seinen Jahren beim Heer erweist sich der Martin des Severus dann als christlicher Ausnahmesoldat. Er bleibt integer ( ...) ab his vitiis gegenüber jenen Lastern, die im Soldatenleben unchristlich erscheinen könnten (2,6). Gegenüber seinen commilitones praktiziert er benignitas (Güte), caritas, patientia (Duldsamkeit) humilitas, sein Leben ist von frugalitas (Enthaltsamkeit) geprägt. (2,7) Und damit noch nicht genug christlicher Tugendhaftigkeit, steht er noch den Mühseligen (laborantibus) bei, hilft den Elenden (miseris), und kleidet schließlich die Nackten (nudos). Crastino non cogitabat, er macht sich auch keine Gedanken über die Zukunft, sondern vertraut eben auf Gott. (2,8).

 

Dieses Muster eines „christlichen“ Kriegers wird – anders wohl als von Severus beabsichtigt - tief in die Welt der kriegerischen Franken hineinwirken, deren Hauptheiliger Martin werden wird. Dieser selbst aber wird am Ende das Militär verlassen, denn nun ist er ein miles Deo. Christi ego sum, pugnare mihi non licet, sagt er laut Severus seinem Vorgesetzten zum Abschied. Ein Soldat Gottes kämpft nicht. (4,3) Auf welche Weise er dann doch kämpfen wird, nämlich gegen die Heiden und ihre Kulte, wird noch zu zeigen sein. Militant wird er nämlich bleiben und mit dem Heiligenbild, welches Severus schafft, wird das Christentum eben auch eines von zunehmender Militanz werden.

 

Die später volkstümlich gewordene Mantelteilung, die wir wie so vieles Severus verdanken, ist für ihn vor allem Voraussetzung für eine Traum-Vision, in der Martin Christus sieht, wie er mit der Mantelhälfte des Bettlers bedeckt ist, entsprechend dem von „Matthäus“ überlieferten Jesuswort: „Was immer ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“

 

Nachdem sich Martin darauf umgehend taufen lässt, wird er zwei Jahre später die Armee verlassen, was keine ganz leichte Sache gewesen sein kann. Dabei ereignet sich bereits, so wie es Severus beschreibt, eine Art Wunder. Martin wird Feigheit vor der Schlacht vorgeworfen, er bietet an, nur mit dem Kreuz bewaffnet vor die Feinde zu treten, und wahrhaftig bieten diese am nächsten Tag Unterwerfung und ihr Hab und Gut an. (4,2-7)

 

In der Folge wird Martin Menschen, die tot zu sein scheinen, wieder zum Leben erwecken, Kranke heilen, vom Teufel und Dämonen Besessene von ihnen befreien und anderes mehr. In Zukunft wird Wundertätigkeit zum Zeichen für Heiligkeit werden, für Severus ist wohl vor allem wichtig, Martin in einer Art apostolischer Nachfolge Jesu zu beschreiben (vere apostolicus, 7/7), da seine Heiligkeit offenbar zu Lebzeiten nicht unbestritten bleibt.

Das Neue an Martin ist nämlich vor allem, dass er das asketische Ideal östlicher Eremiten und am Ende dessen Überführung in das Koenobitentum, eine Vorform klösterlichen Lebens, in den lateinischen Westen bringt. Das für sich bringt ihn bereits in den Verdacht der Nähe zu anderen der Askese zugetanen Häresien wie dem von der iberischen Halbinsel nach Gallien eindringenden Priszillanismus.

 

Genauso ungewohnt ist dann aber die Verbindung dieses frühen mönchischen Ideals mit dem Bischofsamt. Einmal, weil Bischöfe auch sehr weltliche Aufgaben haben, zum anderen aufgrund ihrer Herkunft zu einem eher aristokratischen Lebensstil neigen.

Martin aber beharrt auf in vestitu vilitas und bleibt in seinem Inneren monachus (10,3), ist ein Mann von verabscheuungswürdigem Aussehen (vultu despicabilem), mit schmutzigem Gewand (veste sordidus) und ungepflegtem Haar (crine deformem). Zu allem Überfluss lebt er nicht in einem Bischofspalast in Tours, sondern in einer Einöde in der Nähe, in einer Holzhütte wie einige der anderen monachi, während weitere in Höhlen hausten.

 

Marmoutier ist noch kein baulich, sondern nur durch seine verhältnismäßige Unzugänglichkeit abgeschlossenes Kloster. Eigentum und Formen des Handels sind verboten, an Handarbeit ist nur Jüngeren das Kopieren von (heiligen) Texten erlaubt. Den Tag verbringen die Älteren alleine ganz im Gebet, nur zum gemeinsamen Gebet und zum Essen kommt man zusammen.

Ein Zugang war nur über einen einzigen, ziemlich engen Weg möglich. Martin selbst verfügte über eine kleine, aus Holz hergestellte Zelle, und viele der Mitbewohner wohnten in gleicher Weise. Eine große Zahl hatte sich in die Felswand des unmittelbar nebenan aufragenden Berges Höhlen geschlagen und sich diese als Klausen eingerichtet. Es waren ungefähr achtzig Jünger, die sich durch das Vorbild ihres seligen Meisters unterweisen ließen. Niemand hatte dort Privateigentum, alles war Gemeingut. Irgendetwas zu kaufen oder zu verkaufen, wie das die meisten Mönche üblicherweise tun, war nicht erlaubt. Handwerk wurde, von Schreibern abgesehen, dort keines ausgeübt (...) Die Älteren lebten nur dem Gebet. Selten kam es vor, dass einer seine kleine Zelle verließ, außer um sich an den Ort des gemeinsamen Gebetes zu begeben. Die Mahlzeiten nahmen sie alle zusammen ein, wenn die Stunden des Fastens vorüber waren. (...) Die meisten kleideten sich in Kamelfelle, ein weicheres Gewand galt dort bereits als Vergehen. Dies verdient umso größere Bewunderung, als sich unter den Mönchen viele Angehörige der Oberschicht befanden, die trotz einer völlig anderen Erziehung sich dieses Leben in entsagungsreicher Niedrigkeit abgerungen hatten. So manche von ihnen sahen wir später als Bischöfe. (Sulpicius 10, 4-9)

 

Für den heutigen Leser fällt es schwer, diesen asketischen Heiligen mit der Militanz zusammenzubringen, mit der der mit weltlichen Machtmitteln ausgestattete Bischof gegen die „Heiden“ und ihre Kulte auf dem Lande vorgeht. Dabei geht es um Bauern, rustici, in ihren Dörfern, vici , wo er Tempel einreißen oder niederbrennen lässt und heilige Bäume zu fällen befiehlt. Wo er den Widerstand der wütenden Menschen nicht brechen kann, greift er zu Wundern.

 

Severus spürt wohl das Problem und versichert, Martin habe in der Regel die Herzen der Heiden (gentiles animos) mit frommer Predigt (praedicatione sancta) gewonnen. Es fragt sich, falls man ihm da Glauben schenkt, inwieweit die Landleute dabei nicht der in der Nachbarschaft erfahrenen Gewalt ausgewichen sind, aber auch, welches Christentum er ihnen wohl bei solcher Gelegenheit schmackhaft gemacht haben mag. Jedenfalls gibt es unter dem Bischof einen deutlichen Zuwachs an neu etablierten Pfarreien mit wohl durchweg aus Holz erbauten kleinen Pfarrkirchen und vom Bischof ordinierten Landpriestern, verlängerter Arm der bischöflichen Macht auf dem Lande.

 

Gegen Ende seines Buches schreibt Severus von seiner persönlichen Begegnung mit Martin, und aus dem weltlichen Machthaber wird wieder der asketische Heilige: der den Gästen die Füße wäscht und vor den Verlockungen der Welt (mundi inlecebras) und den irdischen Besitzungen, die von Gott entfernen (saeculi onera) warnt. (25,4) Er stellt seinen Besuchern Paulinus als Vorbild für sich und alle Christen vor:

Indem er, ein Reicher und Besitzer vieler Güter, gemäß dem Wort des Herrn alles verkauft und den Armen gegeben habe, habe er durch sein Beispiel das Unmögliche möglich gemacht (inpossibile possibile).

 

Auch damit wird deutlich, an wen Severus, was ohnehin naheliegt, seinen frommen Text richtet: An die landbesitzende gallorömische Oberschicht vor allem, die aufgefordert wird, sich wie Paulinus, Martin und bald auch er in die Nachfolge Jesu zu begeben. Unter diesen Leuten gibt es offensichtlich sogar einige, die dazu bereit sind.

 

Hinter diesem literarisch durchaus geschickt und kunstvoll angebotenen Bild eines Heiligen ist es fast unmöglich, den Menschen zu entdecken. Severus fällt es schwer, schreibt er, die vita interior, das Innenleben des Martin zu beschreiben. Es scheint unsichtbar zu sein, denn er war nie erzürnt (iratus), erregt (commotus), traurig (maerens) oder lachend (ridens). Unus idemque fuit semper: Er blieb sich immer gleich. (27,1)

 

Vielleicht schauen wir eher etwas tiefer in Severus hinein, wenn er uns eine Welt beschreibt, die voller Teufel und Dämonen ist, denen Martin unerschrocken und souverän begegnet. Martin selbst trifft offenbar des öfteren auf den Teufel in menschlicher Gestalt. Ansonsten nimmt der Teufel auch die Gestalt der römischen Götter an, überhaupt jede Gestalt, und besiegt wird er durch soliden Glauben, das Kreuz und Gebete.

 

Die Vorstellung von einer Welt voller Teufel und Dämonen müsste nun auf Angst und Schrecken schließen lassen, oder eher umgekehrt auf eine frei vagabundierende Angst, die dadurch gebannt würde, dass sie sich die Bedrohung als den Feind sucht, identifiziert und vernichtet. Alle Ambivalenzen würden so in ein striktes duales System aus gut und böse eingeordnet.

Andererseits verlangt ein asketisches Leben, sei es als Eremit oder in einer mönchischen Gemeinschaft ebenso Stärke wie der souveräne Verzicht auf „weltlichen“ Besitz. Es bleibt nichts anderes übrig, als beides nebeneinander stehen zu lassen.

 

Womöglich sind zwei Begegnungen mit dem Teufel bzw. einem daemonius etwas aufschlussreicher, der zweimal von einem Menschen Besitz ergriffen hat und einmal Martin höchstpersönlich in Versuchung führt (temptatio). Jedes Mal deutet sich ein problematischer Konflikt zwischen Askese und Körperlichkeit an, der die Organe des Essens, der Verdauung und Ausscheidung betrifft.

 

Bei den beiden Besessenen, die sich unter der Knute des Dämons selbst dämonisch aufführen, mit ihm quasi identisch werden, äußert sich das an dem aufgerissenen Gebiss: Einer beißt einmal wütend mit reißenden Zähnen nach jedermann (17,1), einmal knirscht er mit den Zähnen und droht mit weit aufgerissenen Zähnen zu beißen. (17,6) Letzterem besonders schreckliche (horribilis) Dämon steckt Martin die Finger in den Mund und fordert ihn auf, sie zu verschlingen (hos devora 17,7) Das bringt der aber bei dem Heiligen nicht fertig.

In Kirchen des hohen Mittelalters werden wir den Zähne zeigenden und fletschenden Dämonen überall begegnen, wie hier des öfteren in der Saintonge und dem südlichen Poitou. Manchmal wird behauptet, es handele sich bei diesen außen angebrachten Kleinskulpturen um Gefahrenabwehr, eine "apotropäische" Aufgabe. Aber zum einen findet man solche Figuren auch in den Kirchen insbesondere der Romanik, zum anderen handelt es sich hier um eine Wallfahrtskirche an einer der Hauptstrecken des Jakobsweges. Gerade Pilger aber sollten die Gefahren unterwegs für das Seelenheil immer wieder deutlich gemacht werden, sind sie ihnen fern der "sozialen Kontrolle" am Heimatort besonders ausgesetzt. Dämonen aber zeigen (ihre) Zähne.

 

Hier sieht man außen an der hochromanischen Kirche Saint Pierre etwas außerhalb von Aulnay an der Grenzlinie zwischen Saintonge und Poitou die Teufel  wie sie die Sünder verschlingen, mit aufgerissenem Maul und deutlich sichtbarer Zahnreihe. Die Sünder knien ergeben, die Arme angewinkelt ausgebreitet, sie begeben sich bereitwillig in den Rachen der Teufel, denn die Sünde ist angenehm und verlockend. Gerade in Südwest-Frankreich, dort wo die Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela durchkommen, werden ihnen außen und innen in den Kirchen nicht nur die zu meidenden Sünden vorgeführt, sondern auch die Teufel, und was diese mit ihnen machen werden.

Außen in Aulnay sieht man die nächste Etappe. Der Teufel hat den Körper bis zum Unterleib verschlungen, der Sünder kniet nicht mehr vor ihm, sondern seine Beine sind bereits, leicht angewinkelt noch, beim Verschwinden des Körpers ein Stück weit mit hochgezogen worden. Anderswo schauen nur noch die Füße und die Unterschenkel heraus.

 

Der Dämon der zweiten Hälfte von Kapitel 17 schafft es nicht einmal, durch den Mund zu entweichen, was bei Martins Fingern in demselben wohl Erbrechen bedeutet hätte, und wird mit einem Durchfall ausgeschieden (foeda relinquens vestigia fluxu ventris egestus est 17,7)

 

Die Versuchung des Martin in seiner cellula betreibt hingegen ein enorm prächtiger, heiterer, attraktiver Teufel, der behauptet, Christus zu sein. Die Versuchung ist die Verlockung weg von der Askese. Aber Martin lässt sich nicht täuschen und der Teufel verflüchtigt sich wie Rauch, und erfüllt die Zelle mit einem solchen Gestank, mit dem er untrügliche Zeichen hinterließ, diabolus fuisse (24,8) Dies nun hat Severus, der verspürt, dass solches etwas unglaublich wirkt, von Martin höchstpersönlich erfahren.

 

Beißen, Verschlingen, mit Gestank Ausscheiden wird in Zukunft zum Teufel und seinen Helfershelfern (den gefallenen Engeln) gehören. Das assoziiert sich zunächst mit wilden Tieren, sogenannten Raubtieren, von denen es damals in Gallien noch mehr gab als heute. Es verbindet sich mit Unbezähmtheit, wilder Gier, dem Gegenbild zur Askese, der radikalen Domestikation.

 

Es legt aber überhaupt ein Problem mit der eigenen „Leiblichkeit“ nahe, jener Last, onus des Severus-Textes, mit der der Körper mit seinen Vorgängen die Seele beschwert.

 

Die christliche Seele ist nicht so leicht verortbar, aber die Vorstellung von ihr ist im Gehirn beheimatet. Der Kopf nun, in dem das Gehirn aufgehoben ist, hat von Natur aus eine dienende Funktion für den Körper. Die Entstehung von Zivilisationen – hier im Abendland seit der Antike – scheint nach und nach dieses Verhältnis umgekehrt zu haben: So wie die Menschen in ein dienendes Verhältnis zu Institutionen geraten, so der Körper in ein dienendes Verhältnis zum Kopf und seinen Eingebungen. Die Vorstellung von Heiligkeit als Reinheit der Seele und Unreinheit des Körpers führt dann dazu, dass der Körper, der „Leib“, als Gefängnis der Seele betrachtet wird, aus dem es sich zu befreien gilt.

 

Die aufgeschriebene Geschichte der Menschen bis ins hohe Mittelalter ist aber die von ganz wenigen, und die der christlichen Spätantike bzw. des „frühen Mittelalters“ ist im wesentlichen zudem von hohem Klerus und wenigen Mönchen überliefert. Das liefert ohne Zweifel ein völlig schiefes Bild.

 

Die Feinheiten des christlichen Glaubens, wie sie in den Texten der wenigen Frommen überliefert sind, die Debatten über die Rechtgläubigkeit und die Forderung nach Heiligkeit dürften weit entfernt sein von der Lebenswirklichkeit der meisten. Wir wissen, dass sie bis tief ins hohe Mittelalter vor allem ihren eigenen, mündlich vermittelten Traditionen verhaftet bleiben, ihren Geschichten, ihren Liedern und Tänzen.

 

Der Severustext über Martin ist an die lesende Oberschicht gerichtet, die zur Heiligkeit aufgerufen wird. Das „Volk“, der populus taucht auf, um Martin zum Bischof zu machen. Wer damit gemeint ist, bleibt völlig unklar, es wird einfach in Gegensatz gesetzt zu den Bischöfen der Region, die sich gegen Martin als Mitbischof wenden. Es taucht zudem auf als heidnische Landbevölkerung, von der wir nicht mehr erfahren, als dass sie zu bekehren ist. Und schließlich in Leuten wie dem Sklaven eines hohen Herrn, von dem wir nur erfahren, dass er vom Dämon besessen ist, von dem ihn Martin befreit.

 

***Das andere Extrem: Synesios von Kyrene***

 

Um 370 bis etwa 415 lebt in Ostrom, in der Kyrenaika, mit dem mehr oder weniger christlichen Synesios jemand, der im Vergleich zu Martin von Tours belegt, wie unterschiedlich Bischofs-Persönlichkeiten damals sein können.

Er entstammt einer reichen und mächtigen Familie in Kyrene und erhält eine gute Schulbildung. Als junger Mann studiert er bei der "heidnischen" (neoplatonischen) Philosophin Hypatia in Alexandria Philosophie und reist dann sogar nach Athen zur dortigen Philosophenschule, ist davon aber enttäuscht.

 

Um 398 reist er für die Kyrenaika nach Konstantinopel, um über Steuererleichterungen zu verhandeln. Er bleibt dann mehrere Jahre dort und beteiligt sich an den Machtkämpfen am Hof. Zurück in der Heimat beschäftigt er sich mit Philosophieren, Schriftstellerei und der Verwaltung seiner Güter. Er heiratet in Alexandria und bleibt an den Machtkämpfen in der Ost-Hauptstadt interessiert.

Als reicher und einflussreicher privatus organisiert er um 405 die Abwehr von Angriffen von "Barbaren" aus der Wüste. Danach bekehrt er sich zu einer Art von Philosophie geleiteter Lebensführung, bleibt aber in seiner Region weiter öffentlich aktiv.

 

410 unterstützt Patriarch Theophilos seine "Wahl" zum Bischof, wiewohl er sich an christlichen Lehrentscheidungen uninteressiert gezeigt hatte. Er erklärt sehr deutlich, dass er an seiner Ehe festhalten werden und noch Kinder zeugen wolle. Er lehnt den göttlichen Schöpfungsakt ab, die Seele sieht er neoplatonisch. Noch gravierender ist wohl folgende Aussage:

Was die Auferstehung betrifft, an die allgemein geglaubt wird, so halte ich es für ein sakrales und mysteriöses Konzept, bei dem ich nicht mit den Ansichten der Mehrheit übereinstimme. (in: Wickham(3), S.51) 

Philosophische Bildung geht ihm höher als korrekter Glaube.

 

Als Bischof gerät er in Konflikt mit dem Provinzstatthalter, den er 412 mehrmals exkommuniziert. Kurz vor oder nach seinem Tod wird seine Lehrerin Hypatia von fanatisierten Christen ermordet.