Anhang 25: HELDEN: DICHTUNG UND WAHRHEIT (1170-1220)

 

 

Eine neue Literatur

Die Dichter und ihr Publikum

Eine ständische Literatur

Der ritterliche und höfische Held und seine Welt

Gewalttätigkeit (Krieg / Lug und Trug und Morden)

Propaganda: Die Veredelung der Helden: Prächtigkeit

Die Veredelung der Helden: Minne

Die Veredelung der Helden: Christentum

Unheil

Sonderfall: Der gute Gerhard

 

 

Um 1160(?) Béroul: Le Roman de Tristan

Um 1170(?) L Marie de France: Lais

Um 1170 E Chrétien de Troyes, Erec et Enide

1173 Thomas d'Angleterre: Tristan et Iseut

Um 1200 NL Nibelungenlied

Um 1200 Y Hartmann von der Aue: Ywein

Nach 1200 P Wolfram von Eschenbach: Parzival

1210/20 T Gottfried von Straßburg: Tristan

 

 

Eine neue Literatur

 

In der zweiten Hälfte des 12. Jhs kommen zu den Neuerungen des frühen Kapitalismus und seiner Stadtlandschaften und der dazugehörigen Suche nach neuartiger Staatlichkeit auch erhebliche Neuerungen im Bereich dessen, was später einmal unter dem Wort Künste zusammengefasst werden wird. Die baulichen Monumente kirchlicher, monastischer und weltlicher Machthaber und ihre Ausschmückung beginnen zum ersten Mal unter das Diktat einer Mode zu geraten, die ausgehend von Gegenden des damaligen Frankreich im Norden des ehemaligen Galliens große Teile des lateinischen Abendlandes erfasst. Die nächste große Modewelle Jahrhunderte später wird diesen "Stil" unsinnigerweise und sehr abfällig als Gotik bezeichnen.

 

In diese Entwicklung hinein entsteht auch eine neuartige "Literatur", wobei dies Wort ähnlich wie das von der "Kunst" durch die nachantiken Zeiten bis heute keinen klaren Begriff enthält und enthalten wird und zugleich einem steten und massiven Bedeutungswandel unterworfen ist. Bis ins späte Mittelalter ist die im Germanischen wurzelnde (deutsche) "Kunst" das, was einer kann, wenn er es wirklich kann. In Wolframs 'Parzival' taucht das Wort öfter auf. Ritter beherrschen Reitkunst, Kampfkunst, überhaupt kunst an ritterlichen siten (P3,173). Es gibt die Heilkunst, bei Wolfram die arzâtlîchen listen (T11,7266), wie list bei ihm auch überhaupt Kunst meinen kann, so wie auch lêre (T6,3670) oder vuoge (T11,7698) als Kunstfertigkeit auftauchen.

 

Kunst ist noch ein weites Feld: Der junge Parzival ist ein Geschöpf von gotes kunst (P3,123) und Gahmuret sagt zum Bruder: het ich iuwer kunst, minne zu steln (P1,1), also die Liebe von Frauen zu gewinnen. Zu den künste gehört es auch, franzeis zu reden, also eine Fremdsprache (P6,329). Den "Künstler" im späteren Wortsinn gibt es darum in den Texten noch nicht, ein auf schônheit abzielender Kunsthandwerker ist noch wercman (T10,6628). Und die - wie man viel später sagen wird - schönen Künste sind in den hier behandelten Texten eine Angelegenheit des höheren Adels, sie sind "höfisch". Wenigstens im Nibelungenlied ist die kunst der videlaere (P13,639) noch Sache der edlen Recken selbst und bei Gottfried ist der Königssohn Tristan unter anderem ein großartiger Musiker und Gottfried widmet ihm eine ganze neuartige Musikästhetik: Musik soll man zum Beispiel nicht sus ûzen hin getuon, wenn daz herze was niht dermite (T11,7529/7535). Er spricht von Tristans leich, der Îsôte in ir herze sleich (T19,13322) Das lernt dann Isolde von Tristan, denn von ir wart manc herze vol mit senelîcher trahte (T11,8076f), und si sanc in maneges herzen muot (T11,8112) und erzeugte sene und senede nôt (8131).

 

Zu den Künsten gehört auch die Dichtkunst, eine art bei Chrétien (E6641). Wenn Wolfram von mîner künste widerwege spricht, ist sein schriftstellerisches Können gemeint (P1,1). Gottfried verwendet stattdessen list, diu schepfent list ist seine eigene Kunst (T1,21), Bei ihm gibt es auch eine ausführliche Darlegung seiner Vorstellungen von Dichtkunst (T1,8) , wie sie Tristan selbst betreibt, der auch schoener maere phlac (T20,13477 / T30,19188) und für einen Hof schanzune tihtete und sang (T30,19210)

 

Neben die selbst betriebene Kunst des höheren Adels, seine Kurzweil, wohl in der Fiktion als Ideal weit verbreiteter als in der Wirklichkeit, treten die fahrenden Alleinunterhalter, die auf Lohn hoffen, meist wohl Sachgeschenke wie Kleidung, und schon darum in der historischen Wirklichkeit weit unter dem kunstbeflissenen Adel stehen. Wenn stattdessen jemand wie der hochadelige Gandin für seine Musik entlohnt werden will, miete bekommen möchte (T19,13205), ist er eher ein übles Exemplar. Dieser trügenaere will am Ende denn auch von Marke Isolde als Entlohnung für sein Spiel.

 

Zwischen der unterhaltsamen "Lohnarbeit" fahrender Kleinkünstler und hochadeliger Kunstausübung stehen die neuen Autoren, Ministeriale wie Hartmann, arme Rittersleut wie Wolfram oder jemand wie Gottfried, der möglicherweise gehobener Straßburger Bürger war. Wie Chrétien von Troyes oder Wolfram siedeln sie sich offenbar für längere Zeit, gar manchmal für Jahre, an hochadeligen bzw. fürstlichen oder königlichen Höfen an und betreiben dort ihre neuartige Literatur.

 

Hartmann gibt dabei sogar an, warum und wofür er tihtet: Ein rîter der gelêrt was / unde ez an den buochen las, swenner sîne stunde / nîht baz bewenden chunde, / daz er ouch tihtens pflac, / daz man gerne hoeren mac, da chêrt er sînen flîz an. (Y1,21ff). Literalität gibt ihm die Quellen, freie Zeit den Raum und Unterhaltungsbedürfnis bei Hofe ein Publikum.

 

Literatur (eine viel spätere Wortschöpfung) ist ein ebenso unklares, weil vieldeutiges Wort und weites Feld wie Kunst. Die litterae, also die Arbeit mit dem geschriebenen Wort, war bis dato eine Sache der Gelehrsamkeit gewesen, der wenigen, die (lateinisch) schreiben konnten und die im 11./12.Jahrhundert eine neuartige Philosophie hervorbrachten oder nach antiken Vorbildern lateinische Verse schmiedeten, mit denen sie unter sich blieben. Das Neue ist ein Mehrfaches: Die Adressaten sind ein höfischer Hochadel und Herrscher, die in der Regel nicht nur nicht des Lateinischen mächtig sind, sondern immer noch oft überhaupt gar nicht lesen und schreiben können, also Vorleser und Schreiber brauchen. Sie bedürfen der "Literatur" in der Volkssprache und zugleich auch der Autoren, die den Bedürfnissen der neuen Zeit und ihrer Moden entsprechend tihten. Sie sind es zudem, die das Geld haben, um die teuren Materialien für die Verschriftlichung solcher Texte zu bezahlen, derer sie sich dann wohl auch zu rühmen beginnen. Es wird offenbar "schick", sich für einige Zeit einen tihtaere für seinen Hof leisten zu können.

 

Hat man erst einmal eine Anzahl von buochen in seiner Sammlung, beschäftigt man Vorleser, wenn man selbst der Lesekunst nicht mächtig ist. Ein Paar in Hartmanns 'Iwein' in einem boumgarten hat eine magt, nämlich die Tochter, die sogar waelsch lesen kunde, diu kurzte in die stunde mit Vorlesen (Y11). Welsch dürfte hier altes Nordfranzösisch sein.

 

Der kleine Kreis der "Gebildeten" und ihrer lateinischen und damit den meisten Menschen nicht zugänglichen Texte erweitert sich um eine zunächst ebenfalls kleine und deutlich weniger "gelehrte" Gruppe, die nun in den Volkssprachen schreibt. Das Lateinische bleibt die Sprache der Gelehrsamkeit und der Kirche, aber der frühe Kapitalismus und sein Wohlstand für eine kleine Oberschicht fördern zunehmend Texte für die nicht Gelehrten und nicht in den kirchlichen und monastischen Institutionen Verhafteten. Deren Inhalte sind entsprechend entsprechend ganz andere.

 

Diese Literatur hat sowohl schriftliche Quellen wie auch solche, die bislang mündlich weitergegeben wurden. Ne sont que 3 matières à nul homme atandant, / De France et de Bretaigne, et de Rome la grant, - heißt es in der 'Chanson de Saisnes', also in dem 1180 von Jehan Bodel in Arras so verfassten Heldenlied, in dem es um die Sachsenkriege Karls d.Gr. geht. Die „Materien“ beinhalten für ihn die Geschichte des Römerreiches, des Frankenreiches, welches für ihn in jenem Westfranzien aufgegangen ist, das sich zu Frankreich wandelt, und den bretonisch-keltischen Sagenkreis um Artus und den Gral. Römische Texte sorgen zum Beispiel für die Anverwandlung der Aeneas- Geschichte auf der Basis von Vergil. Französische Texte besingen fränkische Großtaten. Die keltischen Texte (Wales, Cornwall, Bretagne) über den Gral, Artus und Tristan werden nach und nach das ganze lateinische Europa in seinen Volkssprachen erfassen. Dabei ignoriert Jehan Bodel den germanischen Sagenkreis, der von Skandinavien damals bis in die Alpen hineinreicht und dessen zentralen noch erhaltenen neuartigen Text das Nibelungenlied liefert.

 

Geschichtsschreibung ist damals ungenierte Propaganda für Mächtige. So wird Karl d.Gr. als Ahnherr des aufsteigenden französischen Königtums gefeiert, und für die anglonormannischen Herrscher wird aus einem sagenhaften keltischen Feldherrn Artus der Herrscher eines Riesenreiches, der als Vorläufer des anglonormannischen Reiches diesem historische Wurzeln verleihen soll. Die englischen Machthaber, nach Kelten, Römern und Angelsachsen nun frankophone Anglonormannen, hatten keinen so soliden Ahnherren wie Deutsche und Franzosen mit ihrem fränkischen Charlemagne, dessen Bedeutung bald durch seine Heiligsprechung noch wachsen würde. Dem versucht Geoffroy von Monmouth abzuhelfen, indem er in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in seiner Historia regum Britanniae einen unbedeutenden keltischen Häuptling der Sagenwelt zum größten Herrscher seiner Zeit macht. Noch ein Geistlicher, Wace, schenkt dann zwecks besserer Lesbarkeit Eleonore von Aquitanien eine leicht veränderte altfranzösische Übersetzung namens 'Roman de Brut'. Mit den Aeneasgeschichten werden Franken und werdende Engländer mit ihren fiktiven Ursprüngen dann noch früher, nämlich in der Antike, angesiedelt.

 

Von der erfindungsreichen Geschichts-Propaganda solcher Autoren bis dahin, sie ganz ins Sagenhafte zu überführen, in reine Fiktion, ist dann nur noch ein kleiner Schritt, ebenso wie der, mündlich tradierte Texte von fahrenden Spielleuten zu nutzen. Das sind in einem Singsang zur Instrumentalbegleitung von Spielleuten, menestrels usw. vorgetragene Lieder, deren Verschriftlichung erst beginnt, als vor allem im anglonormannischen Raum eine höfische Welt einsetzt, die manchmal bereits zumindest in der Volkssprache lesen gelernt hat.

 

Daneben tritt eine andere, bis dato mündliche tradierte Quelle, nämlich jene von Märchen, die aber, um der neuen Literatur zu dienen, in ein höfisches Milieu eingebunden werden müssen. "Märchen" ist eine spätere Verkleinerungsform von maeren, von dem, was die neuen Autoren erzählen (die bei Chrétien ganz anders contes, Erzählung heißen). Aus der Märchenwelt werden Riesen, Zwerge und Drachen entnommen. Der feuerspeiende Drachen, den Tristan besiegt, das königliche Versprechen, dem Drachentöter seine Tochter zu geben und der böse Truchsess zum Beispiel scheinen klassische Märchenmotive zu sein (T13).

 

Dazu kommen Zauberer und Feen, wie die merewîp in der Donau des Nibelungenliedes (NL25,1532). Schon mit Chrétien und etwa gleichzeitig Marie de France verbinden sich Märchenhaftes und fiktive Wirklichkeit dort, wo weibliche Feen und männliche Helden zusammentreffen. Feen können Vorfahren von Helden sein wie Götter in der Antike. Sie können unter bestimmten strikten Bedingungen Geliebte von Helden werden, oder sie schicken einem Herzog ein magisch besetztes Hündchen ûz Avalûn, der feinen lant,von einer gottinne durch liebe und durch minne (T25,15803f)

 

Mit ihrer Übernahme in die neue Literatur gelangen stärker vorchristliche, magische Welten in die Dichtkunst wie die Zauberei (nigromance, E5692 der joie de la cour). Als Siegfried die Nibelungen besiegt, als die später die Burgunden bezeichnet werden, erhält er solche Kräfte. Das ist als volkstümliche Tradition den Zuhörern und Lesern damals bei Hofe sicher vertraut und wird wohl als unterhaltsam wiedererkannt. Zudem ist das kirchliche Christentum und sind schon die Evangelien von magischen, märchenhaften Vorgängen durchsetzt, von der Jungfrauengeburt über die Himmelfahrt bis zur Taufe und den Wandlungen in der Eucharistie. Allerdings stehen hier eine kirchlich vertretene Wunderwelt und eine durch und durch heidnische und an sich von der Kirche verfolgte nebeneinander.

 

Seit Chrétiens 'Erec et Enide' mischen sich Sagenhaftes und Märchenhaftes und bilden eine literarische Konvention. Tatsächlich ist dieser Ursprung einer neuen abendländischen Literatur dann vor allem das Heben des Märchenhaften auf ein höfisches Niveau.

 

Dort werden zu propagierende Werte und Regeln aus den wirklichen Zusammenhängen herausgenommen und so stärker verallgemeinert. Ein öfter wiederkehrendes Beispiel betrifft das protzige Geben großzügiger Versprechungen (ich gibe iu gerne, swaz ich hân z.B. bei Gottfried) und den dann folgenden Konflikt bei der Einlösung: Isolde muss von Tristan davor gerettet werden. Dabei geht es um die märchenhafte Vorstellung, ein König müsse sein einmal gegebenes Wort auch halten, wie sie schon Chrétien behauptet, also um den Unterschied zwischen wortwörtlicher Bedeutung und etwas ungenauerem Sinn.

 

Das Märchenhafte gibt den Autoren die Lizenz, Staunenswertes als unterhaltsam einzubringen, so dass die starkez wunder bereitwillig angenommen werden wie auf Klingsors Zauberburg oder zum Beispiel explizit an der Wundersäule (P2,12). Zouber und nigrômanzi (P12,617), kirchlich verpönt, können so zum Beispiel eingebettet werden. Die geradezu maßlosen Übertreibungen in Quantität und Qualität bekommen nur auf dieser Ebene um 1200 noch Plausibilität. Dazu gehört die Tendenz zum beeindruckenden Superlativ: Helden sind jeweils immer die tapfersten, zusammen mit Heldinnen sind sie auch immer die jeweils schönsten. Die königliche Burg in der Stadt Askalon ist diu beste, die je erbaut wurde (P8,403). Über Sigune heißt es: ez erleit nie magt sô hôhen pîn (in der Entsagung, P9,435) Gawan sagt ausgerechnet zu Orgeluse: daz mir nimmer wîp gevellet baz (P10,509). Er hatte noch nie eine Burg wie die Zauberburg gesehen, und vier hundert oder mê vrouwen in den venstern (P10,534). Die ungehiure âventiure in Klingsors Zauberburg ist die allergrößte: aller kumber ist ein niht, wan dem ze lîden geschiht disiu âventiure (P11,557).

 

Für die damaligen Zuhörer und Leser muss aber das alles akzeptabel sein, was wir heute inzwischen eher für haarsträubend halten. Das ist es aber nur, wenn sie in der Dichtung genau die Plausibilität eben nicht wollen, die ihr alltägliches Leben bestimmt. Aber man möchte ja gerade mit solchen Texten aus dem Alltag flüchten.

 

Nur auf einer Märchenebene glaubhaft ist zum Beispiel Gawans Liebe zu Orgeluse, solange sie ihn dauernd aufs bitterste beleidigt, und schon gar nicht ihre Begründung, daz ich versuochen wolde ob ich iu minnen solde bieten durch iuwer werdekeit (P12,614). Orgeluse hatte wohl schlechte Erfahrungen gemacht, aber den Stolz eines edlen Ritters (und Königs) derart zu brechen, um ihn zu prüfen, funktioniert nur auf der Ebene einer Mixtur aus Märchen und Sage, - und auch dort nur als unterhaltsame Kuriosität.

 

Normalerweise würde eine Gemahlin die fünfjährige Abwesenheit ihres Gatten und Helden nicht so einfach verzeihen, wie im 'Ywain'/'Iwein' deutlich wird. Aber Kondwiramurs erklärt: nu solte ich zürnen: ichne mac (P16,801), und die Art des Textes lässt die Hörer das hinnehmen. Stattdessen wird erklärt, dass sie nach Umarmung und Kuss so froh sei, ihn wiederzusehen, dass sie ihm nicht zürnen könne. Und nachgetragen wird, dass er ihr immerhin (erstaunlicherweise) treu geblieben sei.

 

Schwerwiegend unplausibel ist, dass der erste Besuch Parzivals beim Gral erklärtermaßen die einzige Erlösungschance ist (Vrâgt er niht bî der êrsten naht sô zergêt sîner vrâge maht, P9,484), er aber dann doch eine zweite Chance erhält. Kundry begründet das so: got wil genâde an dir nu tuon (P15,781). Ungeniert ignoriert der Autor, dessen Held eben Parzival ist und nicht der leidende Herr des Grals, dass die Gnade logischerweise eigentlich vor allem letzterem zustünde. Immerhin ist Parzival einen Weg gegangen, der ihn eines zweiten Versuches würdig zu machen scheint: du hâst der sêle ruowe erstriten und des lîbes vröude in sorge erbiten. Einen so recht überzeugenden Eindruck macht die Begründung aus Reue und Erlösungshoffnung aber für einen kritischeren Leser heute eher nicht (P15,782). Der damalige Zuhörer hatte offenbar einen naiveren, spontaneren Zugang zu solcher Literatur, die sie aus alltäglicher Wirklichkeit herausheben sollte.

 

Man ist fast versucht, dass Frageverbot, welches bald Lohengrin an seiner Brabanter Fürstin wird scheitern lassen, auf diese Unstimmigkeit zurückzuführen. Unlogisch ist es allemal, seinen Gatten nicht nach seinem Namen fragen zu dürfen, märchenhaft dunkel jedenfalls. In ist immer mêr nu vrâgen leit (P16,819) ist jedenfalls eine kuriose Begründung, denn nicht schieres Fragen, sondern das damit verbundene Erbarmen im besonderen Fall war ja das gewesen, um das es ging. Aber das Namensthema ist ohnehin eine Besonderheit in diesen Geschichten, begegnen sich doch die Helden oft genug mit herunter gelassenem Visier in ihrer Rüstung und erkennen sich so gegenseitig nicht, was einiges an vermutlich von den Zuhörern dankbar aufgenommener Verwirrung anrichtet.

 

In die logischen Bruchstellen von Wolframs Gralsgeschichte gehört schließlich auch, dass von Parzival spontanes Erbarmen angesichts des Leidens von Anfortas erwartet wird, die Gralsgemeinschaft andererseits aber mit ihm unbarmherzig und brutal umgeht: ir triuwe liez in in der nôt, dicke er warb umb si den tôt (P16,787) Er verlangt Treue als barmherzige "Sterbehilfe", sie aber halten treu zu einem angeblich höheren, kultisch-religiösen Gut und erlauben ihm nicht zu sterben. Das wirkt wie eine inverse Paraphrase auf Jesu Kreuzestod und ist auch nur so plausibel, dann aber zugleich nicht gerade christlich, denn Jesu Leiden ist für kirchlich indoktrinierte Christen einzigartig, weil vergöttert.

 

Gottfried bemüht sich um mehr Plausibilität durch gelegentliche innere Motivation und Psychologisierung von Handlungsantrieben. Aber das gelingt nicht immer, zum Beispiel dann nicht, wenn Isolde und Brangäne nach dem Mordanschlag so sehr ein Herz und eine Seele werden, dass das ähnlich symbiotisch anmutet wie bei Isolde und Tristan, ohen durch ein sexuelles Moment begründet zu sein. Oder ist es gerade das gemeinsame Verbrechertum, welches sie zusammenschweißt, von dem aber nicht die Rede ist? Hartmann wiederum bemüht im 'Iwein' ganze Argumentationsketten, um Begründungszusammenhänge herzustellen, in denen sich das höfische Publikum vermutlich gerne spiegelt. Daneben aber gibt es die so wichtige magische Quelle, Riesen und das ganze übrige märchenhafte Personal und Arsenal.

 

Das Besondere an der Tristangeschichte ist der Liebestrank, ein Aphrodisiakum, welches (zumindest) die Hochzeitsnacht in ein erotisches Vergnügen verwandeln soll (und bei einigen Texten noch die Nächte der nächsten Jahre), wo doch sonst die elterlich gestifteten Ehen vermutlich des öfteren dazu nur eingeschränkt Gelegenheit boten. Und das Besondere an ihm ist seine versehentliche Anwendung auf die Braut und den edlen Ritter, der sie dem königlichen Bräutigam von Irland nach Cornwall überführen soll. Nicht zufällig befinden sich die beiden dabei auf hoher See, und dazu auf einem Meer, das sehr stürmisch sein kann. Zaubertränke sind wirklicher Volksbrauch und fiktiver Märcheninhalt zugleich, aber auf der Höhe von Gottfrieds Versroman werden sie nur noch benötigt, um die beiden Liebenden zu exkulpieren, denn verzaubert können sie nicht mehr anders. Und der Autor braucht das, um sich eine Intensität erotischer Leidenschaft zu leisten, die kirchliche und höfische Vorstellungen damals bei weitem sprengt. Im Märchen kann stattfinden, was man sich sonst zu verbieten hat.

 

Eine letzte Quelle der Versromane, die nun entstehen, ist die Dichtung der Trouvers und Troubadoure vor allem aus dem okzitanisch-mittelmeerischen Raum, deren Bezeichung im Deutschen als vindaere auftaucht, als Erfinder - ein anderes Wort für die tihtaere. Im Deutschen wird daraus die eigenständige Gattung der Minnesänger. Chrétien vor allem werden erhebliche Kenntnisse okzitanischer Minnelyrik nachgesagt, wie auch die von Ovid. Gottfried preist besonders Walter von der Vogelweide, Wolfram soll sich auch derart lyrisch betätigt haben. Aber in der Form des Versromanes mit seinen ritterlichen Helden entfernen sich die neuartigen Autoren aus dieser Vorstellungswelt, am meisten Gottfried von Straßburg, auch wenn ihr Einfluss unübersehbar bleibt. Das Nibelungenlied mit seinen besonderen Wurzeln ignoriert diese neue volkssprachliche Lyrik ohnehin weitgehend.

 

Bei Wolfram tauchen Elemente des Minnesangs wie eine Art Zitate auf, eingeschlossen in einen ansonsten davon eher unberührten Text. Es handelt sich um ständig wiederkehrende Klischees wie den holden Mai, das grüne Gras, die grünenden Bäume, süeze luft (P2,96), Vogelsang (P3,118), gerne der Nachtigall, die bis ins 19. Jahrhundert unvermeidlicher Teil des Repertoires wird, bevor sie inzwischen ganz real ausstirbt. Artus ist der meienbaere man, von dem in des meien bluomenzît samt süezes luftes berichtet wird, auch wenn das bei Wolfram farbsymbolisch mit Schnee vermischt ist (P6,281).

 

Da ist die standardisierte Verbindung von Herz und Schmerz (leit / nôt) und insbesondere von herz, slôz, minne (z.B. P9,440), die immer zusammen gehören, wobei auch Hartmann nicht zurücksteht: dû bist daz sloz und der schrîn / dâ daz herce mîn / inne beslozzen lît, meint Iwein (Y9,5545ff). Der Ring Sigunes taucht als slôz ihrer triuwe auf (P10,510). Ir habt mich in geslozzen: nu loeset oder bindet, sagt Gawan zu Orgeluse (P10,510) und: daz minne ir herze slüzze (aufschlösse, P10,533). Am Ende heißt es auch bei Hartmann dann und daz herce dâ bî - iemer ir gevangen (Y3,2243).

 

Aber in Wolframs 'Parzival' wird diese Sammlung von Klischees auch bereits parodiert, wie zum Beispiel im Liebesbrief von Gramoflanz an Itonje: du bist slôz ob mîner triuwe unde ein vlust mînes herzen riuwe (und es verliert sich meines Herzens Reue/Schmerz). dîn minne gît mir helfe rât, daz deheiner slahte untât an mir nimmer wirt gesehen. ich mac wol dîner güete jehen staete âne wenken sus (deine Güte wankt nie), als pôlus artanticus gein dem tremuntâne stêt, der neweder von der stete gê (wie sich die Pole stetig gegenüberstehen): unser minne sol in triuwen stên unt niht von ein ander gên. (P14,715) Das ganze neuzeitliche Schnulzenrepertoire ist da bereits angedeutet.

 

Da ist als lyrisches Zitat auch die Beschreibung von Antikonie: Blumenkranz auf dem Kopf und roter Mund, ihre Treue klar wie ein Falkenauge und köstlich wie Balsamduft (P8,426f)

 

Zum Zitat kommt aber auch Kritisches, und das nicht zufällig bei Wolfram: Frau Minne pflegt untriuwen, nimmt manegem wîp ir prîs, verführt zum Koitus unter nahen Verwandten, schafft Unheil sogar unter Freunden, gibt den lîp der gir preis und fügt der sêle Schaden zu. (P6,291) Die Verblendung Gawans gegenüber Orgeluse wird als Torheit beschrieben, die sicher beim Publikum Lacher hervorrief: si war im rehte ein meien zît (P10,531), heißt es, obwohl sie ihn derweil verspottet. Allerdings ist das auch die Liebe, die Amor, Cupido und Venus vermitteln, während für Wolfram reht minne ist wâriu triuwe, etwas anderes also. (P10,532).

 

Bei Gottfried wird zwar ebenfalls die Naturbeschreibung vom vil süeze meie bis in die senfte süeze summerzit mit Hochgefühlen verbunden (T2, 539ff), aber sie löst sich vom unmittelbaren Kontext der Minne. Natur wird so zu einem Teil von Landschaft, die Idylle ist eher nach antikem Vorbild eingerichtet und nimmt die Idylle des Umfeldes der Minnegrotte vorweg. Daraus wird in der Wirklichkeit der Ziergarten und später der Park erwachsen.

 

Die Dichter und ihr Publikum

 

Was propagandistische Pseudo-Geschichtsschreibung war, wird mit dem lateinisch-literarisch gebildeten Chrétien de Troyes um 1170 (Erec et Enide) zu einer neuen Art von Dichtkunst. Obwohl er wohl erst für den anglonormannischen, und dann den Hof der mächtigen Champagne-Fürsten schreibt, wenden sich seine Artusromane in Versform eher an den höfischen Hochadel als an die Könige selbst: Artus wird darum primus inter pares, gerät als fast reine Richtergestalt in den Hintergrund, und die Ritter seiner Tafelrunde werden zu den eigentlichen Helden. Bei Chrétien wird also um ein breiteres höfisches Publikum geworben, welches unter tatsächlich steigender Königsmacht wenigstens im Land dichterischer Phantasie seine Interessen noch aufgehoben finden kann. Dass Artus bei ihm sagt, man dürfe einem König nicht widersprechen (E61f), ist wohl nur der Situation geschuldet, dass es des vorausgehenden Widersprüches seines Gefolges bedarf, um die Problematik des Brauches des weißen Hirsches als Einschub darzustellen. Ansonsten schätzt es Artus ausdrücklich, sich beraten zu lassen und wenig aus sich heraus zu agieren (E1216ff).

 

Die schwächere deutsche Königsmacht lässt Könige und Kaiser für die neuen Versromane ohnehin eher unwichtig werden. Gunther herrscht mit dem Rat seiner Mächtigen (nâch râte sande, 20,1199), die hier seine Verwandten sind. Er zieht nicht in den Krieg gegen die Sachsen, ist zunächst eher schwach als königlicher Held. Der König von Askalon hält zur Entscheidungsfindung eine Ratsversammlung der wîsen ab (P8,424) Wenn dann Gottfried im Riwalîn-Kapitel erst einmal zurückrudert, mag das den Anschein des Feierns königlicher Macht haben: dô wolten si alle künegelîn und hêrren von in selben sîn: diz wart ir aller ungewin. sus begunden sî sich under in slahen unde morden starke (T2,339), anarchische Zustände, die dann erst mit Markes Königsmacht beendet werden. Aber die Tristan-Isolde-Geschichte ist danach nur unter einem extrem schwachen König möglich, der ständig den Einflüsterungen seiner Höflinge erliegt und sich nicht in Zweikämpfe traut.

 

Als Auftraggeber für Chrétien sind dennoch zunächst der anglonormannische Königshof und dann Marie de Champagne anzunehmen. Zumindest an solchen Höfen scheint die keltische Sagenwelt um Artus bereits bekannt zu sein, der Autor setzt das jedenfalls voraus, wenn er im 'Erec' erklärt, das Enides Haar von leuchtenderem Blond sei als das von Isolz la blonde (424f) oder auf Tristans Kampf mit Morhot auf der Insel verweist (E1242). Um 1200 scheint es dann auch in deutschen Landen erste Höfe zu geben, an denen Heldengeschichten diverser Autoren so vertraut sind, dass in den Texten darauf angespielt werden kann.

 

Das wenige, was wir über die Auftraggeber und Finanziers deutscher Helden-Literatur um 1200 wissen und hauptsächlich erschließen und vermuten, verweist auf wohlhabende fürstliche Auftraggeber wie die Zähringer und die thüringischen Landgrafen. Hin und wieder kommen auch kleinere hochadelige Höfe hinzu. Die Kosten für Pergament, Schreibutensilien, oft wohl auch für Schreiber, die aus einer Kanzlei abgezogen werden, und dann die für den Lebensunterhalt des Autors sind beträchtlich. Man weiß kaum, ob und wo Autoren Fürsten ihre zu schreibenden Geschichten andienten oder ob sie mit einem Thema beauftragt wurden. Dort, wo es sich um mehr oder weniger enge Übersetzungen bzw. Anverwandlungen französischer Texte im deutschen Raum handelt, lässt sich vermuten, dass der Auftrag zur Gänze auf den Fürsten zurückgeht, der eben eine kostbare Handschrift des Originals sein eigen nennt oder beschaffen kann. Eine wirklich selbständige Schriftsteller-Existenz, wie es sie gelegentlich in der Neuzeit auch ohne fürstlichen Sponsoren geben wird, meist durch einen anderen Beruf flankiert, lässt sich nirgendwo entdecken, auch nicht mit Wolframs Parzival, der möglicherweise in Etappen bei mehreren Fürsten geschrieben wurde.

 

In diesem 'Parzival' beklagt sich Wolfram (1,7), nur schwer Anklang zu finden: ihm fehle der liute volge guot für qualitätsvolles Dichten. Aber es gibt an nur wenigen Höfen nur eine Handvoll Leute, die einerseits überhaupt Zugang zu solchen Texten bekommt und sie wohl andererseits auch zu schätzen weiß. Das wird sich aber in der weiteren Entwicklung des Kapitalismus kaum ändern. Auch die Verbreitung des Druckes und des Papiers wird im wesentlichen der Verbreitung von Texten jeweils minderer Qualität dienen.

 

Wo ein Autor und ein Auftraggeber aufeinander trafen, gaben letztere die Spielräume vor, in denen sich die individuellen Talente der Dichter entfalten konnten und durften. Die Texte hatten zu erfreuen, sie sollten Vergnügen auslösen, und sie sollten das Publikum in seinen Vorstellungen bestätigen. Am Anfang des 9. Buches des 'Parzival' lässt Wolfram vrou Aventiure ankündigen: ich wil dir nu von wunder sagen. Das Außergewöhnliche und Staunenswerte wird angekündigt - oder hat er sich verlegen, ist also ganz bei einer Frau gelandet und die Abenteuergeschichten haben ein Ende?

 

Am Anfang des 10. Parzival-Buches taucht das Versprechen von Unterhaltung noch deutlicher auf: Es naehet nu wilden maeren, diu vröuden kunnen laeren und diu hôchgemüete bringent: mit den bêden si ringent (P10,503). Und Gottfried erklärt: nune sol ich aber noch enwil iuwer ôren niht beschwaeren mit z'erbermeclichen (Erbarmen hervorrufenden) maeren, wan ez den ôren missehaget, swâ man von clage ze vil gesaget (T3,1854ff). Literatur ist vor allem Unterhaltung, Kurzweil.

 

Was zunächst solche Romane ausmacht, ist ihre schiere (neuartige) Länge. Chrétiens 'Erec' hat schon fast 7 000 Zeilen, Gottfrieds 'Tristan' fast 20 000. Da müssen lange Handlungsstränge miteinander verknüpft werden, Wolframs Gawan-Geschichte parallel mit der von Parzival, die Siegfriedsage mit der von Kriemhilds Rache, die vielen einzelnen Tristangeschichten miteinander. Bei Chrétien handeln li contes von Erec und die Poeten, die bislang davon leben wollten, pflegten den Stoff zu depecier und corronpre (in Teile auseinanderzureißen und zu verderben, E20ff). Chrétien ist stolz, sie in une molt bele conjointure zu bringen, wie er kurz davor erklärt, in einen gelungenen und darum schönen Zusammenhang.

 

Zunächst ist die phantastische Welt dieser Geschichten, Erzählungen eine einzige Aneinanderreihung von Abenteuern, von Zufällen, die Rittern geschehen, wenn sie in die Welt hinausreiten, wobei man vom Nibelungenlied etwas absehen muss. Damit so lange Texte überhaupt gehört oder gelesen werden, Kurzweil sind, brauchen sie einen Spannungsbogen, sie müssen zielgerichtet sein. Das wird um 1200 oft auf recht schlichte Weise erreicht: Das Nibelungenlied verweist wie ein Versprechen immer wieder auf kommendes Unheil, und im Parzival werden zwischendurch Informationen, insbesondere über den Gral, ausgeklammert und darauf verwiesen, dass der Autor später darauf zurückkommen wird. Am Anfang des vorletzten Buches heißt es dann: Vil liute des hât verdrozzen, den diu maere was vor beschlozzen: genuoge kundenz nie ervarn (P15,734). Nun endlich wird man Aufklärung bekommen. Und dann: möht ich dises maeres wandel hân, ungerne wolt ich in wâgen: des kunde ouch mich betrâgen: Nun wird es noch spannender, will der Autor sagen (P15,734)

 

Das funktioniert ähnlich auch als Erzählung in der Erzählung, nämlich als Ankündigung, wenn Rual allen und auch Tristan von seiner Abkunft erzählt: ich möhte iu wunder sagen. "Saget an", ist die Reaktion (T7,4161ff)

 

Wichtiger als solche Äußerlichkeiten ist aber die innere Spannung, welche die Romane enthalten und welche sie zusammenhält. Das kann das Unheilsthema sein, welches das Nibelungenlied und auf andere Weise den 'Tristan' durchzieht und an dem Gottfried dann offenbar scheitert, während in den klassischen Artusromanen ein Ausschnitt aus der Heldenbiographie geboten wird, in dem eine innere Entwicklung stattfindet, und zwar als Weg ins Unheil und zurück ins Heil (Erec, Iwein usw.).

 

Das Muster entwickelt Chrétien einmal mit Erec, der sich in ein schönes Fräulein verliebt, sie heiratet und mit ihr zusammen sein "Rittertum" vergisst, was dazu führt, dass er sich erneut im Kampf bewähren muss, was ihn dann endgültig in des Artus edles Ritterreich wieder eingliedert, während Ywain es zum anderen mit seinem Rittertum so übertreibt, dass ihn seine frouwe/dame verstößt und er sich den erneuten Zugang zu ihr durch edle Kampfestaten mit erheblichem ethischem Beiwerk erneut verschaffen, also seine riterschaft neu legitimieren muss. Wolframs Parzival lernt, dass es noch etwas Höheres als den üblich-edlen ritterlichen Kampf gibt, nämlich den zur Gänze ethisch (religiös?) veredelten. Das Nibelungenlied fällt da völlig heraus, denn nur der Hörer/Leser lernt etwas, nämlich, dass alle hohen und bis zum Schluss hochgehaltenen Werte auch dazu taugen, ein ganzes "Volk" in den Untergang zu treiben.

 

Schon gesagt wurde, dass Künste der Unterhaltung und der Kurzweil zunehmend professionalisiert werden, "kunstvoller", gekonnter werden, und mit ihnen werden Dichter namentlich bekannt, zunächst bei den trouvères, dann bei den Autoren der Ritterromane, was sich im Verlauf der Gotik bei Baumeistern und Schöpfern von Plastik und am Ende auch von Malerei fortsetzen wird. Das, was wir in der Neuzeit Kunst nennen, entsteht, und damit die Prominenz von Künstlern. Sie sind integriert in einen Markt, eine Warenwelt, konkurrieren miteinander und werden bald danach trachten, in Geld bezahlt zu werden.

 

Zur zunehmenden Geschäftsmäßigkeit dieses Marktes an Unterhaltung tritt aber auch zunehmende Individualität. Die matière de Bretaigne wird bei Chrétien, Wolfram, Gottfried und den anderen bei Ähnlichkeit der Handlung in formaler wie inhaltlicher Hinsicht unterschiedlich ausgeführt. Das betrifft vor allem die Erzählkunst, das schriftstellerische Handwerk, aber auch unterschiedliche Auffassungen in Sachfragen: Minne ist bei Chrétien etwas anderes als bei Gottfried (oder in den Lais von Marie de France), und Rittertum hat im Nibelungenlied mit seinen großen Heeren eine etwas andere Bedeutung als bei Wolfram mit den vielen Einzelkämpfen. Aber in sehr vielem gleichen sich die Texte auch allesamt.

 

Ob bei Marie de France, bei Chrétien, oder in den deutschen Ritterromanen, irgendwie lässt sich auf alle Helden übertragen, was für Gandîn gesagt wird: Er was höfsch, schone unde rîch (T19,13109), märchenhaft eben. Die Zuhörer und Leser scheint aber die in stereotypen Wendungen wiederkehrende Beschreibung der körperlichen Vorzüge der Helden und der Damen nicht gestört zu haben. Vielmehr haben sie wohl beifällig genickt, wenn die edlen frouwen auch höfisch sind, clâre, manchmal auch wîse, und mit dem neuen gotischen Körperideal ausgestattet sind (worauf weiter unten noch eingangen werden wird).

 

Das Individuelle der verschiedenen Helden und ihrer iuncfrouwen, frouwelîn und frouwen liegt in ihrem Geschick, den aventiuren, der schîbe (Scheibe, Rad) der Fortuna, nicht in ihren persönlichen Qualitäten. Natürlich gibt es nicht nur böse Drachen, Riesen und Zwerge, sondern sogar einzelne böse Ritter, die es zu erschlagen gilt, was auch regelmäßig geschieht. Aber sie bleiben die Ausnahme wie li chevaliers molt vilains vom Anfang von Chrétiens 'Erec'-Roman (198). Dieser bäurisch-rüpelhafte Ritter ist immerhin dennoch Ritter, nämlich ein guter Kämpfer, weswegen er auch gegen Erec überleben darf. Ansonsten sind selbst die ansatzweise "bösen" unter den Gegnern der Haupthelden der Romane edel, ritterlich und höfisch, also gut erzogen,und selbst einer wie der böse Graf, der Enide gegenüber wohl auch Gewalt antun würde, ist ein chevalier forz et buens, wenn auch ansonsten ein Drecksack (E3581). In wieweit das eine auktoriale Konzession an ein eher gemischtes Publikum ist, bleibt als Frage dahingestellt. Da erübrigt sich fast anzumerken, dass die Damen grundsätzlich zühtig sind, als magete schamhaft und gerne auch einmal errötend, es sei denn, sie seien Witwen mit entsprechender Erfahrung.

 

Bevor es weiter unten um das Männer- und Frauenbild dieser Literatur höfischer Unterhaltung gehen soll, noch einige Vermutungen zum Unterhaltungswert dieser Texte. Bei der häufigen Darstellung von gewalttätigen Kampfszenen, Liebesgeschichten höfischer Natur und Festbeschreibungen kann man davon ausgehen, dass es das war, was das Publikum vor allem hören und lesen wollte, eine ins märchenhaft Phantastische idealisierte Überhöhung eigener Phantasien und Traumwelten mit gewissen Anklängen an die Wirklichkeit, aus der man offensichtlich aber fliehen möchte, was noch genauer beschrieben werden wird. Jenseits des Problemgehaltes, den die Autoren in diese Phantasiewelt hineindichten, haben wir es mit klassischer Trivialliteratur zu tun, wie sie bis heute bei der lesenden Minderheit beliebt bleiben wird.

 

Diese ständigen und sich immer wieder ähnelnden Hauptszenen scheinen also nicht gelangweilt zu haben, jedenfalls nicht das Publikum. Bei Chrétien und bei Gottfried wird allerdings darauf verwiesen, dass Wiederholungen zum Beispiel von Kampfaktionen irgendwann zuviel des Guten seien (T8,5059 z.B.). Aber ob es die Autoren leid wurden, immer wieder fast dasselbe zu beschreiben, oder ob das Rücksicht auf die Zuhörer war, bleibt unklar.

 

Andererseits lassen sich mehrere fast endlose Aufzählungen wie die der unter Feirefiz Herrschaft stehenden dreißig Heerführer (P770) und der vielen Edelsteine (P16,791) für uns heute eher ermüdend erleben, wie die sich immer wieder ähnelnden Beschreibungen der prächtigen Gewänder: Seide, Gold, Edelsteine usw. Schônheit ist das Märchenwort dabei. Da der Kleiderluxus und der an Gold, Elfenbein und zum Teil überdimensionierten Edelsteinen literarisch weit über das bei den meisten Adeligen hinausgehendes Maß betrieben wird, soll wohl Staunen und Bewunderung hervorgerufen werden. Andererseits merken Autoren auch schon einmal an, dass es ein Zuviel solcher Beschreibungen geben kann. So sagt Chrétien in der Übersetzung von Gier: "Aber warum sollte ich euch den Besatz der Seidenstoffe beschreiben und in Einzelheiten zerpflücken, mit denen das Zimmer verschönt war (anbelie). Ich würde die Zeit auf dumme Art vertun (E5523).

 

In diesen Bereich gehören überhaupt die märchenhaften Übertreibungen, die ein neuzeitlich-"bürgerliches" Publikum später so nicht mehr hinnehmen wird. An Plausibilität mangelt es für spätere Leser schon bei den Größenordnungen. Ähnlich wie in Chroniken und Historien werden die üblichen Heerscharen an Anzahl ihrer Krieger verzehn- und verhundertfacht ebenso wie königliches Gefolge und die Scharen schmückender juncfrouwen und frouwen. Eigenschaften wie Schönheit oder Tapferkeit werden unentwegt in Superlative vergrößert. Kaum zu zählen ist die Schar jeweils schönster Damen und an êren und prîs reichster Ritter in einem Roman. Das wird der damalige Hörer oder Leser als eine Form der Betonung einordnen können, aber es verweist auch auf eine Schlichtheit des Gemütes, die man Hofleuten damals kaum zutrauen mag und die eher auf die vielen späteren schlichten Gemüter und ihre Lese- und Sehwohnheiten verweist, die bis heute den Markt der Unterhaltung bestimmen.

 

Aber vielleicht gab es tatsächlich einen solchen Markt für naives Staunen und sich Wundern bei Hofe, der dem häufigen Gebrauch des Wunder-Wortes (in der Langue d'oeil: merveille) entspricht. Die überdimensionierten Heldentaten der Recken im Nibelungenlied sind des öfteren wunder. So heißt es zum Beispiel für viele andere über Hagen: waz wunders tet sîn hant (32,1937). Wenn Wolframs Gawan reit al ein gein wunders nôt (8,432), reitet er gefährlichen Heldentaten entgegen. Das Wort taucht überall dort auf, wo übertrieben werden soll. Bei Gottfried ist Blanscheflur ein wunder ûf der erde (T2,688) und so wunderbar wie Rual, ebenfalls ein wunder ûf der erde! (T7,4332). Cleidere sind wunder, also wunderschön (T15,10866), weswegen alle sie anstarren, und klar, dass die merewîp der Donau wunderlich gewant haben (NL25,1535). Sogar Tristans Musik ist wunder (T11,7746) und so darf sich auch das Publikum mitwundern und staunen (letzteres ein neuzeitlicheres Wort).

 

Die magisch-religiöse Version des Wunders, wie der evangelische Jesus sie vollbrachte, ist eher selten. Klingsors Zaubereien sind wunder (P13,656) und am Gralsherrn hat got wunder getân, ihn nämlich wundersam gestraft (P5,255). Ein weiteres, und nun schon fast christliches Wunder geschieht mit dem Schiff, welches Pelrapeire Lebensmittel bringt (P4,200: daz vuoge got der wîse).

 

Man ist neugierig und het michel wunder (NL25,1578) im Text und beim Vortrag bei Hofe und liebt eine wunderlîch geschiht, die also verwunderlich ist (P3,155), oder eine wunderlîche maere (T7,4366). Über Parzival gibt es grôziu wunder zu erzählen, nämlich Erstaunliches (P5,224). Das Hündchen der Fee mit seinem Glöckchen nam in wunder, erstaunte, verwunderte Tristan (T25,15867) und natürlich die Zuhörer und Leser.

 

Unterhaltsam ist neben dem Staunen auch das oft nahe nebendran liegende Lachen, zum Beispiel das abfällige über den Artusritter Keye oder das eher Lächerlichkeit markierende, wenn Marke und sein Hofzwerg im Baum sitzen, auf das ehebrüchige Liebespaar warten und Tristan sie entdeckt (T23). Wenn Ritter vom Pferd gestoßen werden, um "in die Blumen zu fallen", dürfte das Schadenfreude ausgelöst haben.

 

Soweit handelt es sich um ein ganz triviales Unterhaltungsbedürfnis, um kurzewîle als kurzzeitiges Aussteigen aus der Wirklichkeit ins schiere Amüsement. Wieweit der Problemgehalt, der diese Texte erst zusammenhält, Unterhaltungswert hatte, ist kaum noch nachzuvollziehen. Man kann vermuten, dass Parzivals ethische Überhöhung die Möglichkeit gab, sich wenigstens für ein paar unterhaltsame Stunden pro Tag mit jemandem zu identifizieren, der besser wird als man selbst. Das rechte Maß an Ritterlichkeit bei Erec und Iwein dürfte problemloser in das idealisierte Selbstbild der hochadeligen Zuhörerschaft gepasst haben: War man doch dabei, die übliche Gewalttätigkeit stärker zu verrechtlichen und in Ansätze neuer Staatlichkeit einzupassen, von denen nicht nur Könige, sondern auch Hochadel profitierten.

 

Wie eine maere nicht sein soll, sagt Gottfried: unlîdic unde unsenfte bî mit rede, diu niht des hoves sî (T11,7952). Der märchenhafte Ritterroman hat wenigstens von der Sprachebene her einem auf den Alltag anwendbaren Sprachideal zu entsprechen. Voraussetzung für "Unterhaltung", kurzewîl, ist aber offenbar vor allem das Ausklammern jener Sphäre, in der die Reichtümer erarbeitet werden, nach denen Helden streben und die Fürsten besitzen. Der spätmittelalterliche und neuzeitliche Wortsinn von Arbeit findet fast überhaupt nicht statt, arebeit hat noch den alten Wortsinn von Mühe, sich mühen oder auch sorgen. Die Arbeit als spezifische Tätigkeit im Nibelungenlied zum Beispiel ist auf die Mühen höfischer Dienste beschränkt und die Vorbereitung von Festivitäten: Mädchen und Damen (frouwen) am Hof richten schmückende Kleidung her und applizieren Gold und Edelsteine, und ein weiterer "Dienst" ist die Vorbereitung von Festen. Produktive ländliche und städtische Arbeit bleibt aus dieser Literatur ausgeschlossen. Das ingesinde, welches man ze hove antrifft, scheint durchweg so edel zu sein wie die Helden selbst.

 

Eine ständische Literatur

 

Die hier behandelte Literatur ist aristokratisch-höfisch, auch die vielleicht bürgerlichen Gottfried von Straßburg und der Stricker finden dort ihr Publikum und bedienen es. Bürgerliche Literatur folgt später, und ihr dann die nachmittelalterlich-neubürgerliche. Die Masse der produktiv arbeitenden Bevölkerung liest nicht, sondern erzählt sich Geschichten, bis das mit den elektronischen Medien auch noch fast zur Gänze verschwindet.

 

Der Hof, Zentrum der Ritterromane, ist zunächst einmal zweierlei in den Texten, nämlich Gebäude und zugleich um einen Fürsten versammelte geselleschaft. Das Gebäude ist im Nibelungenlied und bei Wolfram ein befestigtes hûs, (NL3,81, P6,280, P8,426 z.B.). Das entspricht dem domus für Burg und Palast in den lateinischen Quellen. Manchmal ist dies hûs mit seinem Innnenhof und seinen Wehrmauern identisch mit einer burg, oft aber bezeichnet Burg sowohl das befestigte Steingebäude des hohen Ritters wie auch eine dazugehörige Stadt (stat) wie Xanten oder Worms im Nibelungenlied. Schon bei Chrétien kann chastel sowohl Burg wie Stadt heißen, also befestigter Ort (E28/345 etc., wie auch chastiax 3194) und ansonsten auch vile (E3081/5479) oder citez (E3862). Städte sind aber meist ein Randphänomen der Handlungen, die oft entweder in der Ritterburg oder aber "in walt und gevilde" stattfinden und dienen vor allem zur Beherbergung reisender Ritter. Die sächsischen Boten zum Beispiel erhalten Herberge in di stat Worms (NL4,150) ebenso wie die Recken, die aus dem Sachsenkrieg zurückkommen (NL4,246) Erec steigt in einem ostel chiés un borjois ab (E3217)

 

Mehr als ein Gebäudekomplex noch ist der Hof ein gesellschaftlicher Raum im ursprünglichen Wortsinn. Gesellschaft hat noch nicht eine soziologisch verunklarende Bedeutung, also das Vortäuschen eines sich aktiv zusammen gesellenden Untertanenverbandes, was es nirgendwo je gegeben hat. Frauen haben Frauen geselleclich, das heißt zur (tatsächlichen) Gesellschaft, bei Chrétien: conpaigni, (E1285). Mit Gesellen zieht man in den Kampf und Krieg als Gefährten (als hergesellen (NL29,1755), man gesellete sich in Gruppen (NL29,1802) auf dem Weg ze hove und dann zueinander beim Fest. Um der gesellekeit mit Parzival willen soll Iwanet zum Artushof reiten (aus freundschaftlichen Gründen, P3,159, vgl. auch P6,280). Frau Liebe gibt Frau Minne geselleschaft, um ihr Erfolg zu gewähren (P6,291) und der geselle oder trûtgeselle ist auch der Liebste, Geliebte wie in der Minnelyrik, und für Laudine der Ehemann (Y2,1454ff).

 

Bei Wolfram treten auch genôze auf (P1,25), die wohl gleichrangig sind wie auch die Gesellen (P2,91), zudem die hûsgenôz bei Gottfried (T24,15052). Und bei Gottfried wird die geselleschaft dann auch zu dem, was sie bis heute auch noch tatsächlich ist: Das Zusammentreffen von Verwandten, Freunden, Vertretern gleichgearteter materieller Interessen zu einer speziellen Gelegenheit (T2,587).

 

Die einem hochadeligen Ritter als wirt untergeordneten Leute eines Hofes gesinden sich, was dazugesellen meint (T4,2530) und bilden das ingesinde, bei Gottfried hovegesinde (T6,3387), in dem jeder ein hoveman als Höfling ist (T6,3452). Man reitet ze hove, das heißt zur Burg hin. Bei Siegmund zu Xanten sind die Pferde für das Turnier in hove (NL2,32). Da ist der Hof der Platz innerhalb der Mauern und Gebäude der Burg, zu denen vielleicht auch die Stallungen gehören. Gawan ist in des hove und in des hûs von Artus erzogen worden (P13,667), Burg und Hof fallen hier zusammen als der Raum, in dem Ritter wohnen und agieren.

 

Der Burgherr ist ein hêrre, übt also hêrschaft (T7,4044) aus als sires de chastel (E521) oder einfach nur sire, als König, vürste oder Anführer des Heeres (P13,667). Er ist hêrlich und damit entsprechend vornehm (T7,4083). Er ist sires de la meison, also Hausherr (E504), wie auch der Autor Wolfram als Hausbesitzer hêr in mîn selbes hûs ist (P4,184). Aber hêrre unde vriunt ist auch Riwalin für Blanscheflur (T2,1463) und überhaupt jeder Ehemann über Frau und Kinder.

 

Die Hofleute haben alle dem Herrn des Hofes zu "dienen", zu Diensten zu sein. Dass es dort auch unedle Bedienstete geben kann, wird verschwiegen, sie gehören nicht zum Hof als Gesellschaft, denn sie sind nicht höfisch. Am Artushof ist ein vilân als Mensch aus der Unterschicht unerwünscht (P3.144). Er wäre unhovebaere, wie es bei Gottfried heißt (T7,4029)

 

Der Hof ist also eine adelige Ritter-Gesellschaft mit einem Herrn, und sie zeichnet sich zudem durch einen "höfischen" Verhaltens- und Wertekomplex aus, der am anglonormannischen Hof, den (nord)französischen und den Höfen zwischen Katalonien und Italien entsteht und sich zunächst in einer neuen Lyrik widerspiegelt. Darauf soll weiter unten genauer eingegangen werden. Entwickelt und tradiert wird er durch Erziehung, deren Ergebnis dann ebenfalls als zuht bezeichnet wird und deren oberstes Ziel die êre ist, die zum Machtstatus gehört.

 

Höflichkeit als höfisch sein ist bei Chrétien courtoisie, und bei Wolfram heißt es denn auch, ein Ritter was curtoys, sîn vater was ein Franzoys (P1,46), womit darauf angespielt wird, wo diese höfische Art herkommt. Ritterlich sein und höfisch sein fällt in den Versromanen dabei fast durchweg zusammen, etwas anders als in der historischen Wirklichkeit. Das betrifft dann praktisch alles, die Regeln des Kampfes wie die des Umgangs mit den Frauen, die Manieren beim Essen, die Formen des Grüßens, die Musik, die höfschlîch sein soll (T4,2273), die Art zu reiten (NL6,348 / P2,61) oder Damen aus dem Sattel zu helfen. Dazu kommen die prächtige Einrichtung und eine höfische Sprache. Gahmuret hat so eine höfschlîche bete (höfliche Bitte, P1,45), das Gegenteil einer Forderung, selbst wenn es eine implizieren mag. Das alles schließt den Hof und das genauso literarische Rittertum von der übrigen Welt ab, weshalb es verwunderlich wirkt, wenn Gottfried einen höfsch koufman erwähnt (T7,4055), etwas, was im Sinne dieser Literatur eigentlich gar nicht geht.

 

Das alles spiegelt eine höfische Vorstellungswelt, deren literarisches Ideal nur in sehr geringem Umfang mit der vielfältigen Wirklichkeit übereinstimmt. Wenigstens in einem Punkt nähert sich Gottfried zumindest der historisch vermutbaren bzw. verifizierbaren Realität an. Höflinge um Marke sind Intriganten (T12) mit haz unde nît (8402). Der Hof ist ein Tummelplatz der Gerüchte und Anspielungen, der hovemaere (T19,13183), und bleibt es bis zum Schluss.

 

Tatsächlich aber ist die neue Literatur nur in wenigen Aspekten eine Quelle, die uns die Lebenswirklichkeit der Menschen näherbringt. Bei der Lektüre solcher Texte kommt eher die Vermutung auf, dass in der Zeit, in der nicht nur die Bedeutung des Geldes rapide zunimmt, sondern auch frühe Formen seiner Kapitalisierung, - die neuen Vorstellungswelten Gegenwelten genau dazu sein sollen, solche, die das Ende einer traditionelleren Welt und die Installierung einer "zweiten Natur" eben ein Stück weit auch als phantastischer Ersatz befördert haben mögen. Alle Künste im modernen Sinne entstehen als Bestandteil einer sich entfaltenden und immer kapitalistischer gerierenden Warenwelt.

 

Das beginnt damit, dass die Verherrlichung des Rittertums in solcher Literatur mit ihrem beginnenden tatsächlichen Niedergang unter den Bedingungen frühkapitalistischer Strukturen zeitlich einhergeht. Indirekte Andeutungen gibt es bei Wolfram, wie in seinem "noch" in folgender Passage: ritterschaft. des namen ordenlîchiu craft, als uns des schildes ambet sagt, hât dicke hôhen prîs bejagt: ez ist ouch noch ein hôher name (P5, 269), oder wenn er schreibt: des schildes ambet ist sô hôch, daz er von spote ie sich gezôch, es verdient keinen Spott, was impliziert, dass er bereits da ist (P12,612). Deutlicher wird der Autor des Nibelungenliedes: Viele ezzent des fürsten brôt, und sind jetzt zagelich, was schande bedeutet (34,2024). Man heißt zwar weiter Ritter, ist aber immer weniger tatsächlich ritterlich im alten Sinne.

 

Die Ritter dieser Texte hier sind zwar edle Helden, aber sie kämpfen nicht nur um prîs, also Ruhm, Lob und Ehre, sondern auch um guot und golt. (z.B. NL36,2126) und um gâbe, also solt (T12,8589). Gahmuret bôt sîn dienest umbe guot, als noch vil dicke ein Ritter tuot. (…) doch bedorfte er wênec soldes, da er selbst reich ist (P1,17). Krieger bei Wolfram sind oft soldier (P1,21 / P4,184 etc.). Die sarjant mit harnasche, al sunder schilt. den was ir solt alsus gezilt, volleclîchen zwei jâr sind zwar Infanterie, repräsentieren aber bereits einen Gutteil des Kriegertums um 1200 (P1,4,210). Und so sagt die etwas eigenwillige und märchenhafte Orgeluse über ihre Ritter: Einige wâren ze rîche in mînen solt, wart mir der keiner anders holt, nâch minne ich manegen dienen liez, dem ich doch lônes niht gehiez (P12,618 auch: P13,632). Es sind dann aber ihre minnen soldiere und zwar damit ûf hôhen solt (677). "Soldaten" sind also auch in der Literatur schon üblich.

 

Und wie sehr der Krieg bei Wolfram bereits kommerzialisiert ist, zeigt folgende Passage: ouch vuor der market hinden nâch mit wunderlîcher pârat: Des enwas et dô kein ander rât. ouch was der vrouwen dâ genuoc: erslîchiu den zwelften gürtel truoc ze pfande nâch ir minne (...) die selben trippâniersen (Metzen) hiezen soldiersen (P7,341). Soldaten und Huren werden auch weiter und bis heute zusammengehören wie das Töten und das Vergewaltigen.

 

Wer sich ehrbar hält, verarmt inzwischen schon mal wie Chrétiens Valvassor durch zuviel zu gering entlohnten Kriegsdienst. Andere werden zu Raubrittern. Da ist der chevaliers, qui de roberie vivoit (E2792f) und sind fünf weitere chevalier (...) roberie querant aloient (E2927). Zwar werden sie moralisch wegen ihrer convoitise (Habgier) abqualifiziert, aber wir wissen, dass so mancher das für den Standeserhalt nötig hatte.

 

Zwar bietet Marke Tristan seine Schätze als Mittel zur Rückeroberung von Parmenien an, und er empfiehlt ihm: bedarft dû ritterschefte mê, / die nim, als dir ze muote stê. / nim ros, nim silber unde golt / und swes dû bedürfen solt, / als dû's bedürfen wellest. / und swen dû dir gesellest, / dem biut ez sô mit guote, / mit geselleclîchem muote, / daz er dîn dienest gerne sî. (T5131ff). Dabei geht es aber nicht um die Käuflichkeit einer Soldateska, wie sie um 1200 tatsächlich bereits weit verbreitet ist und Päpste zum Verbot des Söldnertums veranlasst, natürlich vergebens, vielmehr geht es um den feudalen Grundsatz von Leistung und Gegenleistung, und für die Kriegsgefolgschaft gibt es vor allem das Versprechen des Anteils an der Beute; jedenfalls weist der Begriff der Ritterschaft hier darauf hin. Was Tristan seinem Militär allerdings wohl anbieten muss, ist Ausrüstung und Unterhalt, auch Kriege sind Investitionen, die Profit bringen sollen. Béroul sieht das ein halbes Jahrhundert vorher bereits etwas anders. Der Eremit Ogrin möchte Tristan Versöhnung mit Marke anbieten, denn dann lui serez ses soudoiers (in seinem Sold, Zeile 2405), aber gemeint ist, dass er, der in der Fremde und keinem festen Herrn zugehörig ist, als fahrender Ritter sich gegen Sold engagieren lassen muss.

 

Am Anfang des Béroul-Fragments spricht Tristan unter dem berühmten Baum, in dem Marke sitzt, davon, dass ihn jeder Herrscher wegen seines Heldentums (prooise) "engagieren" würde, und dass Marke es binnen Jahresfrist bedauern würde, wenn er ihn nicht mit Geld ausstattete. Aber das Wort Geld oder Sold kommt noch kaum vor: Der Förster weiß, wenn er den Aufenthaltsort von Tristan im Wald verrät, Asez aoit de son avoir, er wird genug von ihm bekommen. (Zeile 1860). Später verspricht Marke ihm d'argent vint mars (20 Silbermark). Als Marke dann entdeckt, wie vermeintlich unschuldig die beiden daliegen, vergisst er wütend dieses Versprechen.

 

Die neue Zeit einer neuartigen Professionalisierung des Kriegertums spielt so schon mal in die Texte hinein, am wenigsten wohl im Nibelungenlied, aber sie bleibt in den Texten eher ein Randphänomen.

 

In Stadt und Land wird der Reichtum erarbeitet, mit dem die neue höfische Prachtentfaltung finanziert wird so wie die Kriege, die militärische Ausrüstung. Dass alles daher kommt, wird aber fast völlig ausgeblendet. Bei Chrétien heißt es ausnahmsweise von Frau und Tochter des armen Valvassoren: an un ovreor ovroient (sie arbeiten in einer Werkstatt, E399) Als unterste Ritterschaft hatte der Mann durch zu viel Kriegsdienst bis auf sein Haus fast allen Besitz verloren, und das eben soll betont werden.

 

In einer Burg sieht Iwein ein wîtez werchgaden, ein großes Arbeitshaus, das wie armer liute gemach aussieht, und wo driu hundert wîp arbeiten, nämlich weben, sticken, Flachs hecheln usw. (Y11,6187ff). Dabei soll aber nicht in Arbeitswelt eingetaucht werden. Vielmehr ist unübersehbar, dass sie Edelfräulein sind, die als "Zins" in die Burg abgeliefert werden, um dort zu schuften - damit der edle Ritter sie befreien kann, indem er ähnlich wie andere ihre Drachen hier Riesen niederkämpft. Für diese jungen Damen ist solche Arbeit nämlich nicht standesgemäß, anders als für Frauen aus dem bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Milieu, und sie müssen darum davon befreit werden.

 

Dabei wird das Wesen von Lohnarbeit durchaus dargestellt: man gît uns von dem pfunde / niuwan vier pfennige. / der lôn ist al zeringe / für spîse und für cleider, während von unserm gewinne / sind si worden rîche. (Y11,6398). Gewinn ist dabei also noch das Ergebnis von Arbeit und nicht das, was ein Kapitaleigner davon für sich abzwackt..

 

Im Mittelhochdeutschen fehlt zur Gänze ein neuzeitliche Arbeitsbegriff. Arebeit bedeutet wie travaille vor allem Mühe (NL10,605 / E5921 z.B.), insbesondere harten Kampf (NL4,163). Reisen kann arbeit sein, von der man sich ausruhen muss (NL22,1353) Sich um Gäste bemühen kann arbeit für Ritter sein (NL22,1361). Etwas näher an den neuzeitlichen Arbeitsbegriff rückt die Schneiderei prächtiger Kleider: den edelen juncfrouwen was von arbeiten wê (NL6,365), und des kuniges schaffere (sie bauen Sitzgelegenheiten) man mit arbeiten vant (NL9,560). Arbeit taucht dabei im Nibelungenlied praktisch nur als unbezahlte auf. Das liefert die Illusion einer rein vorkapitalistischen Welt. In diesem Sinne findet arbeit auch bei Wolfram statt. Der Versuch, Anfortas zu heilen ist verlorniu arbeit (da Gott keinen Erfolg will, P9,481).

 

Zudem kann Arbeit einfach auch Kummer und Sorge bedeuten. Siegfried erleidet arbeit durch Kriemhilds minne (NL3,135). Fleiß als vliz bei edlen Tätigkeiten wiederum ist unmuoze und drückt die Intensität einer Handlung aus (vlîzeclich, NL28,1733). Unmüezekeit ist die Schreibarbeit Gottfrieds, der aber wohl kein Ritter war (T1,45). Sie ist ansonsten so gut wie immer keine produktive Tätigkeit.

 

Dass in den Städten gearbeitet wird, wird fast völlig ignoriert. Handwerk taucht als Wort überhaupt nur so auf: Melot ist des vâlandes antwerc (T22,14512, von Krohn mit des Teufels Werkzeug übersetzt).

 

Die borjois bei Chrétien (E2271 etc.), burgaere im Deutschen, sind vor allem das städtische Publikum für die Ritter. Nach Siegfrieds Tod heißt es: die edelen burgaere, di kômen gâhende dar. Si klageten mit den gesten, want in was harte leit, daz Sîfrides schulde in niemen het geseit. durch waz der edel recke verlür den sînen lîp. dô weinten mit den vrouwen der guoten burgaere wîp (NL17,1033f). Noch einmal kommen sie im Nibelungenlied vor: Die burgaren von der stat (Passau) erfahren, dass Kriemhild kommt, diu wart wol enpfangen von den koufliuten sint (NL21,1295).

 

Den Begriff Beruf gibt es noch nicht trotz weit fortgeschrittener Arbeitsteilung. Der verge auf der Donau, der auch schifman ist, einer der schifliute, ist ein helt und recke des bayrischen Markgrafen (NL26,1600f), und der Verje bei Wolfram, der dort auch schifman heißt, scheint ebenfalls ein Edelmann zu sein. Ansonsten kommen bei Wolfram arzât vor (Ärzte, P1,19 / P9,480 etc. mit erzênîe, Arznei, P11,579) ), bei Gottfried sogar eine arzaetinne (T2,1278) und ein fisîôn, ein Naturforscher, alles Leute, die im adeligen Umfeld angesiedelt werden. Wie man mit solchen Leuten umgehen kann, zeigt die edle Verachtung Orgeluses für derartige Berufe gegenüber Gawan: kan der geselle mîn arze unde ritter sîn, Er mac sich harte wôl bejagen, gelernt er buhsen veile tragen sagt sie ironisch zu Gawan (P10,516f), und ebenfalls abwertendzu ihm: vüert ir crâmgewant in mîme lnde veile? wer gap mir ze teile einen arzet unde eins crâmes pflege? hüet iuch vor zolle ûf dem wege: eteslich mîn zolnaere iuch sol machen vröuden laere (P10,531).

 

Ein weideman (Jäger, P7,397) und vischaere (P9,491) ergänzen (selten) den ganzen geringen Umfang arbeitender Bevölkerung.

 

Wenn überhaupt Bürger vorkommen, dann nicht solche, die produktiv arbeiten, sondern die verkaufen, koufliute sind, und das vor allem bei Wolfram. (P4,200 / P6,335 / P7,352f). Ebenso wie bei Gottfried handelt es sich um noch selbst mit ihren Waren reisende Händler, schon mal mit koufschif (T4,2152), die auch als ein werbender man auftauchen (T7,4092). Handel taucht als Begriff nur als marchandîse, also französisch auf (T7,4355).

 

Wohl unterhalb des Kaufmanns gibt es, auch selten, noch den crâmer mit seinem crâm, der veile ist (P2,11). Der Krämer ist wohl ein eher ortsfester Kleinhändler. Im 'Parzival' werden die koufwîp aus Dollnstein erwähnt, was Spiewok mit "Krämerinnen" übersetzt (P8,409). Sie sind aber seltene Ausnahme.

 

In Gottfrieds viertem Kapitel kommen Kaufleute mit ihrem koufschif an den Strand des Parmenierlandes, dessen legitimer Herr Tristan ist: des vant er umbe kouf genuoc. / kleinoede, sîden (Seiden), edele wât (Kleider): / des was dâ rât über rât. / ouch was dâ schoene vederspil, / valken pilgerîne (Wanderfalken) vil, / smirlîne (noch eine Falkenart) und sperwaere, / habeche mûzaere / und ouch in rôten vederen: / von disen ietwederen / vant man vollen market dâ.

 

Es geht um jenen Fernhandel, der Luxusgüter für den adeligen Bedarf bietet. Ein (unedler) Kaufvorgang wird allerdings nicht geschildert. Wichtig ist das Ganze für etwas anderes: Tristan wird auf das Handelsschiff verlockt, um entführt zu werden, damit er nach Cornwall gelangt, um schließlich als Brautwerber für Marke nach Irland zu ziehen und um dank Zaubertrank ihr auf der Brautfahrt zu verfallen, - so wie sie ihm. Das Begehren, welches in den Krieg führt und auf das Lager mit der begehrten Frau ist auch das nach solchen Luxusgütern.

 

Gegen Ende seines Tristan lobt anders als der Franzose Chrétien und seine deutschen Kollegen der Anglonormanne Thomas sein Lundres an der Mündung der Tamise: London ist eine sehr reiche Stadt. Es gibt keine bessere in der Christenheit, keine wertvollere (vaillante), keine angenehmere, keine, die mit berühmteren Menschen geschmückt ist. Sie lieben die Großzügigkeit (largesc) und die Ehre, leben in großer Heiterkeit. Es ist der Handelsplatz (recovrer) von England (Engleterre), man braucht nichts anderswo zu suchen. Am Fuß der Mauern fließt die Themse und auf ihr kommen die Waren (marchandise) aus allen Ländern an und dorthin gehen alle christlichen Händler (marcheant). Die Leute dort sind von großem Erfindungsgeist (de grant engin). (Zeilen 1381ff, Oxford-Manuskript Douce). Hier findet die neue Zeit denn doch ein wenig statt.

 

Die Welt von Gottfrieds Tristangeschichte kommt aber fast völlig ohne Kapital und Handel aus und schon gar ohne den Sektor der städtischen Warenproduktion. Krieg, Kampf und Jagd, Feste, Liebe, Gesang, Musik, das ist fast die ganze vorgetragene Welt. Wie sehr sie Gegenwelt zur materielle Werte schöpfenden Sphäre ist, zeigt sich daran, dass König Marke sofort erkennt, dass Tristans Vater kein Handelsmann ist (Zeilen 3283): in geloube ez aber niemer. / wie haete ein koufman iemer / in sîner unmüezekeit / sô grôze muoze an in geleit? / solt er die muoze mit im hân, / der sich unmuoze sol begân?

 

Also: Tristans (höfische) Erziehung ist eine zur Muße und verlangt vom Erzieher Muße. Der stets geschäftige Kaufmann ist dazu außerstande und wir können hinzufügen, an der Erziehung seines Sohnes zur Müßigkeit gewiss auch nicht interessiert. Muße heißt um 1200 noch: Zeit haben, und für den Kaufmann ist damals schon Zeit Geld.

 

Was - zumindest bei Wolfram - an den Bürgern am ehesten interessiert, ist ihre (eingeschränkte) militärische Bedeutung bei der Verteidigung ihrer Städte. Die burgaer von Pelrapeire sind bewaffnet, wenn auch nicht auf ritterliche Weise. In Pelrapeire dâ stuont ouch manex koufman mit hâschen und mit gabiôt, als in ir Meisterschaft gebôt (P4,183, also mit Beil und Wurfspieß). Und Bürger tâten râche schîn, sie erstâchen sie ze den slitzen in, das heißt, sie erstachen Ritter durch die Schlitze ihrer Rüstungsringe, bis Parzivâl in werte daz (P4,207). Clamide hat mit seinen Soldrittern weniger Erfolg, da die Bürger für sich selbst kämpfen, und: die burgaer manheite wîs behielten vrum unt den prîs (P4,208). In seiner Bedrohung lässt sich Fürst Lippaut von seinen burgaeren mit witzen beraten, wie seine Stadt zu verteidigen wäre (P7,355). Sie möchten in der offenen Feldschlacht (veltstrît) Geiseln nehmen, und kämpfen mutig wie Ritter (P7,378). In Askalon wiederum kämpfen koufman und ritter gemeinsam gegen Gawan und Antikonie (P8,408). Burgaere von Wexford werden vom Marschall zu Tristan geschickt, ein roupher mit Armbrust und Bogen (T1,12).

 

Das Land, auf dem die meisten Menschen leben und hart zu arbeiten haben, kommt nur selten gut weg und noch weniger vor. Bûwen, also Bauen wird als Ackerbau bei der noblen Einsiedelei Herzeloydes erwähnt (P3,162), immerhin nicht abfällig. Bûliute sind ihre Knechte dort (P3,125). Der französische li vilains (also Bauer, E1) ist dumm, unerzogen und derb. Ein rüpelhafter Ritter ist dementsprechend ein chevaliers vilains (E198), vilain(ne) sein bedeutet eben unhöfisch (E475). Das Wort findet gleichgesonnen Eingang in die deutschen Texte als vilân (P2,74), wie denn dort auch jeder Grobian heißt (P3,143). Ein deutscher gebûr ist ein dummer Bauer (P6,294) oder einfach nur Bauer (P7,385). Dörperheite tritt dann entsprechend als Gegensatz zum Höfischen auf (T24,15502). Zuzusehen, wie es Tristan und Isolde heimlich bei Hofe treiben, ist für Marke dorperîe (T26,16616). Ungeslähte birt (P3,142), also unvornehme Geburt, ist ein nicht abzuwischender Makel, in diesem Kontext hier allerdings bei einem vischaere.

 

Unsere Ritterromane in Versen handeln von einem ganz kleinen Teil der Bevölkerung. Dementsprechend ist im Nibelungenlied volc weitgehend ganz altgermanisch noch das (ritterliche) Heer (z.B. 4,245 / 6,338 / 34,2017). Volces stürme nennt der dänische König denn auch den Krieg (NL35,2025). Bei Wolframs Parzival ist in der Regel volc die Ritterschaft (P5,232). Aber in all diesen Texten erkennt man einen einsetzenden Bedeutungswandel, in dem das Volk auch schon mal zur Bevölkerung und so ansatzweise zur Gesamtheit von Untertanen wird (P1,19). Wenn Helden in den Städten von einer schaulustigen Menge angestarrt werden, ist die auch schon mal volc wie in Worms (NL3,72) oder Kanvoleis (P2,63). Ganz langsam wandelt sich "Volk", um dann bald nur noch für die Leute unterhalb des Adels zu gelten, die, welche im Latein von Otto von Freising die ignobilis vulgi sind (Chronik, S.478).

 

Dazu werden im Französischen zunächst vom Volk die genz menües als pueples (kleine Leute, E750) abgetrennt. Leute in der Stadt sind bei Chrétiens aber zugleich vilains (E802) und bei Isoldes Gottesurteil treten sie als gemeines volk als Zuschauer auf (T24,15636).

 

Ambivalent ist auch die Bedeutung von "Leute", den gent des Chrétien (E789). Ambetliute wie die kameraere, schenke, truhsaeze, marschalc (P13,666f) sind in den Romanen Hochadelige, in der Wirklichkeit sind sie das höchstens am Königshof. Der Begriff des Ministerialen taucht aber nicht auf, da er die Romanstrukturen sprengen würde. Die liute an Etzels Hof sind seine vornehme Hofgesellschaft (NL31,1884) und liute sind auch Gahmurets Gefolge (P1,1). Bei Gottfried können aber liute Menschen ganz allgemein sein (T1,11), und in liute und lant hört sich das nach Bevölkerung an. Alle di lantliute erfahren, dass die Burgunden auf dem Weg nach Passau sind (NL26,1624) und zum Bischof in daz lant kommen (1625). Die lantliute sind also Bevölkerung (T10,6014), ebenso wie das lantvolc (T11,7378) und das lantgesinde (T13,9544). Die liute in Zazamanc sind alle (!) vinster (dunkelhäutig P1,17).

 

Die höfischen Ritterromane gaukeln ihrem Publikum eine Welt vor, in der der heldenhafte Kampf und die ritterlichen Tugenden den dort beschriebenen Reichtum schaffen. Tatsächlich kommt er von den Bauern, dem Handwerk und dem Handel. Dabei spielt Geld eine immer wichtigere Rolle, auch wenn es im neuzeitlichen Wortsinn kaum vorkommt. Eine Ausnahme gibt es bei Wolfram, wo man den crâm des crâmers vor Klinsors Zauberburg mit gelte nicht widerwaege kann (aufwiegen, denn daz crâmgewant was tiure, P11,563). Gelt als Entgelt (P3,175) ist da manchmal nahe dran. Die soldiere sollen Kaufmannshabe als gelt erhalten (P7,362), allerdings nicht in barer Münze. Gelten kann entgelten bedeuten, was heißt, irgendeinen Gegenwert liefern (NL20,1253 / 32,1920), zum Beispiel auch Dienst (NL26,1637), oder (seltener) büezen, und das meint in der Konsequenz meist Rache, was dann auch vergelten sein kann, was aber auch in die Nähe von bezahlen kommt (P15,761). Man kann im übrigen auch weiterhin als etwas/jemand gelten (P2,79)

 

Dabei kommen des öfteren Münzen vor, livres (E1972) oder Goldmark (E1579), öfter Mark, manchmal Pfennige (P3,142), silbers manegen staerling (P6,335), sogar ein Falschmünzer taucht auf, ein valschaere (P7,362). Aber das alles ist ganz am Rande der literarischen Ritterwelt, in der an erster Stelle das Schenken steht, die Freigiebigkeit (milte, largesse), und in der man Schätze und guot einfach hat.

 

Auch hier weicht Béroul mit seinem 'Tristan' etwas ab: Geld ist wichtig für Bettler, und der polyánthropos Tristan verkleidet sich als solcher - mit den Insignien des Leprakranken. Tristan lor fait des borses trete, / Que il fait tant chascun li done. Er lässt sie also die Börsen zücken (sie haben welche dabei), denn er schafft es, dass jeder ihm (Geld) gibt (Zeilen 3632f). Pagen geben ihm einen ferlin (farthing) oder maalle esterline (sterling). Geld ist zudem wichtig für Spione und Verräter wie auch einmal für einen Förster. Als ein solcher Spion den drei bösen Baronen sagt, dass er eine Öffnung in der Wand zum Zimmer der Königin kenne, durch die sie dieselbe beim Liebesspiel mit Tristan beobachten könnten, meint er: grant avoir, / En doi avoir (Zeile 4304) und als sie nachfragen: Un marc d'argent, eine Silbermark.

 

Fürsten investieren um 1200 Geld, welches zunehmend kapitalistisch und in Städten erwirtschaftet wird, in kriegerische Unternehmungen, Ankäufe, Verwaltung und Prachtentfaltung. In den Heldenliedern wird das geradezu weggelogen. Phänotypisch dafür ist der Nibelungenhort, der einfach da ist und magische Qualitäten hat, deren wichtigste seine Unerschöpflichkeit ist. Das Wort "Geld" taucht aber nicht auf, auch wenn gelegentlich im Nibelungenlied in Mark (einem Edelmetallgewicht), Gold oder Silber gerechnet wird, denn das hat man als Machthaber einfach, es gehört dazu, als ob es sich um den Kronschatz eines Merowingerkönigs handeln würde. Und wenn, dann erringt man Gold und Silber eben in Kampf und Krieg.

 

Entsprechend wird auch nicht mit Geld "bezahlt", sondern meist mit Heldentaten, manchmal auch nur im Turnier (P2,60). Gahmuret hat des prîses danc bezalt mit edlen Heldentaten (P1,45). Laut Gawan hat Parzival prîs bezalt, also Ruhm im Kampf errungen (P6,305). Aventiure bezalen (bestehen) dient edler Minne (P6,318). Bei Chrétien soll Erec den Sperber conparer chiers, teuer bezahlen - mit Kampf (E850). Paier bei Chrétien geschieht ebenfalls durch Kampf (E948). Bezahlt wird nicht viel, aber umso mehr werden die hohen "Kosten" erwähnt, die prächtige Einrichtung und Feste haben - das Ganze soll ja etwas hermachen. Der Seneschall Dinas gibt bei Béroul Isolde ein garnement, / Qui bien valoit cent mars d'argent. (Zeilen 2985f). Hundert Silbermark für ein Gewand, ja, dann muss es ja toll sein!

 

Im alten Atlilied, Ende des 9. Jahrhunderts, lädt Atli Gunnar und Högni ein, um ihnen ihren Schatz zu rauben. Gudrun warnt vergeblich ihre Brüder, die kommen und gefangen genommen werden. Gunnar beantwortet Atlis Forderung nach dem Schatz damit, er wolle Högnis Herz sehen. Es wird Högni herausgeschnitten, worauf nur noch Gunnar um den Schatz weiß. Alti wirft ihn in eine Schlangengrube. Gudrun rächt darauf ihre Brüder, indem sie ihm die gebratenen Herzen ihrer Kinder zu essen gibt und ihn dann im Bett tötet.

 

In vorkapitalistischen Zeiten kann die materielle Gier noch Unheil gebären. Im Phantasialand der edlen Recken ist Gier ein kleines Randphänomen bei Bösewichtern geworden.

 

Literatur als unterhaltsam-propagandistische Beschönigung: Gold dient immer noch der Schatzbildung und der prächtigen Ausstattung; in der ritterlichen Welt ist Krieg und Unterwerfung die Grundlage dafür. Gold ist zudem als höchstverehrtes Gut Reinheit so wie Tugendhaftigkeit, Treue, steht sogar für Jungfräulichkeit. Brangäne ist noch "rein" wie Gold, als sie zu Marke ins Bett geschickt wird. Gold steht für die willigen Leiber von Brangäne und Isolde auf Markes Lager: und in dem tegele gebrant / unde geliutert alse ein golt, / sît des was Brangaene unde Îsolt / von herzen und von sinne / sô getriuwe und sô geminne. (T12940ff). Gold steht im ganzen Versepos für das Gut, um welches die Kriege geführt werden. Und nun, da Tristan und Isolde sich ohne Furcht heimlich physisch lieben können, heißt es bei Gottfried: der sich nie keinez kunde enstân, / wie ez umbe ir liebe was getân. / diu was an in reine unde guot. - wie Gold. Edler kann das Edelmetall gar nicht mehr werden.

 

Fast der gesamte Wortschatz des Marktes und der Warenwelt des frühen Kapitalismus bewahrt in der unterhaltsamen Welt der Romane noch vorkapitalistische oder wenigstens den Kapitalismus ignorierende Bedeutungen. Bei sich ausbreitender Lohnarbeit geschieht lôn, miete oder solt (außer beim soldier) nicht in Münzform, sondern so, als ob es ein Geschenk wäre. Muster ist der Lohn für Minnedienst und überhaupt den Dienst des Mannes für den Herrn (guerredon bei Chrétien, E4533).

 

Koufen und verkoufen (vandre bei Chrétien) heißt oft erwerben durch Dienst, Kampf oder Tausch. Der Bischof von Passau wünscht Kriemhild, daz si ir êre koufte, als Helche hêt getân (NL21,1327, nämlich mit milte). Der gewin von êre ist ein kouf für Antikonie (P8,404). Reichtum und Wert werden schon einmal in Geld gerechnet, um Eindruck zu schinden, und so heißt es über Notungs Schild: swer sîn het gegert ze koufen an der koste was er wol tûsent marke wert (NL27,1699). Aber es ist nicht käuflich, veile. Gehandelt wird um den Preis des Freikaufs von Geiseln (NL5,312), und Geiselnahme ist tatsächlich Ziel vieler Kämpfe. Kouf als Verkauf von Waren gibt es dagegen eher selten, einmal zum Beispiel zu doppeltem Preis (P4,201). Und das Land des armen Valvassoren ist vandue, verkauft (E517), er hat wohl Geld dafür bekommen.

 

Der Eremit Ogrin immerhin kauft bei Béroul in bar und auf Kredit (achat, acroit, barate) die kostbarsten Stoffe und Kleider für die dem Wald in Kleiderfetzen entkommende Königin. Diese merkwürdige Vorstellung vom frommen Einsiedler, der den Kleiderluxus der Königin fördert, wird noch unterstrichen durch seinen Gedanken, dass er, als er sie bei Hofe sieht, seine Einkäufe nicht zu bedauern brauche, so prächtig nämlich sähe die Königin aus. Und Iwein muss für seine Beteiligung an einem Marktgeschehen erst wahnsinnig werden, um dann zu jagen, daz er die hiute veile truoc und kouft in beiden gnuoc, nämlich an Lebensmitteln (Y5,3341f).

 

Die feinen Herren kaufen nicht und bezahlen nicht. Entsprechend sind sich Leute hauptsächlich untereinander "teuer", und des kunec Guntheres lîp dünkt sich getiuwert durch die vielen schönen Mädchen, die aus den Fenstern von Brünhildes Burg auf ihn schauen (NL7,394), aufgewertet also. Soweit jedenfalls das Nibelungenlied. Bei Gottfried taucht dazu die bis in die Gegenwart geläufige Verdopplung "lieb und teuer" auf: Tiure und wert ist mir der man (T1,17). Im 'Parzival' nähert sich Wolfram, wenn auch sehr selten, der neuzeitlichen Bedeutung von teuer an: manec tiure goldvaz nimmt Gahmuret mit auf Reisen und lädt sie auf Saumtiere (P1,1), und Gahmuret trägt ein tiure houbetdach (P2,63, etc) Am Gralshof gehen die Damen in waete die man tiure galt (P5,235). Teuer heißt dabei immer wertvoll.

 

Was für teuer gilt, passt noch mehr zu billig, ein Wort, welches mit seiner neuzeitlichen Bedeutung nicht in den prächtigen Rahmen des literaturfähigen Adels gehört. Billich ist das, was neudeutsch gerechtfertigt meint und im heutigen billigen noch enthalten ist (NL7,479 / 29,1784 / 29,1794). Bei Wolfram und Gottfried kommt das Wort denn auch kaum vor, einmal heißt es, daz was vil billîch, war also richtig so (T7,3946).

 

Market kommt selten vor, und zwar in der Bedeutung von Handel (P7,353 / 358), bei Gottfried ist genauso vereinzelt das, waz dâ koufrâtes waere, das Warenangebot (T4,2161ff). Bei Hartmann gelangt Iwein zu einem Ort, der in Burg und daneben marchet getrennt ist, worunter wohl eine Siedlung um einen Markt zu verstehen ist (Y11,6086). Veile meint in den seltenen Fällen, in denen es vorkommt, oft käuflich (P7,360 und P9,491, wo Fische käuflich sind, oder NL26,1634, wo es sich um Nahrung handelt). Wenn man etwas veile selten findet, kann man es nicht kaufen d.h. vergelten (P10,519).

 

Crâmgewant kann käufliche Kleidung sein (P7,360) oder Handelsgut überhaupt (u.a. P12,623). Aber die edlen Ritter der Texte kaufen meist nicht, weil sie das nicht nötig haben - sie haben schon alles. Und veile bedeutet manchmal auch, als Frau feilgeboten zu werden: Isolde will dem Truchsess niemer veile sîn für das Drachenhaupt (T13,9855). Überhaupt, falsche Minne ist veile (...), diu ist umbe kouf gemeine! (T17,1296/12302).

 

Isolde fühlt sich (wie vielleicht manche in die Ehe vermittelte Mädchen) bei Gottfried zu recht verschachert in dem Knüpfen von Beziehungen zwischen ihrem Vater und ihrem zukünftigen Ehemann. ine weiz, wie ich verkoufet bin, / und enweiz ouch, waz mîn werden sol. Aber Gottfrieds Minnevorstellung, so weiß er selbst, ist eben nicht gerade alltäglich und üblich. In seinem Text wird sie zu etwas, was vergangenen Zeiten angehört. Die Minne ez ze strâze veile treit. / ôwê! den market schaffen wir. ...diu ist umbe kouf gemeine! / wie habe wir unser hêrschaft / an ir gemachet zinshaft! / wir haben ein boese conterfeit / in daz vingerlîn geleit.

 

Schuld(en), sparen, borgen, leihen (als prester E629), bürgen haben keine finanzielle Bedeutung, Gewinn ist die Gunst der Damen (P1,12) oder die Beute im Kampf.(P2,72 / P9,445 etc.). Das pfant taucht nur bei Chrétien einmal in einem wirtschaftlichen Vorgang auf, nämlich beim Land des Valvassoren, welches angagiée, verpfändet ist (E517). Überhaupt, wirtschaft ist Bewirtung (NL5,268) oder die Mahlzeit (P4,191 / P12,623), der wirt ist der gastgebende Fürst bzw. König und Hausherr. Zins ist meist der Preis im übertragenen Sinne, zum Beispiel der für Liebesglück (P6,293). Wolfram sagt: wâriu minne muoz den zins geben (P15,767).

 

Damit erfahren wir allerdings nicht, wo der sagenhafte Reichtum der edlen Herren dieser Texte herkommt. Aber im feudalen Rahmen taucht dann doch etwas wenigstens auf. Da ist dann Zins die Abgabe des Lehnsmannes (NL14,822), bei Wolfram zins von sînen landen (P1,53, ähnlich T10,5876 / 5930). Rantes sind bei Chrétien Einkünfte von Land (E1837/ E3847) und Lehnsleute sind rantiz, zinspflichtig. Ein Fährmann verlangt bei Wolfram zins für den Kampf auf seiner Wiese, was Gawan zoll nennt. An mehreren Stellen im 'Tristan' des Gottfried ist zins auch Tribut.

 

Steuern kommen noch nicht vor, stiure kann das Geschenk sein (27,1694). Hinte stiuren ist beisteuern, zum Beispiel Nahrungsmittel (P4,190).

 

An einem Beispiel lässt sich erkennen, dass die Begrifflichkeit des Marktes um 1200 so gängig geworden ist, dass sie wie selbstverständlich auf das Geschehen eines ritterlichen Zweikampfes, nämlich den zwischen Gawan und Iwein, übertragen werden kann. Zahlen, borgen bzw leihen, Pfand, säumiger Schuldner, Kauf, Gewinn und Wucher, Handel und Bereicherung werden von Hartmann eins zu eins auf das Gewaltgeschehen übertragen (Y12). Durch die Hinterhand erfahren wir so, dass das, was im allgemeinen in den Heldenromanen ausgespart wird, doch stillschweigend gegenwärtig ist...

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, das Literatur als höfische Unterhaltung uns auf der Suche nach den Menschen, in deren Mitte sich Kapitalismus um 1200 offenbar unumkehrbar in Europa eingenistet hat, keine soliden Quellen über Zustände und Geschehnisse liefert, umso mehr aber über Vorstellungswelten, wie sie die Autoren und ihr Publikum entwickeln und aufrechterhalten.

 

Ähnlich wie bei der neuen volkssprachlichen Minne-Lyrik der neuartigen höfischen Kreise ist so auch über die Versromane, die ausführlich erzählende Literatur, eine breitangelegte Bruchlinie erreicht, in der exklusive Oberschicht-"Kultur" von der zweiten, menschengemachten "Natur" aufgenommen und künftig zunehmend zu ihrem Produkt gemacht wird. "Kulturprodukte" mit Warencharakter werden dabei schließlich, wenn man die Begriffe einmal ernst nimmt, ein Widerspruch in sich selbst, wie spätestens das 18. Jahrhundert dann auch entdeckt, als der Kult einer falschen Natürlichkeit, einer artifiziellen nämlich, der neuen Kunst den Garaus machen wird.

 

Dabei wird traditionelle, eher die eigentliche "Kultur", vom hohen Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert von der neuen verachtet, sich immer mehr auf verkümmerte "Volkskultur" beschränken, auf jene große Mehrheit von Menschen, deren "Befreiung" zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert sie erst gänzlich in Vorgänge der Kapitalverwertung integriert, wodurch ihre Traditionen ebenfalls schieren Warencharakter erhalten und völlig zum Absterben gebracht werden.

 

Wolfram unterstellt seinem 'Parzival' am Anfang, womöglich guote lêre zu enthalten. Das beanspruchen alle unsere Autoren zwischen 1170 und 1220. Natürlich lassen sich Kreise des höheren Adels nicht von niederständischen Sängern und Erzählern belehren, es geht um die Vertiefung und Verstärkung von Vorstellungen, die in den Welten der Mächtigen längst Gültigkeit beanspruchen, ohne deswegen unbedingt mit der alltäglichen Wirklichkeit übereinzustimmen. Dabei wird einmal direkt von den Autoren "belehrt", wie dann, wenn Gottfried über Minne doziert, oder aber durch Autoritätspersonen im Text, wie den höfischen Gurnemanz und den nach höfischen Vorstellungen frommen Trevrizent. Auch bei ihnen kommen natürlich besondere auktoriale Vorstellungen hinein.

 

Der spätere Kapitalismus wird zur Gänze staatsorientiert sein, das Mittelalter orientiert an davon zunächst noch freien Werten. Neben einem aufgesetzten und an die jeweiligen Machtverhältnisse angepassten "Christentum", welches in den Heldenromanen eine geringe Rolle spielt, werden dort mehr oder weniger höfische Werte propagiert. In kürzester Version: Den Mann macht lîp und guot aus (seine schöne und edle körperliche Ausstattung und sein Besitz), von disen zwein kumt edeler muot und werltlicher êren vil (T9, 5696ff)

 

Ständische Literatur: Es geht um Wertvorstellungen und Verhaltenskodex der wenigen Leute, die durch Besitz bzw. Verfügung über Land und darauf arbeitende Menschen, durch Herrschaftsrechte und auch daraus resultierende Einnahmen und durch ein weitgehendes Gewaltmonopol Macht ausüben und Reichtum abschöpfen. Es sind die besseren Menschen, griechisch aristos, die dazu tendieren, die unter ihnen zu verachten. Da oben sind höherer Klerus, wohlhabendere Klöster und weltlicher Adel. Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Prächtigkeit dienen dazu, sich von den anderen, auf die man bald als "Volk" herabschauen wird, abzusetzen und darüber hinaus all das zu genießen. Das ist insofern anders als im heutigen Kapitalismus, als sich heute diejenigen, die über wirtschaftliche und politische Macht verfügen, was "Bildung" und Verhalten angeht, nur noch graduell von den ohnmächtigen Massen abheben.

 

Der ritterliche und höfische Held und seine Vorstellungs-Welt

 

Das germanische Wort „Held“ verband sich mit zwei Bedeutungen, der des Kämpfers und Kriegers einmal und der seiner Freiheit, also seinem selbstbestimmtem Handeln andererseits. Solche Heldenkrieger werden zunehmend in zivilisatorische Strukturen eingebunden und gehören als Vertreter einer verherrlichten Gewalttätigkeit in der verschriftlichten und darum uns heute bekannten weltlichen Literatur zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert zur einzig literaturfähigen Herrenschicht. Einige Begriffe werden dabei in den hier behandelten Texten seltener, der vom helt selbst und der vom recken und noch seltener der vom wigant.

 

Wesentliches zivilisierendes Element ist dabei die zunehmende, auch literarische Einfügung dieser Helden/Krieger in fürstliche bzw. königliche Machtstrukturen. Damit sie nicht einfach Militärs, Krieger, sondern eben Helden sein können, werden ihnen darin aber erhebliche Freiheitsräume als Handlungsspielräume zugestanden. Neben der verwandtschaftlichen Bindung und der in Treue und Gefolgschaft entfaltet das literarische Rittertum des 11.bis frühen 13. Jahrhunderts für seine Helden eben auch ganz erhebliche Freiräume, wie sie das Ausreiten in Wald und Feld, die chevauchée, mit ihrer âventiure räumlich symbolisiert. Entsprechend verfällt es mit der Entfaltung von immer mehr Staatlichkeit und Kapitalismus im 13. Jahrhundert zunehmend manierierter Obsoletheit: Ritter sind nun zunehmend Leute, die nur noch ihren eigenen literarischen und sonstigen Vorbildern hinterherspielen. In Wolframs Parzival heißt es über einen solchen: von Kölne noch von Mâstreht kein schiltaere entwürfe in baz denn alse er ûf dem orse saz (P1,3,158). Das ist der Ritter auf seinem Ross, der bereits an gemalten Vorbildern gemessen wird.

 

Zwar wird bei Wolfram wie bei Gottfried die Vergabe von Lehen durch Herrscher geschildert, königliche Ritter, die Helden der Texte, stehen über einfach nur adeligen, aber der König ist auf den "Rat" seiner hochadeligen Gefolgschaft angewiesen, auch wenn sie ihm nicht nur im Nibelungenlied untertân sind (1,6). Soweit ein wenig Wirklichkeit. In der Artusrunde findet sich dann auch die Macht der Fürsten wiedergegeben, wenngleich sie tatsächlich ja im Kaiserreich sehr unterschiedlich gewichtet ist. Aber damit die Freiräume ritterlichen Heldentums gewahrt bleiben, unterscheiden alle Poeten zwischen der namenlosen Masse an Rittern und den wahren Helden, die darum oft königlichen Status erhalten. Im 'Parzival' des Wolfram wird die ganze bekannte Welt mit anonymen Rittern bevölkert, damit es genug königliche Helden über ihnen gibt, die nicht undertân sind.

 

Untertänigkeit passt nicht zum Helden, deshalb wird sie gerne aus der Wirklichkeit in den Dienst an der Frau transportiert, ja, Minne wird zum Antrieb par excellence für Abenteuerlust: die werden twanc diu minne dar (P2,75). Helden genießen geradezu die "Untertänigkeit" gegenüber verehrten Frauen, die Männer twingen (P10,532). Der mustergültige Held Feirefiz was wîben undertân (P15,751). Was die Troubadoure vorgesungen hatten, wird nun verändert ins Epos übertragen, ohne dass es um 1200 sonderliche Entsprechungen in einer dokumentierten Wirklichkeit gäbe. Den Tatsachen näher kommt, dass mit der Verehelichung die Frau dem Manne untertänig wird, da sie rechtlich in seine Hand übergeht. Und so kann und muss Belakane dann über Gahmuret sagen: mîn lîp und mîn lant ist disem ritter undertân (P1,45). Tatsache ist zudem, dass adelige Ehen arrangiert werden und die Liebe nachher einzuziehen hat und dann wohl wenig mit der literarischen Minne zu tun hat..

 

Untertänigkeit: Anders als die wenigen Helden sind fast alle Ritter/Krieger in den neuen Versromanen untertan und müssen dienen (NL20,1207) und fere homage (E4466). Siegfried will die Burgunden am Anfang besiegen, damit ihm lant unde burge untertân werden (NL3,93/108). Nachdem Brunhilde im Kampf unterliegt, sollen alle ihre Verwandten und Mannen Gunther untertân sein (NL7,464). Im Hunnenland sind viele Recken Etzel mit grôzen vorhten undertân (NL20,1212). Kondwiramur ist ein großes her undertân (P4,194). Überall Untertänigkeit, aber noch nicht unter Staatlichkeit, wie es sich in der Wirklichkeit und in den Städten insbesondere bereits andeutet, sondern unter Herrscher-Personen.

 

Wie weit das literarische Konzept Untertänigkeit reicht, bezeugt, dass Fischern daz wazzer undertân ist (es ist ihr Fischgewässer P5,225), und dass Gastfreundschaft als freundliche Floskel formuliert besagt, alles sei Siegfried bei den Burgunden untertân (3,125), stehe zu seiner Verfügung. Das klingt wie die spanische Höflichkeitsfloskel "mi casa es tu casa" und ist ebenfalls nicht so gemeint.

 

Und so gebieten viele, Gott zuallerst (P3,122), dann die königlichen Helden, dann die (Ehe)Männer über die Frauen: Gunther gebietet, Kriemhild gehorcht (10,610). Wenn dann der literarische Held Gahmuret zu Belakane sagt: vrouwe, gebietet über mich (P1,29), imitiert er nur die Wirklichkeit, indem er sie literarisch auf den Kopf stellt: Sie soll ihn erwählen, um sich nach der Verehelichung zu unterwerfen. Demokratie deutet sich an. Und so gibt es Frauen, die Männer vorehelich twingen (P10,532) und Feirefiz was wîben undertân (P15,751) - wenn auch nur, bis er sie dann "bezwungen" hat.

 

Untertänigkeit solcher Art führt, da edel ursprünglich frei bedeutet, nicht zu Gehorsam, der nicht vorkommt, sondern zu Folgsamkeit im "Gefolge" und zum Dienst, ein Wort, welches neuere Staatlichkeit dann eins zu eins für seinen Apparat übernehmen wird, der tatsächlich Gehorsam verlangt. Freiheit ist dabei damals allerdings als Begriff zu einem weiten Feld der Unklarheiten geworden. Vrîheit macht immer noch den Adel aus (P1,1) und geburt ist Stand und der darum Schicksal. Aber andererseits ist vrîheit Ebenbürtigkeit mit Königen, ohne Lehnsherrn über sich (P7,347), denn tatsächlich schwindet langsam auch die Freiheit des Adels zugunsten nur noch einer gewissen Privilegierung. Eine weitere Form von vrîheit als eine des jeweiligen Reiches von Fremdherrschaft existiert daneben: Mit dem Kindertribut verzichtet das Reich im 'Tristan' auf seine Unabhängigkeit und gerät in Fremdherrschaft (T10,6075). Eine höchstpersönliche Freiheit definiert Gottfried daneben für seinen königlichen Tristan: Er ist muotes unde guotes vrî, beides macht ihn frei (T15,11215). Noch individell-persönlicher ist die vrîheit von Tristan und Isolde dann, als sie sich heimlich treffen können (T22,14405). Und natürlich heißt weiter in der Regel vrî von etwas frei sein (z.B.P1,15 und 7,375: sorgen vrî) und dann auch einer Sache ledec sein (z.B. P13,630).

 

Der ritterliche Held dient bei Hofe, soweit er dort nicht der Herr ist, denn wer untertân ist, muss dienen (NL20,1207) - als Gefolgschaft (T2,333). Feirefiz sind mangen man dienstes undertân (P15,753). Etzels Verwandte und Gefolgsleute werden alle Kriemhild mit dieneste undertân (NL22,1382).

 

Der Dienst, servise bei Chrétien (z.B. E2998), überspielt in der Poesie die zunehmende Untertänigkeit in der Wirklichkeit. Der wichtigste Dienst ist natürlich in den Versromanen der der ritterlichen Gefolgschaft: Gahmuret nam nâch dienste aldâ den solt, nämlich bei Baruc (P1,14). Ritterlicher Dienst wird also be- bzw.entlohnt. Leistung bedingt Gegenleistung. Man kann sich Dienst verdienen (NL4,158), ja Dienst führt zu Gegendienst (NL20,1193 / P6,304).

 

Nicht Untertänigkeit, aber Dienst ist ehrenhaft, nämlich dort, wo er angebracht ist. Bei Gottfried neigt darum ungedienet zur Bedeutung von unverdient im neuzeitlichen Sinne (T13,9823). Siegfried widerseit den Burgunden unverdienet – sie haben es nicht verdient (NL3,114). Aber Feirefiz hat Parzival seine hulde gegeben, die ich mit dienste gerne erhol. (erdienen möchte, P15,759).

 

Gästen wird „gedient“ durch Guntheres man (NL13,783), was dann öfter gastfreundliches „bedienen“ meint (siehe NL20,1198). Dienen wird belohnt: Kunneware könnte denen, die ihr dienen, vil dienstgeltes geben, was aber nicht Geld sein muss (P6,327).

 

Dienest enbîten kann auch grüßen meinen (NL1494). Rüdiger bôt man grôzen dienest, was Grosse übersetzt mit: man erwies ihm große Ehrerbietung (NL20,1223). Siegfried soll in Worms der Kriemhild Gunthers und Brünhildes dienest bekunden (NL9,535), was Grosse mit Ergebenheit übersetzt. Ute bietet Siegfried dienest (N9,556) im Sinne von Dank. Der literarisch wichtigste Dienst noch vor dem des Ratgebens, der militärischen Gefolgschaft und der Teilnahme am Fest ist allerdings in den Versromanen der an den edlen frouwen und juncfrouwen, den dames und pucelles bzw. desmeiselles. Anders als bei der okzitanischen Liebeslyrik geht es hier aber für die Helden darum, mehr als nur zu verehren und das Herz der Dame zu gewinnen, es geht ums Ganze. Siegfried enbiutet Kriemhild holden dienst (NL9,551). Er will ihr dienen, um ihre hulden zu erringen (NL5,302). Bei Wolfram wird überhaupt vor allem Frauen gedient: Gawan zu Orgeluse: wer mac minne ungedienet hân? (...) swem ist ze werder minne gâch, dâ hoeret dienst vor unde nâch (P10,511, vor und nach der Erhörung).

 

Das verkehrt sich dann nach der Eheschließung ins Gegenteil: Herzeloyde nun zu Gahmuret: hêr, nu sît ir mîn, ich tuon iu dienst nach hulden schîn (P1,2,96).

 

Aber außerehelich heißt es im Nibelungenlied nach dem Turnier dâ wart gedient den vrouwen (10,599). Solcher Ritterdienst findet vor allem bei Festen statt und umfasst die ganze Palette höflichen Umgangs mit Frauen auch jenseits einer ernsthaften Bewerbung, wie sie vor allem deutsche Autoren beschreiben. Das beginnt beim Helfen in den und aus dem Sattel und geht bis zum höflichen Gespräch.

 

Die Räume zwischen Bindung/Unterordnung und Freiheit/Abenteuer sind literarische Konstruktionen wie der Artushof als ritterlich-weltliche und die Gralsgemeinschaft als ethisch definierte Struktur, Räume, die unübersehbar phantastisch sind, weil es so etwas in der Wirklichkeit nicht gibt und nicht geben kann.

Der literarische Raum der Freiheit ist umso weiter, je weniger Kriegertum christianisiert und zivilisiert ist. Definiert wird er durch das Abenteuer, die aus dem Vulgärlateinischen zu erschließende altfranzösische aventure, die besondere Begebenheit als Kampf-Erlebnis und Minneabenteuer eben. Sie findet vornehmlich in scheinbar herrschaftsarmen Räumen statt, zu denen man durch Wald und Wildnis, die grôzze wilde (Y2,969) gelangt, und wo der Held auf den Helden trifft oder auf märchenhafte Wesen, Drachen, Riesen, Zwerge, Zauberer. Das Reich der Freiheit ist allerdings um 1200 in Europa bereits weithin eine Fiktion und äußert sich dort vorwiegend als Gewalttätigkeit. Mit steigender Staatlichkeit wird es zur Welt des Verbrechens werden, einer Form strafbewehrter Insubordination, die aber immer noch Helden hervorbringen kann, von der sagenhaften Figur des Robin Hood bis zu den Mafiapaten der Filmindustrie.

 

Zunächst ist die phantastische Welt dieser Geschichten, Erzählungen eine einzige Aneinanderreihung von Abenteuern, von Zufällen, die einem geschehen, wenn er (nicht sie!) in die Welt hinausreitet: der helt nâch âventiure reit, heißt es im 'Parzival' des Wolfram (P14,679). Das passt einmal zu der Erziehung der Söhne und manchmal auch Töchter der adeligen Krieger, die in ein anderes Haus zur Ausbildung und zum Dienen abgegeben werden. Sie verbringen also die Zeit, die wir in der Neuzeit "Jugend" nennen, damals ihre späte Kindheit (sie sind kint, bis sie Ritter werden bzw. man sie verheiratet), mehr oder weniger in der Fremde.

 

Das passt auch zu den Darlegungen von Georges Duby über den Rückgang der Erbteilung und das sich durchsetzende Erbrecht des Erstgeborenen zumindest bei den Immobilien, was dazu führte, dass die anderen Söhne, soweit sie nicht Kleriker werden wollen, ihr Glück in der Fremde suchen müssen. In seinem kurzen Rundblick zu Isolde in 'Héloise, Isolde und andere Frauen im zwölften Jahrhundert' schreibt Duby als Konsequenz daraus: "ihr Bestreben, immer nur einen der Söhne zu verheiraten, um bei der Erbfolge eine Fragmentierung der angestammten Güter zu vermeiden, brachte die große Mehrheit aller männlichen Erwachsenen um die Möglichkeit einer rechtmäßigen Ehe." (S. 117) Das Abenteuer der Ritter ist also nicht nur ein kriegerisches, sondern oft auch ein erotisches. In der Einleitung zur Gachmuret-Geschichte legt Wolfram dar, dass Primogenitur französisch sei, aber auch schon in deutschen Landen zu finden (altest bruoder - ganzen erbeteil)

 

"Zu einer Zeit, da die Strukturen des politischen Unterbaus erstarkten, da die Fürsten sich nach Kräften bemühten, die Ritterschaft zu bändigen und im Zustand des Friedens zu halten, sie an den Höfen um sich zu scharen, eingebunden in jene großen mondänen Versammlungen, die gerade von der verlockenden Anwesenheit des weiblichen Geschlechts geprägt waren, stellte ein solches Gedränge hitziger oder stiller Verfolger um die Damen und die Edelfräulein einen Faktor der Unordnung dar, den es mit allen Mitteln einzudämmen galt." (s.o., S. 118)

 

Dem Abenteuer musste eine Richtung und Bedeutung gegeben werden, die die innere Ordnung von Fürstenherrschaft nicht gefährdet, und soweit lässt sich dann weltliches Fürstentum auf kirchlichen Beistand ein. Solche Fürstenhöfe wie die der anglonormannischen Könige und der normannischen Herzöge, der Könige von Franzien, der Grafen von Flandern oder der Champagne waren in ihrer Existenz von zunehmender Geldwirtschaft abhängig und förderten dabei zugleich die Propagierung idealer Lebenswege jenseits von Gelderwerb. Der jugendliche Held, also im hohen Mittelalter der Mann in seinen besten Jahren, wird literarisch auf hehre Ziele orientiert, und als Lohn gibt es eine edle Jungfrau.

 

Swer schildes ambet üeben wil, der muoz durchstrîchen lande vil (P9,499), heißt es da zum Beispiel. Gahmuret zieht so in die Welt hinaus: ich var durch mîne werdekeit ( um meine Ehre) nâch Ritterschaft in vremdiu lant. (P1,11) Und: strît und minne was sîn ger, sein Begehren (P1,35), und: die werden twanc diu minne dar (P12,75). Aber selbst die Ehe mit Belakane und ein großes Reich genügen dem Helden nicht: er sich vaste senen began, daz er niht ritterschefte vant, des was sîn vröude sorgen pfant (P1,54)

 

Ein Gutteil der Aventiuren ist in den Romanen eben nicht durch fehlendes Erbe begründet. Gahmuret und Parzival reiten, nachdem sie mit einer Königin auch ein Reich gewonnen haben, dennoch erneut aus zu Kampf und Streit. Und über Feirefiz heißt es überhaupt: Sîn gir stuont nach minne unt nâch prîses gewinne (P15,736). Erst die Gralsideologie wird ihn bezähmen. Liebesabenteuer und Kämpfe erscheinen als komplementärer Selbstzweck.

Kalogreant wiederum erklärt dem scheußliche und beschränkten Waldmenschen auf die Frage, was denn aventiure sei: ich heizze ein rîter und hân den sin, / daz ich suochende rîte / einen man .der mit mir strîte, und zwar um nichts anderes als prîs und wert (Y1,530). Gewalttätigkeit als fröhliche Freizeitbeschäftigung.

 

Soweit gibt es durchaus einen gewissen historischen Hintergrund für solche literarische Helden um 1200, aber es geht, da es sich bei Literatur vor allem um Unterhaltung und ausgeschmückte Propaganda dreht, nicht primär um kritische Auseinandersetzung, sondern um aus der Wirklichkeit flüchtende Phantasmen. Die Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens wandert in die Fiktion ab, wo sie bis heute für den größten Teil der Konsumenten literarischer Warenproduktion immer wieder fröhliche Urstände feiert.

 

Der wirkliche Ritter ist ein Krieger zu Pferde, mehr oder weniger adelig oder wenigstens Ministerialer, ein Krieger, der seit dem 11./12. Jahrhundert durch das adoubement, die Schwertleite oder den einfachen Ritterschlag zum Ritter gemacht wird, was ihn nun deutlicher definiert und von den übrigen Kriegern, den Soldaten abhebt. Aber neben die Kosten für korrekte Rüstung, Kampfpferd, Packpferd und den Knappen mit seiner Ausrüstung kommen zunehmend die steigenden für ein auszurichtendes Fest, wodurch Rittertum nun eines gewissen Einkommens in barer Münze bedarf und tatsächlich elitärer wird.

 

Andererseits ist Ritter-Sein für die höheren Kreise bis zu den Herrschern ganz oben inzwischen auch comme it faut, seitdem diese berittenen Krieger seit dem späten 10. Jahrhundert durch die Kirche aufgewertet und dann mit einem ganzen Wertesystem geschmückt wurden, und zwar parallel zur Entstehung einer "höfischen" Lebensform, die sich langsam über das ganze lateinische Europa ausbreitet. Werte und Verhalten unterscheiden sich dabei kaum nach Gegend, umso mehr aber nach dem materiellen Wohlstand, wobei um 1200 viele Ritter eher arm sind im Vergleich zu dem Hochadel, der in den Romanen gefeiert wird, arm wie Chrétiens vavasors (E384), die auch arm sein können, weil sie zu viel an guerre sein mussten (E515, im Krieg). Um angemessen höfischer Ritter zu sein, braucht man eben rîlîchez guot (T7,4406).

 

Chevalerie, ritterliches Kämpfertum (E295), deutsch ritterschaft, ist zum einen das, was Ritter pflâgen (NL1,10), also jene Ritterlichkeit, die idealiter mit Höfischsein zusammenfällt. Ritterlîch ist dabei das, was den Ritter positiv ausmacht (P1,1), und er zeigt das im Kampf, etwas spielerischer beim Turnier (NL21,1303, ebenso bei Wolfram P1,15 etc), aber eben auch sonst in dem Kampf, der zum Tod führen kann und oft für den Gegner auch soll (P1,1). Und da ritterlich sein, edel und höfisch sein idealiter zusammenfallen, kann auch Frau Herzeloyde ritterlîch sein (P2,104), wenn auch kein Ritter, so wie Lunete eine rîterliche magt ist (Y2,1153). Das Ideal verdeckt, wie schon einmal bei der Christianisierung der Sprache, mit einem frühen Jargon der Eigentlichkeit die Wirklichkeit.

 

Da Ritter zu allererst Krieger sind, haben sie das zu sein, was später tapfer und mutig sein wird. Das zweite Wort hat noch kaum diesen spezifischen Wortsinn, obwohl immerhin Dietrich schon zum letzten Kampf rehten heldes muot gewinnt (NL39,2322), und das erste fehlt noch. Stattdessen sind sie küene (NL34,2019) bzw. balt (z.B. P9,435) und vrech (P15,738) oder manlich, denn ritterliche Kühnheit ist manheit (P6,296). Bei Chrétien ist der Ritter preuc et hardiz (E673) und hat vaillanz (E1047). Die Helden an Etzels Hof sind frum, sie kämpfen nämlich wacker (NL33,1968).

 

Solche literarische Helden sehen stets dem Tod ins Auge, Degene vorhten niemenes nît (NL29,1757), sterben einen hêrlichen tôt (38,2299) im Kampf, unterwerfen sich aber auch und geben sicherheit, wie sie Parzival oft als Ehrenwort verlangt (P4,198 und ff). Außerdem gibt es bei Wolfram, dem solche schiere Gewalttätigkeit fragwürdig wird, den Helden, der ungerne starp (P5,266), und so heißt es auch von einem anderen: wand er dennoch gerne lebte (P12,602).

 

Das Gegenteil von kühn ist zage (z.B. P5,248) und schändlich, während feige noch totgeweiht bedeutet. Aber die Helden pendeln dennoch hochemotional zwischen dem hohen muot ihrer Kühnheit und Tränen andererseits, im Nibelungenlied in der 38. Aventüre sach man trehene gân, oder die Krieger sind bei Wolfram mit fliezenden ougen (P1,25). Gahmuret klagt (weint) mehr als ze mâzen und wird darum an seine manheit erinnert (P2,93). Daneben gibt es Freudentränen der Krieger zum Beispiel beim Anblick Gawans (P8,429) und Freudentränen Gawans bei der Ankunft von Artus (P13,661: von der liebe was daz weinen.) Marke wiederum weint vor Rührung über Ruals Geschichte (T7).

 

Ritter sind also in den Texten hochemotional, und ihr Gefühlshaushalt wird über Zustände des muotes ausdifferenziert. Erstrebenswert ist der hôhe muot, wie ihn Kampfesfreude, überhaupt Freude erzeugt oder aber Minne. Hohen Mut gewinnt man also im Kampf und in der Liebe: Feirefiz gewinnt hôhen muot, als si noch dem minne gernden tuot. Das Liebesbegehren lässt das herze höher schlagen (P15,736) dem, swer von wîbe ie muot gewan (T2,1776). Rüdigers Tochter wiederum spricht mit lachendem muote (NL20,1163). Man ist vrô gemuot (NL20,1185) und die Burgunden werden zu Etzel in hêrlichem muote reisen (NL24,1498). Übertrieben ist allerdings, wenn Helden mit ubermüete der hôchverte pflegen (NL3, 52) und auf diese Weise überheblich sind (NL4,165 / 18,1097 z.B. und T10,6443: übermüetekeit).

 

Muot kann also die ganze emotionale und Gefühlspalette beinhalten. Der muot kann zornec werden wie bei Brunhilde (NL7,460). Hagen spricht in zornes muote (NL29,1773). Jemand ist grimmes muotes (NL25,1544), Brünhilde hete trüeben muot (NL10,621). Kriemhild ist ob Siegfrieds Tod mit trûrigem muote (NL19,1100), und 20,1222 ist sie trûrec gemuot. Damen gelangen in ungemüete (NL14,845) wie auch Herren in zager muot (P4,182). Siegfried wird sanfter gemuot (NL3,125), besänftigt. Siegfried sagt denn auch zu Gunther: unt senftet iuweren muot (NL4,157). Man kann den muot auch trôsten (NL21,1297 / 22,1361, jemanden erfreuen).

 

Schließlich ist muot zunächst auch noch der Ort der Tätigkeiten von Verstand und Vernunft. Der muot von Gunther ist dann die Entscheidung, zu der er gelangt (NL4,145). Wollen kann muot zu etwas haben heißen (NL5,516), und muot kann die Absicht sein (NL20,1164), das, was Rüdiger plant oder Kriemhild (NL23,1402 / 28,1725, und ebenso bei Wolfram). Entsprechend hat Kriemhild unwilligen muot (20,1227), als sie Etzels Werbung nicht nachgeben möchte, und sie empfängt ihre Verwandten an Etzels Hof mit valschem muot (28,1734). Eine Einsicht ist die der Burgunden, dass ihnen bei Etzel Unheil droht, und das sagt in vil wol ir muot (NL25,1518).

 

Muot ist ein innerer Zustand, der zunehmend auch im Herz verortet wird. Schon bei Chrétien heißt es: car diax que l'an face de boche ne vaut neant, s'au cuer ne toche (Schmerz, den man mit dem Mund äußert, ist nichts wert, wenn er nicht aus dem Herzen kommt, E5781f). In Gottfrieds Liebesroman wird Herz zum Schlüsselbegriff, der oft muot ersetzt: edelen herzen z'einer hage, den herzen, den ich herze trage, der werlde, in die mîn herze siht. (Weil das so programmatisch im Prolog steht: Er schreibt edlen Herzen zur Freude, für Herzen, denen er sein Herz zuwendet, und für eine Welt, in die sein Herz sieht. T1,47ff). Wie nahe Herz und muot beieinander sind, zeigt die Stelle über das Gewand des idealen Ritters, diu von des herzens kamere gât, die sî dâ heizent edelen muot (T8,4881ff). Swaeres muotes (T1,4,2602 und herzesmerze (T1,7,4223) sind dementsprechend praktisch austauschbar.

 

Aus dem muot, der trübe oder traurig ist, wird auch das herze swaere (T2,765), aber Gottfried trennt nicht klar, es gibt auch: swaeres muotes (T1,4,2602), bis heute als Schwermut erhalten.

 

Innig als innerlich gehört zum Herzen, und so ist inneclîche guot von Herzen gut (T1,173), so wie etwas auch inneclîche leit tut (T20,13596). Mit dem Herzen werden innen und außen stärker getrennt. Isolde in elliu herze schîne! (T12,8284) und bei Hartmann möchte Iwein, dass Laudine mich in ir herze legen (Y2,1637). Außen und innen interagieren nun stärker. Die Empathiefähigkeit steigt (T7, Einer weint und andere weinen mit). Inneclîche und liebe/minne/Gefühl gehören zusammen, und ebenso Liebe und Herz (swer inneclîche liebe hât, doch ez im wê von herzen tuo, daz herze stêt doch ie dar zuo. T1,108ff), während es direkt danach auch wieder heißt: der inneclîche minnen muot bringt senegluot, Liebessehnen. Bei Verliebtheit ir begunde ir herze quellen (T17,11975) Reine Liebe ist dann das, wodurch das Herz geherzet wirt (T1,118). In herzeliebe fällt das beides zusammen (T1,185). Das ist schon intensiver als Lieben de boen cuer bei Chrétien (E3363).Tristan schließlich ist ein geherzet man (beherzt, mutig, T15,11333), womit er keiner äußeren Form mehr genügt, da seine Beherztheit von innen kommt..

 

Mit der Verortung von Gefühl im Herz kann weiter getrennt werden: Herz und Kopf tauchen als herze und ôren auf, mit denen man seiner maere begegnen soll (T1,243). Hartmann behauptet sogar: maniger biut diu ôren dar - ern nemes ouch mit dem hercen war, sô ne wirt im niuwan der dôz, ohne das Herz hören die Ohren also nur Geräusche (Y1,251). Es gibt die Doppel von des lîbes und des herzen (T10,6044) und von sîn herze und sîn sin (T11,7501).

 

Mit der deutlicheren Trennung von innen und außen, von Kopf und Gefühl wird das Herz zum Ort der Wahrhaftigkeit. Isolde lügt Marke an, sie wende Tristan herzelôse ougen und herzelôsen mund zu (T2,21). Marke versteht Isolde so, dass sie nur ûzerlîche minne gegenüber Tristan habe (T23,15026), so wie bei Hartmann truogefreude (...) niht des hercen ist (Y8,4421). Das Gegenteil ist, wenn man ûz vollem herzen spricht (T4,2666) oder wie Isolde weint vil inneclîche (T19,13263).

 

F.Ohly zeigt in seinem schönen Aufsatz 'Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen', wie die Bildersprache der Bibel, eines Paulus und Augustinus, die der neuen Marienlyrik und der Cantus-Canticorum-Texte eines Bernhard von Clairvaux die Bildlichkeit des Minnesangs und der Heldenromane vorbereiten.

 

Dabei geht Gottfried diesen Weg nicht bis zum Ende mit. Zwar ist auch bei ihm das Herz jener Ort, der bei den geistlichen Texten die Seele (anima) markiert, aber die Innigkeit des Gefühls, wie sie das ich bin dîn, dû bist mîn, dû bist beslozzen in mînem herzen: verlorn ist daz slüzzelîn: du muost immer drinne sîn formuliert, verharrt bei ihm ganz als Drängen der Leidenschaft, wiewohl er seine Text-Vorläufer durchaus darin verändert.

 

Der Meister der Transformation der geistlichen in die weltliche Minne ist wohl Heinrich von Morungen: ein minneclîchez wunder dô geschach / Sie gie mir alse sanfte dur mîn ougen / daz sî sich in der enge niene stiez. / in mînem herzen si sich nider liez. (In: F.Ohly, Schriften, S.133) Verinnerlichung schafft "Innigkeit", eine Gefühlsintensität, die sich nicht gleich emotional entlädt.

 

Im Nibelungenlied ist das Herz, wohl unter Rekurs auf die archaischeren Vorläufertexte, noch nicht das Zentrum von Gefühl und Verstand. Im 'Parzival' wird die Verinnerlichung des Begehrens in den metaphorischen Raum des Herzens wesentlich weiter getrieben Herzeloyde erobert das Herz Gahmurets und: hêr, nu sît ir mîn. ich tuon iu dienst nâch hulden schîn (96,7f). Gawan "verliebt" sich in Orgeluse, und: Orgelûse kom aldar / in Gâwans herzen gedanc ... wie kom daz sich dâ verbarc / sô grôz wîp in sô cleiner stat? / si kom einen engen pfat / in Gâwânes herze / daz aller sîn smerze / von disem kumber gar verswant. (584,8ff)

 

Dennoch: Der Weg zum Begehren führt über die Augen. Orgeluses Anblick ist es, der Gawan den Verstand raubt: mîn ougen sint des herzens vâr (P10,510), und alles in allem zählt in unseren Versromanen noch ganz das Außen, welches sich aus Begriffen von Zucht, Tugend, Ehre, Treue und Sitte zusammensetzt, dem schönen Schein ritterlichen Heldentums.

 

Zucht nominalisiert des Vorgang des Ziehens und dann des Heranziehens von Tieren (was in den Heldengeschichten keine Rolle spielt), und ist von daher als Erziehung auf die Menschen übergegangen. Die neue Ritterlichkeit und höfische Art ist etwas anerzogenes, weswegen höherer Adel seine Kinder an herausragende Höfe zur Erziehung schickt. Bei Parzival versäumt das seine Mutter ganz bewusst, weswegen erst Gurnemanz ihn erzieht: dar nâch wart wilder muot vil zam (P3,170). Solche "Zucht" beinhaltet vor allem ein höheres Maß an Impulskontrolle in immer mehr Bereichen. Dies scheitert schon mal bei der auch deswegen merkwürdig aussehenden Cundry, denn ir zuht waz vertobt (durch ihren Zorn, P6,312). Siegfried meint dazu: Man sol vrouwen ziehen, daz si üppecliche sprüche lâzen under wegen (NL14,859, sonst kommt es zu ungefuoge).

 

Solche Impulskontrolle mit folgendem anerzogenem Verhalten betrifft den gesamten Alltag. Man empfängt und verabschiedet Leute, als in ir zuht gebôt (NL20,1284) oder in riterlichen zuhten (6,369). Man grüßt gezogenliche (NL24,1436), küsst sich zur Begrüßung, daz wart durch zuht getân (10,584). Zur Zucht gehört auch die korrekte Entscheidung, wen man mit einem Kuss begrüßt und wen dabei mit einem Kuss auf den Mund. In P1,22 wird überlegt, ob jemand ebenbürtig genug sei, um einen Begrüßungskuss zu bekommen. Küssen gibt es auch altfranzösisch korrekterweise come cortois (E1787).

 

Irzen und duzen passend anwenden bedeutet ebenfalls zuht (P2,15749). Hagen spricht gezogenlich (NL28,1717) oder man spricht zühteclichen (24,1448). Der Gang Kriemhilds ist mit zühten (6,346), mit vil grôzen zühten (10,584). Siegfried geht hêrlich (14,814). Man steht vor jemandem auf durch grôze zuht (20,1182). Essen wart mit zühten vür getragen (P1,32 und wörtlich wieder P13,637). Das selten auftretende Gegenteil von zuht, aber auch von diemüet bei Wolfram ist lôsheit (u.a. P9.473 / P15,749); die verlogene Isolde ist lôs und lôset (heuchelt, T21,14004), "lose Mädchen" gibt es ja noch im Barock, und bei Hartmann sind sie auch ungezogen (Y8,5012), aber gemeinhin ist man "züchtig", und das ist es ja wohl auch, was das Publikum hören will. Wenn Iwein âne zuht hinter dem halbtoten Herrn und Gatten von Laudine hinterherjagt (Y2,1056), um ihn vor seiner Burg zu erslagen, dann ist das deswegen in Ordnung, weil er so zu Laudine und dem Problem mit ihr gelangt, aber nur, weil es die Geschichte vorantreibt.

 

In den Heldenromanen wirkt solch "züchtiges" Verhalten so, als ob unentwegt ein Schauspiel aufzuführen wäre, manchmal geradezu große Oper. Impulskontrolle heißt dabei immer häufiger, die rehten mâzen zu finden (P2,9489, das rechte Maß). Isoldes trite sind dann gemezzen (T15,10989ff). Mâze ist allerdings noch selten im Nibelungenlied und bei Wolfram (aber z.B. P4,223). Tristan haete sîne mâze an rede und an gelâze (T4,2740). Rual soll die mâze an dem guote einhalten (T7,4518). Im Altfranzösischen des Chrétien ist der schlechte Ritter desmesuré (E228), was bei der Schönheit allerdings wie in den deutschen Texten positiv ist: Enide a bele a desmesure (E1464).

 

Die interessanteste Abhandlung über mâze, das rechte Maß, findet im vierten Kapitel von Hartmanns 'Iwein' als Vortrag des vorbildlichen Ritters Gawein statt. Der verweist auf Erecs verligen im gemach als abzulehnenden Extremfall mit der Ausrede, sich um Haus und Hof kümmern zu müssen, den er mühsam durch Abenteuer wieder gutmachen muss. Wenn er sich nicht mehr um rîterlîchen siten kümmert und nicht mehr regelmäßig auf Turnieren kämpft, si muet, ist er ir ze ofte bî (2872). Er soll also wieder für eine Weile von ihr urloup nehmen. Das führt dann bekanntlich zu erneuter Kampfbegeisterung im Übermaß, die ihn die Frist für die Heimkehr überschreiten lässt, das andere Extrem des fehlenden rechten Maßes.

 

Während die mâze das rechte Maß findet, ist bei Gottfried mehr als bei Wolfram die vuoge das, was sich richtig fügt, bzw. gefügt wird, also das Gegenteil von dem, was neuhochdeutsch dann Unfug ist, während unvuoge bei Gottfried noch unschicklich meint (T19,13168). Isolde ist diu gevüege künigîn (T19,13134) und Tristan hat vuoge und sîne sinne (T20,13455).

 

Eine neue Zeit kündigt sich damit an, dass zu Feirefiz Erziehung wohl Lesen und Schreiben gehörte, denn er kann mit tincten unde permint umgehen (P15,785). Überhaupt schreibt man im 'Parzival' Briefe, auch wenn der selbst offenbar des Schreibens unkundig ist. Tristan lernt neben Jagen und Kämpfen lesen und Fremdsprachen, was ihm allerdings seine kindliche vrîheit nimmt. Aber mit solchen "Künsten" ist er eher die Ausnahme, Höfischsein und Ritterlichkeit kommen gut ohne aus.

 

Was anerzogen wird, sind Verhaltensweisen, ist "Art", eben zuht. Sie entfaltet sich in in den Texten eher seltener auftauchender "Tugend". Sie ist vom Ursprung her das, was am Menschen taugt und somit positiv bewertet ist. Der junge Siegfried nam an sich tugende (NL2,21), entwickelte sie, wie Grosse übersetzt. Bald ist er an allen tugenden ein riter küen unde guot (NL4,228). Kriemhild pflac vil guoter tugende, indem sie von ihrem Schatz verschenkt (NL19,1124). Helche pflac grôzer tugende (NL21,1329); sie ist ebenfalls freigiebig). Tugend ist es, die gefangenen Feinde gut zu behandeln (NL4,246), denn sie werden dann als Geiseln viel Geld einbringen. Es handelt sich bei Tugend noch nicht um eine moralische Größe.

 

Kriemhild grüßt Siegfried mit minneclichen tugenden (NL5,289) Brünhilde verlässt ihr Reich in tugentlichen zühten (8,523) Tugent riet Giselher, jemanden zum Abschied zu küssen (NL27,1707).

 

Kriemhild verlangt von Dietrich tugentlichen muot (33,1982), indem er ihr helfen soll. Den hat Rüdiger (NL37,2181), wie Gernot meint. Tristan ist sehr getugendet (T14,10127), worunter Gottfried auch eine Reihe erlernter Fertigkeiten versteht, und er hat ein tugenthaftes herz (T14,10774), weswegen es bei ihm maneger hande tugent gibt (T5,3127), die auch vuoge ist (z.B. T7,3219).

 

Eine Besonderheit ist bei Wolfram, dass Sigune zum jungen Parzival sagen kann: du hâst tugend, obwohl er noch fast ganz ohne zuht ist (P3,139). Diese Tugend ist angeboren und darum recht ungewöhnlich, spricht aber für hohen (Geburts)Adel. Und beim vielleicht wohl bürgerlichen Autor Gottfried kann sogar ein Kaufmann tugentlîchen muot haben (T5,3106), was sehr aus der Reihe fällt.

 

Im Altfranzösischen funktioniert die sprachliche Konstruktion von Tugend mit seiner germanischen Wurzel nicht, am nächsten kommt vielleicht bontez (E1682/2420etc.) während vertu eher Tapferheit ist (E1699), der Kern der lateinischen virtus.

 

Wann immer die Ritter des literarischen Heldentums auf Aventüre ausreiten, oder wo immer sie sich aufhalten, Ehre ist das, was sie vor allem erstreben und benötigen. Ehre erwirbt man vor allem beim Sieg im Kampf, in der Minne und indem man schenkt, also milte ist. Für das alles, die Krieger-Ausrüstung, die Minneabenteuer und den Schatz, aus dem man austeilt, ist viel Besitz wichtig. Dieser also ist die Grundlage der êre. Deshalb gehören êre unde guot zusammen (NL4,172). Durch prächtige Kleidung erreicht man dann lob unt êre (9,565), indem man seinen Reichtum demonstriert. Man gewinnt (literarische) Ehre aber vor allem durch den Kampf mit einem gleichwerten Helden. Lützel êre hätte Dietrich, wenn er den erschöpften Hagen erschlüge (NL39,2348), der kein adäquater Gegner mehr ist. Prîs und êre geht dennoch nicht mit senfte und gemach zusammen (T7,4427), weshalb Erecs Ansehen schwindet und er verspottet wird. Aber: Swen wîp lobent, der wirt erkant (bekannt, berühmt, P1,32).

 

Ehre ist Ruhm und Ansehen, die man bietet und erhält. Man bietet êre (NL3,127 / P14,697, baert sie T19,13151), Kriemhild geschieht êre mit Etzels Antrag (NL20,1210). Das Gegenteil ist schande (NL6,342) oder laster (P11,581), die man sich schon macht, wenn die Kleidung nicht prächtig genug ist (NL6,358). Ohne Ehre muss man sich schämen (NL20,1263). Hagen sagt, Feiglinge werden schameliche tôt erleiden (NL25,1580).

 

Beim 'Parzival' kommen zur êre noch der von Chrétien stammende prîs und die werdekeit (P1,2 / P3,169 / P13,660 etc.). Preis und lop scheinen dabei fast synonym zu sein und tauchen auch als lobelîcher prîs auf (P1,4, bei Chrétien le pris et le los: E574). Zu Gahmuret heißt es: Sîns herzen gir nâch prîse greif (P1,15). Vom prîs ist es dann nicht mehr weit bis zum lob bei Gottfried. Der unterscheidet auch werltlîche êre (T7,4416) wohl als sehr irdische. Lob und Preis setzen natürlich in der Regel jede Form von zuht voraus. Das geht soweit, dass es unehrenhaft wäre, nicht standesgleiche Damen zu küssen: sô küsset diese vrouwen drî. dâ sît ir lasters an bewart: si sint erborn von müneges art (P12,591).

 

Edle Frauen haben ebenfalls nicht nur zuht, sondern auch wîplîch êre (P14,696) und wîplichen prîs (P2,94), nämlich Ansehen wie Kriemhild (NL20,1201) oder Floraete (T3,1907). Bei ihnen werden sie durch kiusche und triuwe vor allem aufrechterhalten, über die scham wacht (P1,1), aber ihr wesentlicher Ursprung ist wohl tatsächlich, dass die Ehre der Eltern oder des Ehemannes auf sie abstrahlt. Hagen hat Kriemhild mit dem Mord an Siegfried êre genommen (NL23,1389). Dass Enide ihren Erec dazu anstachelt, wieder Heldentaten zu vollbringen, liegt auch daran, dass sie mit ihm zusammen ihre weibliche Version von êre verliert.

 

Ehre als etwas rein äußerliches gibt den Rang in der zunehmend regulierteren hochmittelalterlichen Zivilisation wieder. Was aber êre über den bloßen Schein hinaus wert ist, zeigen die eigentlich doch ehrlosen Ehebrecher Tristan und Isolde bei Hofe: ine hân dâ keinen zwîvel an, an iu sî triuwe und êre (T22,14462) Falsch sei es, Freundschaft vorzugaukeln, nicht aber, jemandem offen zu schaden (T2,24). Aber was denn macht das "falsche" Liebespaar?

 

Dem rehabilitierten Tristan wird am Hof êre ûzerthalp des herzens geboten, aber: swaz êren ime die bâren, dâ was vil lützel êren bî (...) dâ diu emblanze geschiht, weder ist ez êre oder niht? ich spriche nein unde jâ. (...) ez ist êre âne êre (T25,16317). Da taucht ein Ehrbegriff auf, der übliche höfische Normen überspringt: Der Autor ehrt, wen höfische Normen eigentlich nicht ehren können und dürfen.

 

Als Marke Isolde nach der Minnegrotte an den Hof zurückholt, hat er sie nicht z'êren, wan ze lîbe. (T29,17727) Es ist ein êrlôse leben, aber die beiden "betrügen" ihn nicht, eher er sie, ist ihre Liebe doch offenbar, bei ihm nur das Begehren. Das gelange (Verlangen) Markes ist schuld, und es wird durch ihre schoene ausgelöst. Ist der Ehemann etwa der wirkliche und ehrlose Betrüger? Tristan und Isolde sind aber immer dann nicht ehrlos, wenn ihnen Ehre geboten wird, wie ehrlos sie sich auch heimlich betragen. Ist das ein Problem für den Autor aus Straßburg? Allem Anschein nach nicht.

 

Bei Gottfried taucht Treue, noch ein Wort aus dem altgermanischen Repertoir, als Aufrichtigkeit auf, als Gegenteil von Betrug (T21,13760), also als eine Grundeinstellung, wie auch im Nibelungenlied. Gunther kommt zu Etzel ûf triuwe (36,2088). Kriemhild hat die Burgunden âne triuwe inz lant geladet (NL29,1770), und untriuwe hat Siegfried den Tod gebracht, meint Siegmund (NL18,1071). Aber: Isolde ist ihrem Ehemann und Tristan sexuell untreu, indem sie mit beiden das "Beilager" pflegt. Und Tristan ist Marke untreu, indem er ihn mit Isolde betrügt, und er ist Isolde Blondhaar sexuell ungetriuwe mit Isolde Weißhand (T30,19142), dieser aber gefühlsmäßig untreu: ich minne zwô Isolde (T30,19155), und so ist er verirret und verkêret. Das dazugehörige Wort ist trügeheite (T30,19403). Am Ende versucht Tristan sich selbst zu rechtfertigen und scheitert dabei, zum Beispiel mit dem Argument, die blonde Isolde habe immerhin ihren Ehemann, mit dem sie regelmäßig schlafen könne (Stichwort: ir sît gesellen).

 

Gemeinhin meint Treue persönliche Verbindlichkeit, die auf einem Versprechen beruht. Dazu gehört Aufrichtigkeit, denn Treue ist das, worauf man vertrauen kann. Der ungetriuwe ist nicht vertrauenswürdig. Bei Wolfram ist mit triuwen jähen etwas aufrichtig sagen (P2,65 z.B. auch: Der wirt sprach mit triuwen, P11,557) und das tut auch Lunete gegenüber Laudine, als sie ihr Iwein als neuen Mann, Herrn und Beschützer schmackhaft machen möchte und ihre triuwe dabei betont, ihre Aufrichtigkeit (Y3,1983). Das neuhochdeutsche "meiner Treu" ist: ûf di triuwe mîn (NL4,142 / 31,1858) oder ûf dien triuwe dîn (P1,21). Getriuwe liute (P5,224) sind bei Wolfram vertrauenswürdig. Der getriuwe ist vriundes êren vrô (P13,675). Bei Hartmann lässt sich die reine triuwe der einen der drei Damen gegenüber dem verrückt gewordenen schlafenden Iwein als aufrichtiges Mitgefühl verstehen, wie es Krohn auch übersetzt (Y5,3390).

 

Zuallererst ist Treue in den personalen Machtstrukturen die des Mannes zu seinem Herrn. Nach seiner Entscheidung für Kriemhild sagt Rüdiger den Burgunden: der triuwen wil ich ledec sîn (NL37,2172, der spezifischen Treuebindung). Siegfried war immer getriuwe (NL14,865), weswegen man ihn nicht töten dürfe, heißt es. Und Gunther singt das Loblied der Treue über den Tod hinaus: ni dienest wart sô guot, sô den ein vriunt vriunde nâch dem tôde tuot. Daz heiz ich staete triuwe, der di kan begân, ir lônet im nâch schulden. Er hâr iu liebes vil getân (NL38,2261, es geht um das Begräbnis Rüdigers.)

 

Dienen und verdienen sind durch Treue verbunden, Triuwe gebietet Dienst (NL21,1287). Kriemhild findet, daz ir (Siegfried) habt verdienet, daz iu die recken sint sô holt mit rehten triuwen (5,301). Natürlich ist Treue Teil der Minne und der Ehe. Siegfried will Kriemhild mit triuwen dienen (NL9,545). Kriemhild will dankbar Siegfried mit vriuntlichen triuwen dienen (9,558). Sie ist Siegfried getriuwe bis in den Tod (NL19,1139). Aber: Bei Abwesenheit des Helden immer triuwe jâmer tregt (P2,103, zu Herzeloydes Traum von Gahmurets Tod), was allerdings offenbar nicht für Kondwiramurs gilt.

 

Dazu kommt verwandtschaftliche Treuebindung. Gunther bewegt triuwe gegenüber Schwester Kriemhild (NL20,1210). Der Bruder an Gahmuret bruoderlîche triuwe mêrte (P1,1). Schließlich ist Treue auch Teil von Freundschaft. Rüdiger könnte Frau und Kinder Gernot getrûwen, anvertrauen (NL37,2184). Eckewart will Kriemhild mit triuwen bis in den Tod dienen (20,1280).

 

Das altfranzösische les foiz (E1215) gibt die Palette von Treue hingegen nur unzulänglich wieder. Einen Aspekt spiegelt, dass Enide eine leal dame ist (E3792).

 

Treue ist Teil einer verbindlichen personalen Beziehung. Deshalb schwindet das Wort in der Neuzeit staatlicher Untertänigkeit in die eheliche Treue und gerät mit der Abwertung der Ehe im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts in Misskredit. Treue wird nun durch Gehorsam in den Machtstrukturen ersetzt und durch Unverbindlichkeit in einer alles zersetzenden Warenwelt.

 

Was von solcher Wertepropaganda zu halten ist, zeigt uns aber nicht nur das Nibelungenlied, dessen Triebkräfte geradezu dank Werteorientierung Lug und Tug und Mord sind, sondern auch die Tristangeschichte: Tristan (und dann auch Isolde) lügen und betrügen, operieren wie dann auch notgedrungen Marke mit List und Tücke, sind untreu, es werden Morde plant und es wird sexuell schamlos intrigiert. Ob es das ist, was uns Gottfried zeigen möchte, bleibt unklar, sind doch alle Beteiligten zugleich edel und lobenswert.

 

Marke verspricht Tristan, nie mehr zu heiraten und ihm so das ganze Erbe zu erhalten, schickt dann aber ausgerechnet diesen nach Irland, um für ihn um Isolde zu werben. Nach Markes Wertevortrag kehrt Tristan heim in sein Reich und rächt sich mit brutalster Grausamkeit an Morgan: Ohne seine Dauer-Verliebtheit in Isolde wäre er wohl ein brutaler Schlägertyp wie die Helden des Nibelungenliedes geworden oder wie der edle Gawan.

 

Gewalttätigkeit

 

Physische Gewalt macht den ritterlichen Helden der Versromane vor allem aus, ritualisiert und angereichert durch höfisches Gehabe. Solche Gewalt bildet denn auch ihren umfangreichen Kern. Körperliche Gewalt ist bekanntlich die männliche Seite der Menschenwelt, der Mann hat etwas mehr und besser trainierte Muskelkraft, die dazugehörigen Hormone, wie man heute weiß, und die Frau bekommt die Kinder und ist so davon eher ausgeschlossen und konzentriert sich darum schon mal auf verbales Gift. Tapfere Männlichkeit, manheit, war also zunächst einmal aggressive Gewalttätigkeit, jene, in der sich auch ihre "Freiheit" behauptete.

 

Jenseits dieser anthropologischen Konstanten entsprechen dem die historischen Tatsachen: Die Reiche bzw. lante der Romane waren einst im Zuge von Gewalt, Eroberung, Kriegen und Formierung von Herrschaftsstrukturen entstanden. Sie funktionieren wie Kolonialsysteme mit einer arbeitenden Bevölkerung und einer von ihr profitierenden Herrenschicht, die die produktiv Arbeitenden mit latenter und offener Gewalt unterdrückt hält und sich dabei einer Religion und ihrer Priesterschaft bedient. Aus dieser Ordnung wachsen ein Stück weit die Bürger der Städte heraus, um schließlich von einer neuartigen Staatlichkeit, die sie zunächst durch parallele Strukturen mitprägen, nach und nach verschluckt zu werden und in allgemeinere Untertänigkeit einzugehen.

 

Aus dieser bewaffneten Herrenschicht stammen die Helden der Ritterromane, vorwiegend Könige und Königskinder. Gewalt herrscht immer wieder und fast unentwegt innerhalb der Reiche und Fürstentümer, damit die Ritter ihre Zweikampf-Abenteuer erleben können, und zudem zwischen den Reichen als Krieg. Gewalt wird eingeübt auf der Jagd und wirklichkeitsnäher in manchmal tödlichen Turnieren (NL21,1303, ebenso bei Wolfram P1,1,15 etc). Kampfbegierig sind sie alle, die Helden, wie Segramors, der ie nâch strîte ranc, swâ der vehten wânde vinden, dâ muose man in binden (P6,285)

 

Walten, welches im Nibelungenlied nicht auftaucht, heißt stark sein und Stärke unentwegt zeigen, herrschen und beherrschen. Gawan wird vielleicht dises landes walten (des Klingsor-Reiches P11,560). Das heißt Macht ausüben, und das heißt Herr sein und herrschen. Maht taucht aber selten wörtlich in den Texten auf. Körperkraft ist manchmal maht (P11,580). Grôziu maht ist gelegentlich auch ein großes Heer (P7,376, auch: strîteclîchen maht, P8,410). Oft aber sind gewalt und maht verständlicherweise identisch (P13,658 z.B.). Mächtig ist gewaldec, wie es Hagen z.B. ist (NL13,793) und Kriemhild im Hunnenland werden soll (NL20,1166). Brunhilde übergibt Gunther die Herrschaft, daz er dâ solde haben gewalt (NL7,466). Etzels hêrschaft (NL21,1331) beruht darauf, dass er viele Fürsten betwungen hat (NL20,1232). In seinem Reich hat Rüdiger unter dem König gewalt den meisten bî Etzeln (NL37,2135, Einfluss, Macht). Helche hatte gewalt über manige vrouwen und viele Männer waren ihr undertân (NL20,1233). Bei Wolfram hat Gewalt oft eine ähnliche Bedeutung, z.B. in dem Ausdruck der gewaltic man (P1,13). Nînus der gewaldes pflac, herrschte also (P2,102), und Arnîve gebôt mit ir gewalte, ihrer Macht (P11,581). Ein gewaltec man von der stat Askalon hat dort Amtsgewalt (P8,429), was es auch noch gibt. Eine Besonderheit existiert außerdem: Im Kampf innehalten verlangt gewalt vil grôzer, also Selbstbeherrschung, Macht über sich selbst, im weitesten Sinne Zucht (NL33,1987).

 

Aber meist ist gewalt schiere Waffengewalt, die force des Chrétien, manchmal bezeichenderweise bei Gottfried auch craft. Solche Gewalt, die immer auch zum Tode führen kann, dem eigenen und dem des Gegners, ist geradezu alltäglich. Tatsächlich nimmt in der Wirklichkeit die Haltung ab, die Fürsten im Krieg in die vorderste Linie des Kampfes führt, und wenn, dann sind sie ringsum meist von Beschützern umgeben. Könige sterben wie im Nibelungenlied eher zuletzt als zuerst. Da nun aber die Helden der Literatur fast alle königlich sind, müssen sie im Land der dichterischen Phantasie vor allem Einzelkämpfer im Zweikampf sein, also eher so die kriegerische Seite ihres "Rittertums" beweisen.

 

In der historischen Wirklichkeit wird damals etwas seltener so massenhaft gestorben und schwer verletzt wie im Roman. Wer vom Pferd gestoßen wurde und den bewaffneten Gegner über sich hat, wer verletzt oder entwaffnet am Boden liegt, wird von den Helfern des siegreichen Ritters, ohne die der nicht einmal in den Kampf ziehen kann, gefangen genommen, damit man aus ihm Geld herauspressen kann. Auch im Nibelungenlied klingt anlässlich des Sachsenkrieges an, dass es meist ganz zentral um Geiselnahmen geht (gîsel), darum nämlich, von den Verwandten oder abhängigen „Mannen“ Gelder abzupressen, wobei diese in der Regel als Silber und Gold bezeichnet werden. Bekanntester Fall dieser Art Geiselnahme ist der von Richard Löwenherz genau in dieser Zeit.

 

In der Literatur scheint edelste Aufgabe der Helden zu sein, mit dem Schwert auf andere einzu“schlagen“, Helme zu „spalten“, mit der Lanze Schilde zu "durchbohren" und mit Wurfspeeren durch Rüstungen in den Körper einzudringen. Sie tun das im „Dienst“ für ihren Herrn, im „Dienst“ für eine Dame oder einfach, weil ihnen gerade danach ist. Das hei des Nibelungenliedes, wenn das Stoßen, Schlagen und Metzeln im Gange ist und immer mehr Blut fließt, zeugt von der Lust am Waffengang: In ihm erfüllt sich Männlichkeit – jedenfalls mehr noch als mit der edlen Frau im Bett. Und die lässt niemanden zwischen ihre Beine, der nicht sein Soll an Niedergestochenen, Geschlagenen, Durchbohrten und Zerhackten erfüllt hat.

 

Im Krieg der Burgunden gegen die Sachsen werden schon mal 30 Helden von Siegfried kurz hintereinander erschlagen. Helme werden gespalten, Lanzen zerbrechen, Schilde zerbersten, das Blut fließt ganz wunderbar, es fließt über die setele (Sättel), von Siegfrieds Hand geht ein blutiger bach aus (NL4,203).

 

Diese Gewaltverherrlichung ist nun nicht nur literarische Befriedigung eines Unterhaltungsbedürfnisses, sie taucht genauso in den nichtfiktionalen Quellen auf. Auch ein Kirchenmann wie der Bischof Otto von Freising lobt die kaiserlichen Otto II. und III. als tam feroces, tam mirabiles (Chronik, S.470), was sie als so wunderbar wie von wilder Kampfeslust erfüllt beschreibt, was dem ersteren den Beinamen Sanguinarius eingetragen habe, was sich als der Blutrünstige übersetzen ließe.

 

Das neuzeitliche, zunehmend moralisch besetzte Wort "gewalttätig" taucht natürlich noch nicht auf, da Gewalt fast immer positiv besetzt ist. Als Bezeichnung einer Eigenschaft wird es erst seit dem Barock verwendet werden, vor allem um Gegner zu diffamieren und zu kriminalisieren. Damals war das anders. Erec schlachtet einen Raubritter ab: das Schwert fährt durch das Kinn in die Kehle, durch Knochen und Nerven, und auf der anderen Seite wieder heraus. Das Blut fließt, l'ame s'an va, li cuers li faut (E3019). An anderer Stelle heißt es, Erecs ganzer Körper an sanc baignoit, badete im Blut (E4562).

 

Erec und ein Riese, den er mit der Waffe trifft: an luel si par mi outre le cervel que d'autre part le haterel li sans et la cervele an soaut (so durchs Auge und durch den Kopf, dass auf der anderen Seite zum Nacken hin Blut und Gehirnmasse herausspritzen, E4418). Ein anderer wird so zweigeteilt, "dass seine Eingeweide bis auf den Boden herausquollen" (E4444). Welche Wonne, das verursacht joie (Freude) und Dank an Deu, der solches ermöglicht. Überhaupt spritzt öfter mal Blut heraus und Hirnmasse fliegt durch die Luft (wie E4830). Einen Griff ins Archaische des Raubtieres Mensch bieten zudem die auf Zaunpfählen aufgespießten Köpfe der joie de la cour im 'Erec'. Die Disziplinierung in der höfischen Zucht scheint die menschliche Aggressivität immer stärker in den Auslass physischer Gewalttätigkeit hinein zu zwingen.

 

Archaischer noch, etwas anders als bei den Artusepen, geht es bei Etzels Fest zu, wo daz grôze mort geschach (NL36,2083). Hier steigert sich alles zum Blutrausch im Kampf: Hagens Verwundung hât ihn erreizet ûf maniges mannes tôt (35,2054), Hagen ist der mortgrimmege man (35,2057), daz bluot allenthalben durch diu löcher vlôz unt dâ zen rigelsteinen von den tôten man (35,2075). In der 36. aventiure trinken die Burgunden im brennenden Saal notgedrungen das Blut ihrer Gefallenen. Es geht um ein hohes Gut, um mortraechen (37,2205). Rüdiger des muotes er ertobete im Kampf (37,2203), Hagen vaht vil tobeliche (38,2277), Hildebrant dô vaht, alsam er wuote (38,2279).

 

Dass Gewalt sich solcherart in eine Art Blutrausch steigern kann, berichten auch Quellen seit dem frühen Mittelalter aus der historischen Wirklichkeit. Grausamkeit wird dabei zwar als besonders intensive Form der Gewalttätigkeit erfasst, aber so erst in der Neuzeit benannt und bewertet. Sie hat mit Mittelhochdeutschen noch kein Wort: Siegfrieds Leiche vor Kriemhilds Tür wird als Härte, aber nicht als Grausamkeit mit ihrer Qualität von Lust gesehen. Im Gegenzug wird Kriemhild Gunthers Kopf an den Haaren zu Hagen tragen. Dieser tüchtige Hagen wiederum sluoc daz kint Ortlieben, dass ihm das Blut die Schwertschneide entlang zu den Händen floss und der Kopf dem König in den Schoß flog, und danach schlägt er auch dessen Erzieher (magezogen) den Kopf ab, der zu Boden fällt, und dann schlägt er dem Fiedler die rechte Hand ab (in der aventiure 33).

 

Viel anders geht es in den deutschen Artusromanen auch nicht zu: bluot waete ûz ôren und ûz der nasen (P14,212), heißt es bei Wolfram, und daz das bluot ûf schraete (aufspritzte, T10,6930), heißt es bei Gottfried, und dort hat Tristan gegen den Feind Morgan das Schwert in der Hand (T9, 5451), er sluoc im obene ze tal / beidiu hirne und hirneschal, / daz ez im an der zungen want. / hie mite sô stach er ime zehant / daz swert gein dem herzen în.(Er haut ihm das Schwert so von oben durch den Schädel, dass es bis in den Mundraum dringt, und damit der Feind noch toter als tot ist, sticht er ihm das Schwert dann noch durch die Brust ins Herz.)

 

Überhaupt Grausamkeit: Für sie gibt es damals noch kein Wort und in den Epen auch keine Konzeption, so wenig wie für den neuzeitlichen Begriff von Gewalttätigkeit. Das wird noch deutlicher, wenn man in die Zeit von Gottfrieds Quellen mit ihren archaischen Wurzeln zurückgeht. Mit Feinden wird einfach kein Federlesen gemacht: Governal (Gottfrieds Kurwenal) haut den einen bösen Baron in Stücke (to le desmembre), bringt den Kopf zu Tristan in den Wald und hängt ihn an den Haaren an die Astgabel der Laubhütte. Als Governal im weißen Land des Försters ansichtig wird, der die Liebenden im Wald an den König verraten hatte, Le fer trenchant li mist el corps, durchbohrt er ihm den Körper komplett, bis er tot ist. Kein Geistlicher kann ihm noch die Sterbesakramente reichen. Yseut qui ert et franche et sinple, / S'en rist doucement soz sa ginple. (Die edle und schlichte Isolde lacht darüber voll Süßigkeit unter ihrem Schleier. Béroul, Zeilen 4055f).

 

Der böse Denoalain nähert sich Tristan: Der tötet ihn. Was hätte er auch sonst machen sollen? Der Mann wollte seinen Tod. ... Er schneidet die Locken mit seinem Degen ab und lässt sie in seine Beinkleider gleiten, damit Isolde ihm glaubt, dass er ihn umgebracht hat (wu'il l'a mort). (Béroul, Zeilen 4386) Den nächsten bösen Baron erwischt er mit Pfeil und Bogen: Der Pfeil dringt voll ins Auge ein, durchdringt seinen Schädel und sein Hirn ... Der Mann fällt, trifft einen Pfeiler, und bewegt weder noch seine Arme noch seine Beine. (Zeilen 4476ff). Und damit bricht das erhaltene Fragment von Béroul ab...

 

Im 'Donnei des Amants' heißt es: Ysoud en ad al quer irrur (wird wütend im Herzen) / La palme leve par vigur / E tele buffe al neim dona (und versetzte dem Zwerg einen solchen Schlag) / Ke quatre denz li eslocha (dass sie ihm vier Zähne herausschlug. Zeilen 159ff)..

 

Man sieht, die deutschen Autoren brauchen nur die Gewalttätigkeit und Grausamkeit ihrer Quellen zu übernehmen, überzeugt, dass deren Unterhaltungswert auch weiter besteht. Der Verherrlichung von Gewalttätigkeit entspricht im übrigen auch die Härte von Strafen (nicht nur) in den Texten. Bei Béroul, ein halbes Jahrhundert vorher, heißt die Analogstelle zu Gottfrieds Zeilen 1470ff über Blanscheflurs Angst vor Strafe folgendermaßen: S'un mot en puet li rois oir / Que nos fuson ca asenblé, / Il me feroit ardoir en ré. / Ne seret pas mervelle grant. (Zeilen 190ff). Sie würde bei lebendigem Leibe verbrannt werden wie zu dieser Zeit bereits Ketzer.

 

In Bérouls Cornwall ist König Marke angewiesen auf die Achtung und den Respekt seiner "Barone", und ohne adäquate Bestrafung der untreuen Gattin würde er die verlieren. Die haben nämlich geschworen, wenn der König seinen Neffen nicht verjagen würde, dass nicht hinzunehmen und zu ihren chasteaus sich zurückzuziehen: Et au roi Marc gerre feroient, Krieg würden sie also gegen ihn dann führen (Zeilen 581ff). In den Tristan-Texten ist Marc/Marke abhängig vom Rat seiner großen Vasallen und abhängig von ihrer Unterstützung. Wenn sie nun also fern vom königlichen Hof sovent vienent a parlement, sich also zu oft miteinander besprechen, bedeutet das Rebellion.

 

Mit Hilfe einer List (dem Mehl zwischen dem Bett von Tristan und dem von Isolde im königlichen Schlafgemach bzw. dem Blut) werden die beiden beim Ehebruch erwischt. Und so einfach ist das dann: Certes, Tristan, demain, ce quit, Soyez certains d'estre destruit. (Béroul, Zeilen 781f) Tristan soll als erster auf dem Scheiterhaufen landen, kann sich aber mit List und Todesmut retten und dann auch seine Herzenskönigin.

 

Die Grausamkeit der Strafen findet sich in der historisch überlieferten Wirklichkeit genauso wieder wie die Grausamkeit im Krieg und bei den Siegern. Da wird geblendet, werden Nasen abgeschnitten und es wird anderweitig verstümmelt. Zivilisierende Machtausübung ist dort, wo sie als Androhung nicht wirkt, immer unmittelbar gewalttätig.

 

Kritik an solcher Gewalttätigkeit kommt im Nibelungenlied nicht auf, wo alleine beklagt wird, dass Unheil aus der konfliktierenden Wertestruktur um Ehre und Treue herrührt. Hartmanns Laudine trauert nur kurz und laut klagend über den Tod ihres ritterlich totgeschlagenen "Herrn", dann ist mit Iwein schon der nächste Gatte da, sie heiratet flott und des tôten ist vergezzen, der lebende hât besezzen beidiu sîn êre und sîn lant. (Y4,2435ff). So einfach ist das auch für Frauen in dieser Art Literatur. Bei Gottfried wird dann von den Muskelkräften samt ihren Waffen deutlicher ein höherer Sinn verlangt, sei es, dass so ein edles Weib errungen wird, ein Rang in den Machtstrukturen erkämpft wird oder aber Herrschaft aufrecht zu erhalten ist.

 

Solch brutale Gewaltätigkeit der edlen Ritter trifft nur in Wolframs 'Parzival' auf gelegentlich deutlichere Kritik, die allerdings immer ambivalent bleibt, da dieselbe daneben auch und vor allem gefeiert wird. Frauen wiederum dürfen zwar nicht derart an Metzeleien teilnehmen, sind aber fast durchweg begeistert von ihren gewalttätigen Helden, die sie dafür in ihre Huld und auf ihr Lager nehmen. Wolfram immerhin schiebt eine Jeschute ein, die keinem beider Helden in einem Zweikampf schaden wünscht (P5,262), und: mich dunket si hân bêde reht, sagt Wolfram (P5,264). Dass ein Kampf etwas mit Rechthaben zutun haben könnte, fällt aus dem Rahmen. Als Mahnung kommt eine Sigune dazu, die Einsiedlerin wird, nachdem ihr man vor gote im Zweikampf erschlagen wurde (P2,9). Helden sind fast immer Sieger, aber es gibt eben auch die Verlierer, von denen viele dann tot sind, und manchmal findet sich auch jemand, der das beklagt.

 

Wenn jemand im Dienst seiner Dame stirbt, was hulfe in dan sîn vrechiu ger? (was hilft ihm da noch seine mutige Kampfbegierde, P11,32), heißt es ziemlich früh bei Wolfram. Nach Cundrys Kritik an Parzivals Verhalten wird Kritik noch allgemeiner: waz half in küenes herzen rât unt wâriu zuht bî manheit? Sie helfen ihm nichts, außer das er darüber immerhin nachdenklich wird (P6,319). Und so kann Parzival dann über die Lehren von Gurnemanz formulieren: Sol ich durch mîner zuht gebot hoeren nu der werlte spot, sô mac sin râten niht sîn ganz (P6,330). Ritterliches Regelwerk "funktioniert" nicht immer. Diesem Tenor folgt Trevrizent: Wenn Gott sich des Menschen schämen muss, was nützt ihm dann menschlîchiu zuht (P9,467).

 

An einigen wenigen Stellen wird angedeutet, dass Ritter nicht nur edel sind, sondern auch recht rüpelhaft im damaligen Sinne sein können. Ein Turnier vor Kanvoleis artet in Tumult und Prügelei aus, man sprach dâ wênic Ritters reht (P2,78). Der zuhtlôse Keye (Y1,90) ist ein Rüpel gegen Frauen, zugleich aber der werdekeit genôz, was vermutlich nicht ironisch gemeint ist (P6,296), denn kurz darauf heißt es ganz ernsthaft, er fehle am thüringischen Hof mit seiner gemischten Gesellschaft (297), um diese etwas aufzuwerten. Artus duldet den Maulhelden bei Hartmann, weil er gut kämpfen kann (Y4).

 

Es gibt noch mehr kritische Töne: sus lônt iedoch diu Ritterschaft: ir zagel ist iâmerstricke haft.( P3,177). Am Ende umstricken uns Trauerbande, wie Spiewok übersetzt. Danach werden dann lauter Todesfälle aufgezählt, aber Parzival will erst bezâle Ritters prîs (178). Viel später, nach zahlreichen Kämpfen, meint Gawan dann aber: wolt michs der künec erlâzen, des jaehe ich im gein mâzen (Er hätte gerne, dass der König auf seinen Kampf verzichtet P14,708). Schon Lippaut erklärt: swer vehten welle, der tuo daz, bin ich gein dem strîte laz, ich vreische iedoch diu maere wol (...) mirst in den strît der wec vergrabt, gein vehten diu gir verhabt (P8,420). Er verzichtet lieber auf Schätze und Ruhm. Man kann auch reich und mächtig werden, ohne Helme zu zerspalten. (421)

 

Wenn einzelne Ritter schon mal kampfesmüde werden, steht Wolfram dabei nicht zurück. Bevor an einer Stelle von weiteren wunderbaren Heldentaten Gawans berichten wird, meint er: swer den lîp gein ritterschefte spar, der endenk die wîle niht an in, ob ez im râte stolzer sin (Wer sein Leben nicht durch Ritterschaft verlierenn möchte, möge seine Gedanken derweil abwenden, wenn ihm das sein stolzer Sinn rät, P6,333). Und weiter: des riuwent mich die bluomen rôt, unt mêr die helde die dâ nôt dolten âne zageheit. wem waere das liep âne leit, dem si niht hêten angetân? (Wie könnte man Freude daran haben? P14,704). Als Segramors schließlich von Parzival vom Pferd gestoßen wird, kommentiert der Autor: waz ruowe kôs er in dem snê? mie taete ein ligen drinne wê. der schadehafte erwarp ie spot: saelden pflihtaer dem half got (der Verlierer wird verspottet und dem Sieger half Gott, P6,289). Zwei Zeilen später wird es noch kritischer: ritterschaft ist topelspiel, unt daz ein man von tjoste viel, ritterlicher Kampf ist Würfelspiel, einer wird immer runtergestoßen.

 

Und wirklich: Zu Segramors im Zweikampf mit Parzival heißt es: dâ von im wart gevelle kunt, er lernt das Vom-Pferd-Fallen (P6,288). Bei Chrétien stößt Erec einen vom Pferd: le cors nel fera hui mes lasser, der wird heute nicht mehr müde machen (E2882). Wenn bei Wolfram Ritter "in die Blumen fallen", löst das vermutlich Lachen bei den Zuhörern aus, womöglich Schadenfreude. Wenn Wolfram dann darüber spottet, lässt sich Kritisches erahnen. So heißt es von einem Gegner von Gawan, dass er hinderm orse ûf den bluomen lac (P7,381). Ritter fallen auf daz velt etswâ geblüemet was, (…) den diu êre en teil was getan, mîn gir kan sölher wünsche doln, daz et ich beseaze ûf dem voln (Er kommt lieber auf seinem Fohlen ohne so etwas aus). Beim Turnier fallen Ritter aus dem Sattel, doch laese ich sanfter süeze birn vom Boden auf, meint Wolfram (P2,80). Ob das aber mehr ist als das Erhaschen von Gelächter über Verlierer, ist nicht eindeutig herauszulesen.

 

Im Verlauf des 'Parzival' nimmt die Kritik in Wolframs Kommentaren eher zu, schließlich bewegt sich der Held ja hin zu einer höheren Ebene der Ritterlichkeit. Zum Kampf Gawans mit Lischoys heißt es: Wer solte si drumbe prîsen, daz die unwîsen strîten âne schulde, nîwan durch prîses hulde, dass sie ohne Grund, nur um des Ruhmes willen kämpften (P10,538). Denn: âne nôt was ir gerich: si möhtens âne strîten lân (P10,542), und schließlich owê, sît diu erde was sô breit, daz si ein ander niht vermiten, di dâ umb unschulde striten (grundlos kämpften, P15,737)

 

Deutlichste Kritik am Kämpfen findet dort statt, wo Verwandte oft unwissentlich gegeneinander antreten, wie Parzival gegen neve Gawan oder bruoder Feirefiz: ich muoz ir strît mit triuwen clagen, sît ein verch und ein bluot solh ungenâde ein ander tuot, si wâren doch bêde eins mannes kint. (P15,740). Aber Itonje möchte auch nicht, dass ihr Bruder ihren Geliebten erschlägt (P14,710). Das wäre wenig heldenhaft, eher eine missetât (711). Später: hêr, si sint unser swester kint (P14,726) Daraus entwickelt sich dann denn auch das Musterbeispiel eines Verhandlungsfriedens, bei dem Minne eine wichtige Rolle spielt.

 

Frauen sind nicht rechtlos, aber in eine männlich definierte Rechtsordnung eingepasst. Ihren Schutz und ihre Ansprüche betreiben Väter, Ehemänner und Verwandte. Orilus ist Jeschutes rehter vogt, denn man des wîbes hât gewalt (P5,264). Die latenten und offenen Gewaltstrukturen als Machtstrukturen betreffen denn auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, was so selbstverständlich ist, dass es selten erwähnt wird. Immerhin dominieren sie die Brunhildegeschichte des Nibelungenliedes, wo eine archaisch-mythische Jungfrau erst durch sportiven Wettstreit und dann auch noch im Bett kämpferisch bezwungen werden muss. Wenn Gunther gewalt des hete (über Brünhildes lîp), si müese werden mîn wîp (NL7,390) heißt es dazu entsprechend. Und Siegfried weiß, dass Jungfrauen manchmal gewissermaßen auch körperlich bezwungen werden müssen, um sich dann willig in die Machtstrukturen einzureihen.

 

Dass der menschliche Geschlechtstrieb eine Quelle unendlichen Unheils ist, wird seit der 'Ilias' immer wieder einmal formuliert. Liebe und Leid sind das Wortpaar unserer Versromane hier. Liebe raubt den Verstand: die crenket herzeminne vîl dicke an hôhem sinne (P7,365) und von minne noch zornes vil geschiht (P7,366). Ansonsten ist Gewalt gegen Frauen vor allem ein Thema Chrétiens und Wolframs.

 

Wie mit ihnen tatsächlich in aller Härte umgesprungen wird, erfährt man nicht nur im 'Parzival', sondern schon bei Chrétien, wenn der Verehrer Erec bis hin zur Heirat kaum ein Wort an seine Enide richtet, und sie, nachdem sie auf sein ehrloses Übermaß an Liebe zu ihr hingewiesen hatte, von ihm darauf mit lang andauerndem Redeverbot bestraft wird, welches erst aufgehoben wird, als sie ihn von ihrer Liebe überzeugt hat, indem sie sich mehrmals anrüffeln lässt, weil sie ihn auf lebensbedrohende Gefahren hinweist und so gegen sein Verbot auflehnt. Laut Chrétien erkennt er nun endlich, der sie zuvor zu sehr geliebt hatte (und sie wohl auch ihn), qu'ele l'ainme sor tot rien (also über alle Maßen, E3754)

 

Ein Zwerg, Begleiter eines bösen Ritters, will der Königin, die sich auf der Jagd verirrt hat, mit der Peitsche ins Gesicht schlagen (E179ff)). Ein Graf erklärt Enide, er werde Erec erschlagen, wenn sie ihm nicht zu willen sei (E3346ff). Frauen "nehmen" (prandre, E3478) scheint schon damals ein gängiger Ausdruck zu sein. Ein Graf begehrt (covi) die Erec versprochene Enide und puis voldrai la dame esposer, mes que bien li doie peser (E4683), er will sie also auch ehelichen, wenn sie nicht mag; si li ont a force donee, heißt es dann auch (E4732) Als sie da nicht mitmachen möchte, schlägt er sie mehrmals ins Gesicht.

 

Auch bei Wolfram sind die edlen Ritter oft wenig edel gegenüber Frauen. Eine gewisse Prügelstrafe des Mannes gegenüber seiner Frau ist ohnehin durchaus rechtens. Manger hât sîn wîp geslagen umbe ir crenker schulde (mancher hat sie wegen geringerer Schuld geprügelt, meint Jeschutes Mann, P3,135). Keye verprügelt ungestraft Kunneware, als sie wegen Parzival lachen muss am trauernden Gralshof (P3,151), was nicht einmal der Kaiser erlauben dürfte. Aber Keye verprügelt ja auch den stummen Antanor am Hof (P3,153).

 

In welchem Umfang im hohen Mittelalter tatsächlich Frauen vergewaltigt wurden, lässt sich nur noch vermuten. Im Heldenroman wird eine Edelfrau von Rittern genomen (entführt, P3,121), was dann nôtnunft heißt (P3,122). Clamide will mit gewalt Kondwiramurs magetuom besiegen (P4,195). Bei Jeschute heißt der Vorgang genôtzogt (P5.264). Zu Meljakanz erfahren wir: swaz er dâ minne hâr bejagt, die nam er gar in noeten (P6,343). Urian vergeht sich an einer Jungfrau (P10,524), und daz er mit der vrouwen ranc nâch sînem willen âne ir danc, heißt es in der nächsten Zeile. Gawan wird bei seinem Liebesbegehren mit Antikonie gewarnt, irn nôtzogt ouch sîn tohter hie (P8,407), nachdem er deren Vater getötet habe, allerdings ist ein solcher Übergriff hier nicht der Fall, aber offenbar naheliegend für den anderen.

 

Schwerer fällt es, Wolframs eigenartigen Kommentar zu Gawan und Orgeluse einzuordnen: er solt si et hân gediuhtet nider (niederwerfen), als dicke ist geschehen sider maneger clâren vrouwen (P12,601). Eine Mischung aus Ironie und Tatsachenfeststellung?

 

Andererseits kämpfen (selten und nur) in der Literatur manchmal auch Königinnen, auch wenn sie nicht der schildes ambet haben (P2,108). Sie sind dann wie Brünhilde nicht korrekt bewaffnet, auch Königin Antikonie streit dâ ritterlîche (P8,409), wenn auch mit Schachfiguren, was als Kuriosum beschrieben wird und vermutlich Gelächter auslösen sollte. Die korrekten Waffen bleiben beim Mann, und dazu gehört kein Wurfspieß, wie der junge Parzival noch nicht weiß (P3,157). Und schließlich: Selbst ein vorbildlicher Ritter wie Gawan wäre grundsätzlich auch bereit, gegen eine heldenhafte Frau wie Veldekes Kamille zu kämpfen. Aber da bezieht sich Literatur nur noch auf Literatur.

 

Gewalt und Herrschaft haben also dieselbe gedankliche Wurzel in der deutschen Sprache und implizieren als drittes dann Macht. Alle drei Begriffe sind fast durchweg positiv besetzt und Staatsmacht und Staatsgewalt sind es bis heute für die Machthaber und ihre Propagandisten geblieben, während Herrschaft sich längst gerne hinter dem Amt und dem Gesetz versteckt. Das ist Teil des propagandistischen Aspektes von "Literatur", wie sie auch in den nicht so fiktiven Texten der Zeit auftaucht. Aber die unter Macht, Gewalt und Herrschaft untergeordnete produktive große Mehrheit der Menschen hat noch fast keine Stimme, die sich in verschriftlichten Texten ausdrücken könnte und darf. Eine der Ausnahmen stellen Passagen im mittelniederdeutschen Sächsischen Landrecht des Eike von Repow (1220-35) dar, wo Gewalt als Grundlage von Herrschaft und sozialer Ungerechtigkeit dargestellt wird:

 

So heißt es in C.XLII. Got hat den man noch im gebildit unde mit siner martir irlost, den einen als den andern; im was der arme also liep alse der riche. (Gott hat den Mann nach seinem Ebenbild geschaffen und durch seine Marter erlöst den einen wie den anderen; ihm war der Arme so teuer wie der Reiche.)

 

Da man ouch recht sazte von erst, da enwas kein dinstman, alle lute waren vri, da unse vordem her zu lande quamen. An minen sinnen enkan ich is nicht usgenemen nach warheit, das iemant des andern sulle sin. Ouch enhabe wirs kein Urkunde. Doch sagen sumeliche lute, di der warheit irre gen, das sich eigenschaft irhube an Kaine, der sinen bruder irslug. (Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann; alle Leute waren frei, als unsere Vorfahren hierher in das Land kamen. Mit meinem Verstand kann ich es nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein solle. Auch haben wir keine Beweise hierfür. Doch behaupten manche Leute, die an der Wahrheit vorbeigehen, dass die Unfreiheit mit Kain beginne, der seinen Bruder erschlug.)

 

Da bi is uns kundig von gotis wortin, das der mensche gotis bilde is unde gotis wesin sal. Wer en im anders zusagit denne gote, der tut wider gote. Noch rechtir warheit so hat eigenschaft begin von getwange unde von gevengnisse unde von unrechter gewalt, di man von aldir an unrechter gewonheit gezogen hat unde nu vor recht haben wil. (Daran ist uns Gottes Wort offenbar geworden, daß der Mensch Gottes Ebenbild ist und Gott gehören soll. Wer ihn jemand anderem als Gott zuspricht, der handelt gegen Gott. Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und unrechter Gewalt, die man von alters her zu unrechter Gewohnheit hat werden lassen und nun für Recht erachten will.)

 

Von getwange, gevengnisse und unrechter gewalt kommt also, dass ein Mensch einem anderen zu eigen ist (die "Eigenschaft" des hochmittelalterlichen Deutsch hat in der "Leibeigenschaft" überlebt). In die unterste Vasallenschicht und das Gefolge von Landadel eingeordnet, ist Eike kein Rebell, vielmehr einer, der Religiöses, wie man es vorfinden konnte, in eine durchaus affirmative Darstellung von Recht der Zeit einbringt. Dass Menschen nicht mehr Menschen zu eigen sein sollen, ist eben auch Reaktion auf die längst stattfindende Monetarisierung der interpersonalen Beziehungen, ihre zunehmende Ausrichtung auf den Markt.

 

**Krieg**

 

1241 verweist Kaiser Friedrich II. angesichts höchster Bedrängnis auf die erhebliche Monogolengefahr, um Unterstützung gegen das Bündnis von Päpsten und lombardischen Städten zu erreichen. Dabei führt er die Ritterschaft der Länder auf, die (unter seiner Führung) eigentlich gegen die Mongolen antreten müssten: (…) das wuchtige und waffenfreudige Deutschland, Frankreich, die Mutter und Amme tapferer Ritterschaft, das Kriegerische und kühne Spanien, das männerreiche und schiffsbewehrte fruchtbare England, das seemächtige Dakien, das unbezwungene Italien, das friedensunkundige Burgund, das unruhige Apulien mit den seetüchtigen und unbesiegten Inseln des Griehischen, Adriatischen und Tyrrhenischen Meeres: Kreta, Cypern, Sizilien, und den dem Ozean angrenzenden Inseln und Ländern, dem blutdürstigen Irland nebst dem behenden Wallis, dem sumpfigen Schottland, dem eisigen Norwegen, und was sonst an edlen und ruhmreichen Ländern unter dem westlichen Himmel liegt (… Heinisch, S.513ff). Das Wesen der Ritterschaft besteht also ganz selbstverständlich aus Gewalt und Krieg.

 

Im Unterschied zur Wirklichkeit erweist sich der ritterliche Held der Literatur vor allem im selbstbestimmten edlen Zweikampf. Der Krieg, urliug / lantstrît, der anonymisiertere Massen verlangt, die sich gegenseitig verletzen und abschlachten, ist ein Randphänomen. Selbst die spätere Bezeichnung dafür fehlt noch. Criegen ist miteinander wettstreiten, was vil suoze geht (T27,16747). Aber es gibt ihn, den Krieg, denn die Helden sind Könige und deren vornehmste Aufgabe ist nun einmal wie in der historischen Wirklichkeit Krieg zu führen. Darum wird im Nibelungenlied gegen Sachsen und Skandinavier in den Krieg gezogen, denn dort erweist Siegfried als Heerführer seine königlichen Qualitäten.

 

Kriegerische Heerscharen und Angriffskriege auf Städte und Burgen spielen allerdings in Wolframs 'Parzival' vor allem dort eine größere Rolle, wo königliches Rittertum in Gawans Parallelhandlung dargestellt werden. Die Idee scheint zu sein, Parzivals Entwicklungsroman mit seinen neuartigen Veredelungslinien für ein anderes gewohntes Publikum auf diese Weise verdaulicher zu machen: Während Parzival beim Gral landet, was für den Hörer und Leser wenig nachahmenswert sein dürfte, darf Gawan in der Artusrunde enden - und verschwindet so am Ende in ihr, ohne dass daraus viel Zukunft erwächst - wie doch in den Kindern von Parzival und Feirefiz.

 

Bei allen märchenhaften Einschüben scheint Gottfrieds 'Tristan' der historisch nachvollziehbaren Wirklichkeit, was die Kriege betrifft, am nächsten. Die Geschichte beginnt mit einem anlasslosen Angriffskrieg des Herrn Riwalîn gegen seinen "britischen" Herrn Morgan: er kam geriten in sîn lant / mit alsô creftiger hant, / daz er im mit gewalte / genuoge bürge valte; / die stete muosen sich ergeben / und loesen ir guot unde ir leben, / rehte alse liep als ez in was, / unz er zesamene gelas / gülte unde guotes die craft, / daz er sîne ritterschaft / sô starke gemêrte, / swar er mit her kêrte, / ez waeren bürge oder stete, / daz er vil sînes willen tete. (T, Zeilen 347ff)

Er "fällte" also mit Gewalt Burgen, unterwarf Städte, die hohes Lösegeld zahlen müssen. Er sammelt Gold und Gut ein, wodurch er sein Heer so vergrößern kann, dass er überall weitere Burgen und Städte in seine Gewalt zwingt. Es geht weiter mit bataljen unde strîten, bis Morgan nachgeben muss. Am Ende stirbt Riwalîn im Krieg und dadurch auch sein Weib.

 

Im wesentlichen ist der Krieg in den Versromanen Gelegenheit für herausgehobene Zweikämpfe. Und so ist Tristan als Gast in Markes Reich nicht mehr auf âventiure aus, sondern kämpft in noch edlerer Absicht: Die Edlen im Königreich sollen nicht mehr gezwungen sein, einen Teil ihrer Knaben als "Zins" an den irischen König abzugeben. Und so kommt es zum Zweikampf gegen den bösen irischen Morold. Aber andererseits ist auch Morold ein edler Held und im Kampf selbst geht es nicht mehr um gut und böse, sondern nur noch darum, wer der bessere Kämpfer ist. Tristan erklärt, man habe ihm zuvor gesagt: gewalt hoere ( gehört sich) wider gewalt / und craft wider crefte. / sît man mit ritterschefte / lant unde reht sol swachen (schwächen, unterwerfen), / hêrren ze schalken (Knechten) machen / und daz ein billîch wesen sol, (und wenn das gerecht sein soll)/ sô getrûwen wir des gote wol, / daz unser aller swacheit (Schmach also), noch gegen Euch gewendet wird. (T10, 6420ff)

 

Im Krieg gibt es die Pflicht der Heeresfolge des Kriegeradels. Aber es gibt immer auch anderswo die Möglichkeit, Karriere zu machen. Als Tristan im 30. Kapitel seinem inneren Unglück entkommen möchte, zieht er zunächst z'Almânje für den Kaiser in den Krieg. Dann sucht er den Krieg des Herzogs Jovelin von Arundel zu unterstützen. Nu daz die vînde ersâhen, / daz ez ze strîte was gewant, / si kêrten an den strît zehant. / si kâmen mit ein ander her. / alhie vlouc sper unde sper, / ros unde ros, man unde man / sô vîntlîche ein ander an, / daz dâ vil michel schade ergie. / si tâten schaden dort unde hie. (T30,18864ff)

 

Tatsächlich hat es wohl in der historischen Wirklichkeit wenig große (Entscheidungs)Schlachten und direkte Eroberungen von Burgen und Städten gegeben. Stattdessen wird die Versorgung mit Lebensmitteln (und anderen ökonomischen Ressourcen) für den Gegner verhindert. Die Opfer sind entsprechend in erster Linie die produktiv arbeitende Bevölkerung auf dem Lande und manchmal auch in der Stadt.

 

Das liest sich dann so im Sachsenkrieg der Burgunden: mit roube und ouch mit brande wuosten si daz lant (NL4,174), Vridebrant das lant mit schiffes her verbrande (P1,16) und: swie verwüestet waer sîn lant (P1,53). Clamide verwüestet bürge unde lant (P4,194). Verhert heißt ursprünglich von einem Heer besetzt, was dann mit Verheerung gleichgesetzt wird (P7,354). In der Schlacht dann werden die Felder zertrampelt (P7,379). Das Ritterheer: die heten âne vrâge ûf ir reise grôze slâge (eine breite Spur der Verheerung P13,663). Der edle Riwalîn, Blüte der Ritterschaft, herete in dem lande mit roube und mit brande (T2,393f), und Tristan im Arundelkrieg mit roube und mit brande geschaden der vînde lande (T30,18777f). Er roubte unde brande offenlîchen in dem lande (T30,18829). Da hat sich bis heute nicht viel geändert,

 

Diese Grauenhaftigkeit des Krieges wird auch in den historischen Quellen weithin gefeiert. Bei Otto von Freising wird Arezzo von Heinrich V. ad solum usque prostravit, dem Erdboden gleichgemacht und Novara eingeäschert, igne cremaverat (Chronik VII,14, S.520). Anderswo ist von destruere, zerstören die Rede, wie wenn Lothar in Norditalien villas seu castella destruxit (Chronik S.532).

 

Kaiser Friedrich II. schreibt 1243 an den französischen König über die Stadt Rom: Wir schlugen also im vergangenen Jahre in ihrem Gebiete Unser Lager auf, damit vielleicht der zugefügte Schaden und die neuerliche Maßregelung dem trotzigen Volke die Einsicht brächten, wenn sie den Staub der stürzenden Türme, die durch Feuer und Schwert verwüsteten Ackerfluren und Landgüter, deren Rauch, der scheußlichste Vorbote des Krieges, sie belehren könnte, vor den Toren der Stadt erblickten und die siegreichen Adler des Reiches, die Rächer ihrer Anmaßung, die ihren Gehöften drohten, von weitem fürchteten, angesichts derer sie jenes altberühmte Rom und sein weitbekanntes Volk eher vorborgen als sichtbar gewünscht hätten (Heinisch, S.553).

 

Literatur als höfisch-ständische Propaganda erwähnt dies massenhafte Unheil am Rande, ohne das Leid und den Schrecken der Opfer deutlicher wahrzunehmen und zu benennen. Wichtiger ist,. dass die Ritter, böse ausgedrückt, ihren Spaß dabei haben, zu dem, nebenbei gesagt, sehr wahrscheinlich auch frohsinnig-ritterliches Vergewaltigen von Bauernmädchen gehört, was die Romane aber vornehm auslassen. Denn schließlich ist die Botschaft edler Gewalttätigkeit nur an die wenigen "höfisch" gewordenen Gewalttäter gerichtet, und die alltäglichen und hauptsächlichen Opfer der Gewalt kommen kaum vor, und wenn, dann tun sie dass, was schon immer von Untertanen erwartet wurde, sie jubeln oder stehen dekorativ Spalier (was es eben auch gab).

 

**Mord, Lug und Trug**

 

Gemeinhin wird in diesen Vers-Romanen unentwegt verletzt und getötet, massenhaft und mit hohem muot, und das ist edel und gut. Aber auch Lug und Trug und hinterhältiges Morden nehmen den edlen Kriegern nichts von ihrem Adel, wie sich am Mörder Hagen erweist oder an dem Betrug, mit dem Brunhilde doppelt bezwungen wird. Das passt zu dem, was die historischen Quellen eben auch über das Verhalten der edlen Krieger in der überlieferten Wirklichkeit hergeben. Bei Wolfram sieht das ganz besonders aus, ist sein 'Parzival' doch in zwei Stufen ein ganz besonderer Propagandaroman: Gawan ist, wie bei Chrétien, von Anfang an mit das edelste, was Rittertum sein kann, vorbildlich eben, während der sich entwickelnde Parzival zunächst in diese erste Stufe hineinwächst, um dann auf einer zweiten noch einmal ethisch darüber hinauszuwachsen, wie jedenfalls der Autor meint.

 

Bei Gottfried schließlich wird die Liebe die treibende Kraft, konzentriert taucht sie zwischen Minnetrank und Minnegrotte auf, die besonders unwirklich und symbolhaltig sind. Ansonsten ist Minne eine Ehebruchs- und Treuebruchsangelegenheit, das heißt, es geht vor allem darum, wie die beiden Ehebrecher es schaffen, am Hofe des betrogenen Ehemanns Verdacht zu zerstreuen und der Missgunst von Neidern zu entkommen. Ist Lügen und Betrügen für Gottfried legitim, wenn es um die große, reine Liebe geht? Jedenfalls sind sie legitim, wenn es darum geht, mit einer List Isolde vor Gandin zu retten, der sie schon wörtlich in seinen Armen hat. Womöglich kommt das große illegitime Liebespaar dann sogar noch ze vröuden, zum Koitus also, bevor Tristan reichlich frech Marke ermahnt, besser auf seine Gemahlin aufzupassen. Ist selbst solche Frechheit durch edle Minne gerechtfertigt?

 

Der Höhepunkt von Lug und Trug ist wohl, wenn Marke die noch jungfräuliche Brangäne für die Hochzeitsnacht untergeschoben wird, was an den für Gunther bei Brunhilde untergeschobenen Siegfried erinnert, und wenn diese ihr bettegelt womöglich in einem Messing zahlt, welches wie Gold strahlen kann: Lust ist auch im illiziten Beilager möglich... Als sich dann Isolde zu ihrem Gemahl legt, dûhte in wîp alse wîp (T18,12666) und weiter unten: ime was ein als ander, die sexuelle Lust ist dieselbe, wie auch kurz darauf die kurzewîle zwischen Tristan und Isolde. Sexus und Minne ist nicht dasselbe, scheint nicht einmal notwendig verbunden. Hat sich etwa Brangäne in Marke verliebt und wird Isolde verraten?

 

Der edle Tristan ist imnmer wieder nicht nur Ehebrecher, sondern auch ein Lügner und Betrüger, er verstellt sich, er erzählt den potentiellen und wirklichen Feinden eine Lügengeschichte nach der anderen, so, als ob er ein Dichter wie Gottfried wäre. Der eifersüchtige (?) Marke mit seinem zwîvel unde arcwân (T21,13753) folgt mit dem, was Gottfried list nennt, überlisten oder eine Falle stellen, und was dann einmal der neuzeuitlichen Wortbedeutung entspricht, so wie es ansonsten das Wort kunst bei Wolfram ersetzt. (Während list an anderen Stellen einfach nur Klugheit oder Schläue meint). Schließlich ist list wider list gesetzet (T21,13867)

 

Und ebenfalls in grenzenlose Minne verstrickt, folgt ihm Isolde in Lug und Trug und Morden. Unheil zeugt Unheil: Isolde sorgt sich, für Brangäne könnte aus Lust Liebe entstehen, so wie für Isolde, und dann könnte Brangäne Marke alles erzählen. Für sie bliebe dann nur Schimpf und Schande. Die archaische Geschichte von der unbändigen Liebe als aus sexueller Begierde gewonnener Dauer-Verliebtheit (ihre Entstehung aus dem Zaubertrank ist längst an den Rand gedrängt) trifft auf die höfische Geschichte um Ehre und Schande.

 

Dann wird es ganz brutal: Die mortraete Isolde dingt Mörder, die Brangäne in die Wildnis bringen und dort enthaupten sollen. Als Beleg sollen sie ihre abgeschnittene Zunge zurückbringen, so wie Tristan als Beleg für sein Drachentöten im Irenland dessen Zunge mitbrachte und so Isolde für sich bzw. seinen Herrn König Marke gewann. Im Unterschied zu ihrer Herrin lassen die beiden gedungenen Mörder Brangäne aber am Leben und weisen eine falsche Zunge vor. Als Isolde dann erfährt, dass Brangäne ihr die Treue bewahrt hatte und ihr selbst den Mordanschlag vergibt (?), will sie sie zurück, erfährt, dass sie noch am Leben sei, nimmt sie darauf wieder an. Brangäne aber ist Isolde immer noch in Treue ergeben und beide umarmen und küssen sich, unde geliutert alse ein golt...

 

Die beiden Mörder werden bezahlt und dadurch zum Stillschweigen verpflichtet: den zwein gab sî ze solde zweinzec marc von golde. Außerdem will sie die beiden Mörder zu Rittern machen. Das alles ist wohlgemerkt edelster Adel!

 

Wenig Mitgefühl bekommt hingegen der ständig betrogene verirrete (verwirrte) Marke von seinem Autor. Einmal wenigstens heißt es: diz was dem zwîvelaere ein nâhe gêndiu swaere, um dessen ê und êre es immerhin geht (T24,15265f). Und bevor Marke die beiden verbannt, eine eher unwahrscheinlich großmütige Tat, erfasst ihn tobeheit und blindes leit (T26). Aber das war es dann auch, mehr Anteilnahme für die Opfer edelsten Rittertums ist nicht zu erwarten.

 

Nicht nur edles Verletzen und Abschlachten, auch Lug und Trug und Mord nehmen den Helden und Heldinnen (mit der Ausnahme von Wolframs 'Parzival') nichts von ihren edlen, höfisch-ritterlichen Qualitäten. Es wird noch etwas dauern, bis solch brachiales Kriegerethos durch idelogische Überformung literarisch moralisiert und so stärker verstaatlicht wird. Aber in der Wirklichkeit ist das längst im Gange, in den Städten, den Firmen des großen Kapitals und im Aufbau staatlicher Verwaltungs- und Unterdrückungsstrukturen.

 

Die Veredelung der Helden: Prächtigkeit

 

Wozu all diese so hoch gefeierte Gewalttätigkeit, wenn nicht, um in den mit ihr hergestellten zivilisierenden Strukturen Macht zu entfalten, jenen ersten Antrieb der Natur. Macht zu erleben ist ein natürliches Vergnügen, und sie äußert sich nicht nur in den Heldenromanen zuerst in der Befehlsgewalt, der Verfügung über andere Menschen. Diese kann und soll nicht stetig über das Ausüben von Gewalt durchgesetzt werden, was zu aufwendig wäre, sondern primär über deren willige Unterordnung. Macht muss also nicht nur mit Gewalt errungen, sondern auch auf anderen Feldern unentwegt demonstriert und als erfreulich dargestellt werden. Um Macht solide sichtbar zu machen, zeigt sie sich darum auch in der Pracht höfischer Ausstattung, und diese dient natürlich zugleich dem Vergnügen der Machthaber daran.

 

Veredelung ist ein Vorgang, der einhergeht mit deutlicherer Definierung von dem, was Adel ist und sein soll, und mit seiner klareren Abschichtung. Das hängt wiederum zusammen mit der stärkeren Inanspruchnahme dieses Kriegerstandes durch die Kirche seit der kirchlichen Friedensbewegung des 10./ 11. Jahrhunderts, die in der Ausrufung heiliger Kriege und der Kreuzzüge kulminieren wird und überhaupt erst Ritterlichkeit ins Leben ruft. Pracht, Frauenverehrung und Christianisierung im kirchlichen Sinne schaffen dann diesen zweiten Stand in der neuartigen kirchlichen Ständelehre.

 

Das Wort Pracht in seiner neuzeitlichen Bedeutung fehlt noch in den deutschen Ritterromanen. Bei Chrétien taucht es als richesce (E5367) auf, in den deutschen Texten um 1200 ist es in der Regel in rîcheit enthalten, die vollez guot voraussetzt (T8,4564), und hat etwas mit werltlîcher zierheit zu tun (T8,4602), die kurz darauf in Gottfrieds 'Tristan' auch als ritterlîchiu zierheit auftritt (4616). Überhaupt setzt sich Pracht aus der Summe von zur Schau gestelltem Reichtum, der Wahrnehmbarkeit großer aufgewendeter Kosten und den sinnlichen Aspekten Schönheit und Zierlichkeit zusammen, was in unterschiedlicher Gewichtung als anthropologische Konstante zumindest aller Zivilisationen gelten kann.

 

Reichtum, im Nibelungenlied rîcheite (20,1273), bei Wolfram rîchtuom (P6,328), fällt geradezu mit Macht zu einem Begriff zusammen und ist, diametral der evangelischen Botschaft entgegengesetzt, damit höchstes Gut dieser höfisch-ritterlichen Welt. Mächtig heißt reich sein als Verfügung über mobile und immobile Güter, womit man nicht nur personale Abhängigkeiten erzeugen, sondern auch ansonsten Macht zeigen kann, wobei dann rîcheit bei Wolfram auch überhaupt Prächtigkeit und Kostbarkeit miteinander vereint. Selbst beim Heer soll man solche rîcheit immer wieder wahrnehmen (P13,667). Keye prüevete Gâwâns koste an seiner Ausrüstung (P13,675), diu Clinschores rîcheit wart dâ ze schouwen vür getragen (P15,760). Gawan führt in Joflanze des heidens zimierde in den rinc und alle bewundern sie (P15,773). Man starrt auf Protz und Prunk. Ritter ziehen in Passau ein: dâ trûte man mit ougen der edeln ritter kint (21,1294). Das ist uns auch heute noch vertraut, nur sind die Wertvorstellungen und das ästhetische Vermögen dabei bis tief in die spätkapitalistische Gosse gesunken...

 

Natürlich zeigt die Darstellung von Pracht und Herrlichkeit auch, dass da jemand ist, der viel für Dienste geben kann und so ein guter Herr ist. Gunther zum Beispiel ist rîch, so dass er viel zu geben hat (NL13,798). Etzel ist so rîche, dass Kriemhild ze geben hat (NL20,1257), und zur Verdeutlichung, dass es hier um Besitz geht, heißt es über Anfortas: mîn bruoder ist guotes rîche (P9,497). Mit seiner Beute macht Riwalîn denn auch sein Gefolge rîche (T2,405). Damit sind wir bei den tatsächlich dominanten Werten des christlichen Mittelalters angelangt, zumindest was seine kleine und tonangebende Oberschicht angeht.

 

Dieselbe Penetranz, mit der Gewalttätigkeit gefeiert wird, gilt auch für das Protzen mit Reichtum und Kostbarkeit, die so gut wie alles betreffen, von den rîchiu kleit (NL5,277 / P1,23 etc.) für Mensch und Pferd über die luxuriösen Zelte bis zur Prächtigkeit von Gebäuden und Innenausstattung. Aller solcher Prunk und Protz soll unentwegt Eindruck schinden und tut das ja auch bis heute.

 

Dabei gibt es, wie wir an Gebäuden und in Museen immer noch sehen können, durchaus so etwas wie ein gewisses ästhetisches Empfinden, aber davon ist in den Romanen wenig zu verspüren. Was schön und zierlich ist, wird nur daran verdeutlicht, dass es teuer und kostbar ist, und das nur zu oft im Superlativ. Überaus schön sind in aller Regel aber zuerst die Helden und Heldinnen selbst, und daran erkennt man, dass sie edel sind. Zu Enide heißt es, ele est et belle et sage, qu'ele est de molt gentil lignage (E4717f). Adelig ist man schließlich durch die Geburt.

 

Mädchen und Frauen sind fast generell schön, was auch heißt, dass sie vorgezeigt werden sollen, um das Ansehen (êren) des Landes zu steigern (NL5,271 / 5,275 / 5,319 etc.). Außerdem ist ihr Anblick das höchste Glück der Ritter (NL5,272 etc.) neben dem Kampf. Orgeluse ist lieht (schön, P13,638), Isolde ist unentwegt schön und wird mit schâchblicke (Räuberblicken) angestarrt (T15,10957). Kriemhild ist eine ougenweide (NL5,298), was sonst...

 

Solche Damen haben keine Schminke nötig (NL10,589), gstrichen varwe ûf daz vel ist selten worden lobes hel (P10,551, so auch NL27,1651). In den Romanen sollen sie natürlich auch Nachwuchs gebären, aber unterhaltsamer ist es, sie sich als Dekoration für Feste vorzustellen, was denn auch oft ihre hauptsächliche (literarische) Rolle ist.

 

Männliche Schönheit ist im Grunde genauso wichtig, da sie eben auch Adel anzeigt. Rual ist des lîbes edelîch, weshalb man ihn auch nackt für adelig hält (T7,4034). Das ist wie bei Chrétien, wo man auch in der Leibesschönheit sogleich den Adel sieht. Der vorgebliche Kaufmann Tristan hat denn auch dem lîbe ein ungelichez leben, sieht er doch wie ein Adeliger oder König aus (T14,10031). Edel ist eben zugleich schön und vornehm (T14,10450). Und so sagt Hartmann über Iwein, nachdem er aus dem Wahnsinn erwacht: swie gar ich ein gebûr bin, / mir tuornieret al mîn sin. / mîn herze ist dem lîbe ungelîch: / mîn lîp ist arm, daz herce rîch. (Y5,3573) Als er wieder ritterlich gekleidet ist, ist er denn auch wieder ein Ritter.

 

Parzivals clârheit ist Schönheit (P14,723), und: der was ouch so lieht gemâl, nie ouge ersach sô schoenen man (P14,727). Maurîn ist der mit den schoenen schenkeln (P13,662), Tristan hat schoeniu bein (T10,6705) - und überhaupt ist auch er der Allerschönste (T5,3332). Gunther ist der vil zierliche degen (NL4,152), wenn auch kein sehr starker König. Wir befinden uns eben in einer Welt der Starken, Reichen und Schönen, einer Märchenwelt, die sich heute noch immer gut vermarkten lässt.

 

Dargebotener Reichtum steigert das Ansehen. Das Ansehen von Feirefiz, also sin prîs hât vil hôhe kost (Aufwand, P6,328), des kuniges koste für ein Fest waren sehr hoch (NL10,683). Gunthers sal waz uberal gezieret NL(9,562) für ein Fest. Prachtentfaltung und Ehre hängen also eng zusammen. Als Riwalîn zum König Marke reist, stattet er seine Reisegesellschaft mit grôzer rîcheite aus: alsô der êrengire tuot (T2,415).

 

Der beschriebene Luxus wird gewertet nach Material, Menge und nach der Ferne, aus der er bezogen wird, was ihn besonders kostbar macht. Über Stoffe heißt es: daz muget ir âne vrâgen lân: wand er muoz grôze koste hân (P13,629). Gewänder sind grundsätzlich von tiurer koste (P14,695). Geziert wird der lîp (NL7,415 etc.) vor allem eben mit guoter waete (NL8,504). Siegfried lässt man mit kleidern zieren (NL2,23), gezimieret war Gahmurets lîp (P2,72). Insbesondere im Nibelungenlied, aber nicht nur dort werden solche Gewändern gerne mit Massen von Gold und Edelsteinen versehen, besonders für Mitglieder der königlichen Familien.

 

Kleider sind immer zum Vorzeigen gedacht, und Mädchen und frouwen sind für besondere Gelegenheiten damit beschäftigt, den Helden eine ganze Anzahl neuer Gewänder zu erarbeiten, die offenbar öfter gewechselt und zudem vielleicht auch schnell verschlissen werden. Kleider werden nämlich abgeriten (NL10,599). Offenbar gibt es bei Hofe Depots an Tuchen, die in Kleidung verwandelt werden können (z.B. P13,628). Schoene frouwen in Xanten arbeiten unermüdlich, unze man geworhte di Sîvrids wât (3, 63), das Siegmund hiez im zieren (3,64). Wieviel "Arbeit" adelige Damen dabei tatsächlich investieren, mag offen bleiben.

 

Zierrat zeigt Status, also Macht, und Kleidung zeigt den Stand und sogar Differenzierungen innerhalb des Standes (Y1,305f). Darum betrachtet Brunhilde Kriemhilds Aufwand genau (NL13,796).

 

Frauen zieren sich wie auch heute noch in Konkurrenz miteinander: wider strît (NL5,263 - heute hat die Konkurrenz oft eher mit Varianten des Ausgezogenseins zu tun), aber auch Männer konkurrieren mit Kleidung um Frauen. Gahmuret "ziert" sînen lîp durch diu wîp (für die Frauen, P14,687). Männer können dann auch noch mit der Rüstung konkurrieren, Gahmurets was maneger marke wert (P2,71). Waffen und Rüstung sind zierlich, verziert und dadurch hêrlich. Zierlich ist das gewant der Ritter (NL6,348). Eine verzierte Schwertscheide ist tûsent marke wert (P5,239). Bei solcher Gelegenheit wird dann einmal indirekt darauf verwiesen, dass Höfe solche Waren einkaufen.

 

Mit dem Einzug des Kleiderschnittes und der Gotik wird der modische Auftritt zu einem verschärften Element des Konkurrenzverhaltens. Man kann nun Körperformen besser mit der Kleidung abbilden, besonders die weiblichen Kurven. Dazu entwickelt sich eine gotische Körpermode: Jungfrauen sind swankel als ein rîs (gertenschlank) und als eine âmeize gelenket, was Spiewok mit "schmalhüftig wie eine Ameise" übersetzt (P16,806).

 

Rüdigers Leute tragen in Worms Gewänder, vil harte spaehe gesnitten (NL20,1176) und wol gesniten sind die Kleider von Gahmurets Gefolge (P2,62 / siehe auch: P5,228). Tristans Kleidung ist nâch sînem lîbe gesniten (T5,3347). Ein Kleid sneit man an daz vröuwelîn (Obilot, P7,375) und ein Kleid por son cors estoit taillèe (E1572). Isoldes Kleid ist an der Hüfte g'enget, nâhe an ir lîp getwenget (T15,10905f). Wohl besniten kann aber bei Gottfried ohnehin grundsätzlich zierlich, geziert heißen (T7,4047).

 

Modebewusstsein wird am ausführlichsten an der ansonsten physisch hässlichen Cundry beschrieben: Sie trägt einen Kapuzenmantel al nâch der Franzoyser siten (...) von Lunders (London) ein pfaewin huot (Pfauenhut), der huot was niuwe (etc., P6,313). Später heißt es: ir cleider tiure und wol gesniten, kostbaere nâch Franzoyser site. (P15,778). Kleider in dem snite von Franze (T15,10901) sind seit der Gotik "dernier cri". Überhaupt beginnt mit dem Aufstieg des französischen Königtums eine enorme Einflussnahme Frankreichs auf die deutschen Lande. Zu den künste gehört es eben nun auch, franzeis zu reden (P6,329).

 

Neben der Mode gibt es immer noch den regionalen Brauch. In Joflanz ritter und vrouwen truogen gewant, niht gesniten in eime lant, wîbe gebende, nider, hôch, als ez nâch ir lantwîse zôch (sich nach der Landessitte ziemte, P15,776). Aber in den höfischen Kreisen beginnt sich mit der ersten Blüte des Kapitalismus ein modischer Standard im lateinischen Europa durchzusetzen. Dasselbe betrifft dann auch die Tänze und die Musik. Modetänze kommen auf und Wolfram beklagt, die videlaere müesen strîchen alten tanz.: niuwer tänze was dâ wênc vernomen, der uns von Dürngen vil ist komen (P13,639).

 

Dass Mode als sich immer mehr beschleunigendes Konsumverhalten mit dem Kapitalismus einhergeht, ihn fördert und von ihm gefördert wird, vor allem im Bereich der Rüstung und der Textilien, wird in diesen Texten so wenig wahrgenommen wie das Neue am Kapitalismus selbst, der eben auch in den historischen Dokumenten in zahllose Einzelbeobachten zerfallen ahrgenommen wird. Insofern ist Kapitalismus eben auch eine erst durch ihn und sehr spät hervorgebrachte Weise seiner Beobachtung und ohnehin vor dem 18. Jahrhundert nicht anzutreffen. Von Einzelbeobachtungen zu einem Zusammenhang zu finden übersteigt wohl ohnehin Neigung und Fähigkeit der meisten Menschen.

 

Zu den immer wiederkehrenden Beschreibungen der Pracht von Kleidung, Rüstung und auch der Prächtigkeit der Pferde und ihres Schmuckes kommt die der Einrichtungen der Burgen, die weit das übertreffen, was tatsächlich in den üblichen Ritterburgen zu finden war. Bei Wolfram gibt es cleinoetes vür grôze koste (P1,32). Gahmuret wird cleinoetes tûsent marke wert enfangen, die ein Jude immer noch auf dieses pfant geben würde. (P1,12) Die Faltstühle am Ende des Erec sind "nicht aus Holz, sondern ganz aus Gold und feinem Elfenbein" (E6662).

 

Ein Kunsthandwerker ist noch ein wercman (T10,6628), der auf schônheit abzielt wie der Elfenbeinschnitzer, taillierres, bei Chrétien (E5301), der sein Werk verkauft (vandi) und dafür grant desserte (großen Lohn) erhält.

 

Nirgendwo übrigens werden Pracht und Protz deutlicher als bei den Gralszeremonien. Kamine sind kostenlîchiu werc, also kostbar (P5,230). Die Leuchter am Gralshof wârn von armer koste niht (P5,236). Alles glitzert und gleißt von Gold und Edelsteinen und kostbaren Tuchen - samt dem Dekor zahlreicher natürlich wunderschöner Jungfrauen. Wird hier erfolgreich mit Gold und Silber und Edelsteinen, mit Elfenbein und Marmor in den Bischofskirchen konkurriert, oder aber mit der Beschreibung des himmlischen Jerusalem in der Apokalypse des Johannes, die aus Gold, Edelsteinen und Perlen bestehen soll?

 

Dominant ist in diesen Texten die uneingeschränkte Bewunderung für diese ausgesprochen märchenhafte Pracht. An wenigen Stellen bei Wolfram wird etwas zweideutig darauf verwiesen, dass es auch weniger sein könnte. Zu Jeschutes Kleidung in Fetzen heißt es: doch naeme ich sölhen blôzen lîp vür etslîch wol gecleidet wîp (P5,257), aber dabei geht es womöglich auch oder gar eher und ironisch um den erotischen Aspekt. Bei Trevrizent deucht Parzival die Bewirtung genuoc im Vergleich zu Gurnemanz und dem Gral (P9,486). Andererseits kommentiert Wolfram in der nächsten Zeile, dass ihm das viel zu karg wäre. Erst beim Ausstattungsluxus in Klingsors Burg taucht etwas deutlichere Kritik auf: ez het ein armer wirt ervorht (er wäre entsetzt gewesen, P13,627). Beim Fest heißt es in kritischer Ironie: Ezn sî denne gar ein vrâz, welt ir, si habent genuoc dâ gâz. (Für den, der kein Vielfraß ist, reicht es wohl (P13,639). Aber natürlich wird der Märchenton nicht durch sonderliche Kritik gebrochen, worüber dann die Hörer und Leser wohl eher den Kopf geschüttelt hätten.

 

Wenn Isolde zu Tristan sagt, ich naeme ê, swaz ir mir gesaget, eine maezlîche sache mit liebe und mit gemache dan ungemach und arbeit bî micheler rîcheit (T16,11600), dann soll das wohl vor allem Ausdruck ihrer unbändigen Liebe sein. Tristan aber zieht rîcheit bî gemache vor wie wohl die meisten Menschen bis heute.

 

Höchste Prachtentfaltung findet bei Festen statt, in die auch in der historisch dokumentierten Wirklichkeit Fürsten bereits erhebliche Summen investieren. In ihnen soll sich Freude als höchstes höfisch-ritterliches Ziel entfalten. Und so sagt Parzival beim Abschied vor Joflanze: got gebe vröude al disen scharn (P14,733). Freude, joie ist das, was der Friede gelungener Unterwerfung bieten soll. Zentrum ist das Turnier, das Kampfspiel, kurz spil (u.a. NL31,1871) oder auch ritterschaft genannt, wobei sich Spiel und Ernst durchaus mischen sollen, um den Unterhaltungswert hoch zu halten.

 

Neben die Demonstration von Macht und Reichtum tritt der Zeitvertreib, Kurzweil, bei Chrétien am ehesten wohl als solaz auftretend (E2704). So stellt Marke Isolde die wichtige Frage: wie habet ir vertrîben (...) iuwer zît? (T23,14947). Gunther erklärt: wir wellen kurzwîlen in Brünhilde lant (NL6,352), und Gahmuret wird zum Spazierritt eingeladen, ern kürze im sîne stunde (P1,29). Kurzweil ist auch die Jagd, in ihrer Funktion dem Turnier benachbart.

 

Zeit „vertreiben“, später wird man auch sagen „totschlagen“, ist natürlich in zivilisierten Strukturen nicht nur Ausdruck von Luxus, sondern auch das Vertreiben von Angst, die aus einer gewissen Form innerer Leere entsteht, die bald Langeweile heißen wird. Dazu gehört das Gerede, ein wichtiger Teil von Kurzweil, das Gespräch eben (T1,5), das Totschwatzen der Zeit. Dabei wird den Damen von Rittern kurzewîle durch ir hofscheid geboten (NL3, 129). Dazu gehört natürlich dann auch der Flirt, wenn Ritter kurzewîle mit den Damen haben (P14,725).

 

Aktive Geselligkeit eines gepflegten Müßiggangs auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung fasst Gottfried im 'Tristan' so zusammen: lachen, tanzen, singen, rîten, loufen, springen, zuhten unde schallen (T6,3457). Das sind so ziemlich alles mögliche Eigenaktivitäten einer auf Unterhaltung erpichten höfischen Gesellschaft, immerhin noch weit vom viel passiveren späteren Konsumismus entfernt.

 

Ein anderes spil liefern Spielleute (spilman), zu denen im Nibelungenlied auch männliche Mitglieder des Hochadels als videlaere gehören können, die zugleich Kämpfer sind. Auf einer historisch späteren Stufe ist dies Unterhaltungspersonal bereits professionalisiert wie die videlaere, die zu Gahmurets Gefolge gehören, wenn er auf Aventiure zieht (P2,63), wie auch andere Hofmusiker und vor allem auch die Militärmusik.

 

Daneben gibt es die varenden, menestrels bei Chrétien, die von Hof zu Hof und von Fest zu Fest ziehen und auf Belohnung, also Geschenke aus sind. Auch sie liefern ein Unterhaltungsprogramm. Zur Hochzeit von Erec und Enide heißt es: Der eine machte Sprünge, der andere schlug Purzelbäume, ein dritter zeigte Zauberkunststücke, einer pfiff, einer sang (usw.). Mädchen tanzten und sprangen im Reigen (Chrétien, S.115). Sogar ein spilwîp, eine Gauklerin, wird einmal erwähnt (P7,362). Lange vergessen sind die negativen Untertöne, mit denen solche Leute bei romanischen Kleinplastiken einhergingen.

 

Kurzweil hat aber nur das Kämpfen zu unterbrechen, nicht zu ersetzen. Verächtlich und eine Schande ist Erecs verligen, sich ganz auf das Liebesleben mit Enide konzentrieren. Da fällt nur Gottfried heraus, der in dem Minnegrotten-Kapitel Kurzweil als Idyll des dauerhaften Urlaubs vom Alltag feiert - mit sich lieben, spazierengehen, sich Liebesgeschichten erzählen, musizieren, nach Lust und Laune jagen, ein Phantasialand des gediegenen Müßiggangs.

 

Die Veredelung der Helden: Minne

 

Lât iu liep sîn diu wîp, heißt einer der hohen Ansprüche an veredeltes Rittertum in Wolframs 'Parzival' (P3,172). Von Gahmuret berichtet Wolfram: er enpfienc nie wîbes minnen teil, ern waere al ir vröuden geil (Ihm ist die Lust der Frau dabei wichtig P2,110). Bei Gottfried ist es liebe allein, die den ganzen Menschen veredelt: nieman âne ir lêre noch tugende hât noch êre (T1,189ff). Das allerdings unterscheidet ihn von den anderen Autoren. Die Aufwertung der Frau im hohen Mittelalter ist dabei eine andere als die (politisch-ökonomische) "Emanzipation" des 19. und 20. Jahrhunderts, denn in der ersteren wird Weiblichkeit zumindest literarisch aufgewertet, während sie zwecks stärkerer Integration in den kapitalistischen Markt viele Jahrhunderte später mit Hilfe des sogenannten "Feminismus" massiv verächtlich gemacht werden wird.

 

Die Frauen der Heldenromane sind allerdings fast alle Königinnen, Königstöchter oder wenigstens sehr edle Jungfrauen. Ausnahme ist Chrétiens Enide, Tochter eines verarmten Ritters. Und die Verehrung der Frauen ist wie in der Wirklichkeit stark erotisch geprägt und darüber hinaus wenig handfest, weder rechtlich noch alltäglich gelangen Frauen (mit Ausnahme königlicher Witwen) aus dem Netzwerk ihrer massiven Abhängigkeiten heraus. Kriemhild soll Siegfried heiraten, meint Gunther, sô hâstu mînen willen, mit vil grôzen triuwen getân (NL10,609). Dass sie sich in ihn auch noch verliebt, gehört sich dann einfach so.

 

Im Nibelungenlied wird mit Brünhilde einmal ungeniert die Machtfrage zwischen den Geschlechtern gestellt: Wenn Siegfried Brünhilde nicht im Bett niederkämpft, denkt er, könnten alle Frauen gegen ir manne einen muot gewinnen, der ihnen bislang fehlte (NL10,670). Als Frauen, die selbst entscheiden können, kommen eben nur die Königswitwen vor, die allerdings zur Kontrolle ihres Herrschaftsraumes eines neuen Gemahls bedürfen, da sie ständig bedroht werden.

 

Frauen ist es bis in den späten Kapitalismus hinein zumindest in höheren Kreisen noch gestattet, weiblich, wîplich (z.B.Y3,1800) zu sein, ja, das ist durchgehend noch eine Selbstverständlichkeit wie in allen Kulturen und Zivilisationen zuvor. Frauen bekommen Kinder, kümmern sich um Haus und Hof und stehen dem Mann zur Seite. Rechtlich sind sie in der munt des Vaters und gehen von dort in die des Ehemannes über. Ansonsten leben sie als hochadeliger Teil von Herrschaft zumindest in den Epen müezig und im Zustand des gemach, sind zudem zuständig für das, was mit senfte umschrieben wird und bei Hartmanns 'Iwein' mit der staeten guete. Brunhilde und Kriemhild fallen da deutlich heraus. Aber im hus sind sie tätig im (oder zumindest zuständig für den) Bereich der Produktion von Bekleidung. Da Isolde ganz im Phantasialand der Minne aufgeht, werden ihr überhaupt keine Aufgaben zugeordnet außer nächtlicher Willigkeit gegenüber dem Gemahl.

 

Zwar sind auch männliche Helden per se schön, aber für Mädchen und Frauen der adeligen Art scheint es fast noch wichtiger, ougenweide zu sein (T2,641). Da sie an der so wichtigen Tätigkeit des Kampfes höchstens als Zuschauer teilnehmen können, werden sie passiv zu den ständig Angeschauten. Der gerne sehende man beschäftigt sich beim Fest mit sehen vrouwen, und offenbar ganz unverhohlen (T2,617). Die beiden Bräuche am Anfang von Chrétiens 'Erec' machen das auf das heftigste deutlich: Der Jäger des weißen Hirsches darf die Schönste küssen und wenig später erhält eine andere Schönste einen Sperber als Preis. Immerhin problematisiert Chrétien diesen ästhetischen Superlativ, indem er auf damit verbundene Konflikte hinweist.

 

Dô stuonden in den zinnen diu minneclichiu kint (Mädchen, NL8,506), heißt es, als Siegfried zu Brünhilde zurückkehrt. Bei den Hahnenkämpfen der Turniere sind sie regelmäßig dekorative Zuschauerschaft (NL10,582), sie finden ze prîse vor den vrouwen (NL21,1304) statt, daz sach dâ manic meit (NL10,594). Dô sâzen in den venstern diu schoenen megedîn (NL10,644), oder: die vrouwen lâgen zen venstern, allerdings schön sichtbar (P1,17). Sonst sitzen sie allerdings in ir kemenâten wie Gotelind (NL26,1646).

 

36 megede samt Frauen und männliche Begleitung treten den Burgunden in Bechlarn zur Begrüßung entgegen (NL27,1631), 12 Jungfrauen tragen den Baldachin von Gramoflanz, als er in den Zweikampf zieht (P14,687). Feirefiz schließlich wird von Parzival der Artushof so schmackhaft gemacht: wir sehen dâ vrouwen lieht gemâl (P15,754). Und tatsächlich: Feirefiz was vrô, daz er so clâre vrouwen sach: ich waene im liebe dran geschach (P15,758). Wenn bei Artus gefeiert wird, kommen die Ritter gerne, denn in liebet den hof und den lîp / manech magt unde wîp, / die schoensten von den rîchen. (Y1,45ff) In welchem Maße Frauen Anschauungsobjekte sind, ergibt sich unter anderem auch aus Chrétiens Kommentar zu Enide: Ce fu cele por verité qui fu fete por esgarder, qu'ân se poist an li mirer ausi com an un mireor (E438). Die Vorstellung, sich in ihrer Schönheit spiegeln zu können, erinnert an das Spieglein, Spieglein an der Wand...

 

Für den Nachwuchs zuständig und damit für das Fortleben von Macht und Gut (Isolde scheint der Liebestrank hingegen zunächst unfruchtbar zu machen), haben edle Damen (wie auch bürgerliche) jungfräulich in die Ehe zu gehen, als juncfrouwe oder maget. Nur königliche Witwen sind davon ausgenommen. Eine weitere beachtliche Ausnahme ist die durchaus hochedle, aber nicht königliche Brangäne, die für Isolde und ohne daraus resultierende Ehe ihr Hymen opfert. Wenn Gottfried dabei andeutet, dass für sie möglicherweise damit sexuelles Vergnügen einhergeht, bricht er aus dem üblichen aristokratischen Code des Heldendaseins aus - wie überhaupt auf vielerlei Weise.

 

Jungfräulichkeit: Brünhilde ist eine magt, als Gunther ankommt (NL,407), Kriemhilde ist unverheiratet eine magt (9,544). Als juncfrouwe ist man aber auch eine meit (NL7,433) und bei Chrétien pucelle. Jungfräulichkeit ist magetuom, welches Brünhilde durch Siegfrieds „Minnen“ verliert (NL14,837). Bene ist als Jungfrau zudem ein vröuwelîn (P11,554), was Chrétiens dameiseles, junge Damen, entspricht (E51), und was Enide vor der Hochzeit ist (E1479). Die neuzeitliche Magd ist bei Wolfram die dierne (P5,259), und das Pendant zur Jungfrau sind bei Wolfram die junchêrren (z.B. P2,76), die sich deshalb allerdings nicht wie die Mädchen durch sexuelle Unerfahrenheit auszeichnen müssen.

 

Töchter werden Männern von Vätern "gegeben": je la vos doing, ich gebe sie Euch (E678). Sie sind eine Gabe (dons, E1267). Erec redet auch nicht mit Enide, sondern mit dem Vater. Gurnemanz will seine Tochter mit Parzival verkuppeln: nieman si wenden solde, sine gebârten heinlîche (P3,176), aber der will erst einmal Heldentaten vollbringen. Isolde wird auf allgemeinen Ratschlag an Marke gegeben. Eben damit das gut geht, mixt Mutter Isolde den Liebestrank. Das Mädchen muss in ein unbekanntes Land und zu unbekannten Leuten und weint deswegen. Auch die Minne, die zum Beispiel die königlichen Paare vor Joflanze zusammenführt, muss erst durch den Ratschlag der Großen und dann durch Artus bestätigt werden (P14,730), und Lunete rät darum ihrer Herrin, iuwer liute zu rufen, damit sie guoten rât geben, also ihre Zustimmung zu ihrer Gattenwahl (Y3,2149).

 

Mit der Verehelichung aber endet die literarische Darstellung von Minne.

 

Der von den Eltern vermittelten Heirat entspricht kodiert das Phänomen der "Fernstenliebe" vor allem im Nibelungenlied, also des ansonsten unerklärlichen Begehrens einer Unbekannten. Warum sonst nämlich begehrt Siegfried Kriemhild aus der Ferne und Gunther aus noch größerer Ferne Brünhilde? Es ließe sich unterschieben, dass Fürsten in der Wirklichkeit mit der Heirat dynastische Pläne verfolgten bzw. ihre Eltern das für sie taten. Aber das passt im Falle von Jung-Siegfried wiederum überhaupt nicht. Irgendwann nach der Schwertleite heißt es: Dô gedâht ûf hôhe minne daz Siglinde kint. (NL3,45). Er sucht allerdings keine zu verehrende hohe und womöglich verheiratete Dame wie in der Troubadourslyrik, sondern eine heiratsfähige für die Ehe. Auf Kriemhild verfällt er durch ir unmâzen schoene (3, 47), von der er bestenfalls durch Hörensagen weiß. Als die Eltern ihm abraten, verweist er darauf, dass sein herze viel grôze liebe hat (3,50). Erzähltechnisch ist klar, dass er der Zuneigung (minne) der edlen Damen, die ihn bereits bewundern, entraten möchte, um in die Situation zu kommen, selbst um eine werben zu können (enwurbe 3,50). Aber warum ausgerechnet sie, von der er bestenfalls gehört hat, dass sie ein Königskind und "schön" ist? Das eine Jahr auf der Burg zu Worms sieht er sie nicht einmal, aber ist in ständiger nôt wegen ihr, bis er dadurch erlöst wird, dass er sie dann doch zum ersten Mal sehen kann (5,279). Kriemhilde wiederum hat Siegfried schon vorher von hoch oben aus dem Fenster gesehen, wie er auf dem Burghof steht, aber wieso ihn das zu ir vil liebez herzentrût macht (4,222), bleibt unklar, vor allem, da dieser Ausdruck mehr Innigkeit andeutet als das schiere Wort Minne mit seinen Förmlichkeiten. Am Ende sind es die vor allem männlichen Verwandten, die über Kriemhilds Verheiratung entscheiden werden, so wie di helde beschließen, wen Rüdigers Tochter heiraten soll. Sie schamte sich der vrâge, muss aber dann zustimmen (NL27,1676f).

 

Noch weiter weg, und nun von Gunther, nämlich jenseits des Meeres lebt Brünhilde, diu was unmâzen schoene. Viel michel was ir kraft (NL6,1). Das hört der Burgundenkönig und sagt: ich wil durch ir minne wâgen mînen lîp (6, 326). Sie ist also nicht nur schön, was immer das hier bedeuten mag, jedenfalls sieht Gunther sie und sagt ihr, dass er sie wegen iuwern schoenen lîp begehre (7,425). Den haben allerdings bekanntlich noch einige andere Frauen, wie man immer wieder in den Texten lesen kann. Plausibilität kommt da wohl nur durch den Aspekt hinein, dass sich der Sexus hier mit dem (Wett)Kampf verbindet, und dieser hier eben ähnlich jener Herausforderung wird, die dem Kriegerideal entspricht. Andererseits misst sich ein Krieger im Regelfall nicht auf dem Feld seiner männlichen Qualitäten, nämlich Stärke und Kampfkraft, mit einer Frau.

 

Solche Fernstenliebe durchzieht dann auch weiter das Nibelungenlied. Etzel möchte Kriemhild auch ehelichen durch ir grôzen schoene, ohne sie je gesehen zu haben (NL20,1155); dabei hat er auch Sehnsucht nach ir tugenden (20,1229), was an den Sang hoher Minne erinnert und vor allem höfische Schmeichelei sein dürfte.

 

Bei Wolfram ist es eher der unmittelbare Anblick, der Liebe schafft, aber Amflise lässt durch ihren Kaplan (!) dem Gahmuret ihre heiße Liebe aus der Ferne bekunden (P2,76), und Gramoflanz wendet seine Minne Itonje zu, aber ine hân ir leider niht gesehen (immerhin: leider, P12,607). Auch Itonje muss Artus gestehen: wir minnen ein ander âne sehen (P14,712). Beide werden dann auch von Bruder Gawan verkuppelt (P13,633), worauf wir kurioserweise erfahren, dass Gramoflanz der ist, nâch dem mîn herze strîtet (sich sehnt, P13,634). Orgeluse hat zwar Gawan bereits kennengelernt, aber erst, als Fräulein Bene ihm die Rüstung auszieht, alrêrst diu herzoginne clâr nam sînes antlützes war (P2,12,622). Einen Ritter in voller Rüstung sehen, heißt eben, nur diese zu sehen. Schließlich begehrt auch Marke Isolde, die er ebenfalls nie gesehen hat, was dann auch übel ausgeht.

 

Und so wird man schließlich wîp, wenn man einem Mann gehört, und zudem frouwe, wenn man edler Abkunft ist (bei Chrétien dame). Zu Herzeloyde heißt es dann: ir magettuom dâ âne wart, die munde wâren ungespart: die begunden si mit küssen zern und dem jâmer von den vröuden wern (P2,100) und Isolde verliert der êrste rôsebluome von mînem magetuome (T23,14765).

 

Die Hochzeit, noces bei Chrétien (E1867), bei Wolfram und Hartmann brûtloufte, bei Gottfried brûtleite (18,12549), als Hochzeitsfeier eine hôhgezît (P6,336), hat ihr Zentrum und ihren Vollzug in der Hochzeitsnacht, und vor der Entjungferung ist man nicht wirklich verheiratet. Wîp wird man eben erst durch das Beilager. Dessen Bedeutung wird besonders im Nibelungenlied betont, wenn es heißt, dass wenn Gunther gewalt des hete (über Brünhildes lîp), si müese werden mîn wîp (NL7,390), es aber dann zu Brünhilde heißt: Dône wolde si den herren niht minnen uf der vart. Ez wart ir kurzewîle unz in ir hûs gespart ze Wormz zuo der bürge zeiner hochgezît (NL8,525). Brünhilde di minne si im verbôt und er kann sie nicht angesigen (10,634f). Minne bedeutet hier aus ihrer Sicht sexuelle Willfährigkeit im Ehebett (10,648). Dafür, sagt Siegfried zu Gunther, twinge ich dir dîn wîp (10,651). Ihr Gegenspiel ist wer (10,666), also Gegenwehr. Dann kommt es zum Betrug.

 

Dem Ganzen wird noch eine allgemeinere Dimension beigegeben, denn Siegfried denkt, wenn er Brünhilde nicht im Bett niederkämpft, könnten alle Frauen gegen ir manne einen muot gewinnen, der ihnen bislang fehlte (NL10,670), eine offenbar bedrohliche Vorstellung.

 

Das macht die Krise verständlich, die damit beginnt, dass Kriemhild zu Brünhilde sagt: dô er êrste bî iu lac (NL14,844) und NL14,848 sagt dann entsprechend Brünhilde, ich sî Sîfrides wîp, habe Kriemhild behauptet, und: des künges wille an mînem lîbe geschach (14,817). Zu alledem passt, dass auch das Beilager Etzels mit Kriemhild die eigentliche Verehelichung ist (22,1362).

 

Sigune hingegen fühlt sich auch ohne Zeremoniell/Ritual und Beilager mit ihrem getötenen man verheiratet (P2,440). Bei Gottfried hinwiederum ist Verehelichung das sie offenlîche nemen, also die Braut in die eigene munt übernehmen (T2,1628 / T7,4194: daz ichz und manic man sach), was dann noch durch Kirchgang ergänzt werden kann, da ez pfaffen unde leien sehen, der ê nach cristenlîchem site (1631ff). Zur Ehefrau (sîn wîp) geworden bindet sich Kundwiramur dann eine houbet auf (P4,202) und ist so "unter der Haube".

 

Die frouwe ist Herrin, die edle Tochter redet so sogar ihre Mutter an und mit "Ihr". Es gibt dazu auch die Doppelanrede vrouwe unde wîp (P6,302). Wîpheit ist dabei das, was Frauen dann bei Parzival auszeichnet und sogar als wîplîchez wîbes reht auftritt, unterschieden von mannes manheit (P1,10 etc). Weiblichkeit und Männlichkeit sind zwar durch ihre aktuellen zivilisatorischen Rollen geprägt, aber grundsätzlich dürfen sie noch vorgegeben sein, wozu weibliche Schamhaftigkeit gehört, so dass die schamendiu wîpheit der Belakane den Isenhart nicht erhören lässt (P1,27).

 

Dem heutigen ideologischen Gebot der Geschlechter-Gleichheit steht denn auch damals die Erwartung der Verschiedenheit gegenüber. Das wîp ist laut Wolfram oft genug valsch (P3,116) und bei Hartmann ist es wîplich, dass Frauen auch mal jammern. Für Hartmann ist es besonders die weibliche Schwatzhaftigkeit wert, herausgestellt zu werden: iâ gesprichet lîhte ein wîp / des sî niht sprechen solde. / swer daz rechen (bestrafen) wolde / daz wir wîp gesprechen, / der muese vil gerechen. / wir wîp bedurfen alle tage / daz man uns tumbe rede vertrage, / wande sî underwiîlen ist / herte und doch âne list (harmlos), / gevaerlich und doch âne haz / wan wirne kunnen leider baz (wir können nicht anders, Y12,7674).

 

Zur Wirklichkeit und Literatur des hohen Mittelalters: Die Erde ist in noch ganz un-Schillerschem Sinne vergeben, aufgeteilt in dynastisch beherrschte Königreiche, und zwar die ganze bekannte Welt, Orient und Okzident. Nur im Krieg sind noch Machtverschiebungen möglich, - wenn zum Beispiel Siegfried das lant der Nibelungen durch eifrigen Totschlag erobert. Überhaupt: Die Welt besteht ganz selbstverständlich überall aus Ländern, die Herrschaftsbereiche sind. Freie Räume gibt es nur in noch nicht zivilisierten Regionen anderer Kontinente und sind um 1200 längst zu mythischen Räumen geworden.

 

Schon bei Chrétien taucht terre als Reich, Herrschaftsraum auf (E2725). Burgonden lant (NL3,60) ist so Gunthers lant (3,57). Siegfried moht (…) gewinnen beide liute unde lant (2,23), beides ist identisch als Reich. Wo lant und liute zusammengehören, ist der lantman der Landsmann (P9,434 / T7,3935), und mîn lantgesinde sind meine Landsleute (T12,8860). Dazu gehört dann auch noch das lantreht (T15,11041). Daneben besteht weiter der Unterschied von Land und Wasser (NL25,1526 / P4,182) und kommt der neue zwischen Stadt und Land auf (NL21,1294). Vaterland ist noch das, welches dem dort herrschenden Vater gehört. Siegfried spricht von mîns vater lant (NL3,105), und Kriemhild sieht Männer von ir vater lande (NL27,1713). Wo eine Region nicht einem einzigen Herrscher zugeordnet werden kann oder soll, wird auch nach den ehemaligen Stämmen dort benannt. Die Burgunden ziehen durch der Beyer lant (NL26,1597) und die von Beyerlande werden von Hagen besiegt (1613).

 

Eine auch in der historischen Wirklichkeit gegebene Möglichkeit jenseits des Krieges eröffnet sich ritterlichen Helden darum allenfalls, wenn nur noch eine Erbin eines Reiches übrigbleibt, mit deren Heirat der Bräutigam dieses dann gewinnt. Auf solche Weise wird zum Beispiel die einst mächtige Grafschaft Toulouse, ein großes Fürstentum, nach vorgeblich religiösen Kriegszügen allerdings erst, in das Königreich Frankreich hineingeheiratet.

 

Aber Frauen sind auch ohnehin literarisch wertvoll. Siegfried zieht wegen Kriemhild nach Worms, auch wenn sie keine Reichs-Erbin ist. Zusammen mit Gunther reist er wegen Brünhilde nach Isenburg, zentraler Konflikt in Worms ist der Kampf um Rang und Ansehen zwischen Brünhilde und Kriemhild. Brünhilde veranlasst die Ermordung Siegfrieds durch Hagen und Kriemhild veranlasst die Vernichtung der Burgunden aus ihrem Rachewunsch heraus

 

Es sieht so aus, als ob Männer zwar als Herren die Macht haben, nämlich die über Krieg und Frieden vor allem, aber andererseits sind Frauen als jungfrouwe und frouwe in den Texten diejenigen, die die Herren bewegen, und zwar nicht nur dorthin, sie zu erringen und bis dahin ihren Wünschen zu folgen. In den Artusepen geht das noch weiter: Die Heldentaten der jungen Herren in den besten Jahren sind zum guten Teil Minnedienst, das heißt, es gilt, Frauen durch sie zu gewinnen.

 

In der Wirklichkeit ist so etwas eher selten, in den Ritterromanen hingegen wird es fast zu einer Standardsituation: Der Ausritt in die Abenteuer qualifiziert für den Gewinn des Herzens einer Dame, einer juncfrouwe oder Witwe, deren Herz durch ritterliche Gewalttaten erworben wird, die nicht nur die edle Männlichkeit, sondern offenbar auch die Qualifikation für hohe Minne im neuen Sinne erweisen. Im Nibelungenlied gewinnt Siegfried den entsprechenden Ruhm als Nibelungen-Totschläger und als vielfacher Totschläger der Sachsen: Der Krieg tritt hier als individueller Glücksfall auf und wird von Militärs bis in die Gegenwart als solcher begriffen werden. Untypischerweise ist seine entscheidende Leistung dann aber der für Gunther begangene Betrug an Brünhilde, nicht gerade höfischen Idealen entsprechend und reichlich unedel, - denn erst danach gibt der Burgundenkönig Kriemhild für Siegfried frei.

 

Immerhin verliebt sich diese in ihren Helden sozusagen auf den ersten Blick, wenn auch seinen Blicken entzogen. Aber sie ist auch keine Erbtochter, halt nur ein Königskind neben mehreren und vorrangigen Brüdern. Das ist in den Artusepen des zentralisierten anglonormannischen Reiches und des langsam immer zentralistischer werdenden französischen Königreiches und ihrer Adaption an das Kaiserreich ganz anders. Hier wird das Herz von Herrscherinnen durch siegreiches Bestehen von Kämpfen, durch Lanzenstöße und Schwertstreiche und das Fließen von viel Blut und Zerhacken von Helmen und Gliedmaßen unmittelbar errungen.

 

Solch martialische Männlichkeit besteht leicht zeitverschoben parallel zu den schmachtenden fins amours der Troubadoure und der sich daran anschließenden deutschen Minnelyrik. Während dort aber gegen Ende des 12. Jahrhunderts aus den Helden immer mehr schiere Liebhaber werden, wird in der entsprechend erotischen Lyrik das Feiern des erotisierten Geschlechtsaktes bedeutsamer (Walther von der Vogelweide), und da man den adeligen Damen nicht ganz so leicht zu Leibe rücken kann, müssen zunehmend Bauernmädchen dafür literarisch herhalten (man denke an Neithart). Für unsere Helden hier aber müssen Königinnen und Königstöchter her. Die Mädelchen der Lyriker sind ganz ohne ritterlichen Kampf zu haben.

 

Die Wörter Minne und Liebe existieren zunächst nebeneinander, um dann immer mehr Überschneidungen zu finden. Im Nibelungenlied ist minne vorwiegend dem (sexuellen) Begehren vorbehalten, während liebe die Formen davon gelöster Zuneigung bezeichnet. Ein prüderes Zeitalter wird darum Minne durch Liebe ablösen.

 

Bei Chrétien, der so nicht trennt, ist beides amor (E910). Erec macht seine Gemahlin zur amie et sa drue (E2435) und übertreibt damit. Er liebt sie "zu sehr" (trop), mag keine Waffen mehr tragen und schickt andere zu den Turnieren. Darauf sie: Amis, con mar fus (Wie schade um dich, E2503), denn er verliert seine Ehre (pris). Soweit passt Minne zu amor, aber letzterer kann auch die davon unterschiedene Liebe bedeuten: Je sui a la cort molt amez heißt, dass Erec dort beliebt ist (E4503).

 

Im Deutschen wird hohe Minne, die Lieben nicht nur als Begehren begreift, von jener getrennt, die vielleicht nur einen Geschlechtsakt durchhält. Gottfried unterscheidet stattdessen liebe und reine liebe (T1,93ff). Aber Siegfried gedâht ûf hôhe minne und sinnt im nächsten Vers ûf staete minne (NL3, 45/46) zu Kriemhild, dar mîn herze vil grôze liebe hât (3, 50). Kriemhilds liebe geschach Siegfried (3,136) und er enbiutet Kriemhild holden dienst … mit vriuntlicher liebe (9,551). Die beiden begegnen sich, nach langer Wartezeit, mit lieben ougenblicken (5,291). Kriemhild errötet vor Siegfried vor liebe (9,558), denn sie hörte sô liebez maere von ihm (9,9,551). Jemanden minnen heißt dann im Nibelungenlied, um Liebe samt ihrer körperlichen Seite zu werben: Siegfried sagt so zu Brünhilde: der (Gunther) wil dich gerne minnen (7,419).

 

Minnen kann manches bedeuten. Einmal das, was bald lieben bedeuten wird, nämlich die Liebe/Minne von jemand erringen, ihn verliebt machen. Auf der anderen Seite kann es aber auch den Geschlechtsakt selbst bezeichnen. In der Regel tritt Minnen und nicht Lieben als Beischlaf auf (als bilager: geligen nâhen bî, NL10,619, laege bî NL10,622 / 20,1148 usw.). Zum verwundete Gawan heißt es: ob vrîundin waere bî im gelegen, hätte er minne gepflegen, daz waere im senfte unde guot. (P13,628). Das Ersetzen des Beilagers durch den "Beischlaf" ist dann später Resultat einer mit zunehmender Prüderie durchsetzten Verbürgerlichung der Volkssprache Ende des Mittelalters.

 

Liebe und Minne stehen nebeneinander und fallen ineinander, wobei Minne eher einen sexuellen Aspekt enthält, den körperlicher Lust, während Liebe oft das Gefühl der Zuneigung betont. Deshalb wird die einflussreicher werdende bürgerliche Sprache im Verlauf des späten Mittelalters mit einem prüden Unterton Minne nach und nach zugunsten von Liebe aus dem Wortschatz verdrängen. Aber beide sind nicht klar getrennt, Minne kann auch Freundschaft - auch - zwischen Männern meinen (T20,13467), und mit der Burgunden Besuch wäre Etzel liebe geschehen (NL24,1446). Da ist ebenso die libiu tohter von Rüdiger (NL20,1163) und man „liebt“ es, die Damen anzusehen (10,588). Minne als Dienst kann sich, um es ganz zu verwirren, sogar frommen Zielen zuwenden (P9,456), wie in der Liebe zu Gott, der gotes minne (P4,186).

 

Jemandem zuliebe etwas tun heißt im Nibelungenlied durch liebe (4.,262 / 5,263 / 6,386 etc oder selten ze minne 25,1556). Liebe geschieht einem, wenn er gut behandelt wird (NL13,787). Etwas kann jemandem liep sein, dann mag er das, was da geschieht (NL20,1274). Wenn Rüdigers Frau Geschenke verteilt, daz ist mir liebe getân (20,1169), es ist ihm lieb. Es heißt aber auch, dass man minneclich mit jemandem spricht, also freundlich bis liebevoll, wie Gunther zu Siegfried (13,786). Hagen macht dem getreuen Eckewart Geschenke, ze minnen, daz du mîn friunt sîst (NL26,1631). Zwischen Brünhilde und Kriemhild herrscht zunächst liebe, d.h. Freundschaft (13,809). Dieselbe Bedeutung kann auch rehte liebe bei Wolfram haben (P2,68). Gunther möchte, dass Kriemhild liebes geschiht (20,1201). Rüdiger offeriert Kriemhild Etzels friuntliche liebe (20,1231) Das Gefolge Etzels hat Kriemhild ze liebe (23,1395, d.h. sie mögen sie) und Hagen fragt Volker, wie liep er iu sî (29,1774, also: ob er an seiner Seite kämpfen wolle). Vor dem Zelt von Artus wird geküsst: mit getriulîcher liebe craft dâ wart manec kus getân (freundlich, herzlich, P13,671). Man lacht und weint: von grôzer liebe daz geschach (P13,672). Man kann vor liebe lachen wie Etzel bei der Ankunft der Burgunden (vor Freude, 27,1714). Aber zu Parzival und Kondwiramurs ehelicher Liebe heißt es: er was ir liep, als was si im (P4,223)

 

Siegfried wiederum steht so minnecliche auf dem Burghof, daz in durch herzenliebe trûte manec frouwe sind (NL3,133). Es gibt herzenliebe minne (5,292) und Kriemhild tritt minnecliche wie das Morgenrot auf (5,279) Sogar die heftige Brünhilde ist das minnecliche wîp, wiewohl sie noch juncfrouwe ist (7,423). Minniglich ist hier lieblich und liebenswert.

 

Dazu passt als Gegenstück Gottfrieds Feuermetaphorik zum Thema Minne: Die sinne werden "entzündet" (T2,806), da lodert der minnen viure (T2,1117) und an Isolde der liebe dienen heißt eben mit ihr schlafen (T21,13770). Minne diu warf ir vlammen an, Minne envlammete den man mit der schoene ir lîbes (T28,17593) Isolde Weißhand viuwerniuwet ime den muot (T30,19045). Auch der Graf bei Chrétien beginnt gegenüber Enide a enflamer (E3337).

 

Die Liebste ist insbesondere im Nibelungenlied die trûte (5,293) Das soll auch Brünhilde für Gunther werden (6,330). NL9,537 ist sie seine triutinne. Rüdiger redet damit seine Gotelinde an (20,1168), und: mit ougen wart getriutet vil maniger schoenen vrouwen lîp (10,598) Beim Anblick von Rüdigers Tochter haben viele Ritter jâ trûtes in den sinnen. Si dâhten, swes si wolden,, des enmohte aber nicht geschehen (NL27,1666f).

 

Gunther beginnt vergeblich Brünhilde minneclich triuten (10,631).Triuten meint oft in den Beischlaf bringen (10,652, und dann enminnen 10,653). Truten taucht als Beischlaf auch in NL10,679 / 25,1512 auf. Belakane pflac süezer minne mit Gahmuret ir herzen trût (P1,44). Tristan redet andererseits Marke mit trût hêrre (lieber Herr) an (T7,4405), was eben auch möglich ist. Witwe Kriemhild will keinen Mann mehr triuten (NL20,1230), aber 23,1397 umbvängt sie Etzel und triutet sie so, si was im alsô sîn lîp (23,1397). Dann verspricht sie dem, der sie rächt, als miete (Lohn) auch ein Mädchen, sô maht du gerne triuten den ir vil minneclichen lîp (NL31,1903).

 

Kriemhild trûte sîne hende, streichelt sie mit ihrer Hand (NL10,658). Das ist spil wie das Liebesspiel Siegfrieds mit Brünhilde (10,659/662). Aber es heißt auch zu Kriemhild gegenüber Rüdigers Tochter: dâ wart vil getriutet der juncfrouwen lîp (21,1322). Beim zärtlichen Abschied aus Bechlarn trûten die Ritter mit umbslozzenen Armen schoeniu wîp (27,1707). Ein hunnischer Ritter ist trût der vrouwen, wird von ihnen bewundert, was ihm das Leben kostet (31,1883).

 

Wir befinden uns zugleich aber in den Männerwelten von Kriegern. Das beginnt mit leicht homoerotischen Zügen: Bei den „Helden“, den rîtern, degen oder recken wird genauso wie bei den Mädchen und Frauen ihre Schönheit betont, ohne dass meist recht klar wird, worin sie besteht.

 

Männer sind meist unter sich, beim Turnier, dem spil, im Kampf, auf der reise. Frauen und Männer ziehen wie in der historischen Wirklichkeit getrennt in die Kirche ein und sitzen dort auch getrennt voneinander. Und so wird erwähnt, dass die Geschlechter gar nicht so viel zusammen sind. Man isst getrennt in Bechlarn (NL27,1668f). Auf Klingsors palas, dâ einhalp manec ritter was, anderthalp die clâren vrouwen (bevor man sich setzt, P13,630 Dann sitzt man getrennt: 636). Jungfrauen sehen von hoch oben aus engen Fenstern oder zwischen den Zinnen, also aus der Ferne, den Rittern bei ihren martialischen Vergnügungen zu. Siegfried haust ein Jahr lang als Gast auf derselben großen Burg zu Worms wie Kriemhild, ohne sie zu Gesicht zu bekommen. Das ist einerseits unwahrscheinlich wie so manches in dieser Art von Literatur, weist andererseits aber ganz realistisch darauf hin, dass tatsächlich unverheiratete Mädchen aus dem Adel nicht frei in einer Öffentlichkeit auftreten. Itonje sagt: sît mir mîn êrster tag erschein, sô wart ritter nie dehein ze dem ich ie gespraeche wort (P13,632), und: nâch minne ist dienstes mich verdagt (sie weiß nichts von Minnedienst, P13,632).

 

Erst mit der Verheiratung sind Frauen wie in der dokumentierten Wirklichkeit öffentlich sichtbarer und greifen aktiver in das Geschehen ein. Aber verheiratete Frauen sind die Ausnahme in diesen Texten, Ehefrauen sind bis heute nur literaturfähig, wenn sie betrügen oder betrogen werden. In der Männerwelt von Kampf und Krieg existieren vor allem Scharen von Jungfrauen, also von jungen und noch sexuell intakten Frauen (Mädchen). Als schiere Männerphantasie dekorieren sie massenhaft und oft für den Leser schweigend Burgen und Räume, kaum mehr als Mobiliar.

 

Dennoch: Zur Bedienung beim Fest heißt es: ein vorhtlîch zuht si des betwanc, daz sich der knappen keiner dranc mit den juncfrouwen: man muose sî sunder schouwen, si trüegen spîse oder wîn: sus muosen si mit zühten sîn (P13,637). Man kann sich denken, was sonst zu befürchten wäre...

 

Das Nebeneinander von Trennung der Geschlechter und ihrem Zusammensein in anderen Textstellen bleibt unerklärt und unerklärlich. Man hilft der Dame auf das Pferd, wobei man ihr schon mal nahe kommt (P12,615), hilft ihr aus dem Sattel (NL10,581), wobei sie schon mal in den männlichen Armen landet, führt ihre Pferde, wenn sie drauf sitzen (10,576), nimmt sie beim Empfang an der Hand (NL10,587). Am Rheinufer gewan einander kunde vil manic riter unt meit (NL10,578), sie lernen sich kennen, unterhalten sich. Dasselbe findet bei Rüdiger zwischen burgundischen Rittern und heimischen meit auf der Wiese statt (NL21,1312).

 

Beim Fest auf Klingsors Burg: die ritter dar, die vrouwen her, dicke an ein ander blicten. die von der vremde erschricten, werden si iemmer heinlîcher baz, daz sol ich lâzen âne haz. (P2,13,638) Und dann tanzen Frauen und Männer zusammen und Männer bieten Liebesdienste an, die angenommen werden (P639); juncfrouwen mit varwen glanz sâzen dort unde hie: die ritter sâzen zwischen sie (...) swer dâ nâch werder minne sprach, ob er vant süeziu gegenwort (P641). Vor Joflanze heißt es: Gawan gesellt vrouwen zu Rittern, und man spricht dann von minne (P13,669). Vor dem Zelt von Artus steht schließlich bei jedem Ritter eine Dame (P13,670) und eine Zeile weiter: mangen dûhte daz daz wîte velt vollez vrouwen waere.

 

Bei solchen zahlreichen öffentlich auftretenden Jungfrauen wie bei Wolframs Gral handelt es sich eben nicht um in einer Wirklichkeit Erlebbares, sondern um als literarisches Schauspiel inszenierte Männerphantasien. Leider erfahren wir nirgends, wie Frauen unter den Zuhörern und Lesern damit umgingen.

 

Ganz anders wiederum sieht Wolfram das grôz Gemenge. Sein Weib würde er nicht dem gedrenge aussetzen: etslîcher hin ze ir spraeche, daz in ir minne staeche und im die vröude blante: ob sie die nôt erwante, daz diente er vor unde nâch. mir waere ê mit ir dann gâch (P1,4,216f). Wolfram weiß eben auch, dass die Minne bei einer Festivität zum Beilager führen kann: swer da werder minne pflac, der wunschet der naht vür den tac (P14,731). Andererseits schafft das in derselben Nacht nicht jeder: man sach dâ mangen trûrgen lîp, den daz gelêret heten wîp: man swem sîn dienst verswindet, daz er niht lônes vindet, dem muoz gein sorgen wesen gâch, dane reiche wîbe helfe nâch. (P14,731).

 

Das, was das Nibelungenlied als heimliche dinge bezeichnet, sind die intimer-sexuellen (10,664 und: sîner heimliche 10,678). Vor der Hochzeit Kriemhilds mit Etzel wollte Rüdiger den künec niht lazen Kriemhilde heinliche pflegen (22,1355). Diese "Dinge" bleiben im Text überwiegend außen vor. Wolfram beschreibt nicht, wie Gawan und Orgeluse minne steln, denn: zuht sî daz sloz ob minne site (P13,643), und Chrétien del sorplos (...) me doi bein teisir, er schweigt von dem, was dann kommt. E5208). Immerhin wird er etwas deutlicher bei der ersten asanblée von Erec und Enide, wenn er vom Begehren spricht, welches am ganzen Körper ausgelebt wird, und vom Küssen bis hin zur Entjungferung (2020ff).

 

Der eheliche Koitus ist bekanntlich Pflicht, und das betrifft in der historischen Wirklichkeit allemal beide Eheleute: Er hat der (reichlichen) Nachkommenschaft zu dienen und kirchlicherseits der Kanalisierung des Geschlechtstriebes. Und darum schläft Isolde alternierend und in wohl kurzen Abständen mit Marke und Tristan - abwechselnd pflichtschuldigst und dem Begehren folgend. Bei dem, was da geschieht, senkt Wolfram schamhaft den Vorhang. Gottfried hebt diesen Vorhang nur insofern geringfügig mehr, als er mit Isolde und Brangäne das Thema Lust ohne Ehre andeutet, die möglich ist: in aller Heimlichkeit.

 

Ganz archaisch und vielleicht wieder auch ganz modern erscheint die Geschichte von Brangäne, der bedingungslosen Dienerin Isoldes, die diese persönliche Bindung an die Herrin über alle anderen Verbindlichkeiten stellt. Am Hofe von Marke vermittelt sie die Gelegenheiten zum Ehebruch für ihre Herrin, und die Bedingungslosigkeit ihrer Unterordnung unter sie scheint vor alle "feudalen" Strukturen zurückzugehen.

 

Im 18. Kapitel ist die jungfräuliche Brangäne bereit, anstelle der bereits entjungferten Isolde die Hochzeitsnacht mit König Marke zu verbringen. Gottfried kommentiert: Lât alle rede belîben. / welle wir liebe trîben, / ezn mac sô niht belîben,/ wirn müezen leide ouch trîben.

 

Brangäne macht nun vor, was Isolde mit Marke bis in ihren Tod hinein "treiben" wird, ohne dass das noch deutlich erwähnt werden wird: den willigen Koitus mit dem ungeliebten Mann. Erschwerend kommt hinzu, dass der Liebestrank fehlt, der diesen körperlichen Akt verzaubern könnte: Marke Brangaenen zuo z'im twanc. / ine weiz, wie ir der anevanc / geviele dirre sache. / si dolte sô gemache, / daz ez gâr âne braht beleip. / swaz ir gespil mit ir getreip, / si leiste unde werte, / swes er hin z'ir gegerte, / mit messing und mit golde, / als wol alse er wolde. / ich wil mich ouch des wol versehen, / daz ez ê selten sî geschehen, / daz ie sô schoene messinc / vür guldîniu teidinc / ze bettegelte würde gegeben. (T 12596ff)

 

Also: Als Marke sie in die Arme nimmt, weiß keiner, wie sehr ihr das womöglich gefällt. Sie duldet es jedenfalls so, dass es ohne Wider-Laut abgeht. Sie leistet und gewährt ihm, was immer er mit ihr treibt und von ihr will. Und dann wird es heftig: Sie bietet Messing und Gold, er bekommt den willigen Körper, so wie er ihn möchte, aber nicht ihr Herz.

 

"Bettgeld" für das bettespil gibt es also. Geld ist Entgelt, und meint um 1200 am Oberrhein noch nicht unbedingt Münze als Zahlungsmittel (s.o.). Es ist vielmehr die abzuleistende Schuld, weswegen es im Angelsächsischen vor dem normannischen Überfall (1066) Steuer oder Abgabe bedeutet ("Danegeld").

 

Die im "Liebesspiel" erfahrene Isolde macht sich Gedanken: Ob Brangäne die Erfahrung von sexueller Lust vielleicht so gefällt, dass sie bis zum Tagesanbruch bei Marke bleibt und so das Ganze aufgedeckt wird: trîbet sî diz bettespil / iht ze lange und iht ze vil. / ich vürhte ez ir sô wol behage, / daz sî vil lîhte dâ betage. / sô werde wir alle / ze spotte und ze schalle.» / nein, ir gedanke unde ir muot / die wâren lûter unde guot. / dô si vür Îsolde / geleiste, daz si solde, / unde ir teidinc ergie, / von dem bette sî sich lie. (T 12623)

 

Brangäne geht aber nach der Entjungferung und Isolde wechselt vom Lager mit Tristan zu dem ihres rechtmäßigen Ehemannes: diu leite sich mit maneger nôt, / mit tougenlîchem smerzen / ir muotes unde ir herzen / zuo dem künege ir hêrren nider. / der greif an sîne vröude wider; / er twanc si nâhe an sînen lîp. / in dûhte wîp alse wîp. / er vant ouch die vil schiere / von guoter maniere. / ime was ein als ander. / an ietwederre vande golt unde messinc. / ouch leisten s'ime ir teidinc / alsô dan und alsô dar, / daz er nie nihtes wart gewar. (T 12660ff)

 

Es ist dunkel, die Damen haben beide ein Hemd an, das schiere sexuelle Vergnügen des Mannes bei weiblicher Willigkeit ist dasselbe. Dasselbe wird Tristan auf andere Weise mit Isolde Weißhand geschehen: Begehren, physische Lust sind austauschbar, die Liebe zur "Person" allerdings nicht. Aber Isolde scheint um die beiden Seiten von Lust und Liebe zu wissen: si sorgete sêre / und vorhte harte starke, / Brangaene ob sî ze Marke / dekeine liebe haete, / daz sî im kunt taete / ir laster unde ir maere, / als ez ergangen waere. / diu sorchafte künigîn / diu tete an disen dingen schîn, / daz man laster unde spot / mêre vürhtet danne got. (T 2702ff)

 

Genau dort beginnt der zusammenhängende Teil von Thomas' Fragment, und es wäre verständlich, wenn Gottfried sich entschieden hätte, dem nicht mehr zu folgen. Oez merveilluse aventure, / Cum genz sunt d'esrtange nature, / Que en nul lieu ne sunt estable! / De nature sunt si changeable, / Lor mal us ne poent lassier, / Mal le buen puent changer. (Thomas, Zeilen 234, Oxford-Fragment)

 

Die Menschen sind seltsam, merkwürdig, instabil, unzuverlässig also, sie verändern sich von Natur aus, vom Übel können sie nicht lassen, aber das Gute in das Schlechte verwandeln. Was fast wie der Text eines spätmittelalterlichen Bußpredigers anmutet, lässt sich auch als postgermanische/keltische Schicksalsklage lesen.

 

Tristan ist dann später in der Fremde und denkt darüber nach, seinen Schmerz über die Trennung von Isolde der Blonden zu heilen durch die Heirat mit Isolde Weißhand. Das Gute ist in der Reflektion von Thomas die Treue zu Isolde der Blonden, das Schlechte Untreue zu ihr und Hinwendung zu Isolde Weißhand, die ihm nie geben kann, was die Blonde ihm gab. Der grand estrif e esprove, der innere Monolog Tristans, so wie ihn Thomas nennt (Zeile 186 des Oxford-Fragments), greift die Furcht Isoldes der Blonden auf, Brangäne könne an ihrer Stellvertreterschaft im Bett Markes Gefallen finden. Was bei dieser Isolde noch vorrangig Angst vor Entdeckung ist mit einem Funken Eifersucht, wird bei dem Tristan des Thomas: Pur vostre cors su jo em paine, / Li reis sa joie en vos maine (Zeilen 19f) Und kurz darauf: Car jo sai bien qu'il se delite. Vom erotischen Vergnügen des Königs gelangt er dann zu dem von Isolde in seinen Armen: Tant se deit deliter al rei (Zeile 104).

 

Die Liebe geht durch die Augen in den Leib, aber sie steigt auch von den Umarmungen aus dem Leib ins Herz: Par jueir (im Liebesspiel), par sovent baiser / Se puet l'en issi acorder (Zeilen116f). In den Armen des Mannes erlernt sich also die Liebe aus dem körperlichen Vergnügen. In dieser Gegenbewegung zu den Neuerungen der höfischen Liebe möchte Tristan sein Leiden an der Liebe zur blonden Isolde ersticken. Isolde Weißhand ist schön (und jung) und hat den richtigen Namen. Pur saveir l'estre la reine / Coment se puisse delitier / Encuntre amur od sa moillier / Assaier le volt endreit sei, / Cum Ysolt fait envers lu rei. (Zeilen 207ff)

 

Kurz, wenn er Isolde Weißhand heiratet, wird er herausfinden, was für Mädchen bislang normal war, und das ist l'estre der Königin (so nimmt er an): Sich mit einem anverheirateten Mann körperlich verbinden, mit der Erwartung, dass das sexuelle Vergnügen auch ohne Liebe kommt und vielleicht Liebe (die andere, weniger lyrische Variante) daraus entspringt. L'amur vient del faire und: l'amur de L'uovre vient, denkt der zur Kopulation mit der weißhändigen Isolde unfähige Tristan im Bett. Er übernimmt also nun die Mädchensicht, die notgedrungen die Entstehung der Liebe zum Bräutigam in der Erfüllung eines Begehrens sehen, welches in den Armen des Zukünftigen erst entsteht (auch wenn Mädchen mit der Pubertät das Begehren bereits im Leibe tragen). Und so wird sie in der Hochzeitsnacht ihn umarmen, auf den Mund und das ganze Gesicht küssen, an sich ziehen, ihn begehren und seufzen.

 

Was der Text und das innere Räsonnement Tristans dabei übersieht, ist, dass der Mann die Frau "nimmt" und nicht umgekehrt; dass der nicht höfisch überzeichnete Mann eine Frau auch ohne Heirat nehmen kann, und dabei Ehre gewinnen kann, wenigstens deshalb, dass eine Frau dabei aber verliert und entehrt wird.

 

Hier ist darauf hinzuweisen, dass Gottfried, der dem ursprünglichen Unheilsstrang der Geschichte von Anfang an nicht ganz folgen möchte, schon die Hochzeitsnacht von Brangäne/Isolde mit Marke deutlich anders beschreibt: Der König ist freudig erregt, fröhlich und etwas angetrunken, als er in sein Bett geht, und Tristan löscht sofort alle Kerzen. Der König nimmt Brangäne nun in seine Arme und nimmt sich sein Vergnügen mit ihr. Aber Isolde ist traurig und fürchtet, Brängäne möge sie verraten und dem König enthüllen, was geschehen war. Deshalb verbringt sie die Nacht ganz nahe bei ihnen, um sich dessen zu versichern, was sie sagen.

 

Als der König eingeschlafen war, ging Brangäne und Isolde legte sich zu ihm. Als er aufwachte, verlangte er nach Wein, und Brangäne gab ihm geschickt von dem Wein, den die Königin in Irland bereitet hatte. Aber dieses Mal trank die Königin nicht davon. Einen Augenblick später wendet sich der König ihr zu und schlief mit ihr ohne zu merken,. dass das nicht mehr dieselbe Frau war. Da er sie sehr angenehm und erfreulich fand, zeigte er ihr soviel Liebe, bewies soviel Freude und war so zärtlich, dass Isolde ihm alle Freuden freudig zurückgab. ... Diese Nacht gab ihnen eine Freude voller Entzückens. Isolde war glückselig, liebevoll und zärtlich zum König, geliebt und geschätzt von allen, den Reichen wie den Armen. Sie verbrachte heimliche Momente mit Tristan jedesmal, wenn sie sich treffen konnten. (Tristan et Iseut, S. 559)

 

Auf dieser Grundlage könnte Gottfried seine Minnegrotten-Episode nicht begründen, denn die Entstehung der Liebe aus der gelungenen physischen Vereinigung widerspricht seinem Konzept, welches durch seine Beschreibung der Liebe von Riwalîn und Blanscheflur eingeleitet wird, wo die Liebe durch die Augen geht und nicht unter den Händen des Liebhabers entsteht.

 

Tristan macht also bei Robert/Thomas Isolde Weißhand schöne Augen (wie das noch bis ins 20. Jh. heißen wird), er gibt ihr viele Küsse und umarmt sie viel, und dann ist er entschieden, sie zu nehmen und sie sind entschieden, und es wird gehochzeitet. Aber dann kann/will er im Gedenken an die blonde Isolde mit der weißhändigen die Ehe nicht vollziehen. Die "begehrende Sehnsucht" (desir) nach der Königin seines Herzens nimmt ihm die physische Begierde (voleir) gegenüber dem Mädchen (la meschine). Das eine nimmt ihm das andere. Die historisch neue Liebe siegt über die alte. Die zweite Isolde bleibt nach der Hochzeit genauso Jungfrau wie es die erste schon vorher nicht mehr war.

 

Derweil leidet Marke daran, dass er sich physisch an seiner Isolde verlustieren kann, aber ihr desir und amur nicht bekommt. Sie hat seinen Körper (cors), sein Herz (cuer) will sie nicht (Zeile 99). Nun leiden alle vier in zwei Paarungen, während Brangäne innerlich Aggressionen aufbaut. Tristan errichtet sich Statuen von der irischen Isolde und Brangäne und "himmelt sie an".

 

Der männliche Geschlechtstrieb ist ein verwirrender Urgrund für die Kämpfereien der Helden, der Degen, Recken und rîter. Er reicht nämlich nur so weit, bis Herz und Hand (und die Scheide) der Frau, ob juncfrouwe, wîp oder frouwe, errungen sind. Dann ist Herrschen im errungenen Reich angesagt, was unliterarisch ist und für den Fortgang des Wolframschen 'Parzival' regelmäßig mit dem Verlassen des Eheweibes verbunden wird, auf zu neuen Abenteuern. Oder aber der Held verligt sich, er schafft es kaum noch aus dem Bett der Frau heraus, etwas despektierlich ausgedrückt, und verliert so seinen Heldenstatus.

 

Wenn Ehen in der Wirklichkeit auch gestiftet werden und daneben in den Romanen das Begehren in die Ferne geht, so wird es doch schon gelegentlich bei Wolfram über die Augen vermittelt, und bei Gottfried dann noch mehr. Aber schon bei Chrétien begehrt (covi) der Graf Enide, weil sa biautez d'amors l'esprist, ihre Schönheit erweckt also sein Begehren (E3282f). Die Verliebtheit wird über die sexuelle Attraktivität vermittelt, und die heißt durchweg in den Romanen Schönheit: iuwer schoene und anders niht macht Iwein in Laudine verliebt, wie er ihr bekennt (Y3,2355).

 

Belakane erblickt Gahmuret zum ersten Mal und ir ougen vuocten hôhen pîn, dô si gesach den Anschevîn, der was sô minneclîhe gevar, daz er entslôz ir herze gar, ez waere ir liep oder leit, daz beslôz dâ vor ir wîpheit (P1,23.) Weibliches Schamgefühl wird überwältigt, aber sie vertraut auf seine zuht. Dann sieht sie bald, daz er waere wol getan, dass er also gut aussieht, aldâ wart under in beiden ein vîl getriulichiu ger: si sach dar und er sach her. und schon was ir lîp sîn selbes lîp (P1,28f).

 

Die Liebe (minne), und zwar die zwischen Riwalîn und Blanscheflur wie die zwischen Tristan und Isolde (und zwischen ihm und Isolde Weißhand) wird durch die Augen vermittelt und erweist sich unmittelbar in physischem Begehren. Sie ist von naturhafter Gewalt, reißt die Beteiligten mit und führt ohne weitere Verbindlichkeiten zur körperlichen Vereinigung.

 

So wie sich Riwalîn und Blanscheflur über die Augen verlieben, (ouge und ouge, 1084) so entdecken sie bei Gottfried auch die Liebe des anderen über die Art, wie deren Augen aufeinander gerichtet sind. Nicht anders ergeht es Isolde mit Tantris/Tristan schon vor der Einnahme des Liebestranks: nu nam Îsôt sîn dicke war / und marcte in ûzer mâze (betrachtet ihn über alle Maße) / an lîbe und an gelâze. (sowohl Körper wie Auftreten) / si blickte im dicke tougen (wie gebannt starrt sie ihn an / an die hende und under d'ougen. / si besach sîn arme und sîniu bein, / an den ez offenlîche schein, (und sieht dabei ganz deutlich) / daz er so tougenlîche hal. (was er verbirgt) / si bespehete in obene hin zetal. (sie betrachtet ihn von oben bis unten) / swaz maget an manne spehen sol, (was sie an Männern interessiert) / daz geviel ir allez an im wol / und lobete ez in ir muote. (sie lobt es (nur) für sich).

 

Aber so wie ihr Tristan gefällt, bis darauf, dass er Morold erschlagen hat, so gefällt sie ihm auch, und vor dem Zaubertrank versucht er sie immer wieder zu umarmen, um sie über ihre Traurigkeit zu trösten.

 

So richtig füreinander geöffnet werden ihre Augen aber erst durch den Liebestrank, der bei ihnen dasselbe bewirkt, was bei Riwalîn und Blanscheflur auch so gelingt. Isolde kann erst ihre Augen nicht mehr von Tristan lassen, und sie dann beide nicht mehr voneinander: ein ander ougenweide. / die gelieben dûhten beide / ein ander schoener vil dan ê. / deist liebe reht, deist minnen ê. / ez ist hiure und was ouch vert / und ist, die wîle minne wert, / under gelieben allen, / daz s'ein ander baz gevallen... (T 11855ff)

 

Wenngleich der Koitus, Kernthema der Pornographie seit dem Barock, selbst außen vor bleibt, sind die Heldenromane des Hochmittelalters doch nicht prüde. Die Allgegenwart des Begehrens (gêr), wenn nicht der Kampf und die Erschöpfung danach davon Ruhe schenken, wird überdeutlich: wan weizgot diu lust, diu den man alle stunde und alle zît lachende under ougen lît, diu blendet ougen unde sin, diu ziuhet ie daz herze hin (T30,19358). Und veredelt, sublimiert wird dies Begehren ins Reich des Erotischen hinein, bis es dann heißen kann: si daz barel (Becher) im gebôt, daz gerüeret hete ir munt, sô wart im niuwe vröude kunt daz er dâ nâch solt trinken (P12,623). Zu Parzival und den Töchtern des frommen Pilgers heißt es: ir munde wârn rôt, dicke, heiz. (...) ichn holte ein kus durch suone dâ. (...) wîp sint et immer wîp. Wenig fromme Gedanken bei ihrer frommen Pilgerfahrt! (P9,499f). Er schaut ihnen Zeilen später zwischen seinen frömmer werdenden Gedanken entzückt nach (P9,451).

 

Heftiger noch ist es, wenn der Totschläger die Witwe an der Bahre ihres Mannes sieht, swâ ir der lîp blôzzer schein, dâ ersach si der herre Îwein, als er also die bloße Haut durch das Gewand hindurch sieht (Y2,1331ff) und es ihm sogleich den Verstand vor Begehren raubt.

 

Der Gipfel der Erotisierung wird dann im auch kirchlich geförderten Bild vom Einhorn erreicht: ein tier heizet monîcirus, daz erkennet der meide reine sô grôz daz ez slaefet ûf der meide schôz (P9,482). Man findet dies Bild wieder in den Wandteppichen der gotischen Höfe. Frömmigkeit als Vorwand und Erotisches als Untergrund.

 

Die Verbindung von Religion und Erotik findet auch bei Herzeloydes "Milchtaufe" statt: ir brüstel lindet unde wîz, dar an kêrte si ir vlîz, si dructe si an ir rôten munt , si tet wîplîche vuore kunt (…) diu milch in ir tüttelîn, die gedructe drûz diu künegîn (…) het ich des toufes niht genomen, du waerest wol mîns toufes zil. ich sol mich begiezen vil mit dir und mit den ougen, offenliche und tougen (P2,110ff). Sie wird ihn stillen, was offenbar nicht selbstverständlich ist. Aber: diu hoehste küneginne Jesus ir brüste bôt. Also: diu rôten välwelohten mâl: ich meine ir tüttels gränsel: daz schoup si im in sîn vlänsel (P2,113). Auch die Brüste von Jeschute sind erwähnenswert: daz si begoz ir brüstelin, als si gedraet solden sîn. diu stuonden blanc hôch sinewel:jane wart nie draehsel sô snelder sie gedraet hete baz (P1,5,258).

 

Und auch das männliche Glied findet statt. Anfortas verletztes Geschlechtsteil ist die heidruose sîn (P9,479), und zu eim kapûn mit eime snite wart Clingschor gemachet (wegen seines Ehebruchs, P13,857). Zum jungen Parzival im Bade heißt es: si und ander vrouwen begunden betalle schouwen zwischen den beinen sîn visellîn. Er muose vil getriutet sîn, do er hete manlîchiu lit (Glied, P2,112).

 

Überhaupt wird der Mann im Bade zur erotischen Szene. Da ist der junge Parzival in der Badewanne mit den juncvrouwen, die seine Wunden pflegen, wobei er schüchtern ist und sie ungezwungen parlierten (P3,167). Er will nicht vor ihnen aufstehen, um das Badetuch umzulegen: ich waen sie gerne heten gesehen, ob im dort unde iht waere geschehen, ob er also eine Erektion hätte (P13,167). Die Jungfrauen jedenfalls sind kurz vom Anblick von Parzivals nacktem Körper entzückt (P5,244). Ebenso geht es Isolde schon vor dem Liebestrank mit Tristan, dâ er in einem bade sa, wo sie sehr lange bei ihm ist (T14,10145). Schließlich gibt es bei Chrétien auch noch les puceles comancierent a baignier Erec (E5181), ohne dass das näher beschrieben wird.

 

Eine Ausnahme ist beim weniger erotisierenden Hartmann diejenige der drei Damen, die Iwein aus der Nacktheit seines Wahnsinns mit einer magischen Salbe kuriert, die sie ihm am ganzen bloßen Leib verstreicht. Sie entfernt sich, bevor er aufwacht, damit ihm die schemlîchiu schande nicht bewusst wird, dass sie ihn nachet gesehen hat (Y5,3490ff). Beides existiert also nebeneinander: Eher schamlose Freude an (männlicher) Nacktheit und schamhafte Rücksichtnahme. Frauen im Bade hinwiederum finden nicht statt.

 

Die strenge Sexualmoral der römischen Kirche, die Töchter und Ehefrauen auch schon einmal in ihrer Kemenate einsperren lässt, trifft in den Romanen immer wieder auf ihr exaktes Gegenteil. Zu Bene, der Tochter des Fährmanns bei Gottfried, sagt ihr Vater: nu diene im unverdrozzen. Sie geht also mit Gawan auf ein Zimmer und dient um seine hulden (P10.549). Gawan will, dass sie mit ihnen isst, was sie erröten lässt (550). Und dann in seiner Kammer: Gâwân al eine, ist mir gesagt, beleip aldâ, mit im diu magt. hete er iht hin ze ir gegert, ich waen si hete es in gewert (hätte es ihm erlaubt, 552). Der Vater hätte das hingenommen (P11,556: der liez ez âne zürnen gar). Dazu der Kommentar von Wolfram: Diu magt ir dienstes niht vergaz: vürz bette ûf den teppich saz diu clâre juncfrouwe. bi mir ich selten schouwe daz mir âbents oder vruo solh âventiure slîche zuo (P11,554). Das heißt natürlich einmal, dass das Ganze recht romanhaft ist, andererseits ist es eine angenehme Männerphantasie, die vielleicht nicht völlig aus der Luft gegriffen ist (?).

 

Iwein schläft, eine hocherotische Situation, in der Nähe des womöglich lieblichsten aller Mädchen (magt), und das ist ein wunder für jemanden (...) daz im ein unsippiu magt (eine nicht verwandte) / nahtes also nâhen lac / mit der er anders niht enpflac (mit der er sonst nichts machte), / dern weiz niht daz ein bîderbe man / sich alles des enthalten chan / des er sich enthalten wil. / weizgoit ir ist aber niht viel. (Y11,6674ff)

 

Wie es um die außereheliche Liebschaft bzw. sexuelle Aktivität in der Wirklichkeit steht, geben die Romane natürlich nicht her. Tristan und Isoldes heimliche Liebe bei Hofe ist diu rehte trûtschaft, meint Gottfried, die Verbindung von liebe und minne (T26,16420ff) und zugleich diu blinde liebe (16453). Als Entschuldigung führt er an: Wie Eva würden Frauen Verbotenes nicht tun, wenn es nicht verboten wäre. Aber das klingt flau angesichts der Tatsache, dass Aventiure und außerehelicher Koitus durchaus zusammengehören können. Gahmuret zieht aus, so erwirbe ich guotes wîbes gruoz, um ihr dann zu dienen (P1,8). Er sagt: mîn herze nâch hoehe strebet und ôwê war jaget mich mîn gelust? (P1,9). Es ist nicht die Lust auf Ehe, die ihn treibt.

 

Bei Hofe schleicht man sich nachts zu juncvrouwelîn (T20,135788). Selbst über Anfortas heißt es: mit selher jugent hât minne îr strît, sô twingt si ir vriunt sô sêre, man mag es ir jehen ze unêre (P9,478) und Klingsors Schicksal wurde auch schon erwähnt.

 

Auch das offensive Begehren eines Teils der Frauen kommt in den Romanen nicht zu kurz. Zwar weiß Laudine, dass es der wîbe sîte ist, dass selten wîp mannes bite (Y3,2329f), aber das hindert sie nicht, um ihn zu werben. Die Herrin von Narison allerdings endûht ez sî niht schande, si het geworben umbe Iwein (Y6,3810f). Amflise verkündet Gahmuret per Brief ihr intensives Begehren, bietet ihm reiche Geschenke, sich selbst und lant und crône und verspricht: kan ouch minneclîcher minne enpfâhen und minne geben als selbst Herzeloyde (P2,77). Er wird darauf "ihr Ritter". Amflises Bote wiederum über diese: diu lebt nâch im in lîbes zer, verzehrt sich also nach ihm (P2,87).

 

Die jungfräuliche Herzeloyde wiederum gegenüber Gahmuret beim Fest: si twanc iedoch sîn minne. er saz vür si sô nâhe nider, daz si in begreif und zôch in wider Anderthalp vast an ir lîp (P2,84). Und dann sagt sie zu Gahmuret: Lât mich den lîp niht langer zern (P2,95).

 

Auch Isolde Weißhand geht offensiv auf Tristan zu, tut alles, um ihn zu verführen. Zur schlafenden Jeschute wiederum heißt es: Ihr Mund truoc der minne Hitze viur (P3,130). Parzival "ringt" mit ihr, sie wird unter wohl beiderseitigen Lustgefühlen entêret.

 

Andere Frauen sind immerhin verführbar. Zur Schwester des Königs von Askalon und Gawan heißt es: der künec enbôt der magt daz si sîn war. sô naem daz langiu wîle in diuhte ein kurziu île. (P8,403). Er erhascht einen Kuss, er sîne bete, si ir versagen (...) ouch bat er si genâden vil (...) ir an sô kurzer zît welt mîne minne hân (406) er greif ir undern mantel dar: Ich waene, er ruorte irz hüffelin (Hüfte) des wart gemêret sîn pîn, von der liebe alsölhe nôt gewan beidiu magt und ouch der man, daz dâ nâch was ein dinc geschehen, hetenz übel ougen niht ersehen (407)

 

Zusammengebracht werden das Lob der Keuschheit und erotische Freizügigkeit nicht, sie bleiben nebeneinander stehen.Wahrscheinlich geht das für Wolfram auch nicht zusammen. P6,291 heißt es denn auch kritisch: Frau Minne pflegt untriuwen, nimmt manegem wîp ir prîs, verführt zu Koitus unter nahen Verwandten, schafft Unheil sogar unter Freunden, gibt den lîp der gir preis und fügt der sêle Schaden zu. Hartmann ergänzt: si ist mit ir suezze / vil ofte under fuezze / der schanden gefallen (Y21577).

 

Immerhin wendet sich der Wolfram erotischer Szenen gegen Frauen, die im englischen heute als Prickteaser benannt werden: daz si durch arbeitlîchen muot ir zuht sus parrierent und sich dergegen zieren! vor gesten sint si an kiuschen siten: ir herzen wille hat versniten swaz mac an den gebaerden sîn. ir vriunt si heinlîchen pîn vüegent mit ir zarte (P4,201f).

 

Gottfried wendet sich wie er gegen "falsche Frauen": vrouwen kunnen weinen âne meine und âne muot, als ofte sô si dunket guot (sie können Gefühle vorspielen, T21,13900ff). Und so betrügt Isolde Marke längst, und der versucht das mit Listen heraus zu bekommen. Aber under ir arme si in nam. si halseten, si kusten, z'ir senften linden brusten twanc si'n vil harte nâhen - um ihn dann erneut zu betrügen (T21,14158)

 

Ansonsten feiert Gottfried treue Liebe mit triuwe, diu von herzen gât (T17,12336), daz ist der staete vriundes muot (T17,12269). Die Anlage der Frau ist, da folgt er der Kirche, die Evas, und wenn sie gegen diese lop, êre und lîp bewahrt, dann ist sie von ihrem muot her keine Frau mehr, sondern ein Mann (T29). Dann legt sie ihre wîpheit ab und aus den Wurzeln der Brennessel wachsen Rosen. Vollkommen ist die Frau, wenn sie wider ir lîbe mit ir êren vehte, um beiden gerecht zu werden Das ist dann mâze. Dafür braucht sie Selbstachtung, Eigenliebe (T29). Andererseits sollen Frauen ihre wîpheit hochhalten der werlde zuo gevalle, also ihre êre hochhalten, wem sie dann ir meine und ir minne bzw. êre unde lîp ganz schenkt, der hâr daz lebende paradîs (T29,18066)

 

Der Eva-Vergleich taucht öfter auf: Isolde lässt ein Bett im Garten aufbauen, legt sich im Hemd hinein. Dann wird Tristan geholt: nu tete er rehte als Adam tete. daz obez (Frucht), daz ime sîn Êve bôt, daz nam er und az mit ir den tôt. (T29,18162ff) Aber Tristan nennt das lûterliche minne (T29,18272). Entsprechend versprechen sie sich für nach der dauerhaften Trennung ewige Liebe und Treue, wollen "ein Leib und Leben" bleiben (18344).

 

**Gottfrieds Himmel auf Erden**

 

Wie später bei der Liebe von Tristan und Isolde führt jene "Liebe", die kein soziales, sondern ein individuelles Ereignis zwischen zwei Menschen ist, die sie aller übrigen Bindungen entzieht, bei Gottfried mehr noch als bei den anderen Texten von Anfang an zu einer Art gefühlsbedingter Symbiose:

 si haeten in ir sinnen / beide eine liebe und eine ger. / sus was er sî und sî was er. / er was ir und sî was sîn. / dâ Blanscheflûr, dâ Riwalîn, / dâ Riwalîn, dâ Blanscheflûr, / dâ beide, dâ lêal amûr. / ir leben was vil gemeine dô, / sî wâren mit ein ander vrô / und hôhten ir gemüete mit vil gemeiner güete. / und swenne sî mit vuogen / ir state in ein getruogen, / sô was ir werltwunne vol, /sô was in sanfte und alsô wol, / daz sî enhaeten niht ir leben / umb kein ander himelrîche gegeben. (T 1356ff)

 

Die Anarchie des naturwüchsigen liebenden Begehrens sprengt jede Ordnung und rechtfertigt sich aus sich selbst. Vuogen ist Fügen, und beide fügen sich zu einer Einheit zusammen, aber vuogen ist auch verwandt mit der "Zucht", und in die Zucht gerät man durch Erziehung, durch die man sich in die "Sitte" einfügt. Die beiden schaffen also durch die Liebe eine (a-)soziale Binnenwelt aus zwei Personen, die nach der Entführung von Blancheflur durch ihren Liebsten durch die kirchlich sanktionierte Eheschließung erst wieder in die "sozialen" Zusammenhänge zurückfindet. Das Symbiotische taucht später noch öfter wieder auf: swaz sô dem einem sanfte tete, des enpfant daz ander an der stete. si wâren beide under in zwein (...) al ein (z.B. T22,14335)

 

Was für eine Vorstellung von Liebe ist das, von der der Autor mehrmals ausdrücklich betont, er kenne sie persönlich? Und welche Bedeutung hatte sie für Leute, die sie hörten oder lasen?

 

Die Liebe zwischen den drei Paaren (Tristans Eltern, Tristan und die beiden Isolden) bei Gottfried von Straßburg trennt nicht wie in den Schriften vieler Kleriker zwischen dem Gefühl von Zuneigung und dem physischen Begehren nach sexueller Befriedigung. Dass sie sich aus triebhaftem Verlangen nährt, erweist sich schon an ihrer Intensität. In allen drei Fällen ist Begehren und Zuneigung eins, denn die letztere erwächst aus dem ersteren. König Marke hingegen wirkt in dem Text wie ein Mann mit schwacher Libido, außer Isolde gibt es keine anderen Frauen (was damals unter Herrschern noch eher ungewöhnlich ist), und es ist die Schmach, die ihn in so etwas ähnliches wie Eifersucht treibt, nicht die Liebe, nicht das Begehren. Aber Marke ist eben auch ein schwacher Krieger und ein schwacher Herrscher.

 

Die körperliche Vereinigung ist direkte Folge einer Identitätsverschmelzung, und in dieser Verschmelzung liegt so etwas wie Selbstaufgabe. Das gegenseitige Begehren, welches alle drei Paare erreichen, wird als Sehnsucht und Leiden dargestellt, und in der gefühlten Verschmelzung steigert sich dies Leiden erheblich, um sich kurz in der sexuellen Befriedigung zu erschöpfen. Gottfried war deshalb eine gute Vorlage für Richard Wagner, der diesen an- und abschwellenden Schmerzlust-Vorgang in entsprechende Musik kleidete.

 

Gegenwelt? Die beiden großen Liebenden gestehen sich ihre Liebe und geben sich ihr glückselig ganz hin (Gottfried, Zeilen 12370ff): si gâben unde nâmen / mit getriuwelîchem sinne / in selben unde der minne (sich selbst und der Liebe) / willegen zins unde zol. / in was vil inneclîche wol / an der reise und an der vart. / dô diu vremede hine wart, (da das Fremdsein fort war) / dô was ir heinlîche (da wurde ihre intime Heimlichkeit) / rîlîch unde rîche. (Selig und reich) / und was daz wîsheit unde sin. / wan die sich helent under in, (wenn Leute sie sich aber verhehlen) / sît daz si sich enbârent (obwohl sie sich offenbart haben) / und danne ir schame vârent (und sich weiter schämen) / und gestent sich an liebe, / die sint ir selber diebe. / sô sî sich danne ie mêre helent, (je mehr sie es sich verhehlen) / sô s'ie mêre in selben stelent (je mehr sie sich selber bestehlen) / und mischent liep mit leide. / dise gelieben beide / die enhâlen sich ze nihte. (offenbaren sich gegenseitig) / mit rede und mit gesihte / wâren si heinlîch under in. (wenn sie ganz intim miteinander waren). / Sus triben sî die reise hin / mit wunneclîchem lebene.

 

Ihre Liebe ist offen und unvermittelt, sie macht aus zweien einen, und sie ist von jener kristallinen Durchsichtigkeit symbiotischer Einheit, die durch ihre Heimlichkeit noch gesteigert wird. Das kommt daher, dass die Liebhaber zwar alle höfischen Formen kennen, ihre Liebe sich aber nicht darum schert: Sie ist "reines" Begehren, und ihre "Reinheit" ist Treue, die aus jener kristallinen Offenheit herkommt. Diese wiederum kommt aus der Offenheit der beiden Liebenden, und das Medium dieser Offenheit sind die Augen.

 

Liebe, Minne im Phantasialand, wie sie spätestens im 18. Jahrhundert so oft im Kitsch und Schund ertrinkt, ist schiere Verliebtheit, ist hormoneller Überschwang, und endet in der Ehe wie fast sämtliche Literatur. Riwalin und Blanscheflur haben es, literarisch gesehen, noch einfacher, sie schaffen es bis zum Beilager und sterben dann passender Weise. Den großen Liebenden (das heißt krankhaft Dauerverliebten) Tristan und Isolde bleibt die Ehe und damit der Ruin ihrer Liebesgeschichte erspart, denn Isolde ist schon anderweitig verheiratet.

 

Der Weg in Kitsch und Schund wird dabei schon angedeutet. So wie die Angebetete dabei ist, zum Engel zu werden, formuliert bereits Gottfried, daz sî enhaeten niht ir leben umb kein ander himelrîche gegeben (T2,1371). Das ist noch um 1200 entweder Blasphemie oder rabiate Gedankenlosigkeit für einen Christen, aber inwieweit der Autor überhaupt einer ist und was für einer, wird bis zum unfertigen Schluss unklar bleiben.

 

Diese Situation der Verliebtheit als psychische (krankhafte) Exaltiertheit erhält sich in der Minnegrotte, nachdem die beiden Liebenden von Markes Hof verbannt sind. Heidnische Riesen hatten sie erbaut: so s'ir heinlîche wolten hân / und mit minnen umbe gân. (T 16695f). Die Liebe, die Gottfried nun feiert, ist gebunden an ihr märchenhaftes Milieu. Die Liebesgrotte liegt in der Wildnis, das heißt im Wald, entfernt von menschlichen Ansiedlungen: daz minne und ir gelegenheit / niht ûf die strâze sint geleit noch an dekein gevilde: / si lôschet in der wilde, / z'ir clûse ist daz geverte / arbeitsam unde herte. / die berge ligent dar umbe. (T 17075)

 

In der Wildnis ist die Grotte aber von einer Insel garten- oder parkartiger Idylle mit Brunnen, Linden und Vögelein umgeben. Sie ist eisern verschlossen und birgt nichts anderes als ein kristallenes Bett in einem Raum mit weißen (hellen, Reinheit versprechenden) Wänden, einem mit Edelsteinen besetzten Gewölbe und spiegelblanken Marmorplatten als Boden.

 

Dieser lichte, kostbare Phantasieraum ist nur Rahmen: ein bette in mitten inne was / gesniten schône und reine / ûz cristallînem steine hôch unde wît, wol ûf erhaben... und ganz mit Buchstaben bedeckt. Das Bett ist der Text, den die (Frau) Aventüre dem Dichter eingibt, - auch wenn die Dame bei Gottfried nicht so definitiv personifiziert auftritt und oft eher auch maere heißt.

 

Dieses phantastische Kristallbett wird folgendermaßen erläutert: Daz bette inmitten inne / der cristallînen minne, / daz was vil rehte ir namen benant. / er haete ir reht vil rehte erkant, / der ir die cristallen sneit / z'ir legere und z'ir gelegenheit. / diu minne sol ouch cristallîn, durchsihtic und durchlûter sîn (T 16977ff).

 

Die Liebe, um die es hier geht, ist also kristallen, durchsichtig und durch und durch lauter. "Läutern" heißt im Mittelhochdeutschen "reinigen", und so wird ein und dieselbe Liebesvorstellung dreimal variiert. Ein Verweis auf Jean Jacques Rousseau käme nicht von ungefähr, auch wenn es sich dabei in vielem um etwas ganz anderes handelt. Aber die Reinheit, die bei Gottfried und dem armen Jean-Jacques gefeiert wird, hat im Kern dieselbe christliche Wurzel. Es ist christlicher Intentionalismus, ein Kult der guten (schönen) Absichten, der sich in der Minnegrotte breitmacht, nachdem er schon - wie am Beispiel von Abaelard zu zeigen ist - um 1100 im Herzen des nördlichen Galliens (Westfranziens) philosophische Blüten entfaltete.

 

Die magische Kraft der guten Absicht veredelt die Liebe von Tristan und Isolde, nachdem ihr der höfische Ehrbegriff abgegangen ist. Dazu muss die gesellschaftliche Wirklichkeit durchbrochen und magisch verzaubert werden, und dies zeigt sich nicht nur daran, dass die Liebenden keiner anderen Nahrung mehr bedürfen als der Liebe, sondern sich sogar selbst als Hofstaat genügen.

 

Der archaische keltische Text ging wohl davon aus, dass man sich nimmt, wozu man die Macht hat, die Recht konstituiert. Das ist um 1200 nicht mehr möglich, inzwischen bedarf es der guten Absicht, denn die conscientia des Augustinus ist längst ins hochmittelalterliche Gewissen verwandelt, auch wenn dies bei Gottfried durch das Herz ersetzt wird, für Intentionalisten notwendig. Der innere Mitwisser nun, die internalisierte gesellschaftlich vermittelte Norm, wird stillgelegt durch die gute Absicht. Diese aber ist die reine Liebe, die über das Auge ins Herz fährt, in welchem sie die Herrschaft übernimmt.

 

Die Veredelung des schlichten sexuellen Begehrens in die oberste moralische Instanz geschieht dann dadurch, dass Absicht und Ziel zusammenfallen: Die Zwietracht des Begehrens als Leiden am geliebten Objekt fällt in die Einheit mit sich selbst in der Einheit mit dem geliebten Objekt. Einheit ist jene kristalline Klarheit, Reinheit, Durchsichtigkeit, die zugleich Unschuld ist. Wo bei Rousseau Gott aber zur lesenden Öffentlichkeit wird, die zur Absolution aufgrund offensichtlicher Unschuld aufgerufen wird, die auf Schuldunfähigkeit als moralischem Geburtsadel beruht, ist Gottfried wesentlich radikaler. Angesichts des sakralen Charakters der Liebe der beiden, die durch deren Göttin gewährleistet wird, bedarf es nicht mehr der öffentlichen Konfession. Das höfisch veredelte sexuelle Begehren wird zur sich genügenden Unschuld selbst.

 

Das stete Unglück, welches dem armen Jean-Jacques in seinen 'Confessions' in immer neuen Schlägen widerfahren wird, ist unter anderem auch der allerspäteste Abklatsch jener "Ritterromane" barock-platten Zuschnitts, die Rousseaus Kindheit prägten, und sein Leben wird das von dem jungen Edlen, der zu seinen Aventüren auszieht, die ihn allesamt zum Opfer machen, denn seine Absichten sind gut, nur die Umstände sind es nicht. Völlig verkitscht wird das Ganze dann in Goethes 'Werther'.

 

Die Liebesaventüre von Tristan und Isolde geht schlecht aus, weil die Umstände eine solche reine, d.h. auch außereheliche und sich nur aus sich begründende Liebe nicht hinnehmen. Aber in der Minnegrotte wird sie als "rein" gefeiert, weil ihre Absichten rein sind.

 

Intentionalismus aber ist immer Flucht aus der Verantwortung, die an die (gute) Absicht abgegeben wird: Gleich was geschieht, ich habe nichts Böses gewollt. Ich habe letzten Endes (wie bei den von der Liebe Geführten) nicht selbst gehandelt, sondern mich der guten Absicht anheimgestellt. Die Liebe ist nicht nur ein Argument für Paulus (als agape), sondern auch für Gottfried (als liebe), und bei letzterem wird sie Schicksal, also Verantwortungslosigkeit als Befreiung, das, was Chrétien de Troyes bereits im 'Cligès' und im 'Lancelot' angeprangert hatte.

 

Dabei ist das ganze Kapitel von der Minnegrotte eine Allegorie und deren Deutung durch den Allegoriker nötig und also Allegorese. Allegorisch dargestellt wird ein Raum, der bei einigen deutschen Minnesängern und bei Wolfram der des Herzens ist, mit seinen Beherbergungsmöglichkeiten, seinen beschreibbaren Wänden, der Tür und dem Schlüssel, der sie verschlossen hält, wenn jemand zu Gast ist, - oder aber den zwei Riegeln wie hier. Der Raum ist keine Höhle mehr wie bei den Eremiten, sondern eine prächtige Grotte für Zweisiedler, die sich in eins siedeln. Und angestrebt wird keine ewige Seligkeit nach dem Tode mehr, sondern die ganz irdische zeitliche Seligkeit physisch ausgelebter Liebe, die in dieser Grotte metaphysische Qualitäten bekommt. Die Glückseligkeit im Himmelreich wird auf der Erde vorweggenommen, etwas, was früher einmal dem Kloster vorbehalten war.

 

Diese Liebe, die in der sozialen Wirklichkeit damals ausgeschlossen wäre und aus der übrigen Wirklichkeit des Versromans durch ihre Verortung ausgeschlossen wurde, ist nicht mehr so recht von dieser Welt, obwohl sie an ihrem Rande stattfindet. Es wäre spannend, herauszubekommen, wer diesen Text gelesen und sich angehört hat, und wie "ritterlich" gewordener Kriegeradel, Bürgersleute oder Geistliche auf ihn reagiert haben.

 

Aber die Minnegrotte ist nicht primär eine Allegorie des Herzens. Stattdessen ist sie darüber gestülpt eine in Analogie zur ekklesía, wenn auch keine, die unmittelbar auf sie hindeutet. Die Analogie bietet die Architektur, das Bild von dem abgeschlossenen heiligen Raum in der Wildnis der Welt, einer Kathedrale des Eros. Das kristallene Bett wäre der Altar (zum Bett taugte es eh nicht). Wir sind dabei eine Stufe weiter als bei Wolfram, wo der Gral für den Altar steht. Das Gewölbe hat bereits einen Schlussstein, was den Verdacht aufkommen lässt, es handele sich um ein frühgotisches. Die Edelsteine an diesem könnten unmittelbar das Himmlische Jerusalem meinen, und das Schneeweiß der Wände wäre jene Reinheit, die dorthin emportragen würde. Die Basis, der Boden, ist aus grünem Marmor, und grün lässt sich leicht als Farbe des Glaubens, der Hoffnung ist, erkennen. In diesem bedeutungsvollen Raum bedürfen die beiden Liebenden keiner irdischen Nahrung mehr, die neutestamentarische "geistliche Nahrung" reicht ihnen, und sie ist erotischer Natur.

 

Es muss nicht weiter fortgefahren werden, denn die Minnegrotte ist keine Allegorie der Kirche, für die das Kirchengebäude schon Allegorie ist. Es handelt sich nur um Analogie. Es geht ja auch tatsächlich nicht um die himmlische Liebe, die Gottesminne, sondern eine ganz erotisch-körperlich irdische. Aber Liebe ist es schon, die die Analogie vermittelt.

 

Schließlich liefert Gottfried die Exegese oder besser Allegorese selbst, und das in großer Ausführlichkeit. Und er beginnt gleich mit dem Hinweis auf den analogen Kern, denn das Bett ist ein Altar, aber nicht einer des christlichen Gottes: daz ez bemeinet waere / der gottinne Minne. (T 16723f)

 

Die Analogie wird natürlich nicht weiter ausgewalzt, denn das wäre wohl damals zu viel Blasphemie gewesen. Die Form des Raumes bedeutet dementsprechend Schlichtheit, Kraft und hoher muot. Der anagogische Weg geht nicht hoch zu Gott, sondern in den Edelsteinen verkörpern sich die Tugenden, die gewiss nicht christlich sind. Auch die Nahrung ist nicht christlich-geistlich, sondern: diu gebalsemete minne, / diu lîbe unde sinne / als inneclîche sanfte tuot, / diu herze vuoret unde muot. (T 16831)

 

Im Kapitel von der "Minnegrotte" entfernt sich Gottfried am weitesten von den Vorgängertexten. Béroul beschreibt nach der Flucht der beiden vor dem Feuertod ein Wanderleben im verwunschenen Wald von Morrois mit stetem Ortswechsel, dem Hausen in Laubhütten, mit Kleidern, die in Fetzen am Leib hängen und als Nahrung hauptsächlich Wildbret. Es fehlt an fast allem, aber sie sind sich beide in intensiver Liebe ergeben.

 

Bei Thomas/Robert gibt es dann schon eine Art Felsenhöhle, die Heiden kunstvoll ausgebaut hatten. Die Umgebung ist bereits ähnlich idyllisch wie bei Gottfried; die beiden leben vergnügt in dieser paradiesischen Natur, und bei schlechtem Wetter in der Höhle. Dies Leben brachte ihnen viel Fröhlichkeit und Vergnügen, denn sie kannten Nacht und Tag die Freude und gegenseitige Tröstung. (Kapitel 64)

 

Mit dem Grottenkapitel - so sehe ich es als heutiger Leser - ist die Geschichte Gottfrieds von Tristan und Isolde eigentlich an ihrem Ende angelangt, die gleichzeitige Sakralisierung und Verwandlung des sexuellen Begehrens in die irdische Idylle ist die Aporie des sexuellen Begehrens, es verliert sich in sich selbst, so wie Richard Wagners Oper sich im Verlieren des Eros in sich selbst in ihr glaubwürdiges Ende verliert. Die Verabsolutierung des Eros ist sein/der Tod.

 

Aber damit verlöre sich der Autor in ein Ende, welches nicht den Vorlagen entspricht, und er sieht sich wie die anderen deutschen Epiker als Interpret französischer höfischer Vorlagen. Dabei ist für diesen Autor das Ausspinnen der Unheilsgeschichte zwischen Tristan und Isolde Weißhand nicht mehr glaubwürdig handhabbar. Auf die Liebe als Himmelsmacht kann nur noch der Absturz folgen.

 

**Exkurs: Huote - und des Strickers huote-Texte** (in Arbeit)

 

Das leidige Thema der (Un)Keuschheit der Jungfrauen und Ehefrauen rührt unter anderem auch daher, dass sexuelles Begehren und Fortpflanzung ohne pharmazeutische Empfängnisverhütung noch nicht entkoppelt sind. Das ignoriert Gottfried in seinem Tristan, indem er Isolde mit geringer Fruchtbarkeit ausstattet. Damit kann er sich auf jene naive Liebesrhetorik einlassen, die dann ihre Blütezeit im 18. und 19. Jahrhundert haben wird.

 

Damit sind wir bei jenem Thema, welches durch Masseneinwanderung im Europa des 20. Jahrhunderts unter frommen Muslimen wieder auftaucht: Der Bewachung der Keuschheit der Frauen. Während zwischenzeitlich das andersartige Begehren der Frauen zugleich pseudo-medizinisch als das schwächere definiert wurde, kann davon im hohen Mittelalter bis hinein in das späte noch nicht die Rede sein. Dafür steht nichts deutlicher als Gottfrieds Isolde, deren Begehren, einmal erweckt, nicht schwächer ist als Tristans.

 

Das Thema des Behütens der Frau taucht in Zusammenhang mit Brangäne und der leiden huote auf, der leidigen Bewachung, die sie ausübt (T2,17,12196). Bei der List Markes mit der fingierten Wallfahrt fragt der König und Ehemann, in wessen huote Isolde sein möchte (T2,21,688). Dabei geht es natürlich nicht nur um das Bewachen ihrer Keuschheit. Grundsätzlich ist Isolde natürlich ständig in huote und in getwange Markes (T2,22,14416).

 

An ihr ließe sich einerseits, da Gottfried eine gewisse Autonomie weiblichen (sexuellen) Begehrens konstatiert, die huote gut begründen, da sie entsprechend in Permanenz untreu ist, aber der Autor macht das Gegenteil: Indem er der begehrenden Liebe einen ethisch höheren Status als der ehelichen Treue einräumt, kann er die huote von Grund auf verurteilen. Sie ist verwâzen (verwünscht), ist vertânes antwerc, vîndin der minne, entehrt die Frauen, die ihre Ehre sonst behalten hätten (T2,29,17845ff). Böse Frauen lassen sich nicht erfolgreich bewachen und gute brauchen keine Bewachung, meint er im Widerspruch zu seiner eigenen Geschichte. Stattdessen sol ein ieclîch biderbe man und der ie mannes muot gewan, getriuwen sînem wîbe (T17911ff). Das aber ist wenig plausibel, wenn das (romantische) Ethos autonomen Liebesbegehrens zugleich existieren soll: Wie der (Ehe)Frau trauen, wenn sie ihrem Begehren folgen darf?

 

Nun ist Isolde verzaubert durch den Liebestrank, aber diese Entschuldigung ist einer wenig vernunftgemäßen Welt entnommen und so verwickelt sich der Autor in seine Widersprüche, wenn er dann das Thema des Behütens und Bewachens dennoch vernunftgemäß abhandelt. Der frömmere und bravere Hartmann hat es da leichter, wenn er seinen Gawein meinen lässt, dass man einer Frau in staetem muote keine huote beigeben muss. Nur irriu wîp (was Krohn mit flatterhaft übersetzt) und Kinder bedürfen demnach ihrer.

 

Wir sind in zunehmend bürgerlich dominierten Zeiten, in denen selbst in Kreisen des Adels Vorstellungen von monogamer Ehe Eingang finden. Dennoch ist dort, wo es hinreichend Grundbesitz, eine handwerkliche Firma oder gar unternehmerisches Kapital gibt, nicht so, als ob die Liebesheirat nun überhand nimmt. Noch herrscht das Bewusstsein, dass die Ehe und die Familie ökonomische und manchmal auch "politische" Einheiten formen, in denen auch der Status eine Rolle spielt. Und es geht natürlich nicht nur, wie manche Historiker meinen, um die Legitimität des Erben, sondern auch um jenen männlichen Stolz, der verletzt wird, wenn ein biologischer Rivale den Schoß der Frau inseminiert und ihre (sexuelle) Lust okkupiert.

 

Bald nach unseren Heldenepen wird der sogenannte Stricker ein wohl immer noch überwiegend adeliges Publikum mit Texten erreichen, in denen bürgerlicher Einfluss deutlicher wird.

 

ff

 

Die Veredelung der Helden: Christentum

 

Das Christentum um 1200 in der lateinischen Welt teilt sich in jenes der römischen Kirche, in das der jesuanisch-apostolischen „Häresien“ und schließlich und vor allem in jenes der Laienwelt. In den Versromanen unserer Helden erfahren wir höchstens etwas über die religiösen Vorstellungen, wie sie die Autoren ihrem hochadeligen Publikum anbieten. Da aber nun die römisch-katholische Version von Christsein Pflicht ist und Abweichungen nach der Jahrtausendwende zunehmend verfolgt werden, ist zu vermuten, dass das Christentum in den Romanen auch etwas von dem spiegelt, was es für diesen hohen Adel tatsächlich bedeutete.

 

Im 10.Jahrhundert beginnt ein Prozess der Emanzipation der Kirche von ihren weltlichen Herren. Mit der kirchlichen Friedensbewegung, den Reformen von Cluny und dann der kirchlichen Reformbewegung des 11. Jahrhunderts gewinnt die Kirche einen neuartigen Einfluss in der mittelalterlichen Welt, der sich auch in zunehmenden Machtansprüchen äußert. In der gleichen Zeit formieren sich neuartige, wichtiger werdende Städte mit dem steigenden Selbstbewusstsein eines neuartigen Bürgertums – und in derselben Zeit erfahren wir von christlicher Dissidenz gegenüber der Kirche. Zudem entwickelt sich eine neuartige hochadelig-fürstliche höfische Schicht, mit der Könige zu rechnen haben und konkurrieren oder sich arrangieren müssen.

 

Die steigende Einflussnahme von Kirche und Kloster im weltlichen Raum kulminiert in der spanischen Reconquista und den Kreuzzügen, in denen sich die Ethisierung der Gewalttätigkeit als ihre Einschränkung in die Ausrichtung der Krieger gegen die „Heiden“, genauer, gegen den Islam konkretisiert. Die Rechtfertigung des Krieges im Dienste der Kirche als „heiliger Krieg“ bekommt dann mit Bernhard von Clairvauxs Loblied auf die Tempelritter und schließlich seinen Kreuzzugspredigten neuen Gehalt. Zugleich beginnt der Kampf gegen die christlichen Häresien von einer lokalen und regionalen Sache zu einer der Gesamtkirche zu werden. Soweit die Voraussetzungen in aller Kürze.

 

Was in unseren Texten als erstes auffällt, wenn man sie vergleicht, ist eine sehr unterschiedliche Auffassung von Christentum bzw. das unterschiedliche Verhältnis zu ihm bei den Autoren. Gemeinsam ist ihnen, dass es an jener philosophischen und theologischen Durchdringung mangelt, wie sie sich seit dem 11. Jahrhundert unter Intellektuellen entwickelt hat, und dass es nirgendwo solide kirchlicher Doktrin entspricht.

 

Im Nibelungenlied, noch stark seinen archaischen Wurzeln verpflichtet, ist Religion überhaupt Nebensache. Man geht morgens zur Kirche, lässt die Geistlichen singen, und ignoriert dann die evangelische Botschaft, soweit sie in der Kirche überhaupt vorkam. Gott ist, so wie heute auch, vor allem eine recht gedankenlose Floskel.

 

Im Detail sieht das so aus: Der „christliche“ Gott ist mächtig wie überhaupt alle Götter. Got den rîchen nennt ihn Hagen (NL25,1554 und Dietrich von Bern spricht von dem rîchen got von himele (NL28,1727). Er tut meist das, was die edlen Recken brauchen und so schenkt er ihnen zum Beispiel schöne Frauen (1,14 / 27,1671). Das ist natürlich bereits eine Floskel, denn die Zuhörer bei Hofe wissen sehr wohl, dass man sich Frauen selbst durch Macht und Reichtum erwerben muss. Und doch, Hartmanns Iwein kann, den Kitsch und Schund späterer Zeiten vorwegnehmend und zugleich eigentlich blasphemisch in seiner Verliebtheit in Laudines Schönheit formulieren: ez ist ein engel und niht ein wîp (Y2,1690) - und das deswegen, weil Gott selbst sie so geschaffen hat, got der hât geleit / sine kunst und sîne kraft, / sînen flîz und sîne meisterschaft an disen loblîchen lîp. Gott also als Schöpfer schöner Frauen und damit wenig christlich.

 

Das mindeste aber an Verhalten zu einem solchen Gott ist, dass man fordert, was er (tun) „soll“: Siegfried so zu Gunther in Brünhilds Land: got müez iuwer êre di zît wol bewarn (NL7,478), während er fort ist. Kriemhild bittet immerhin got den guoten sîner (Siegfrieds) sêle pflegen (NL19,1100). Got soll Rüdiger auf seiner Botenreise bewarn, wünscht Etzel (20,1151) und Rüdigers Frau will, dass got von himele Etzels Boten möge bewarn (24,1423), und nu müeze uns got behüeten, meint Hagen (26,1633). Die Gäste in Worms sîn gote willekomen, meint Hagen (20,1180). Kriemhild: iu sol verbieten got, dass ihr mich verspottet. Dietrich zum Tod Rüdigers: daz ensol niht wellen got! Denn: daz waere des tîvels spot (38,2242). Daz enwelle got heißt: Gott soll Kriemhild zur Rache verhelfen (17,1043), und got sol daz gebieten, daz iuwer tugent immer lebe (Hagen zu Rüdiger, NL37,2196). Hartmanns Laudine bittet Gott, ihr dazu zu verhelfen, dass sie iemer werde frô, wobei sie, was ganz selten ist, auch diese guoten Heiligen anruft (Y13,7933). Nicht zuletzt heißt es, dass Kriemhild bat got vil dicke, ihr Reichtümer zu geben, wie sie sie bei Siegfried hatte (20,1244). In alledem lässt sich der Rest eines eher germanisierten "christlichen" Gottes erkennen.

 

Den wahren Helden hilft Gott auf jeden Fall bei Hartmann, und so ist es der gotes segen, der Kalogreant aus der Naturkatastrophe am Brunnen errettet (Y1,654). Das klingt naiv, soll es aber wohl auch sein. Gott ist offenbar auch auf Seiten Yweins, und als der darum den Gemahl der Laudine töten kann, ist diese wiederum empört: Ze gote huop diu frouwe ir zorn. / si sprach "herre, ich hân verlorn / vil wunderlîche mînen man. dâ bistû eine schuldech an (Y2,1381). Aber als Herrin der magischen Quelle haftet Laudine ohnehin etwas feenhaftes an, und Feen dürfen wohl selbst einem christlichen Gott, so er das überhaupt ist, Schuld zuweisen.

 

Für uns Heutige ist dann Hartmanns folgende Passage doch erstaunlich. Iwein möchte Lunete im Gerichtskampf retten und die jungen Damen bei Hofe (junchfrouwen) bitten alle Gott, ihm beizustehen: nû ist got sô gnaedeck und sô guot / und sô reine gemuot / daz er niemer kunde / sô mannigem suezzen munde betlîchiu dinc versagen (Y9,5357). Meint der Autor des 'Armen Heinrich' ernstlich, dass weibliche Lieblichkeit bei Gott besonderen Einfluss hat - oder ist das doch kaum noch erkennbar Ironie? Eher nicht beim Autor des 'Armen Heinrich'.

 

Soweit unterscheint sich dieser Gott nicht von anderen ("heidnischen") Göttern. Dazu wird er öfter in formelhafte Wünsche hineingenommen: Daz wolde got, das soll er wollen, meint Gotelind (20,1167) und daz wolde got von himele, dass Notung noch lebte (27,1697). Und nu wolde got, sagt Dankwart, der gerne einen Boten zur Hand hätte (32,1938). Daz wolde got bzw. soll er wollen, sagt Rüdiger, nämlich dass die Burgunden am Rhein geblieben wären (37,2180)

 

Dazu kommen seltener formelhafte Klagen: Dankwart klagt seine nôt einem Ritter unde got von himele (33,1949). Hagen über den Kampf unter Freunden: daz sî got gekleit (geklagt, 37,2197). Gott hat Dietrich vergezzen, da fast alle anderen schon tot sind (38,2316).

 

Ähnlich formelhaft, aber vielleicht schon etwas „christlicher“ ist die Anrufung des göttlichen Erbarmens: Die Burgunden sind in Not: ez mohte got erbarmen (NL36,2109 ähnlich P2,92). Und auch ähnlich: Nu müez uns got genâden (sagt Giselher, NL37,2189). Ein gnädiger Gott passt aber eigentlich nicht ins Nibelungenlied, sondern eher in die Artusromane: Der Gott, der aller wunder hat gewalt soll sich dabei auch schon mal eines heidnischen Helden erbarmen, der im Kampf fällt. (P1,43). Manchmal ist er auch ein gnädiger Gott bei Gottfried (T4,2490ff) oder got der guote (T14,10539), ein genaedeclîcher trehtîn (T18,12477) und schon bei Chrétien Dex qui plains est de misericorde (E4635). Dass die Handlungsverläufe dem wenig entsprechen, scheint nicht zu stören.

 

Irgendwie ist dieser nicht sonderlich christliche Gott als Teil einer mächtigen Kirche doch das, was man mit ihrem Gott identifiziert. Und indem er in Floskeln immer wieder in den gesprochenen Text integriert wird, ist er wenigstens in einer gewissen Gedankenlosigkeit präsent, so wie wir das bis heute auch bei ganz unreligiösen Menschen als Erbe kennen. Solch floskelhafter Gebrauch von Gott durchzieht schon Chrétiens 'Erec': por Deu vos pri (ich bitte Euch um Gottes willen, E4655). Besonders beliebt ist das a Deu vos comant in verschiedenen Varianten (Gott befohlen, z.B. schon E271). Überhaupt ist bei ihm der beiläufige Gebrauch von "Gott" noch häufiger als bei den deutschen Autoren. Dabei befiehlt man auch schon mal heuchlerisch (?) jemanden Gott, den man erschlagen möchte (E3428).

 

Solche Floskeln gibt es durch alle Texte hindurch, wie das „weiß Gott“: daz weiz got, sagt Dietrich (NL38,2318, dass fast alle tot sind, und weizgot heißt es öfter bei Gottfried, (T30,18589) und dann auch daz weiz got, Tristan (T6,3438) und schließlich dasselbe weizgot bei Hartmann (z.B. Y2,887). Hagen dunket, wizze Krist (3,101 und genauso bei Gottfried, T14,10440). Gernot sagt, got weiz daz wol von himele, dass er an Siegfrieds Tod unschuldig ist (NL18,1094). Got weiz, sagt Giselher, dass Iring büßen muss (NL35,2042). Und so fehlt auch das "grüß Gott" nicht (got gruezze iuch, herre, Y10,5997) und das "geb's Gott" gleich danach.

 

Dass man Gottes Namen nicht einfach so im Munde führen soll, wird (bis heute) ignoriert. Das betrifft auch das „vergelts Gott“: nu müez iu got vergelten, sagt Etzel zu Rüdiger nach dessen Entscheidung (NL37,2176) und „gebs Gott“: wollte et got (P3,149). Dazu gehört auch: Nu lôn iu got, sagt Gunther zu Siegfried (NL4,155), sagt Kriemhild zu Siegfried (5,301), sagt Gunther zu Rüdiger (20,1193 usw.) und auch bei Wolfram heißt es: got lôn dir (P3.156). Dem lône got, wer Tristan hilft (T11,7783), und Hartmann meint, Gott möge Lunete iemer lônen, dass sie sich um Iwein kümmert (Y3,2189). Gott befohlen heißt es ebenso: got bevolhen soll man reisen, so wie Kriemhilds Sohn den Recken bevolhen sîn (18,1087). Sô helfe iu got (T4,2231 / T25,16030) sagt zum Beispiel der Riese (und T21,13732). In Gottes Namen kommt auch vor: Or Dex i vaille (E860), und: Gott schütze dich: que Dex le gart (E1522).

 

Der Teufel wirkt meist nicht christlicher. Der ubele tiuvel hat Siegfried zu den Sachsen gesandt (NL4,214). Es ist der tîvel ûz der helle (NL7,440). Hagen sagt über Brünhilde: jâ sol sie in der helle sîn des übeln tîvels brût! (Braut, 7,448). Gunther hat sich mit Brünhilde den ubeln tîvel heim ze hûse geladen (10,646). Hagen bringt Kriemhild den tîvel (28,1741, wie er sagt). Volker ist ein tîvel (3,1998) Hildebrand ist Hagen, dem tiuvel, kaum entronnen (38,2308)

 

Dieser Teufel taucht wie Gott ebenfalls oft floskelhaft auf: Dietrich zu Wolfhart: ir habet den tîvel getân (NL33,1990). Hagen: dich envride der ubel tîvel, oder du stirbst (NL35, 2048). Morold reitet geschwind wie der tiuvel auf Tristan zu (T1,106852).

 

Bei Chrétien ist er als daables (E4832) eher selten. Bei einem sehr wacker kämpfenden Recken denkt man schon mal, er sei ihm in den Leib gefahren (E4856)

 

Ganz heidnisch-archaisch ist er als Valant. Der Autor des Nibelungenliedes meint, der ubel vâlant hat Kriemhild Rachegedanken eingeflößt (23,1391). Dietrich bezeichnet Kriemhild als vâlandinne (28,1745), ebenso wie auch Hagen (39,2368). Morgan ist vâlandes man (T10,6213). Tristans Drache ist leide vâlant (T13,8905). Brangäne meint, daz der vâlant sînen spot mit uns treibt (T17,12128). Zwerg Melot ist des vâlandes antwerc (T22,14512).

 

 

Der fast durch und durch heidnische Gott des Nibelungenliedes bekommt bei Wolfram etwas christlichere Konturen. Immerhin ist er nun allwissend (P9,442), allmächtig, nämlich gewaltec und ist der schepfaere (P9,451), zudem ist er gerecht: nihtes ungelônet lât (P9,467).

 

Aber das ist es denn auch weithin. Gott ist schon bei Chrétien eher einer ritterlicher Heldentugenden als jesuanischer Botschaft und zeichnet Parzival mit ihnen aus (P5,228). Parzival sinniert: Kann Gottes Lohn erdient werden mit Schild und Schwert? (P9,451), ist also Christentum und Gewalttätigkeit vereinbart, was am Ende bejaht wird. Mit dem edlen Helden hat Gott die Treue gemeinsam, und so sagt Herzeloyde zu Parzival: und vlêhe in umbe dîne nôt: sin triuwe der werlde ie helfe nôt (P3,119). Trevrizent sagt sogar kategorisch: got selbe ein triuwe ist (P9,462) und darum Gott mit triuwen gein untriuwe streit (P9,465). Die Beziehung des Christen zu Gott ist also eine ähnliche Treuebeziehung wie die des Mannes zum Herrn. Wer gein got mit triuwen lebt, dem ist auch Gott treu (P9,499). Zudem: Wan sî wol nâh gotes gebote ganzlîcher triuwe wielten (T2,1806) Wer also in "rechter Ehe" lebt, also auch hier treu ist, kommt nicht in die Hölle (P9,468).

 

Gott selbst hat êre (P2,9,480), wie es sich für einen feudalen Herrn gehört. Also heißt es, dass zwischen Ywein und dem Herrn des Waldes huop sich ein strîten, daz got mit êren mohte sehn (falls er so etwas überhaupt sah. Y2,1020). Dass dieser Herr dann stirbt, trägt offenbar auch noch zu Gottes Ehren bei. Später betreiben Iwein und Gawein selch rîterschaft, die got mit êren mohte sehn (Y5,3045f). Gott schaut offenbar mit besonderem Vergnügen ritterlichem Treiben zu...

 

Enide soll Gott greignor enor (größere Ehre) verleihen, indem er ihr einen höhergestellten Mann schickt (E530). vor gote ich bin vervluochet, mîns prîses er nimmer ruochet (Gott legt keinen Wert mehr auf seine Ehre, P2,10,543)

 

Er hilft seinen Leuten zu siegen. got selbe möhte den Kampf zwischen Morold und Tristan gerne sehen (T10,6865). Wenn Tristan im Zweikampf siegt, hat er gotes lôn (ewiges Leben) zur êre dazu (T10,6102), denn vrîheit ist gottgewollt. Auch der heilege geist gibt gelücke und êre im Kampf (T10,6122ff). Und so hat Gott gegen Morold durch Tristan das Recht wiederhergestellt (T10,7075). Darauf singen sie viele sigelet ze himele (T7097ff). Morold stirbt natürlich, weil er nicht auf Gott vertraut (T10,7225ff). Wie aber, wenn es beide getan hätten? Doch solche Fragen werden erst gar nicht gestellt.

 

Riwalin ist tot: und sol sîn got von himele pflegen. der edeler herzen nie vergaz! Es geht um edle Adelige, für die Gott besonders zuständig ist (T2,1710). Trevrizent nimmt Parzival die Sünden (!), unt im doch ritterlîchen riet (belässt ihm zugleich sein Rittertum, P9,501). Gewalt und Christentum passen eben, vielleicht im Sinne von Bernhard von Clairvaux, durchaus zusammen. Isolde denkt sich für das Gottesurteil eine List aus vil verre ûf gotes höfscheit (T24,15552). schließlich: und sol ouch triuwe und êre haben mit gote gemeine, also man giht (wie man sagt, T30,18660), dann stehen Rual und Floraete jetzt vor Gott, und sint ouch dort gecroenet (18668). Die religiöse Bildersprache ist manchmal alttestamentarisch und vor allem meist feudal geprägt.

 

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Man ist wie selbstverständlich "christlich", es geht auch gar nicht anders, aber Christus (als krist) taucht nur einmal im Nibelungenlied auf (3,101), ein Jesus gar nicht. Gott den Vater/Herrn kann man hingegen in die germanische Tradition einordnen, und so mahnt Hagen: ir sult vil willeclichen zuo der kirchen gân, unde klaget got dem rîchen iuwer sorge und iuwer nôt (NL31,1852). Aber was soll man mit Jesus und seiner Passion anfangen? Kriemhild ist natürlich ein kristen wîp (NL20,1245), aber was heißt das eigentlich: Aufschluss kann der Vergleich von burgundischen Christen und Etzels Heiden ergeben. Zunächst heißt es, Etzel sei Heide, weil er nicht getauft ist (NL20,1142). Aber man ist dort tolerant: In Etzels Reich gilt kristenlicher orden und ouch der heiden ê (NL21,1332), und vielleicht schafft Kriemhild es, daz er toufet sînen lîp (NL20,1259), was den Vorgang als einen rein physischen erscheinen lässt. Kriemhilds Sohn von Etzel wird denn auch nâch kristenlichem rehte getoufet (NL23,1385). Sogar zur Messe nach sitten kristenlîche man vil liuten began (NL31,1847). Man singt sie aber ungelîche, kristen unde heiden, di wâren niht enein (bei Etzel 31,1848). Religion als Getauft-Sein und besonderes Brauchtum lässt erahnen, dass es sich mehr um Formen als um Inhalte handelt.

 

Etwas mehr weiß Wolfram. Christen sind auch bei ihm die getouften (P1,30), und christliche sind toufpflegende landen (P15,766). Cristen ê (Brauch) wird in Rom festgelegt, als uns der touf vergiht, wie sie in der Taufe aufgeführt wird (P1,13), und so heißt es zu Gahmuret: er truoc den touf und cristen ê (P2,108). Immerhin erfahren wir: Die Taufe schützt vor helleviur (P9,453). An anderer Stelle wird Wolfram seine recht eigene Religion ausführlicher darlegen, aber die kirchliche Version bleibt dunkel, was sich auch bei der Behandlung von Heiden erweist. So gilt in Bagdad auch ein bâbestreht, bei dem der bâruc in vür sünde gît wandels urkünde (also Ablass erteilt P1,14), wobei hier im Unterschied zum Nibelungenlied immerhin das Konzept Sünde auftaucht. Aber Wolfram kann den heidnischen Feirefiz nicht so recht von seinem getauften Gegner gescheiden, denn sie haben gleiche Wertvorstellungen, sind eben beide Ritter (P15,738). Feirefiz kann sich denn auch ohne christlichen Widerspruch in der Tafelrunde auf seine heidnischen (griechischen) Götter berufen wie die Christen auf ihren Gott (mîn creftec got Jupiter, etc. P15,748). Dâ von der touf noch gêret ist pflac er, triuwe ân wenken. Ihn zeichnet die Treue aus, wie sie auch von die Getauften geehrt wird (P15,751f), und dann: begunde wazzer rêren al nâch des toufes êren. der touf sol lêren triuwe, sit unser ê diu niuwe nâch criste wart genennet: an Criste ist triuwe erkennet. (P15,753) Und so wird Feirefiz als Heide in die Artusrunde eingeladen (P15,774).

 

Das passt zur Erklärung von Otto von Freising, dass sich Christen und Muslime nur in wenigen Punkten unterscheiden: Gleicher Monotheismus, Übernahmen aus dem Judentum, bloß dass die Gottessohnschaft Jesu nicht anerkannt wird und Mohammed einziger Prophet ist (Chronik, S.510). Genauere Islamkenntnisse fehlen allerdings offenbar auch bei ihm.

 

Während die römisch-katholische Wassertaufe längst von evangelisch-apostolischen Christen abgelehnt wird, was unter anderem zu massiver Verfolgung führt, kann Wolfram so unchristliche Vorstellungen entwickeln wie die über Belakanes Tränen: ir kiusche was ein reiner touf (P1,28) und Herzeloydes Produzieren eigener Milch gemahnt, wie schon erwähnt, an so etwas wie eine Milchtaufe. Bei Gottfried schließlich spielen Christentum, Kirche und Taufe ohnehin kaum eine Rolle. Einmal wird zu Floraete ein Wöchnerinnensegen (înleite) samt opfer und dann heilege touf erwähnt, die Empfang des Christentums (cristenheit) bedeuten soll (T1,3).

 

Bei Chrétien geht man zum beten (orer) zum Münster (mostier) und lässt von einem Eremiten die Messe chanter. Dann gibt es eine oferande. (E700ff), bei Erecs Hochzeit schon mal 60 Silbermark (mars, E2323). Das Seelenheil muss wie in der historischen Wirklichkeit gekauft und bezahlt werden. Immerhin ist in der Kirche schon ein goldenes Kreuz mit einem Splitter vom hl.Kreuz, an dem jener Herr hing, der uns von den Sünden befreit hat, und von nichts kommt nichts. Danach präsentiert sich dort Enide ebenfalls samt Opfergabe und einem von der Fee Morgain gearbeiteten kostbaren Gewand. Die Messe zur Krönung Erecs ist dann entsprechend prunkvoll, mit Prozession der Mönche "mit Reliquien und Schätzen, Kreuzen, Messbüchern und Weihrauchfässern und mit Schreinen, die die Gebeine der Heiligen bargen" (Übers.Gier, E6838). Aber das ist es dann auch schon mit dem Christentum.

 

Im Nibelungenlied, noch stark seinen archaischen Wurzeln verpflichtet, ist Religion überhaupt Nebensache. Man geht morgens zur Kirche, zum Münster, nâch siten, der si pflâgen unt man durch reht begie (NL10,641), lässt die Geistlichen singen, und ignoriert dann die evangelische Botschaft, soweit sie in der Kirche überhaupt vorkommt. Gott ist, so wie heute auch wieder, vor allem eine recht gedankenlose Floskel.

 

Man singt Messen got zen êren (32), vrüemessen wohl vor allem (13,804 auch P1,36 usw.), auch zer mettînstunde (T24,15138). Iemen dâ gesanc und man „dient“ Gott (NL14,841/483, da hat man dann gote gediende, 311,865). Man „hört“ die Messe (NL13,810) passiv, auch: eines sunnenâbendes vruo, dô man ze messe solte gân (T7,3882f). Am Ende gibt es bei Wolfram benditz (den Segen, P2,94).

 

Bei Gurnemanz man got und dem wirte sanc, denen sozusagen auf gleicher Höhe in der Kirche "gedient" wird. ( P3,169). Genauso heißt es zu Gawan: Der Pfaffe sanc die Messe beide gote unt in, wegen der sêle âventiur und ihr saelden vor der Schlacht (P7,378), denn Gott bringt craft im Kampf (380). In Pelrapeire heißt es entsprechend: der küneginne kappelân sanc gote und sîner vrouwen, danach dann die übliche benediz (P4,196). Manchmal reicht auch eine Kapelle als Ort des frommen Geschehens: diu künegin zer kappeln was, a ir venje si den salter las (P13,644). Kappeln können allerdings auch tragbare Heiligenschreine sein (P13,669), sozusagen mobile Kapellen.

 

Eine besondere Messe ist das Ambet, das Hochamt (T24,15652) oder die Totenmesse (auch ampt, Y2,1409).

 

Turniere finden in Worms vor dem Münster statt (NL14,868) und auch schon mal direkt nach der Messe, die sie quasi einleitet und ihnen Weihe gibt. Bischöfe geleiten die Königinnen zu Tisch (NL10,655), sind Teil des Herrschaftssystems. Der König hat seinen Privatgeistlichen, einen kappelân (NL25,1539, wie auch bei Wolfram). Viel Respekt vor der Geistlichkeit gibt es aber nicht immer. Der gotes arme priester wird von Hagen in die Donau geworfen (NL25,1572), aber diu gotes hant hilft ihm, obwohl er nicht swimmen kunde (25,1576).

 

Bei Wolfram spielt ein kappelân sogar den Liebesboten, indem er einen Liebesbrief von Amflise an Gahmuret überbringt (P2,76), aber er ist ja auch eine Art Angestellter bei der Königin. Seltsam isoliert steht das kurze Pfaffenlob im 'Parzival': Frauen und Pfaffen tragen keine Waffen und brauchen deshalb den Schutz des Ritters. Pfaffen predigen, betreiben die Transsubstantiation, aber offenbar im 'Parzival' sonst kaum etwas anderes (P9,502).

 

Nur einmal tauchen im Nibelungenlied müniche auf und sonst fast nirgendwo in den Texten. Sie befinden sich außerhalb des ritterlichen Horizontes, obwohl sie die Landschaft, wenn auch eingeschlossen in der Klausur, machtmäßig erheblich mitprägen.

 

Damit ist das Kirchliche kurz abgehandelt, und manchmal ist man froh, wenn der gesanc vorbei ist (NL5,299). Zumindest manchmal ist auch die andâht vil cleine beim gebet (T24,15152), was manchmal auch noch viel später so sein wird.

 

Gott ist der Herr im Himmel und man erweist ihm Ehre wie dem Herrn auf Erden, jedenfalls mit demselben Begriff. Das heißt, man bezeugt ihm, dass er Ehre hat, also Ruhm und Ansehen genießt, und die sind wie beim Menschen nicht einfach da, sondern müssen immer wieder sichtbar und hörbar gemacht werden. Dem dient die Kirche. Umgekehrt wünscht der Bischof bei der Abreise der Burgunden ins Hunnenland got müez ir êre dâ bewarn (NL25,1505). Gott ist vor allem für die Treue und Ehre zuständig, die ihn selbst auszeichnen.

 

Am ehesten passt noch das Segnen im Sinne von benedicere in den kirchlichen Rahmen, es fehlt allerdings im Nibelungenlied. Guote naht geb iu der gotes segen, heißt es bei Wolfram noch recht floskelhaft (P5,279). Aber es wird auch genauer: Des swertes segen ist seine wunderbare Kraft, denn daz swert bedarf wol segens wort (P5,253f). Schwerter werden tatsächlich längst von der Kirche gesegnet. Auf einem Herrscher, der vom Gral kommt, liegt erstaunlicherweise der gotes segen (P9,494), und hoffentlich auf der Minne von Gramoflanz und Itonje (P13,635). Gawan spricht einen wunden segen (P10,507), was auch nicht sehr christlich, eher alt-heidnisch erscheint. Bei Gottfried "segnen" dann alle möglichen Laien.(T10,6790 z.B.), man "gibt" Segen, was Krohn mit Segenswunsch übersetzt (T2,1575). Marke sieht zum Beispiel Isolde in der Minnegrotte und bôt der schoenen sînen segen (T28,17615). Mutter Isolde segente sich selbst, was Kron mit bekreuzigen übersetzt (T14,10623).

 

Der Segen soll in Gottes Gnade aufnehmen, was bei Wolfram noch heil heißt und derart meist in weltlichem Kontext auftaucht. Wolfram wünscht Parzival heil auf seinem Lebensweg (P5,224), und den Pilgern wünscht Parzival: gelücke iu heil gebe, und vröuden (P9,451), was auch wenig christlich klingt. Gahmuret wird heiles gewünscht bei der Beerdigung (P2,108). Aber heil bleibt selten (T13,9659 und: ze heile und ze vromen, T13,9617).

 

Bei Wolfram taucht die saelde auf, was Spiewok schon mal mit "Heil" übersetzt, und die vor Gott besteht. Gahmuret sagt bei einem Aufbruch: got wîse mich der saelden wege (P1,1). Saelden bedeutet oft Glück im Leben (P3,139) und saelic sein heißt dann Glück haben, also im Heil sein (T12,8531) oder aber beglückend sein wie die saeligen Isolde (T22,14487). Isoldes saelde ist auch ihre Schönheit (T12,8468) so wie auch ihre saelekeit (T13,9779). Brangäne ist saeligiu maget, glückselig. Die Saelekeit Tristans kann wiederum seine Vollkommenheit sein (T15,11094). Clamide nennt sich bei seiner Niederlage einen unsaelic man (P4,213). Es gibt passend dazu auch den unsaelic tac, den unglückseligen (P6,298)

 

Hartmann schließlich beendet seinen 'Iwein' mit: got gebe uns saelde und êre (Y13,8166). Letztere ist das Ansehen in der Welt, welches Gott schenken soll, und dann wird saelde wohl ein glücklich-glückseliges Leben in dieser unserer Welt sein.

 

Bei Gurnemanz wird die Seligkeit etwas christlicher: der wirt zer messe in lêrte daz noch di saelde mêrte opfern unde segnen sich, und gein dem tiuvel kêrn gerich (P3,169). Kingrimursel meint, ohne Ehre nicht leben zu können: des ich vil wol getrûwe gote: des sî mîn saelde gein im bote (er erhofft sich von Gott "ewige Seligkeit", P8,416). Natürlich ist auch für Trevrizent saelde religiöses Seelenheil (P9,465). Tristan gemahnt Isolde wenigstens einmal an Gott und die saelekeit als ihr Seelenheit (T17,12103). Als Pilger verkleidet wird er als saelic man betrachtet, also als im Heil stehend (T24,15580), aber da trügt der Schein.

 

Christlicher ist es schon, dass Trevrizent wegen seines heileclîchez leben (P9,452) als ein heilec man bezeichnet wird (P9,448). Karfreitag ist der heileclîche tag (P9,447) und Parzival assoziiert die Burg von Gurnemanz mit heilikeit (P3,162).

 

Heilectuome wiederum ist das Kirchengerät, welches die Burgunden auf der Reise zu Etzel dabei haben (NL25,1572), und Königin Guinevere lässt daz heilictuom mitführen (P3,159), als sie Ither zum Begräbnis holt. Spiewok übersetzt mit "Monstranz". Auch eine Reliquie ist natürlich ein heiltuom (T24,15668), ein magisch besetzter Gegenstand.

 

Das soll aber nicht täuschen, römisch-katholisches Christentum spielt in den Texten eine geringe Rolle. Gebetet wird auch kaum. Es gibt der burgaere gebet vor dem Kampf (P4,197). Frauen beten, dass Gott ihrem Helden l'enor de la bataille verleiht (E893). Trevrizent betet, Parzival offenbar nicht (P9,475). Laudine betet wenigstens einmal (Y13,8023). Ganz selten bekreuzigt sich jemand, was dann criuzen heißt (s.o. und T24,15096).

 

Gelouben hat keine religiöse Konnotation, bei Gottfried kann man eine maere gelouben (T7,4298). Dasselbe gilt für "fromm". Frommen (frum) ist Nutzen bis hin zu dem, was man gewinnen kann (NL4,157 / T14,10549). Die vrümkeite der Krieger ist ihre Tüchtigkeit (NL24,1475). Das Gegenteil zu vromen ist denn auch schaden (P3,157). Ein frumer man überlässt laut Hagen Kriemhild nicht den Hort (NL19,1127. Das übersetzt Grosse mit „umsichtig“). Immerhin kann man den fruomen bei Hartmann schon als den Anständigen übersetzen (Y1,150).

 

Das Wort kiusch hat noch eine weite Bedeutung (P3,176). Repanse de Schoye, die Gralsträgerin, muss wie eine Vestalin ir kiusche bewahren (P5,235: ir herzen was vil kiusche bî, ir vel des blickes flôri. (P16,809, sie ersetzt wohl mit Haut/Antlitz blütenstrahlend in der Gralsreligion Maria). Keusch als sexuell enthaltsam sind sicher auch die 25 Jungfrauen bei der Gralszeremonie, während für Wolfram und Parzival zugleich die erotische Attraktivität wahrnehmbar ist. Keusch heißt aber auch z.B. beim Essen maßvoll sein (P5,239,) und keusch ist dann auch Trevrizents Fasten: sîn kiusche (P9,452). Wîpliche kiusche wiederum besitzt Jeschute auch halbnackt (P5,260), denn sie ist Einstellungs-Sache. Parzival riet sîn manlîchiu zuht kiusch unt erbarmunge, was Spiewok mit Demut und Mitleid übersetzt (P9,451). Bei den Gralsrittern dann heißt keusch wohl eindeutig sexuell enthaltsam (P2,9,493) und ebenfalls bei den Pfaffen (P9,502), allerdings nur, wenn sie heileclîch leben

 

Die Seele, etymologisch germanischem Glaubensarsenal entsprungen, ist selbst bei den Helden um 1200 erst anchristianisiert. Kriemhild ist Siegfried lieb sam mîn sêle und sô mîn selbes lîp (NL6,386). Rüdiger verliert di sêle, wenn er für Kriemhild gegen die Burgunden kämpft (NL37,2147). Es ist aber keine christliche Sünde, die er begehen würde, sondern der Bruch seiner Pflicht als Gastgeber und Geleitgeber und der verwandtschaftlicher Bindungen als künftiger Schwiegervater. Er wägt sêle und lîp ab (NL37,2163). Kirchenchristlicher wird die Seele, wenn Kriemhild opfergold für Siegfrieds sêle gibt (NL20,1278), also für Seelenmessen spendet.

 

Da wird kurz einmal angedeutet, dass es das Vermeiden von Höllenqualen ist, welches Christsein überhaupt begründet. Deshalb wird der Weg in der engel genôzschaft (Y2,1474) mit Kirchenspenden und Almosen beschleunigt, und offensichtlich besteht die Hoffnung, dadurch (Höllen)Strafen ganz zu entgehen. Sich von irgendwelchen Teufeln hilflos quälen zu lassen, kann man sich kaum für seine Helden vorstellen.

 

Aber wenn dann bei Wolfram der Zweifel die sêle sûr werden lässt (P1,1), ist sie wiederum eine wenig christliche. Die Scham als Einsicht in eigene Fehler ist bei Parzival der sêle crône (P6,319) und ebenfalls eher der Psyche als der christlichen anima zugeordnet. Denn: ritter ordenlîchez leben beinhaltet vor allem rehtiu scham und werdiu triuwe (was beides nicht unbedingt christlich ist, P6,321). Aber oft werden ritterlich-weltliche und christliche Werte verknüpft: der ungetriuwe verliert seine saelekeit und des muoz ir sêle lîden zorn (sie landet in der Hölle, P8,404). Tristans Floskel gegenüber Kurwenal, lât ir got der sêle pflegen, übersetzt Krohn mit: befehlt Gott meine Seele (T11,7466), was wohl heißen soll, dass man Gott auf seiner Seite wissen möchte.

 

Mit der Konzentration auf die Apokalypse des Johannes in monastischen Kreisen seit dem 10. Jahrhundert ist eschatologisch-christliches Denken wichtiger geworden. Aber davon ist in den Heldenromanen nichts zu spüren. Der jungeste tag ist der des Todes Kriemhilds (NL19,1138) und der der Burgunden (37,2211). Das eigentliche Seelengericht überhaupt bleibt weithin ausgespart.

 

Und so ist Sünde oft ein wesentlich weltliches Phänomen ohne religiöse Bedeutung (z.B. P6,290), und taucht überhaupt im NL nicht weiter auf. Ersteres gilt auch für Wolfram. Nicht nach dem Gralsherrn zu fragen, ist laut Cundry "Sünde", was Parzival die Hölle beschert (P6,316). Das hat aber mit Christentum wenig zu tun. Jemanden verspotten kann "Sünde" sein (P6,329 / P10,524), oder nicht gelouben, was Wolfram gerade erzählt (P2,9435). Parzival sagt zwar zu Trevrizent: ich bin ein man der sünde hât (P9,456), was aber wohl den Verstoß gegen den ritterlichen Ehrenkodex meint. Trevrizent einst sündebaern gedanc gein der kiusche parrierte, an Frauen nämlich (P9,458), aber wie lax es Wolfram mit sünde hält, zeigt, dass er das Stören der Ruhe Gawans schon so nennt (P12,583) oder das Verschweigen einer Sache gegenüber Itonje (P13,636). Was bedeutet es dann, wenn Parzival am Ende von mîn sündehafter lîp spricht? (P15,783). Nach allem vorher ist Sünde wohl auch hier nichts anderes als der Verstoß gegen den ritterlichen Ehrenkodex.

 

Bei Gottfried schließlich entfällt der christliche Sündenbegriff gänzlich. Die Entführung Tristans ist Sünde (T4,2446), meint also einfach ein Vergehen oder Verbrechen ganz weltlicher Art, und Isolde benutzt das Wort sünde in der Gartenszene nur, um Marke zu täuschen (T23,14756).

 

Entsprechend sind „Sühnen“ und „Büßen“ (buoze unde suone, NL33,1987) im Nibelungenlied meist weltliche Vorgänge und der Rache nahe beigeordnet (39,2333). Bei Gottfried spielen sie ebenfalls keine (christliche) Rolle, und wie bei Wolfram kann suone auch Versöhnung heißen (P14,729, T14,10673). Buße heißt manchmal auch wandel, hat aber oft einen wenig religiösen Kontext (P9,443). Etwas christlicher wird es und zugleich in einem Kapitel isoliert, wenn Trevrizent wandel auferlegen und scheiden von sünden kann (P9,448), was aber eher Katharer-Religiosität entspricht, denn Trevrizent ist kein römisch-katholischer Priester, sondern Laie. Man muss Gott wandel geben (P9,499), meint er, ohne aber das Bußsakrament damit zu verbinden. Das ist dann arbeit als buoz für das Heil der sêle (P9,499), denn man muss sünde entgelten (P9,473). Zu Parzivals Töten von Ither fragt Trevrizent: waz wiltu im (Gott) dâ ze gelte geben (P9,475). Bei ihm ist, untypisch für die Heldenromane, riuwe allerdings auch solche vor Gott (P9,466).

 

Ganz unübersehbar ist Christentum im Nibelungenlied abgegolten mit dem Gang zur Frühmesse, wozu in ihm und bei Chrétien noch die kirchliche Hochzeit und ein christliches Begräbnis kommen. Es ist den Menschen auf diese Weise weithin äußerlich und bei Gottfried fast nonexistent. Wolfram wiederum bastelt sich im 'Parzival' sein ganz eigenes und eigenartiges "Christentum", auf das noch näher einzugehen ist, so schon, wenn er nahe dem Anfang von den Missgeburten der Töchter Adams fabuliert, aus denen Kundry und Malcreatüre hervorgehen (P2,10).

 

Dafür ist die Sternendeuterei bei Wolfram integraler Teil seines "Christentums" (z.B. P9,489 saturnus und kurz darauf der Mond), wie überhaupt in der abendländischen Welt damals. An Markes Hof ist denn auch ein Zwerg (!), der in den Sternen lesen kann (T2,22). In die Welt der Drachen und Feen gehört dann auch ganz selbstverständlich das Zaubern. Die Mutter des Artus geht mit ein pfaffe der wol zouber las weg (P2,66) Klingsor hat gewalt über Geister, die nicht unter Gottes Schutz stehen (P13,658). Es gibt sie immer noch, solche Geister. Und bei Chrétien tritt der Zauber als charme im ursprünglichen Wortsinn auf (E710).

 

Heldenmaeren stotzen vor Wunderbarem und Erstaunlichem. Wunderbar verwunderlich ist die wunderlîch geschiht (P3,155) oder die wunderlîche maere (T7,4366). Über Parzival gibt es grôziu wunder zu erzählen, Erstaunliches eben (P5,224). Die Burgundenkönige vollführen an Etzels Hof wunder: Heldentaten. Siegfried begeht bei den Nibelungen ebenso wunder (NL3,85), die Hagen erzählt: nu hoeret wunder sagen (3,87, was 19,1119 auch für den Hort gilt). Von Hagen heißt es: waz wunders tet sîn hant (NL32,1937). Gawan reit al ein gein wunders nôt (P8,432), also gefährlichen Heldentaten entgegen. Bei Gottfried ist Blanscheflur ein wunder ûf der erde (T2,688), so wunderbar wie Rual, ebenfalls ein wunder ûf der erde! (T7,4332) Tristans Musik ist wunder (T11,7746), und alle schauten der cleidere wunder an (denn sie sind wunderschön, T15,10866).

 

Auch Klingsors Zaubereien sind wunder (P13,656), Die merewîp der Donau haben wunderlich gewant (25,1535), und zu Tristan und dem Hündchen der Fee mit seinem Glöckchen heißt es, es nam in wunder (erstaunte, verwunderte ihn, T25,15867).

 

In all den Fällen wundert man sich ohne religiöse Konnotationen: het michel wunder (NL25,1578). Dabei hatte das mittelalterliche Christentum nach den Wundern Jesus auch noch die der Heiligen und der Reliquien, aber sie fehlen hier fast völlig. Ein Wunder, welches wenigstens in diese Richtung geht, ist das Schiff, welches Pelrapeire in höchster Not Lebensmittel bringt (P4,200: daz vuoge got der wîse). Und am Gralsherrn hat got wunder getân, nämlich ihn gestraft (P5,255). Das ist es aber auch schon.

 

Richtig fromme Christen sind Pilger und Einsiedler. Das passt dazu, dass die Kirche dem Laien weder sonderliche religiöse Kenntnisse noch einen tatsächlich christlichen Lebenswandel abverlangt. Mit der dauerhaften Trennung in Mönche, Weltgeistliche und Laien wird Religion bereits massiv kompartmentalisiert, in unterschiedliche äußerliche Abteilungen gezwängt. Entsprechend wird Christentum à la Wolfram fast ganz in das Trerizent-Kapitel gepackt. Aber Einsiedler sind eigentlich nicht sonderlich erwünscht von der Kirche, entziehen sie sich doch ihrer Aufsicht. Trevrizent folgt, wie es heißt, sîner orden, seiner selbstgesetzten Ordnung (P9,485) und maßt sich an, Parzival von den Sünden zu lösen: gip mir dîn sünde her (P9,502), obwohl er kein Priester ist. Trevrizent lebt in ein clôsen mit einer kefsen (einem Reliquienschrein) als einsiedel (P5,268). Er hat einen alterstein (Altar) und ein buoch (einen Psalter, P9,459) und ist sich selbst so Kirche genug. Er fastet die ganze Woche, um dem Teufel zu widersagen und um dann am Ende bei der himelischen schar zu landen, also Engel zu werden (P9,452). Das geht natürlich laut Kirche eigentlich nicht und erinnert entfernt an die Katharer, die auch ohne das große Instrumentarium der römischen Kirche auskommen.

 

Zu diesen Frommen gehört auch Herzeloyde, die Mutter Parzivals: swer armuot durch triuwe lîdet, helleviur die sêle mîdet, die dolte ein wîp durch triuwe, heißt es von ihr (P3,116). Eheliche Treue bringt auf diese Weise Himmelslohn. Aber in so jungen Jahren wendet sich sonst keiner so radikal von "der Welt" ab. Sie aber schon: Si vlôch der werlde wunne und in einen walt zer waste (P3,117). Doch ist sie nicht allein mit ihrem Sohn, da ist volc, sind liute, die bûwen und riuten, bebauen und roden für sie (P3,117).

 

Auch Sigune lebt nach dem Tod ihres Mannes in der waste (P5,250), sie nun als clôsnaerinne, diu durch die gotes minne ir magetuom unt ir vröude gap. Ihr Mann starb nämlich unmittelbar vor der Hochzeitsnacht. Sie hôrte selten messe: ir leben was doch ein venje gar, nämlich ein einziges Gebet. Und so gibt es keine werltlîch vröude mehr (P9,435), diu clôs was vröuden laere (P9,437). Sie trägt ein härenes Hemd, besitzt offenbar nur einen Psalter und wird vom Gral mit Nahrung versorgt.

 

Schließlich gibt es, immer noch bei Wolfram, noch zwei Herzöge, die haben aus Liebe zu Gott ûf gegeben ir swert (P4,186) und hausen ze wilden albe clûsen (P14,190). Sie wählen Armut und Einsamkeit durch got vür sünde er daz tuot (P5,251).

 

Soviel vereinzelte Frömmigkeit fehlt bei Gottfried. Aber immerhin ist die Minnegrotte als dirre wilde clûse (T27,16806) in der wilde (17078) auch eine Art Zweisiedelei zumindest mit religiösen Analogien. Das Liebespaar nimmt dort keine Nahrung zu sich, die Liebe ernährt sie ausreichend. Das ist nun ihr wunschleben, schöner als Feste beim König Artus. Die Umgebung ist eine reine Natur-Idylle in der Waldeseinsamkeit. Schlüsselwort für die Grotte ist tugent, dazu ist die cristallîne minne dort (...) durchsihtic und durchlûter (T27,16978ff). Drei Fenster sind die güete, die müete, und die zuht. Dass es dort ansonsten keiner Religion mehr bedarf, ist offensichtlich.

 

Der Frömmigkeit der Einsiedler nähern sich die Pilger auf gotes vart (P9,446) an, die Gottfried auch beteverte (T21,13686) nennt. Wolframs Pilger ziehen an Karfreitag immer in den wilden walt (P9,449), solche Leute sind wallaere mit wallestap bei Gottfried (T4,2623) und pflegen ein riuwic leben (T4,2648), büßen also ihre Sünden.

 

Als Fazit lässt sich sagen, dass für fast alle "Helden" in ihren Romanen das Kirchen-Christentum etwas äußerliches ist, welches bei Chrétien und im Nibelungenlied weithin mit brauchtumsartigen Kirchenbesuchen abgetan wird und bei Wolfram und Gottfried im römisch-katholischen Sinne fast nicht stattfindet. Im 'Parzival' bietet Wolfram stattdessen eine kirchenferne eigenartige Religiosität an, die nur noch in wenigen Zügen überhaupt an das Christentum gemahnt.

 

Diese sind auf zwei Kapitel konzentriert, zwei und neun. Da heißt es dann zum Gottes"begriff" der Pilger und von Trevrizent, Gott sei in Menschengestalt Kind einer Jungfrau (P9,464), der megede sun bei Gottfried (T7,3851). Diese Jungfrau gebiert Gott, und der leidet für die Menschen am Kreuz, und zwar für die schult der Menschen, die sie sonst in die Hölle bringt (P9,448). Christus ist der, den man noch mâlet vür daz lamp, und ouch daz criuze in sîne clân, den arbarme daz dâ wart getan (P2,105). Er wird als Lamm abgebildet, am Kreuz, und soll sich nun der miteinander kämpfenden Ritterscharen erbarmen, Mitleid mit den Kriegern haben. Jesus ist zudem der, der sît durch uns vil scharpfen tôt ame criuze mennischlîche enpfienc und sîne triuwe an uns begienc. swes lîp sîn zürnen ringet, des sêle unsanfte dinget, swie kiusche er sî und waere (P2,113). Als Mensch hat er wegen uns am Kreuz den Tod empfangen und damit seine Treue zu uns erwiesen. Wer sich seinem Zorn aussetzt, über dessen Seele wird hart gerichtet, wie "keusch" er auch gewesen sei. Da taucht keusch schon mal als Ersatz für das noch fehlende neuhochdeutsche "fromm" auf. Das ist wenig Evangelium, und das wird auch kaum mehr, wenn es heißt, er sei das Licht in der Finsternis (P9,466), ist ein durchliuhtec lieht, und wenket sîner minne nicht (P9,466), was sich bereits am Rande der Häresie befindet, da es die römische Kirche implizit ausschließt. Außerdem ist got der dâ reht gerihte tuot, wie Trevrizent lehrt (P9,475), und laut Pilger gibt er staeten lôn nach dienste, also nach Verdienst (P9,449). Aber die Mutter Gahmurets meint bei dessen Abreise: ist got an sîner helfe blint, oder ist er dran betoubet, daz er mir niht geloubet, also ihr nicht hilft. Gott scheint doch kein (gerechter) rihtaere zu sein (P1,10).

 

Anders als im Nibelungenlied wird hier stärker an Gott ge- und verzweifelt, was wohl damit zusammenhängt, dass er hier geringfügig christlicher erklärt wird, um dem dann nicht zu genügen. Parzivals zentrale Gotteskritik lautet denn auch so: wê waz ist got? waer der gewaldec, sölhen spot het er uns bêden niht gegeben, kunde got mit creften leben. ich was im dienstes undertân, sît ich genâden mich versan (auf sie hoffte). nunwil ich im dienst widersagen.(...) vriunt, an dînes kampfes zît dâ neme ein wîp vür dich den strît (P6,332). Gott hat Parzival nicht geholfen, darum dient er ihm nicht mehr (P9,447).

 

Vergebens sucht man dann nach einem Passus, der diese Kritik wieder definitiv zurücknimmt.

 

Vielmehr wird das Heidentum fast mit dem Christentum auf gleiche Höhe gebracht. So haben Heiden ein ähnliches Verhältnis zu ihren Göttern wie Christen zu ihrem Gott (z.B. P1,17/21), selbst wenn dann gesagt wird, dass Feirefiz von den Heiden angebetet wird als einen got (P6,328). Und noch gravierender ist, dass es ein Heide ist, der den Gral erklärt und wie ihn die Engel den Rittern brachten (P9,454).

 

Ansonsten tauchen Engel nur wenig religiös auf: Dô truoc der junge Parzival âne vlugel engels mâl, war also schön wie ein Engel,(P6,308), und das ist die einzige Eigenschaft, die hier Engel haben. Die ebenso gebildete wie liebliche Vorleserin in Hartmanns boumgarten bringt Iwein auf den wenig frommen aber eindrucksvollen Gedanken, si mohte nâch betwingen mite / eins engels gedanc, / daz er vil lîhte einen wanc / durch sî von himel taete (Y11,6500ff), also: sie hätte sogar einen Engel so betören können, dass er sich vom Himmel abgewandt hätte. Das ist doppelt beachtlich, sind doch Engel einmal geschlechtlos und zum anderen wäre es ein diabolischer Akt, sie von der Gottesnähe zu entfernen. Das Christentum, noch kaum in seinen kirchlich definierten Kerninhalten vermittelt, verflacht bereits in Richtung auf jenen Kitsch und Schund, der bald für fast alle Laien sein Wesen ausmachen wird.

 

****Gral****

 

Der edle Ritter, wie ihn Gurnemanz formuliert, soll ein anchristianisiertes Rittertum vertreten, in dem Leitworte wie erbarmen, milte, güete, diemüete, und helfe dominieren. (P3,170). Dabei bekommen bereits gängige Werte wie milte oder güete ein neues, etwas christlicheres Gesicht. Klar, nicht die Nachfolge Jesu wird erwartet, die für fast alle Christen ad acta gelegt war, nachdem er nicht als Christus wiederkam, aber die Gier, die das Handeln der Herrenmenschen des frühen Mittelalters begründete, soll immerhin gemäßigt werden. Oft ohne religiösen Hintergrund wird das bei Wolfram gelegentlich als mâze formuliert.

 

Dahinter steht natürlich der kirchliche Einfluss auf das edle Kriegertum seit mehreren Jahrhunderten und stehen die Ansätze zu neuer Staatlichkeit. Und so heißt es denn bei Wolfram: Ir sult bescheidenlîche sîn arm unde rîche. wan swâ der hêrre gar vertuot, daz ist niht hêrenlîcher muot: sament er aber schaz ze sêre, daz sint ouch unêre. gebt rehter mâze ir orden. (P3,171) Nicht zuviel und nicht zu wenig ist die allerdings recht ungenaue Formel, der ihr christlicher Ursprung kaum noch anzumerken ist. Und dazu formuliert Gottfried für seine Riitter wie fast ebensoso Wolfram: Man solle got unde der werlde gefallen. Das ist morâliteit, diu kunst diu lêret schoene site (T1,11,ab 8004), und das lehrt Tristan, so lesen wir erstaunt, seine Isolde. Wie das aber funktionieren soll, davon handelt das Tempelrittertum des Grals. In den letzten Zeilen des 'Parzival' wird denn auch die Verbindung zwischen sehr Weltlichem und dem Geistlich-Religiösen als Brücke zu einem eher kommoden Christentum gefordert: swes leben sich sô verendet, daz got niht wirt gepfendet der sêle durch des lîbes schulde, und der doch der werlde hulde behalten kan mit werdekeit, daz ist ein nütziu arbeit. (P16,827) Der Welt als Ritter dienen und zugleich seine Seele für Gott bewahren heißt der Spagat, Gewalttätigkeit und Christentum also miteinander zu vereinen. Das geschieht nicht zufällig gleichzeitig damit, dass sich ein neues Bürgertum daran macht, materielle Gier als Kapitalismus mit Christentum zu vereinen, und gleichzeitig damit, dass die Ketzer, die am evangelischen Christentum festhalten wollen, nun zunehmend massenhaft gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt werden.

 

Parzival wird von dem recht unkirchlichen Trevrizent ausführlich religiös belehrt, und reagiert darauf damit, dass seine höchsten Ziele der Gral und seine Frau seien (P9,467), was an Feirefiz erinnert, der Gral und Repanse de Schoye gleichermaßen wertschätzt. Was bleibt, ist der Gegensatz der diemüete zu allzu hohem muot. Trevrizent verordnet diemuot (z.B. P16,798), aber sie wird nicht erklärt. Die wiederum besitzt Herzeloyde sowieso (P3,128) und verlangte schon Gurnemanz vom Ritter. Aber dem Ritter Gawan wird seine diemuot natürlich als unmännliche Sanftheit vorgeworfen (P6,299). Demut und ritterlicher Kampfgeist gehen eben nicht zusammen, es sei denn, monastisches und kriegerisches Ideal werden im Ritterorden kombiniert. In der historischen Wirklichkeit wird sich Demut sehr weltlich zu allgemeiner Untertänigkeit entwickeln.

 

Inmitten einer Wildnis steht eine Burg und in ihr ein tempel, in dem sich ein Stein befindet, der Gral heißt. Kein himmlisches und kein irdisches Jerusalem und kein päpstliches Rom ist der Mittelpunkt der Parzival-Welt, sondern eben dieser eigenartige Ort, eine Burg als Tempelfestung mit einem (heiligen?) Stein. Hier ist wunsch von pardîs, bêde wurzeln unde ris (...) erden wunsches überwal (P5,235), was etwas an Gottfrieds Minnegrotte gemahnt. Alles strotzt aber hier vor rîcheit (P5,236) und ist "paradiesisch". Er was der saelden vruht,der werlde süeze ein sölh genuht, er wac vil nâch gelîche als man saget voin himelrîche (P5,238). Inbegriff des Glücks und aller Süße dieser Welt, gleicht er dem Himmelreich, welches so ganz unchristlich auf die Erde herabgestiegen ist.

 

Zum Gral wird man vom Himmel berufen (P9,468) und muss dazu von hôher art sein, also hochadelig (P9,494). Gralsritter sind Tempelritter (templeis P9,444 und auch später) und eine ritterlîche brouderschaft (P9,470). Es sind die dorthin verbannten Engel, die weder für Gott noch Teufel Partei ergriffen. Nach ihrem Tod (?) landen sie offenbar direkt im Himmel. Wer zum Gral vordringt, gegenüber dem si nement niemens sicherheit, töten also sofort und sühnen so ihre sünde (P9,492). Andererseits heißt es im Gegensatz dazu, wan swer des grâles gerte, der muose mit dem swerte sich dem prîse nâhen (P10,503). Und dann am Ende taucht wieder fast das Gegenteil auf: den grâl ze keinen zîten nieman möhte erstrîten, wan der von gote ist dar benant, wenn er nicht von Gott erwählt ist, was viele Ritter abschreckt (P15,786).

 

Der Stein bietet bei regelmäßiger Betrachtung ewige Jugend, vor allem aber immer wieder Speis und Trank. Mühsam wird dieses wunderwirkende Objekt geringfügig in die christliche Welt eingeordnet, indem ihn Engel brachten und seine Wunderwirkung jeden Freitag mit einer Oblate erneuern. Aber die Sterne spielen für ihn ebenfalls eine große Rolle.

 

Munsalwaesche scheint keine Kirche zu haben, sondern nur diesen Tempel, sofern wir ihn überhaupt so nennen können. Der Stein muss einen Altar ersetzen, es gibt dort keine Priester, keine Messe, keine Transsubstantiation und auch Christus sucht man dort fast vergebens. Das große Ritual wirkt zwar wie ein späteres Tafelbild mit der gekrönten Jungfrau in der Mitte, auf beiden Seiten zwölf Edeldamen als eine Art Engel (P5,236), aber eine richtige Maria ist sie nicht.

 

Nicht mehr Gott oder heilige Reliquien bewirken Wunder, sondern dieser Stein, der ein Quell von Reichtum, kostbarer Nahrung und Macht ist. Und die Priester werden ersetzt durch wunderschöne Jungfrauen in großer Zahl als Dekor und durch eine Art Ritterorden, der wie damals bereits übliche Ordensritter gewalttätiges, aber ethisch aufgewertetes Rittertum und sehr moderates Mönchtum vereint.

 

Ein hochsublimiert-erotisches Element verbindet sich mit dem Ganzen durch die vielen schönen und vermutlich keuschen Jungfrauen, die die Engel gotischer Tafelbilder ersetzen. Zum "Wunder des Grals" gehören für Parzival denn auch manege clare magt (P6,330), worin er sich nicht von seinem (noch) heidnischen Halbbruder Feirefiz unterscheidet. Umso härter mag es bei der Gegenwart von insgesamt 25 schönen Jungfrauen (P9,493) für die Ritter erscheinen, küscheclîch zu bleiben.

 

Der christliche Gott kommt am Rande bei Wolfram auch noch vor, wenn auch nur wenig in Munsalwaesche. Er ist korrekt dreifaltig und für die Sünden der Menschen gestorben und wieder auferstanden. Vermutlich begrüßt er die Existenz der Gralsritterschaft, ganz sicher frommes Einsiedlertum, Pilgerschaft und edles Rittertum. Im letzten Buch kniet sich Parzival dreimal vor dem Gral (!) nieder ze êrn der Trinität (P16,795), und prompt vollführt Gott das Wunder, dass Anfortas nicht nur gesund ist, sondern in beispielloser schoene erstrahlt. Und wie kommentiert Trevrizent, der fromme Einsiedler und geistliche Lehrer Parzivals das: daz sîn endelosiu Trinität, iuwers willen werhaft worden ist. (P16,798), durch Euren Willen habt Ihr der Trinität diese Leistung abgewonnen. Verständlich, dass es angesichts des Grals keines Priesters mehr bedarf: gotes lôn verlangt den direkten (ritterlichen) Dienst ohne kirchliche Vermittlung.

 

Anfortas ist mit einer schwärenden Wunde an seinem Genital für seine sexuelle Missetat bestraft worden. Das wirkt eher archaisch-vorchristlich als einem Christentum verpflichtet. Dennoch soll das Mitleid der Gralsritter für den dauer-verwundeten Gralschef die Macht von des toufes lêre bei ihnen demonstrieren. (P9,493), und entsprechend bedeutet Parzivals Schweigen für die Templer Mitleidslosigkeit, was ein Irrtum ist, beruht es doch nur auf des Gurnemanz Lehre, die vorlautes Reden für unhöfisch hält. In diese ganze Widersprüchlichkeit, die der Autor nicht aufzulösen vermag, gehört, dass Parzival sich dennoch schuldig fühlt, dabei heißt es doch auch schon bei Chrétien: boens teisirs home ne nut, mes parlers nuist mainte foies (E4592), gutes Schweigen schadet nie, Reden dagegen oft. Moderne Leser wären über soviel Inkonsistenz wenig erfreut, für das damalige höfische Publikum war es möglicherweise eher eine Überforderung, solche Widersprüche in einem solchen Reich des Wunderbaren überhaupt wahrzunehmen.

 

Nicht nur Einsiedler und Pilger bedürfen der Kirche nicht, es wird in den Heldenromanen sowieso des öfteren ohne Priester gebetet, getauft, geehelicht und beerdigt, auch wenn am Rande gelegentlich christliche Vorstellungen (ohne Kirche) auftauchen. Wenn schließlich am Ende zwischen Lohengrin und seiner Fürstin die Ehe geschlossen wird, geschieht das nach alter germanischer Tradition durch das Beilager: Die naht sîn lîp ir minne enpfant: dô wart er vürste in Brâbant. Danach hôhzit (Fest), ebenfalls ohne Kirche, dafür mit der Austeilung der Lehen verbunden (P16,826).

 

Nicht umsonst tauchte im Zusammenhang mit der Gralsgeschichte der Gedanke an die Katharer auf, der sich dann aber nicht belegen lässt. Immerhin mag die Beliebtheit und Verbreitung des 'Parzival' in den herrschenden Kreisen darauf schließen lassen, dass er in der Regel nicht als Text eines Häretikers gelesen wurde.

 

Wichtiger ist wohl, dass die Gralsritter am Ende Ritter bleiben, wenn auch ganz besondere: Ohne Sexualleben, wie der nun mustergültige Anfortas erklärt: nu hân ich diemut mir erkorn. rîchheit und wîbe minne sich verret von mîm sinne (P16,819), aber ein Kämpfer und Krieger bleibt auch er: ordenlîche er manege tjoste reit, durch den Gral, niht durch diu wîp er streit (P16,823). Zwar ist es Ideal des Gralsritters, für Friede und hierarchische Ordnung zu streiten, aber das wesentliche Mittel bleibt Gewalt. Die "Demut", der extrem gezügelte muot, mag zwar den Armen Almosen geben, aber Macht wird weiterhin durch nichts als Gewalt hergestellt. Das Christentum der adeligen Herren hat weiterhin nichts, aber auch gar nichts, mit Jesu Gebot der Nächstenliebe zu tun: Es bleibt das genaue Gegenteil.

 

Vermuten kann man, dass Wolfram weniger an Religion als an einer spezifischen Form der Ethisierung des Rittertums gelegen war, die in der Realität zumindest auch christliche Wurzeln hat, also an einem bestimmten Ethos von Macht und Gewalt. Wie wenig religiös-christlich und wie sehr von ethisch veredeltem Rittertum die Rede ist, zeigt die "Bekehrung" des Feirefiz. Geringen Raum nimmt für ihn die Tatsache ein, dass er nach einer Taufe den Gral sehen kann, wichtiger ist schon die wundersame Goldvermehrung durch den Gral, seitenlang geht es aber darum, dass er als Getaufter die schönste und reinste aller Jungfrauen heiraten und damit in die Grals-Herrscherfamilie aufsteigen kann: nâch ir ist al mîns herzen ger (P16,812) und dann: Ob ich durch iuch ze toufe kum, ist mir der touf ze minnen vrum? sprach der heiden (814). Feirefiz lässt sich ganz eindeutig taufen, um so an Repanse zu gelangen, und das, bevor seine rechtmäßige Gemahlin dann brav stirbt. Zwar wird der Taufvorgang korrekt geschildert, aber: Swâ von ich sol die maget hân, sprach der heiden, daz wirt gar getân und mit triuwen an mir erzeiget. (P817) und: ob mich ir minne mietet, sô leiste ich gerne sîn gebot (818). Wichtiges Resultat der Taufe ist der Zugang zur begehrten Frau. Die magische Wunderkraft des Taufwassers wird eher heidnisch bzw. wenig klerikal aufgefasst: von wazzer boume sint gesaft. wazzer vrüht al die geschaft (...) wazzer gît maneger sêle schîn, daz die engel nieht liehter dorften sîn (P16,817). Diese wenig christliche Erklärung gibt ein alter Priester ab, der plötzlich wie aus dem Nichts auf Munsalvaesche auftaucht, um einen minimalen frommen Firnis über den ganz und gar nicht frommen Taufwillen des Feirefiz zu legen.

 

Bei solch heutiger Betrachtung der Ritterromane um 1200 muss aber auch beachtet werden, dass der Weg der Christianisierung der Gewalttätigkeit zwar ein Zug der Zeit ist, aber bei jedem Einzelnen wohl anders aussieht. Während in der Enge der Städte sich ein allgemeineres verbürgerlichendes Christentum herausbildete, ein kommerzialisiertes sozusagen, sieht es in der Weite des Landes mit seinen vielen kleinen Burgen und den noch weiter voneinander entfernten Fürstensitzen, dort, wo diese Texte hingehören, ganz anders aus. Hier entstehen sehr verschiedene Ansätze von etwas intensiverer "Christianisierung". Die gravierenden Unterschiede zwischen Wolfram, Gottfried und Leuten wie dem Stricker etwas später belegen das. Aber wie christlich ist Wolfram eigentlich überhaupt? Und hat Gottfrieds Tristan überhaupt eine christliche Seite?

 

****Tristan und Christentum****

 

Mitten in Gottfrieds 'Tristan', als Isolde das Gottesurteil besteht, heißt es: dâ wart wol g'offenbaeret (...) , daz der vil tugenthafte Crist wintschaffen alse ein ermel ist (flatterhaft wie ein Ärmel im Wind ist). er vüeget unde suochet an, da man'z an in gesuochen kan, (wenn man ihn richtig ersucht), alse gevuoge und alse wol, als er von allem rehte sol. (T24,15733ff), und:er hilft jedem, ob aufrichtig oder betrügerisch, er ist ie, swie sô man wil, ist immer gerade so, wie man ihn gerne hätte. Und das ist unüberhörbar die Stimme des Autors!

 

Der älteste Text, von Béroul, beschreibt zwei deutlich unterschiedliche Auffassungen von Christentum: Die eine, die der Kirche, vertritt ein Eremit in einer kurzen und exotisch anmutenden Situation, in der er ungeachtet ihrer Unfähigkeit zur Reue sie dann doch unterstützt.

 

Das Christentum von Tristan und Isolde und wohl der Mehrzahl der übrigen Laienwelt ist von Anfang an im wesentlichen geprägt von einem christlich formelhaft durchdrungenen Heidentum. Am Anfang des Béroul-Fragments stehen die ehebrecherischen Liebenden unter dem Baum, in dessen Zweigen König Marke, der gehörnte Ehemann lauscht. Mais Dex plevis ma loiauté, lügt Isolde, Gott ist mein Zeuge, dass ich treu bin (Zeile 22). Der Gott der beiden ist der, der sie in ihren Lügen, Listen und Rechtsbrüchen unterstützt.

 

Am Ende dieser Szene, in der Tristan und Isolde dem König Treue vorspielen, möchte der Held seine Geliebte noch daran erinnern, dass sie den König (vorgeblich) bitten möge, ihm seine Ausrüstung zurückzugeben. Er leitet dieses Lügenspiel mit einer Anrufung des Allerheiligsten ein: Dame, por Deu, qui en pucele / Prist por le pueple umanité, / Conselliez moi, par charité. (Zeilen 198ff). Das ist also der Gott, der für die Errettung der Menschen in einer Jungfrau Menschengestalt annahm. Tristan kennt seinen Katechismus und nutzt ihn für seine Listen und Lügengespinste. Das rührt König Marke denn auch zu Tränen.

 

Als Isolde ihrer Brangäne (Brangier) davon erzählt, spricht die von der großen Gnade, die Gott ihnen erwiesen hat, grant merci / Nos a Dex fait, qui ne menti

(Zeilen 371f). Gott ist mit den listigen Ehebrechern. Und dann: Große Wunder (miracles) hat Gott an euch vollbracht. Er ist ein wahrer Vater, der darauf achtet, denen nichts schlechtes zuzufügen, die gut und loyal sind (buen et loial). (Zeilen 377ff) Der Gott der beiden ist für sie ein gnädiger Schutzgott und ein rächender Gott gegenüber ihren Feinden.

 

Als Tristan gerade dem Feuertod entronnen ist und auf Governal trifft, der für ihn ein Panzerhemd bereit hat, heißt es: Dex, dit Tristan, balliez le moi (gebt ihn mir), Par icel Deu en qui je croi (bei dem Gott, an den ich glaube. Zeilen 1017). Das ist ein Spruch, eine formelhafte Exklamation, aber selbst wenn Béroul das nicht gemeint haben mag, Tristans Gott ist ein Kriegsgott für jene Ritter, die valiant sind, also als Ritter etwas taugen, ritterliche Tugenden besitzen. Es ist der jüdische Gott des Alten Testamentes, den der Jesus der Evangelien eigentlich umdefiniert hatte.

 

Der edle Ritter möchte sich auch sofort auf die Rettung seiner Herzdame stürzen, aber Governal ermahnt ihn: Ne te haster. / Tel chose te puet Dex doner / Que te porras molt mex venger. Keine Hast. Gott wird dir eine Gelegenheit geben, bei der du dich viel besser rächen kannst (Zeilen 1023ff). Mag er auch ein Gott der beiden Liebenden sein und der ritterlichen Rache, ein Gott freundlicher Nächstenliebe ist er gewiss nicht. An dessen Stelle kann dann auch problemlos das sehr heidnische Schicksal (destinee, Zeile 2303) treten.

 

In dem Wald, in den die Liebenden flüchten, nachdem er durch einen Sprung aus der Kapelle und sie durch eine objektive Wahrheit, die eine intendierte Lüge ist, entkommen sind, erklärt ihnen der Eremit Ogrin das Christentum:

"Par foi! Tristan, qui se repent / Deu du pechié li fait pardon / Par foi et par confession" . Also: Nur durch den Glauben vergibt Gott denen die Sünden, die sie bereuen, durch ihren Glauben und ihr (Sünden)Bekenntnis. Darauf Tristan, der diese christlichen Gedankengänge überhaupt nicht versteht: "Sire, par foi, / Que ele m'aime en bone foi, / Vos n'entendez pas la raison: / Q'el m'aime, c'est par la poison / Ge ne me pus de lié partir / N'ele de moi n'en quier mentir." (Zeilen 1381ff). Also: Herr, bei meiner Treue (in aller Aufrichtigkeit), Ihr wisst nicht den Grund, warum sie mich in gutem Glauben liebt: Dass sie mich liebt ist wegen des Zaubertranks. Ich kann mich (darum) nicht von ihr trennen und sie sich nicht von mir. Das ist die Wahrheit.

 

In der Fußnote schreibt Ph. Walter (S.87), dass péché im Altfranzösischen nicht nur Sünde, sondern auch Fehler, Irrtum heißen kann, was dem Sündenbegriff in den deutschen Romanen um 1200 entspricht. Foi und péché haben für Tristan noch die alte Bedeutung, nicht die christliche des Eremiten. Deshalb bedürfen sie der Reue und sie müssen sich entsprechend natürlich auch trennen. Für beide aber gibt es keine Schuld, sondern nur das unglückselige Schicksal, welches der Liebestrank ausgelöst hat. Der Eremit gibt ihnen gegenüber darauf nach. Es folgt die Passage des Hundes von Tristan, von seiner treuen Liebe zum Herrn und von seiner Dressur. Unübersehbar ist Tristan dort wieder auf vertrautem Terrain.

 

Mit dem Christentum bei Gottfried ist es ebenfalls nicht weit her. Für die Hochzeit von Riwalîn und Blanscheflur rät Rual Foitenant den seit dem 12. Jahrhundert sich durchsetzenden Kirchgang vor dem Fest an: und râte zwâre, daz ir ê / ze kirchen ir geruochet jehen, / da ez pfaffen unde leien sehen, / der ê nach cristenlîchem site. / dâ saeleget ir iuch selben mite (T 1630ff). Die Öffentlichkeit der Eheschließung wird zwar auch von der Kirche gewünscht, ist aber schon germanischer Brauch gewesen. Das "Seligen" oder Einsegnen der Ehe ist zwar neu, aber man ahnt, dass die christliche Bedeutung dieses Aktes eine Marginalie bleibt (und das übrigens bis heute für die meisten).

 

Als nächstes ist die Taufe von Tristan dran, deren Funktion bei Gottfried vor allem darin besteht, die wenig fromme Namensgebung zu erklären. Die Erziehung Tristans durch Kurwenal kommt völlig ohne Religion aus.Tristan, entführt durch die Kaufleute, trifft in Cornwall auf Pilger, zwei wallaere, deren Frömmigkeit an ihrem Äußeren abgelesen wird. Stichworte sind "Reue" und "gottgeweihtes Leben", aber die beiden wirken wie anerkannte Exoten in einem heidnischen Umfeld von Riesen und Drachen und Zaubertränken.

 

Der nächste Moment des kurzen Garnierens heidnischer Bräuche mit christlicher Tünche ist nach mehreren tausend Zeilen Tristans Schwertleite, die bei Gelegenheit einer Messe in der Kirche stattfindet. Das einzige christliche Moment hier (??) ist der priesterliche Segen für das Schwert, danach verliert sich jeder Zusammenhang zwischen Religion und Rittertum. Tausende Zeilen später wird der Zweikampf mit Morold kurz religiös verbrämt: "künec" sprach er "hêrre Marke, / nune sorget niht ze starke / umbe mînen lîp und umbe mîn leben. / wir suln ez allez gote ergeben. / unser angest hilfet hie zuo niht. / waz obe uns lîhte baz geschiht, / dan man uns habe ûf geleit? unser / sige und unser saelekeit / diu enstât an keiner ritterschaft / wan an der einen gotes craft." (Zeilen 6757ff) Unnötig zu sagen, über wie viele Zeilen beschrieben wird, dass Tristan siegt, weil er der größte, beste und edelste Ritter weit und breit ist.

 

Nach dem Betrug in der Hochzeitsnacht wird deutlich, daz man laster unde spot mêre vürhtet danne got (T18,12711f). Gott ist weit weg und die Menschen sind nah.

 

Die Hochzeitszeremonie von Marke und Isolde wird ausgelassen und damit der wohl obligate Kirchgang und so folgen noch mehr tausende von Zeilen, bis Isolde, bedroht vom glühenden Eisen der Wahrheitsprobe, sich des Christengottes besinnt, unter dessen Schutz sie kurzerhand ihre Lügen und Listen und ihren Ehebruch stellt: si begunde ir swaere beide lân / an den genaedigen Crist, / der gehülfic in den noeten ist. / dem bevalch si harte vaste / mit gebete und mit vaste / alle ir angest unde ir nôt. (T24,15544ff). Der Trick, den beide anwenden, ist ebenfalls Betrug, alles aber im Vertrauen auf gotes höfscheid (T24,15552), auf den Gott der höfischen Minne.

 

Dazu gibt Isolde vor dem Gottesurteil Almosen durch gotes hulde, daz got ir wâren schulde an ir niht gedaehte (T24,14647). Böse ausgedrückt, ist Gott dann auf der Seite der Übeltäter, freundlicher gesagt ist er jenseits jener ethischen Norm auf der Seite der Liebenden. Wörtlich kann man sich bei ihm erkaufen, dass er die eigene Schuld übersieht.

 

Wichtiger als der Christengott ist für Gottfrieds ganzen Text die gotinne Minne (T8,4809 / T26,16723). Das Gebet Gottfrieds an die heidnischen Musen des Helikon (T8,4862) könnte dann als schierer Bildungsbeleg durchgehen, käme da nicht danach der "wahre Helikon" als wenig überzeugende Korrektur. Die nachträgliche Verbesserung verweist darauf, dass der Autor weiß, was er hier getan hat, - ohne es wirklich zurückzunehmen.

 

Es bleibt zu erwähnen, dass in diesem Christentum ritterlicher Ehre und fehlender (kirchen-)christlicher Glaubensinhalte Gottfried klug genug ist, den Lesern seiner Version den Eremiten Ogrin aus seiner Thomas-Vorlage zu ersparen. Nach dem Elysium in und um die Minnegrotte würde dessen Verweis auf Sündenbekenntnis und Reue völlig befremdend wirken. In der Grotte wird schließlich einer "Göttin" geopfert, die keine Schuldgefühle zulässt...

 

Es ist kein Zufall, dass die Werte, die bei Gottfried Marke für Tristan vorträgt, so weit fortgeschritten sind, dass sie problemlos auch auf eine städtisch-bürgerliche Oberschicht übertragen werden können: dîn geburt und dîn edelkeit sî dînen ougen vür geleit. wis diemüete und wis unbetrogen, wis wârhaft und wis wolgezogen; den armen den wis iemer guot, den rîchen iemer hôchgemuot; ziere unde werde dînen lîp, êre unde minne elliu wîp; wis milte unde getriuwe (T8,5027) Also: Deine Abkunft und Würde halte dir vor Augen, sei bescheiden und aufrichtig, wahrhaftig und wohlerzogen. Sei gütig zu den Elenden und stolz gegenüber den Mächtigen. Pflege und bessere deine Erscheinung. Ehre und liebe alle Frauen. Sei freigiebig und verlässlich.

 

Dazu passt Tristans Anrede an den edelen koufman (T4,2325) und dass der ein edeles herze haben kann. (T7,4094).

 

Unheil

 

Wenn sich die saelekeit bei Wolfram gelegentlich mit Heil gleichsetzen lässt, dann steht bei Gottfried unsaelekeit für Unheil. Solches Unheil ist literarisch in unseren Heldenromanen mehr als bloß laster und schande, wie sie Blanscheflur wegen ihrer unehelichen Schwangerschaft befürchtet (T2), vielmehr ist es der Kern der inneren Spannung, die die Versromane zusammenhält.

 

Es ist jenes, welches die Nibelungen in den Untergang und Tristan und Isolde in den Tod treibt, während die Krise bei Chrétien, Wolfram und Hartmann aufgelöst wird und sich so als korrigierbares Fehlverhalten erweist. Insofern kann man vielleicht sagen, dass sich die beiden ersten auf die Höhe eines tragischen Niveaus von sehr unterschiedlichem Charakter begeben, während die drei anderen etwas stärker in den Niederungen eines didaktischen Erziehungsromanes verweilen, sozusagen ein höfisch-ritterliches Programm als ihren Grundzug entwickeln.

 

****Unheil: Das Nibelungenlied****

 

Ein Bewusstsein vom im Menschen angelegten Unheilspotential taucht nicht nur in der vielleicht aus Mesopotamien stammenden biblischen Paradiesgeschichte auf, sondern durchzieht zum Beispiel die germanische Götterwelt, in die sehr Menschliches hineinprojiziert wird: Dem Weltenbeginn entspricht ein Weltenende, und dieses ohne jede Erlösungshoffnung. Von dieser Gestimmtheit scheint noch etwas bis ins Nibelungenlied hindurch zu schimmern, in dem ein ganzes Volk von Helden schicksalshaft seinem Untergang entgegenstrebt.

 

Am Rande der neuen literarischen Entwicklung, die vom mediterranen Raum des heutigen Südfrankreichs und des Nordens der italienischen Halbinsel ausgeht, liegen die deutschen Lande, deren neuartige Literaturen vor allem von Frankreich beeinflusst werden. Und noch einmal ganz am Rande existiert das wohl im südlichen Raum der deutschen Lande entstandene Nibelungenlied, in dem Elemente der Verherrlichung höfischer Lebensform auf deutlich archaischere Vorstellungen treffen.

 

Die Geschichte besteht aus zwei Teilen: Im ersten heiratet der Königssohn Siegfried aus Xanten, der die märchenhaften Nibelungen bezwungen hatte, die Königstochter Kriemhild eines sagenhaften Burgundenreiches um Worms. Er bezwingt dazu die ebenfalls mit märchenhaften Zügen ausgestattete Walküre Brünhilde für Gunther, den Herrscher über die Burgunden, bekommt dafür seine Schwester Kriemhild zur Frau und erregt den Neid (im damaligen weiten Wortsinn) von Brünhilde und des Recken Hagen, der ihn heimtückisch ermordet. Im zweiten Teil hat Kriemhild den Hunnenherrscher Etzel (Attila) geheiratet und lädt die Burgunden in sein Reich ein, um sie aus Rache für Siegfried zu vernichten. Am Ende ist der Text von Leichen übersät.

 

Das lange „Lied“ und sein Erzähler-Autor verweisen von Anfang an auf das Unheil, welches inmitten der prächtigen und edlen ritterlich-höfischen Welt lauert und unweigerlich zu einem bösen Ende führt. Dieser schicksalshaft-unausweichliche Weg, der auch den Edelsten ihren Untergang beschert, hat etwas Tragisches, indem er offenbar in der menschlichen „Natur“ begründet ist, denn zwei Triebkräfte beherrschen die Menschen: Die eine treibt sie zur Vorzüglichkeit im Kampf wie in der Prächtigkeit, mit der sich Sieger umgeben, und es ist auch eine Welt, in der Männer Frauen gewinnen, die nur darauf warten, männer zu gewinnen. Die andere ist die des Neides, des Hasses und der Rache derer, die unterliegen. Beides ist inhärenter Teil der Machtstrukturen, in denen diese Menschen leben, und ihrer Werteordnung.

 

Das Besondere am Nibelungenlied ist, dass das Unheil von vorneherein vorausgesagt wird. Damit scheint es von Anfang an festzustehen. Zudem ist es offenbar unausweichlich,und unaufhaltsam, wie Rüdiger gegen Ende feststellt: daz diesen grôzen jâmer kan niemen understân! (37,2133). Leid häuft sich auf Leid und gebiert immer wieder neues. In den meisten Artusepen ist das dem gegenüber ein zu bezwingender Aspekt der Welt, bei Wolfram im Parzival gar einer, den ein Held in seinem Bildungsgang überwindet. Ausnahme sind die Tristangeschichten: Hier ist es der sich verselbständigende Eros, der in den Untergang treibt.

 

Bezüglich des Kampfes wie des Hasses spielen im Nibelungenlied Frauen punktuell eine starke Rolle, aber nicht wie im Raum der Arthus-Epen, indem für sie als Werbung kämpferische Heldentaten vollbracht werden, sondern am Beispiel Brünhildes, indem sie mit einer List physisch bezwungen werden muss, und am Beispiel Kriemhilds, indem sie aus Rache den Untergang der Nibelungen/Burgunden heraufbeschwört. Das ändert aber nichts daran, dass wir uns in einer Männerwelt befinden, einer Kriegerwelt, in der der Kampf bzw. Kriege (herverte bzw. reise) und diese simulierendes spil und die Prächtigkeit des Festes das Leben bestimmen.

 

Das Unheil beginnt für die Burgunden mit der Entscheidung ihres Königs, sich ausgerechnet um eine Frau zwecks Eheschließung zu bewerben, in der sich auf ganz unwahrscheinliche Weise Höfisches und völlig altgermanisch-sagenhaft „Barbarisches“ begegnen: Sie ist an Körperkraft den meisten Männern deutlich überlegen und sie betreibt den archaischen Sport des Weitwerfens schwerer Steine neben dem Lanzenwurf und anderen kriegerischen und spezifisch männlichen Übungen. Aber sie ist notwendig, um das Unheilsgeschehen in Gang zu setzen, welches am Ende den Tod so vieler Männer bedeuten wird.

 

Da nur Siegfried sie mit seinen magischen Kräften und zudem unerkannt besiegen kann, dieser sich aber bei der brünhildischen Isenburg deshalb im Hintergrund hält und als Dienstmann Gunthers auftritt, wiewohl er ein selbständiges Doppelkönigreich des Xantener Niderlandes und des Nibelungenlandes innehat, wird Brünhilde misstrauisch. Zwischen den Zeilen würde sie ihm in seiner strahlend-heldenhaften Männlichkeit wohl eher zutrauen, sie zu bezwingen, aber andererseits tut er so, als ob er im Rang weit unter ihr, nämlich unter König Gunther stünde, also entsprechend wohl auch weniger taugte.

 

Tatsächlich wird Brünhilde zweimal betrogen, und zwar von Gunther und Siegfried zugleich. Letzterer gewinnt mit list, wie es heißt, den „sportlichen“ Wettkampf und mit nicht weniger List den sexuellen, das körperliche Niederringen der Jungfrau im Bett, welches zuvor über Gunthers Kräfte ging. Das Unheil nimmt also seinen Lauf mit einem doppelten Betrug und einer gravierenden Demütigung der Frau, die allerdings bezeichnender Weise ihre Bedeutung nicht so sehr im sexuellen Betrug gewinnt, sondern in der damit verbundenen Statusfrage. Während die Artusgeschichten Konzessionen an ein weibliches Publikum und sein Unterhaltungsbedürfnis machen, herrscht im Nibelungenlied durchgehend eine männliche Perspektive vor.

 

Wie kaum sonst in der Heldendichtung wird das erste erfolgreiche Beilager und die damit verbundene Entjungferung ausführlich als gröblichste Vergewaltigung beschrieben. Brünhilde will sich ihrem Ehemann erst dann sexuell hingeben, wenn er ihr Misstrauen bezüglich Siegfrieds „Rolle“ auflöst. Das aber kann Gunther nicht tun, da sie ihm sonst den Vollzug der Ehe mit vollem Recht verweigern könnte. Also muss Siegfried im Bett Gunther noch einmal beispringen. Zwar meint Gunther zunächst, dass zwischen Siegfried und Brünhilde heimlicher dinge von in dâ niht geschach. (10, 664, wie immer Textfassung B). Aber als Siegfried dann im Kampf um ihren Körper die Oberhand gewinnt, daz ir diu lid erkrachten unt ouch al der lîp, des wart der strît gescheiden. Und dem folgt ganz deutlich und lakonisch: dô wart si Guntheres wîp. (10, 674), Das kann man als Vorausnahme von Gunthers Akt interpretieren oder aber als Entjungferung durch Siegfried, was aber (eigentlich?) nicht sein darf, da der Geschlechtsakt damals auch im Bewusstsein solcher Menschen ein Zeugungsakt ist und darum der entscheidende Moment der Eheschließung. Ehen dienen schließlich dynastischen Zwecken.

 

Und so wird die Weibwerdung (als heimliche) der nunmehr frouwe noch einmal nachgeschoben: von sîner heimliche si wart ein lützel bleich. Und dann: hey, waz ir von der minne ir grôzen krefte entweich! (10, 678). Minne ist hier nicht nur erotisches Begehren oder sexuelle Begierde, sondern eben auch der Vollzug, - ganz im Unterschied zu liebe, der wiederum im Nibelungenlied oft mehr oder weniger das sexuelle Moment fehlt.

 

Das Fazit des Autors am Schluss seines epischen Liedes laut denn auch so: mit leide was verendet des küneges hochgezît, als ie diu liebe leide zaller jungeste gît (39,2375).

 

Endgültig ans Laufen kommt das Unheil aber erst, als Siegfried, dank seines magisch vermittelten Krafteinsatzes gegen Brünhilde nun Ehemann von Kriemhild, dieser Ring und Gürtel schenkt, den er Brünhilde im nächtlichen Ringkampf abgenommen hatte und seinem Eheweib zumindest implizit vermittelt, das sei Zeichen dafür, dass er vor Gunther mit ihr geschlafen habe. Das wiederum wird erst kritisch, als Brunhilde herausbekommen möchte, wieso Kriemhild sich durch Siegfried mit ihr im Rang gleichgestellt, ja ihr überlegen fühlt.

 

Durch die Rangelei um die Rangordnung der beiden Frauen, und diese ist eminent wichtig, da in ihr Macht erkennbar wird, kommt es dann zu Kriemhilds Erklärung, Brunhilde sei in jener Nacht zum Kebsweib Siegfrieds geworden, einer untergeordneten Art Nebenfrau, und schon alleine deswegen ihr im Rang untergeordnet. In folgendem Satz ist dann die ganze Demütigung Brünhildes enthalten: zwiu lieze du in minnen, sît er dîn eigen is? Wie konntest du dich bloß von ihm beschlafen lassen, wenn er dir so massiv untergeordnet ist? Selbst Siegfrieds öffentlicher Eid, er habe sie nicht entjungfert, kann die Verletzung Brunhildes nicht mehr heilen, und so betreibt sie nun mit Hagens Hilfe Siegfrieds Tod, aus dem dann Kriemhilds Rachewunsch entspringen wird.

 

Unheil gebiert Unheil. König Gunther wird von Hagen dazu verführt, zuzustimmen, dass Siegfried mittels einer List, also durch einen weiteren Betrug (luge), ermordet werden soll. Der König folgt dabei seinem man, wo es doch eigentlich umgekehrt sein sollte. Der König ist darum treulos (ungetriuwe) und sein Opfer getreu. Die Treue des einen, Siegfried, trifft auf die des anderen, Hagen, und so gebiert Treue Unheil.

 

Dass dabei fast alle Burgunden/Nibelungen untergehen, wird damit begründet, dass Kriemhild schlechthin nicht den Gattenmörder alleine einladen kann. Also müssen mit ihm alle sterben.

 

List, Betrug, Verrat und Lüge (luge) sind die Mittel, die dies Unheil vorantreiben. Aus ihnen erwachsen die Motive für Rache, für die erst Hagen und dann Kriemhild zuständig sind. Wer dabei auf Treue vertraut wie Kriemhild, als sie Hagen Siegfrieds verwundbare Stelle verrät, kann bereits verrâten sein. Und wer so treuen Dienst leistet, wie Siegfried, wird dennoch erslagen, wie er selbst feststellen muss (16,986). Rache soll êre wieder herstellen, was die ganze weitere Geschichte durchzieht, aber sie zieht Rache nach sich.

 

Die wesentlichen Unheilsmotive sind dem Nibelungenlied aus den Quellen, den Sagen von Sigurd/Siegfried, den Nibelungen und ihrem Hort, von Attila/Etzel, Dietrich/Theoderich und anderen vorgegeben. Die Leistung des Autors hier besteht darin, solche Elemente neu zu gewichten und so zusammenzufügen, dass sie einen zwingenden Erzählstrang ergeben. Dass dabei Siegfrieds nicht weiter beschriebenes Sich-Brüsten vor Kriemhild mit seinem doppelten Betrug an Brünhilde den Schlüsselpunkt der ganzen Geschichte ausmacht, also neuzeitlich gesprochen, sein Stolz und seine Eitelkeit, würde als persönlicher (Charakter)Aspekt das Tragische der Geschichte konterkarieren, wenn nicht der entscheidende Punkt der wäre, dass für Brünhilde in Worms nach den beiden Hochzeiten kein Rangunterschied zwischen Siegfried und dem her Gunter erkenntlich wird: Da der erste Betrug an Brünhilde bedingte, dass Siegfried Gunther untergeordnet erschien, um unauffällig zu wirken, dieser aber in solcher Unterordnung nicht weiter auftreten möchte und kann, ist das Unheil in jedem Moment vorgegeben, in dem Gunther und Siegfried und ihre beiden Frauen nebeneinander auftreten.

 

Das Wort Schuld tritt zwar einmal im neuzeitlichen Sinn auf, und zwar als Hagen zu Kriemhild sagt: ich hân es alles schulde, des schaden schedelich (29,1788), aber er gibt damit kein moralisches Urteil ab, sondern gesteht seine Verursacher-Rolle. Tatsächlich werden aber alle möglichen Beteiligten schuldig, sobald sie sich mehreren konfliktierenden Verpflichtungen gegenüber sehen. Am deutlichsten wird das in der 37. Aventiure ausgetragen, wo Rüdigers Konflikt zwischen Burgunden und Hunnenhof deutlich gemacht wird. Er hat sich mit êre unde lîp Kriemhild verpflichtet, würde zugleich aber seine sêle verlieren, wenn er gegen die Burgunden kämpft, denen er Gastfreundschaft und Geleit gegeben hat. Swelchez ich nu lâze unde daz ander begân, sô hân ich bôsliche unde vil ubele getân (37,2151)

 

Wichtiger aber für die Geschichte ist dieses Phänomen in der Rolle Hagens. Persönlich stört ihn die starke Position Siegfrieds in Worms, er sieht sich als Konkurrent um den Status bei Hof. Strukturell bedeutsamer noch ist seine Vorstellung von Ehre und vor allem Treue, die er seinem Herrn und dessen Frau schuldet. Als wichtiger Mann seines Herrn kann er nicht zusehen, wie dessen Macht und Herrschaft durch Siegfried sstarke Position in Frage gestellt wird. Er muss geradezu eingreifen.

 

Was ihm bleibt, ist ein Mord, die Ermordung Siegfrieds. Kein ehrenhafter Kampf, sondern gnadenlose Hinterhältigkeit. Aber im Nibelungenlied wird physische Gewalt überhaupt nicht hinterfragt, selbst Siegfrieds Ermordung nimmt dem Mörder und seinen Mitstreitern nicht ihr edles Heldentum. Soweit wäre die Geschichte denn auch zu Ende, wenn er es nicht für nötig hielte, auch Kriemhild kaltzustellen, was nur geht, wenn er ihr den Hort raubt, nicht etwa aus Habgier, sondern um zu verhindern, dass sie ihn nutzt, um sich damit Freunde, waffenfähigen Anhang zu verschaffen. Er unterstellt ihr, dass sie aus ähnlichen Antrieben handeln würde wie er selbst. Und das Unheil nimmt dann seinen weiteren Lauf, weil Kriemhild als zweite starke Frau des Liedes bei ihrem Stolz und Ehrgefühl nicht auf Rache verzichten kann.

 

Und so haben alle gewissermaßen "Recht", und treiben doch damit das Unheil voran. Dabei entsteht es aus der offenbar naturgegeben fehlenden Eindeutigkeit der Bezüge von Werten wie Ehre oder Treue in einer Welt, der ein oberstes Schiedsgericht fehlt, welches Konflikte regulieren könnte. Die Ehre des einen kann eben der Tod des anderen sein, und die Treue zum König oder zum toten Gatten kann eben in den vollständigen Untergang führen. Tragischer im altgriechischen Sinne geht es nicht mehr und lebensnaher auch nicht...

 

****Die Liebe und das Leid****

 

Dass der Geschlechtstrieb und Fortpflanzungsdrang am Anfang allen Unglücks steht, sagt schon das Nibelungenlied, aber in ihm wird das nur wenig reflektiert. Es ist, wie es ist! Lieb âne leit trägt Siegfried in seinem Herzen, als er Kriemhild erblickt (NL5,289). Aber dann gibt ihm doch die minne dicke nôt (5,322)

 

Die Liebe des neuen, lyrischer werdenden Ichs ist in den Romanen potentiell mörderisch, aber schrecklich schöner Unterhaltungsstoff. Sie ist sagenhaft, märchenhaft, reiner Stoff der Poesie, völlig unwirklich oder wenigstens die totale Ausnahme und darum unterhaltsam und spannend. Das sexuelle Begehren, bislang auf Ehe und Familie hin domestiziert und ansonsten oft auch rohe Gewalt, geht durch die spirituellen und gefühlvollen Liebesvorstellungen der Reform-Geistlichen des beginnenden Hochmittelalters mit seiner verstärkten Marienverehrung, diese werden über das physische Begehren drübergelegt, während Ehe und Familie stärker christianisiert werden sollen, dann werden die Geschichten in der christlichen Umformung zugleich wieder laisiert und in der Geschichte von Tristan und Isolde wird schließlich deutlich gemacht, dass der Schmerz der Leiden Jesu sich auch analog als Liebesschmerz eignet und sich auch besser in das frühe höfische Leben fügt.

 

Nichts wird schließlich verführerischer werden, als die Phantasien, die sich um Kapital und Ware ranken, mit denen zu verbinden, die sich um Liebe, Lust und Leid schlingen werden. Die Emanzipation wird am Ende das Schlagwort werden, die nämlich der Kapitalverwertung aus den unmittelbaren menschlichen Bedürfnissen heraus und die der Sexualität aus sozialen Bindungen. Am Ende ist "Geld sexy" und Kapitalverwertung natürliche Triebhaftigkeit.

 

Der Geschlechtstrieb ist allerdings denkbar ungeeignet für eine laizistische Sakralisierung, die einer Religion entspringt, die das Leiden an und in dieser Welt apostasiert und nur durch den Tod zu überwinden glaubt. Zwischen dem nackten Begehren und der aus Magie und Lüge gewonnenen hohen Minne tun sich die Abgründe auf, die mit neuer Magie und neuen Lügen zugestopft werden müssen. Die Kernidee, letztlich von der Kirche initiiert, wird das Domestizieren dieser neuen Liebesvorstellung in die Ehe, die dafür, und das wussten die Protagonisten des Hochmittelalters, wenig taugt. Die Abgründe werden dann vor allem ausgestopft mit Silber, Gold und Edelsteinen, mit immer mehr Pracht und Prächtigkeit, einer zunehmenden Warenwelt, die Trost zu bieten hat, indem sie die sexuellen Energien von ihren natürlichen Objekten abzieht und auf künstliche überträgt.

 

Den Weg dahin weist der 'Lai du Chévrefeuille' der Marie de France, indem sie lakonisch sagt: Ne vus esmerveilliez neent, / Kat cil ki eime lealment / Mut est dolenz e trespenses / Qaunt il nen ad ses volentez (Zeilen 21ff) Wundert euch nicht, dass, wenn jemand treu liebt, er voller Schmerz und Sorgen ist, wenn er nicht bekommt, was er will (den Körper der Geliebten).

 

Im Parzival tauchen dann liebe und leit immer wieder als Paarung auf, was nicht nur dem Anlaut geschuldet ist. Wolfram: wan swer durch wîp hât arbeit,daz gît im vröude, etswenne ouch leit an dem orte vürbaz wigt: sus dicke minne ir lônes pfligt. (Mehr Leid als Lust, P5,334), den ouch von minne ist worden wê (P12,586). In den Augen der Jungfrauen sieht man, daz si diu minne lêrte pîn (P14,723). Minne erzeugt kumber (P12,588). Gahmuret gewinnt die Gunst der Damen, doch wart im selten kumbers buoz, sie bringt eben meist auch Kummer (P1,12). Minne ist Last: So heißt es zu Gahmuret: des herze truoc ir minnen last (P1,34 / P6,290), denn grôz liebe ist vröude und jâmers zil (P5,272) und sie bringt Not: sölhe nôt vuogt im sîn wîp angesichts des Blutes im Schnee (P6,283) und ach nôt ein wîp an mich legt (P6,287). Bei Gottfried quelt Minne sogar den lîp (T2,1179) bis dahin, den Eindruck zu haben zu sterben. minne, al der werlde unsealekeit, kann Blancheflur sagen (T2,1400).

 

Die Freuden der Minne, nun ganz sexuell gefasst, sind kurz (P6,291) aber sie ist gewaldec (293), denn sie (be)zwingt, sie twinget (301 / auch: P12,587). Gottfried beschreibt dann, wie enttäuschtes Begehren leicht in Hass umschlagen kann (T2,20: Marjodo)

 

Nirgendwo sonst wie bei Gottfried fallen Lieben und schmerzliches Sehnen als leit derart zusammen. Ein edler Liebender ist ein senedaere durch den ganzen Text, und liebe wird so zur reinen sene (T1,127), so wie kurz davor die Liebesgeschichte, so wie Gottfried eine erzählt, senediu maere oder später senemaere ist. Radikal ausgedrückt: swem nie von liebe leit geschach, dem geschach ouch liep von liebe nie. liep unde leit diu wâren ie an minne ungescheiden. (T1,204ff)

 

Zum Sehnsuchtsschmerz kommt dann in Kapitel 30 konsequenterweise die Schmerzlust: doch liebte er den smerzen und truoc im inneclîchen muot. Er dûhte in süeze unde guot. er minnete diz ungemach (T30,18978). Ohne diese literarische Lust am Schmerz wird bis in die Gegenwart eine passionierte Leserschaft nicht mehr auskommen wollen.

 

****Tristan: Das Unheil****

 

Seit etwa 1100 ist, zunächst im okzitanischen Raum, eine Entwicklung im Gange, die Liebe als ein intensives Gefühl zu beschreiben bemüht ist, die aber zugleich bald großes Unheilspotential enthalten wird, welches in den Geschichten von Tristan und Isolde kulminiert. Das ist allerdings nur die eine Seite.

 

Mitte des 12. Jahrhunderts formuliert die 'Kaiserchronik' folgenden braven Spruch im Zusammenhang mit der Lukrezia-Geschichte: swer rehte wirt innen / frummer wîbe minne, ist er siech, er wirt gesunt, / ist er alt, er wirt junc. / die frowen machent in genuoge hovesc unde kuone (Zeile 3776ff).

 

Auf eine andere Weise verniedlicht der Tristan-Abschnitt des 'Donnei des Amants' die Spannungsbögen, die in den Tristanepen gezeichnet werden. Hier geht es um die Eifersucht und das klassische Trobadorthema der bewachten und eingesperrten Ehefrau (Geliebten). Marke will ihr mehr Freiheit gewähren:

 Ysoud lächelt und geht weiter, das Gesicht bedeckt, denn sie freute sich und geht stracks zu ihrem Geliebten (ami): Tristan eilt ihr entgegen; ihre Arme schlingen sich ineinander, als ob sie mit Bändern aneinander geheftet wären. Sie geben sich innige Küsse und Zärtlichkeiten. Sie tun viel und reden wenig. Sie verlieren sich in ihre Freude und ihre Hingabe einen großen Teil der Nacht. Sie geben sich an ihre Freude und ihre Liebkosungen (amurs) hin - ungeachtet des Zwergs und der Wachen. Ysoud bildet (fait) ein schönes Muster (mustra): Eine Geliebte (amie) ist nicht vollkommen und rein (pure), wenn sie sich nicht in das Abenteuer begibt und in große Gefahren, wenn sie denn mit großer Treue (tut lealment) liebt. (Zeilen 193ff)

 

Da fällt einem unwillkürlich der Gedanke ein: So einfach ist das also mit der Liebe. Höfisches Gebaren betrügt den freundlichen und plötzlich (grundlos) vertrauensvollen Ehemann und begründet die Lust aus der Lust, die zwar keine Himmelsmacht in der Grotte ist, sondern eine Liebesnacht in der Burg des Ehemannes, die aber das Erregende in dem Abenteuer sieht, welches in "Gefahr" verdoppelt wird. Liebe als Aventiure.

 

Nicht vergessen darf man aber, dass der Sexus schon am Beginn des Unheils des Nibelungenliedes steht, indem Gunther Brunhilde begehrt, aber nicht selbst bezwingen kann, und Ausgangspunkt von Wolframs Parzivalgeschichte ist, denn der Herr des Grales führt sein Unheil mit dem verbotenen außerehelichen Beilager herbei, was in jener Strafe endet, für deren Aufhebung Parzival von einer etwas undeutlichen hohen Macht auserkoren wird. In kleinerem Rahmen beginnt die Zauberburg-Episode mit Klingsors außerehelicher Eskapade.

 

Die Lieder von Tristan entwickeln sich etwas anders. In den beiden erhaltenen frühen Texten, in denen der Anfang der Geschichte aufgehoben ist, setzt früh ein Unheilsmotiv ein, welches bis zum schlimmen Schluss die ganze Geschichte dominiert. In der skandinavischen Übersetzung der anglonormannischen Geschichte des Thomas, deren erster Teil verloren ist, beginnt das Unheil mit dem (sexuellen) Begehren von Blensinbil, der jungen Schwester von König Marc, die sich angelegentlich eines festlichen Turniers in den bretonischen Ritter Kanelangres verliebt. Es endet erst mit dem Tod ihres Sohnes Tristan und der irischen Königstochter, der Ehefrau von Marc.

 

Das Unheil besteht in der Leidenschaftlichkeit, mit der der Geschlechtstrieb erotisch wird, in einer Überhöhung der Verbindung von Schmerz und Lust. In den anglonormannischen Versionen des Tristan-Liedes wird daraus das todgeweihte Leiden am sexuellen Begehren als außerehelicher und verbotener Liebe, der der neuen Lyrik eben.

 

Der leidenschaftlichen Liebe Lust und Leid, der tiefe Zwiespalt im sexuellen Begehren, wird mehr noch zum ausgearbeiteten Leitmotiv bei Gottfried werden. Im Prolog, in dem Gottfried sein literarisches Tun reflektiert, wird die Absicht ausgesprochen, sich auf das Minnethema in epischer Breite zu konzentrieren, nicht wie eine "lyrische Nachtigall", wie es sein verehrter Zeitgenosse Walter von der Vogelweide tut, sondern in der ganzen Fülle, in der sich eine Welt entfaltet, die im literarischen Prozess erst zu schaffen ist: ein ander werlt die meine ich, diu samet in eime herzen treit/ ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben. / dem lebene sî mîn leben ergeben, / der werlt wil ich gewerldet wesen, / mit ir verderben oder genesen.

In die selbst geschaffene Welt "geweltet" werden, ist das Programm dieser neuen Epik.

 

Und dann kommt seine programmatische Äußerung: swem nie von liebe leit geschach, / dem geschach ouch liep von liebe nie. / liep unde leit diu wâren ie / an minnen ungescheiden. / man muoz mit disen beiden / êre unde lop erwerben / oder âne sî verderben.

Die leidenschaftliche Liebe jenseits aller kulturell oder zivilisatorisch vermittelten Bindungen muss entweder in das Ordnungsgefüge integriert werden oder aber ins finale Unheil führen.

 

Schon in der Thomas/Robert-Version ist diese neue Liebe nur außerhalb der Ehe möglich, die Ehe selbst ist das zentrale Liebes-Hindernis, wie es auch in Trobador-Texten und bei Andreas Castellanus etwas später formuliert wird. Außerhalb der Ehe stirbt diese Liebe aber entweder eines natürlichen Todes, indem sie von einer anderen abgelöst wird, oder sie überdauert trotz und wegen aller Hindernisse, und dann führt sie unmittelbar in den leiblichen Tod, da sie den Strukturen widerspricht, aus denen Ordnung entsteht.

 

Überwunden wird dies Dilemma erst durch die (bürgerlich beeinflussten) Sublimationsstrategien des Spätmittelalters mit dem enormen Preis, der dabei zu zahlen ist, und durch die noble Aufgabenteilung in Ehepartner(in) und Liebhaber(in), die das Mittelalter als Formen der Galanterie überleben wird.

 

In der norwegischen Version der Thomas-Geschichte wird das Unheilsmoment bei gleichlaufender Handlung deutlicher, konziser dargestellt als bei Gottfried. Kanelangres, bei Gottfried Riwalîn, war durch Krieg und Beute mächtig geworden, und er zieht über den Ärmelkanal nach Cornwall an den Hof von König Marc/Marke. Bei einem höfischen Fest dort, dessen Zentrum ein Turnier ist, erweist sich Kanelangres als an körperlicher Schönheit und kämpferischen Talenten überragender Ritter:

 

...die ganze große Menge der Mädchen und Frauen hat die Augen auf ihn gerichtet und wandten ihm ihre Zuneigung zu, denn alle waren ihm in Begehren zugetan, obwohl sie ihn vorher nie gesehen hatten und ohne zu wissen, woher er kam, aus welcher Familie, oder wie sein Name war. Dennoch wandten sich ihre Gefühle ihm zu, denn es ist die weibliche Natur, die Befriedigung ihres Begehrens über das gerechte Abwägen zu stellen (über das rechte Maß). Und sie begehren oft, was sie nicht bekommen können, aber lassen oder verachten gerade die Dinge, die in ihrer Reichweite sind. Das ist mit Dido geschehen, die so brennend liebte, dass sie sich darin verzehrte, als ihr Geliebter, der aus einem fremden Land gekommen war, sie verließ. So geschieht es, dass viele vom Übel befallen werden, die aus eigener Entscheidung sich solchen Qualen hingeben.

(Tristan et Iseut, S.498f. m.Üb.aus dem Französischen des Daniel Lacroix. Die Erwähnung der Aeneis zeigt, wieweit "Liebe" bei den Belesenen bereits literarisch vorgeformt ist.)

 

Bei Thomas/Robert nimmt wie in der biblischen Sündenfall-Geschichte das Unheil seinen Anfang bei den Frauen. Blensinbil überfällt das Begehren, welches in den Texten "Liebe" (d.h. Verliebtheit) heißt, wie eine krankhafte Infektion: ...sie fiel in eine so tiefe Nachdenklichkeit, dass all ihr Begehren und ihre ganze Liebe sie übermannten. Alsbald seufzte sie von ganzem Herzen, wurde innerlich ganz und gar zerrissen, ihre Gefühle entflammten, das Feuer, welches ihre Gefühle verzehrte, geschah ihr so schnell, dass man es nicht auf ihrem Gesicht voraussehen konnte, alle ihre natürliche Schönheit verschwand und sie litt Not und Bedrückung. Dennoch wusste sie nicht, wo es herkam. Sie seufzte noch einmal, und Angst peinigte ihre Brust., denn ihr Herz und ihre Glieder schauderten... "Diese beiden Dinge, die Hitze und die Kälte, quälen mich gleichzeitig, und deshalb, weil sich keine der beiden von der anderen trennen oder mir eine Atempause gewähren wollte, muss ich beide gegen meinen Willen ertragen." (s.o. S. 500)

 

In der Vorlage von Thomas bleibt die Liebe der Eltern von Tristan zunächst ein Geheimnis, weil sie es sich gegenseitig nicht offenbaren. Zudem bleibt die neue höfische Liebe ein Geheimnis vor den anderen, da sie wie in der Minnelyrik als außereheliches Abenteuer sich aus Scham und Klugheit vor den anderen verbirgt. Alles das wird sich wiederholen, wenn Tristan und Isolde auf hoher See dank Zaubertrank magisch ins gegenseitige Begehren gestürzt werden.

 

Bei Thomas/Robert kommt die Auflösung, als der auf einem Kriegszug des Königs Marke schwer verletzte Kanelangres am Krankenbett von Blensinbil besucht wird:

... sie nimmt ihn in die Arme und umarmt ihn mehrmals, wobei sie folgende Worte sagte: "Meine ganz große Liebe!" , wobei sie sein Gesicht ganz mit ihren Tränen benetzt. Und er, der nun seinen Schmerz und die Pein, die seine Qualen hervorriefen, verkraften konnte, nahm sie sofort mit liebender Absicht in seine Arme, und zwar so gut, dass die schöne Dame in den Stürmen, die von seiner Liebe hervorgerufen wurden, ein Kind empfing.

 

Bzw: Als sie so von den Beklemmungen ihrer Pein - sie, wegen ihrer Qualen, er wegen seiner Verletzungen - mitgerissen wurden, waren sie dabei, das Kind zu zeugen, welches lebte, und über dessen Schicksal alle seine Freunde weinten, und von dem diese Geschichte ausgeht. (s.o. S.505)

 

Auf Gottfrieds Fest in Tintajêl verlieben sich der Gast Riwalîn und Blanscheflur ebenfalls ineinander, und zwar ebenso ohne elterliche Vermittlung. Das ist in Zeiten der dynastisch gestifteten Ehe aber nicht das, waz vuoge waere und êre (Gottfried, Z.1050), und miteinander zu schlafen, wäre ehrlos, für die (Jung)Frau, weil ihr Wert auf dem Heiratsmarkt ins Bodenlose sinken, für Riwalin, weil es Treulosigkeit gegenüber Marke beweisen würde. Die "Fuge" benennt das, was sich fügt, was passt, und das ist auch das, was "sich schickt".

 

Deutlicher als später, wenn sich Tristan und Isolde verlieben, wird das Unheilsmoment in der Minne bei Gottfried für Riwalin und Blanscheflur durchgespielt: Verliebtheit ist eine vrîheit, die Gefangenschaft bedeutet. Daraus entsteht Verwirrung und beworrenheit, zwîvel und schmerzliches Sehnen.

 

Der zwîvel als der zweifältige innere Widerspruch taucht schon am Anfang vom 'Parzival' Wolframs auf und wird dann am Ende aufgelöst. Beim unvollendeten 'Tristan' Gottfrieds bleibt conterfeit bis zum Schluss bestehen: alsus was übel bî guote, bî linge (Gelingen) schade, bî liebe leit (T9,5096). Qual ist existentielle Not, die widerwarten conterfeit zorn unde wîpheit bei Isolde gegenüber Tristan (T14,10258).Und: sus was ir herze in zwei gemuot (T14,10267)

 

Minne übt gewalt aus, und ihr Feuer hat wärmende und zerstörerische Kraft. Die zuht, bei Gottfried in der mâze inbegriffen, geht verloren. Es bleibt meisterlôser muot. (T2)

 

Und zum ersten Mal tritt das Motiv des Liebeszaubers auf. Das Unwillkürliche des sich Verliebens wird von Blanscheflur als Magie verdächtigt:

ist aber daz er von lêre kan / dekeiner slahte zouberlist, (wäre es aber durch seine Zauberkünste) / dâ von diz vremede wunder ist / und disiu wunderlîche nôt, / sô waere er maneges bezzer tôt / und ensolte in niemer wîp gesehen. / durch got, wiest mir von ime geschehen / sô leide und alsô swâre! (T2,1002ff)

 

Dies Motiv des Zaubers, der zur Liebe führt und der Liebe, die verzaubert, wird des öfteren wiederkehren. Dass die Liebe, also hier das auf ein Objekt fixierte und aus ihm begründete sexuelle Begehren, die Betroffenen verzaubert, wird ein unchristlicher Aspekt der Poetisierung von triebhafter Naturgewalt bleiben. Die von Augustinus so schlüssig christlich begründete Ablehnung des sexuellen Begehrens nach dem Sündenfall als nicht mehr dem subjektiven Willen unterworfene, sondern unter die Regie des Teufels geratene Triebkraft wird in den klassisch gewordenen Tristangeschichten heidnisch-magisch begründet. Dies heidnische Moment ist aber unter christlichem Einfluss bereits rationalisiert: Der Zauber bei den Eltern von Tristan ist ein poetischer Begriff geworden und bei Tristan und Isolde ist er ein eigentlich gutes Gift, welches den Geschlechtsakt der elterlich vermittelten Ehe ohne Liebe erotisch aufwerten soll. Seine Herstellung aus Pflanzen wird erklärt und ist so erklärlich, wie denn auch das Gift an den Waffen, welches Tristan mehrmals der Heilung durch Isolde anheimgibt, einer solchen Erklärung zugänglich wäre.

 

Als Blanscheflur dann von ihm schwanger wird, bleibt Riwalîn nur, sie zu entführen. Als höfischer Idealtypus wird er sie schließlich heiraten und als epischer Held in der Nebenrolle wird er kurz nach ihr sterben, so dass der getreue Rual Foitenant, sein Marschall, nun mit der Verantwortung für Tristan befasst ist, der zum ersten bedeutenden Helden einer Literatur von Waisenkindern wird, die ihren letzten Höhepunkt mit dem ziemlich unritterlichen Tom Jones des Henry Fielding im 18. Jahrhundert hat.

 

Das sexuelle Begehren, welches sich als Liebe versteht, verdoppelt sich nicht nur in Lust und Leid, sondern auch in den anarchischen Trieb und seine soziale Einordnung. Die Tristangeschichten betonen alle das Triebhafte und das Leid. Sie beschreiben eine Ausnahmesituation, und in ihr führt die sozial unverträgliche Liebe notwendig in den Tod.

 

Schon die Liebe der Eltern Tristans ist aus allen legitimen sozialen Zusammenhängen herausgerissen, und die schwangere Blancheflur muss fürchten, dass ihr Bruder König Marke sie töten oder wenigstens verstoßen wird: mîn bruoder und mîn hêrre / sô der an mir dise ungeschiht / und ouch sîn selbes laster siht, / der heizet mich verderben / und lesterlîche ersterben. (T2,1470ff)

 

Insofern ist die Liebesgeschichte von Riwalîn und Blancheflur das notwendige Vorspiel zu der von Tristan und Isolde, in der der Bruch ganz anders und viel heftiger verläuft: Die im Text gefeierte Liebe der beiden bedeutet Ehebruch, Heimlichkeit, Treuebruch gegenüber dem Herrn, Listen und Lügen. Und noch schwerwiegender: diu endelôse herzenôt , von der si beide lâgen tôt. (T16,11675 und: diz tranc ist iuwer beider tôt!).

 

Tristan ist Neffe und Freund und dienender Mann von König Marke. Seine Isolde wechselt in einem fort vom Lager ihres Ehemannes zu dem ihres Geliebten. Sie übt den Beischlaf mit beiden und ist zudem (ganz implizit) unfruchtbar wie auch ihre Liebe: Der regelmäßige Beischlaf mit zwei Männern schwängert sie nicht. Damit ist ihre Liebe auch dem sozialen Kontext enthoben, den Mutterschaft und Vaterschaft herstellen. Das anarchische Moment einer alles überschreitenden Liebe wird so verbunden, verschränkt mit der Verpflichtung auf höfische Normen, in denen das Bastard-Kind der Ehefrau ihr Ende wäre.

 

Tristan sagt denn später auch: Swie sanfte uns mit der liebe sî, sô müeze wir doch ie dâ bî gedenken der êren (und der triuwe zu Marke, (T18,12507). Die Lösung des Widerspruchs ist Ehre und Treue als bloßer Schein. Für Isolde, die sich durch Brangäne gerade bedroht sieht, geht es ohnehin nur um das Vermeiden von laster unde spot T18,12711), also den bloßen Anschein.

 

Der Tristan des Straßburgers Gottfried wird "höfisch und kühn" in der Erziehung durch einen Mann, Kurvenal, und der erste erstaunliche Schwerpunkt der (ritterlichen!) Erziehung des Sieben- bis Vierzehnjährigen sind fremde Sprachen, Kunst und Wissen aus Büchern und das Saitenspiel, die er mit seinem Erzieher in der Fremde erlernen soll. (in dô nam / und bevalch in einem wîsen man. / mit dem sante er in iesâ dan / durch vremede sprâche in vremediu lant. / und daz er aber al zehant der buoche lêre an vienge). Das ist Anfang des 13. Jahrhunderts in deutschen Landen, wo die Oberschicht erst anfängt, lesen und schreiben zu lernen, eine aus "französischen" Landen abgeschaute Idealvorstellung.

 

Tristan bedarf also nicht der Erziehung durch "Frauendienst", hat er doch, als er nach Cornwall verschlagen wird, bereits alle Fertigkeiten eines Spielmanns oder Troubadours, mit denen er dann auch dort auftritt, wo er seine wahre Identität verschleiern will. Als er zum ersten Mal am irischen Königshof auftaucht, um von Mutter Isot/Isolde von einer Wunde geheilt zu werden, wird er, der Harfner, zum Lehrmeister der jungen Isot/Isolde, und unterweist sie in der Doppelkunst von Musik und Dichtung.

 

Gottfrieds Tristan bedarf auch nicht der Belebung durch die Minne, er ist lebendig durch und durch aus sich heraus, offenbar ähnlich wie Isolde. Sie bedürfen beide auch keines Liebestrankes, um sich ineinander zu verlieben. Dieser dient vielmehr nur dazu, den Widerspruch zwischen der ihnen eigenen höfischen zuht und dem Ausleben ihres erotischen Begehrens aufzuheben: Sie können nicht anders und das formuliert das tragische Moment ihrer Geschichte. Und wie im Nibelungenlied treten sich widersprechende Verhältnisse von Treue auf, die zum Ehemann und zum Herrscher auf der einen Seite und die zwischen zwei Liebenden auf der anderen.

 

Es folgt das Martyrium. Bei Thomas sieht es so aus: Tristan, Märtyrer der Liebesreligion, liegt auf der Treppe zu Markes Palast, Sa mort desire et het sa vie. (Zeile 607 Oxford-Manuskript Douce). Er sehnt sich nach dem Tod und sie in ihrer Kammer drinnen genauso. Brangäne vermittelt und sieht Tristan den Kranken und ganz Schwachen, von bleichem Angesicht und geschwächtem Körper, ganz abgemagert und unglücklich blickend. (Zeilen 705ff)

 

Die beiden Märtyrer der neuen Liebe vergnügen sich kurz miteinander, er reist wieder ab. Nun wird auch sie immer bewusster zur Märtyrerin, Glaubenszeugin der reinen Liebe: Sie, die die wahre Freundin der (dunklen) Gedanken (pensers) ist und der großen Seufzer, lässt von vielem Begehren (desirs) (Zeilen 759f). Sie zieht Tag und Nacht, wenn sie nicht in die Arme von Marke geht, unter ihrer Kleidung ein Büßerhemd (bruine) an: Mult suffre dure penitance.

 

Diese Verweltlichung der christlich-frommen Pilgerschaft zum Tod als Erlösung fasst Thomas zusammen in einer kurzen Rede des Tristan über seine dolors: Ich habe meine Eltern und Verwandten verloren (tuz mes parenz), meinen Onkel, den König und seine Leute. Ich bin verfolgt worden wie ein Übeltäter, in andere Länder ins Exil getrieben (eissilliez); Ich habe so viel Pein und Mühsal (travail) erlitten, dass ich schwach bin und kaum noch lebe. Unsere Liebe, unser Begehren (desir), niemand konnte uns da auseinander bringen. Weder Angst, Pein noch Schmerz konnten unsere Leibe auflösen. Je mehr sie sich anstrengen, uns auseinanderzubringen, unsere Körper konnten sie trennen, aber sie konnten die Liebe aus ihnen nicht herausreißen. (Tristan et Iseut, S. 453)

 

Derweil bestehen Tristan und Kaherdin (Bruder der weißhändigen Isolde) ihr letztes Abenteuer, welches dem Freund den Tod und Tristan seine todbringende Verletzung beschert. Vorher aber, wenn sie nichts zu tun hatten, gingen sie in ein Wäldchen, um schöne Bilder zu betrachten. Wenn sie bei diesen Gedankenbildern verweilten, konnten sie an die Damen denken, die sie liebten: Am Tag mieden sie so ihr Unglück (ennui), in welches sie nachts verfielen. (Zeilen 896ff)

 

Das meditative sich Versenken in die Leiden Christi wird durch das entsprechende in die eigenen Leiden ersetzt. Die quasisakrale Überhöhung der Liebe in der Grotte durch Gottfried wird nun hier als Martyrium und Liebestod ausgeführt: Wenn die blonde Isolde nicht übers Meer kommt, seine vergiftete Wunde zu heilen (wieder einmal), wird er sterben.

 

Nun erst wird der weißhändigen Isolde klar, dass Tristan sie um ihr Liebesglück wegen einer anderen betrogen hat; das Martyrium bedarf dessen, der dem Märtyrer den Todesstoß versetzt: Sie rächt sich ganz grausam an dem Wesen, welches sie in der Welt am meisten liebt. (Zeilen 1350f)

 

Auf zwei Weisen tritt - und nun zu letzten Mal - das Gift auf: Es ist an Waffen, die Tristan tödlich verletzen, und zwar so, dass nur die (Zauber)Kräfte von Isolde der Blonden ihn retten können, und es vergiftet den Trank, der in die Liebe führt, die das ganze Leben von Tristan, Isolde und Brangäne vergiftet.

 

Inzwischen ist Thomas längst in jenem Reich der deutlichen Allegorie angelangt, welches bei Gottfried sein Zentrum in der Minnegrotte hatte. Alles ist intensiv mit Bedeutung aufgeladen, mit derselben Intensität, mit der das jüdische und christliche biblische Texte und Heiligenlegenden tun.

 

Im Sturm vor der bretonischen Küste übergibt sich die zur heilenden Rettung segelnde Isolde dem ihrer Ansicht nach sicheren Tod und dabei in Gottes Hände: Quant Deu la volt, jo la voil ben. Die Ähnlichkeit mit dem Opfertod Jesu ist unübersehbar.

 

Aber es kommt anders: Tristan stirbt an der Rache-Lüge der weißhändigen Isolde, die ihm die Hoffnung auf Rettung, Heilung, Erlösung in der Liebe nimmt. Die blonde Isolde stirbt in inniger Umarmung mit dem toten Tristan: Sie umarmt ihn, legt sich an ihn, küsst den Mund und das Gesicht, umarmt ihn so, dass sie sich ganz mit ihm verbindet, Körper an Körper, Mund an Mund, und gibt so ihren Geist auf. (Zeilen 27ff, Manuskript Sneyd 2) Eine weltliche und unchristliche Pietà-Figur bildet sich ab. Und mit einem Schlag ist die Geschichte bei Thomas zu Ende: Tumas fine ci sun escrit.

 

Es bleibt nichts mehr zu sagen, es wird keine Auferstehung geben und keine Erlösung. Der Trost der letzten Sätze des Sänger-Autors ist, dass es bloß eine Geschichte ist, eine Liebesgeschichte, wie sie seitdem und die nächsten 800 Jahre der Unterhaltung dienen: "Ich habe die Verse gedichtet": Um als Beispiel (essample) zu dienen, um (die von mir vorgefundene Geschichte) zu verschönen, so dass sie den Liebenden Vergnügen verschafft, und damit sie an gewissen Orten Dinge finden, an die sie sich erinnern können (die sie wiedererkennen können): Mögen sie Trost finden gegenüber der Wechselhaftigkeit, gegenüber dem Leid, gegenüber der Pein und dem Schmerz, gegenüber allen Machenschaften der Liebe (engins d'amur)

 

Gottfrieds Fazit vor diesem Ende, zu dem er erst gar nicht gelangt: Liebe als minne hat gewalt, also Macht (T16,11715), macht aus Verliebten gevangene (T16,11778), fesselt sie mit einem stric (11784), klebt einen fest wie lîm (11792), sie verblendet, man versinkt, sie besiegt, kann gegen die êre gehen (11762). Aber sie wird auf die Dauer schöner, was sie "teuer" macht (11872). Dennoch: alsus sô lêret minne durhnehteclîche (aufrichtige) sinne ze valsche sîn vervlizzen (beflissen, T18,12447), und die Folge ist trüge). Sus kumet,daz übel übele frumet (T21,13813).

 

Warum schreibt Gottfried seinen 'Tristan' nicht wie seine Vorgänger zu Ende? Vielleicht ist er darüber gestorben. Vielleicht hat er aber auch gemerkt, dass der Schlussteil seiner Vorgänger nicht zu seinem Feiern der großen, lauteren Liebe und zugleich ihres Unheilsmomentes als vielfachem Betrug passen würde.

 

****Unheil wird zu Heil: Wolframs Parzival****

 

In Wolframs Parzival wie in den Versepen des Chrétien de Troyes und Hartmanns fehlt die Sogwirkung in die Katastrophe, wie sie eigentlich auch höfischen Vorstellungswelten um 1200 eher fremd gewesen sein dürfte. Stattdessen haben wir einen Bildungsroman vor uns, in dem Parzival unschuldig schuldig wird, solange er erst noch lernt, zum vorbildlichen Ritter zu werden. Unschuldig deshalb, weil er von der Mutter aus der üblichen ritterlich-höfischen Erziehung ausgeschlossen wird und sie auf seinen Fahrten Stück für Stück nachholen muss: Er kann es zunächst nicht besser wissen. Schuldig, weil er "Fehler" begeht, eine Vergewaltigung zum Beispiel, eine unritterliche Tötung mit einem Wurfspeer, nicht zuletzt den, nicht nach dem Unheil zu fragen, welches den Gralshof überschattet.

 

Die "Zivilisierung" Parzivals in vollendete Ritterlichkeit hinein führt bis auf sein Versagen angesichts des Grals durch vorwiegend für eher gering befundenes Unheil, solches, welches er und der Zuhörer/Leser auch wieder vergessen können. Schlimme Behandlung von Frauen und unritterliches Töten erscheinen nicht als ungewöhnlich, wenn auch verachtenswert. Tatsächlich weisen sie auch nur auf sein eigentliches Versagen hin, denn das eigentliche Unheil in der Geschichte hat seinen Ausgangspunkt auf der Gralsburg und Parzival wird am Ende dafür sorgen, dass dort wieder das Heil einkehrt.

 

Um deutlich zu machen, dass Parzival nicht nur schuldig wird, sondern dabei in gewissem Sinne unschuldig bleibt, gibt es auch die zwei Parallelgeschichten von Gahmuret und Gawan, beides wie Parzival Königssöhne, und beide in vorbildliches Rittertum hinein erzogen. So wäre Parzival ohne sein Erziehungsdefizit auch geworden. Aus ihm heraus entfaltet sich seine Besonderheit, die sich dann später als seine Berufung für den Gral herausstellen wird. Und dass er zunächst bei der Gralsfrage scheitert, liegt an der auf herkömmlich-förmliches Regelwerk ausgerichteten höfischen Erziehung durch Gurnemanz.

 

Mit dem zentralen Unheilsmoment, dass nämlich Parzival nicht mit seiner Gralsfrage spontanes Mitleid bekundet, auch wenn er es empfindet, sind zwei andere Aspekte verbunden. Zum einen stellt Wolfram immer einmal wieder zwischen seinen prächtigen Kampfschilderungen jenes ritterliche Ethos in Frage, welches den Kampf um des Kampfes willen bejaht und diesen dann sogar mit dem Ziel sexueller Erfüllung koppelt. Und er stellt sehr bewusst heraus, dass der Geschlechtstrieb als Minne, als Begehren, notwendig mit leit und nôt verbunden ist. Da ist nicht nur der Widersinn vieler Kämpfe, die ausgetragen werden, sondern auch der zwischen Parzivals getreuer Liebe zu Kondwiramur und seinem kämpferischen Weg hin zum Gral: sol ich nâch dem grâle ringen, so muoz mich immer twingen ir kiuschlîcher umbevanc. von der ich schiet, des ist ze lanc, sol ich mit den ougen vröude sehen und muoz mîn herze jâmers jehen, diu werc stênt ungelîche, das passt eben nicht zusammen (P14,732).

 

Deshalb ist die Gralsgeschichte so wichtig, denn sie löst diesen Problemknoten: Der Ritterorden der Gralsritter verzichtet auf die Minne und ihr Leid, soweit aus ihm nicht Könige erwachsen, und der Herr des Grals heiratet und ist so den Minne-Aventiuren entzogen. Zum anderen ist die Gralsburg in einer Zeit der Herausbildung von neuartigen Fürstentümern und Nationalstaaten eine Art supranationales und nicht ethnisch gebundenes Gebilde, eine Art Ersatz für ein 1250 endgültig gescheitertes europäisches Kaisertum, und zwar einer, der zur Gänze auf die Rombindung und die enge Verflechtung mit der römischen Kirche verzichtet:

 

Damit wird den Aventiur-Fahrten Gahmurets, Gawans und Parzivals der Wind aus den Segeln genommen: Alle drei waren nämlich nach dem Erringen von frouwe und Reich erneut aufgebrochen, von Unruhe getrieben: Selbst Parzival verließ Kondwiramur unter dem Vorwand, seine alte Mutter zu besuchen, aber und ouch durch Aventiure zil (P4,223). Nun kehrt Ruhe ein, denn als Gralskönig ist Parzival einerseits ein Tempelritter, der verehelicht sein darf, was die Minne ruhig stellt, und zum anderen einer, der selbst nun andere zu legitimem Kampf aussendet und wie Artus in seinem Reich nur noch präsidiert.

 

So wie Liebesgeschichten in der Ehe verenden, so Heldengeschichten im Gral.

 

Zweifellos erkennen die Hörer und Leser in den Gralsrittern eine gewisse Ähnlichkeit mit den zentralistisch und zugleich reichs-übergreifenden Ritterorden, die trotz der geringen Erfolge im sogenannten heiligen Land sich weiterhin nicht geringer Beliebtheit beim Adel erfreuen. Zugleich wird ihnen aber auch klar sein, dass die entstehenden Nationalstaaten und Fürstentümer einer solchen Konstruktion im Wege stehen. Die Tempelritter sind ohnehin weit überwiegend frankophon, bald wird ein deutscher Ritterorden entstehen, und in Spanien entwickeln sich spanische. Der Schluss des 'Parzival' von Wolfram bleibt somit wesentlich märchenhaft wie jedes spätere "happy end".

 

Einen wirklichen oder gar dramatischen Spannungsbogen haben so die Artusgeschichten bis auf ihren Tristan-Ableger nicht. Das Unheil ist nicht der menschlichen Existenz inhärent, das Moment des Tragischen entfällt, die ritterliche Existenz in geordneten Bahnen wäre literarisch trivial, wenn sie nicht märchenhaft aufgeladen würde.

 

Doch, wie steht es um die beiden "Fehler" in Parzivals Erziehung, der Mutter Entscheidung, ihn nicht standesgemäß zu erziehen und Gurnemanzes Regel der verbalen Zurückhaltung? Zu letzterem sagt Wolfram wohl, dass blindes Folgen gegenüber Verhaltensregeln falsch sei, andererseits feiert er ungeniert höfisches Leben, welches auf einem solchen Regelwerk beruht. Damit kann er nicht akzeptieren, was die Minnelyrik in der Volkssprache begann und Gottfried dann auf andere Weise fortsetzt: dass eben Gebote des "Herzens" über denen des formalen Regelwerks stehen, führe das auch idealiter in den Tod. Fehler aber machen eine Geschichte nicht tragisch, wie auch immer sie enden mag, sondern dehnen sie nur episch in die Länge.

 

Die Entscheidung der Mutter andererseits, mit dem Neugeborenen in die Einsamkeit zu gehen, um aus allen ritterlichen Zusammenhängen zu fliehen, wird von Wolfram damit abgelehnt, dass in einem adeligen Jungen sein quasi genetisch angelegter Adel (siehe schon Chrétien) sich quasi naturgegeben Bahn brechen wird, wie seine Jagdgelüste schon gleich zeigen und seine Neugier gegenüber allem Ritterlichen beweist. Indem sie diese Version von Geburtsadel negiert, begeht sie ebenfalls nur einen Fehler, den der Autor seinen Helden korrigieren lässt.

 

Der Kern des Fehlers von Herzeloyde ist, dass sie die ritterliche Gewaltätigkeit mit dem Tod ihres Mannes und Vaters von Parzival ablehnt und dem Sohn stattdessen eine großbäuerliche Gutsherren-Existenz in frommer Absicht aufzwingen möchte. Das funktioniert nicht, wenn man den (Krieger)Adel schon im Blute hat, und eine fromme Lösung kann nur darin bestehen, das aggressive Potential in geordnete Strukturen einzubringen, sprich in Staatlichkeit, die vom Himmel kommt und sich dann selbst verfasst.

 

Beide, Mutter und Gurnemanz, handeln aus guten Absichten heraus und diese veredeln bei Wolfram keine ansonsten falschen Handlungen. Aber ganz zeitgemäß wird die gute Absicht zum mildernden Umstand, indem sie auf die Ebene von Schuld gehoben wird, und ganz unübersehbar moralisiert Wolfram mehr als Gottfried, was auch seinem Haupthelden hier zugute kommt. Die gute Absicht, bei Gottfried im entfesselten Eros der Liebesbeziehung zu Hause, und als schiere Absicht unheilsschwanger, wird bei Wolfram durch das moralisch überhöhte Ziel ihres Unheil-Potentials beraubt: Wenn man sich in Machtstrukturen einordnen kann, die als gute verfasst sind, ist man aus allem Unheil erlöst. Die Auseinandersetzung um die gute Verfassung edler Gewalt wird dann persönliche Verantwortung ablösen, das Tragische schwindet in die Untertänigkeit und wird später auf der Bühne sich in schiere Theatralik auflösen. Der große Ausnahmefall wird der unter dem Namen Shakespeare schreibende Autor sein.

 

 

Bürgerlicher Sonderfall 

Der gute Gerhard des Rudolf von Ems

 

Laut Text beauftragt der Konstanzer Bischofs-Ministeriale Rudolf von Steinach den Vorarlberger Ministerialen Rudolf von Ems mit der Abfassung der Versgeschichte, die dann wohl um 1220/25 geschrieben wird.

 

Rahmenhandlung ist eine Art Legende von Kaiser Otto (I.), der nach Stiftung des Erzbistums von Magdeburg sich vor Gott seiner frommen Leistung rühmt (in al der welt ist lobelich / mîn grôziu guottât worden, Vers 464f) und von ihm wissen möchte, welchen Lohn er dafür bekomme (mîn lôn von gote werden grôz). Eine göttliche (Engels)Stimme macht ihm darauf klar, dass es anmaßend sei, sich vor Gott seiner guten Tat zu rühmen, und dass er erst einmal seinen schon versprochenen Platz in der Nähe Gottes verspielt habe. Um das wieder gut zu machen, müsse er Buße tun und Demut (diemüete) erlangen. Als Beispiel empfiehlt die Stimme ihm einen guoten koufman aus Köln. Also reist der Kaiser nach Köln, um verstehen zu lernen, was ein unadeliger Kaufmann ihm voraus haben mag. Der zögert erst voller Bescheidenheit, lässt sich dann aber doch bewegen zu erzählen.

 

Er ist reicher Erbe eines reichen Vaters, verheiratet, mit Sohn und eher bescheiden im Almosen Geben. Er entschließt sich, für seinen Sohn noch einmal 50 000 Mark in Silber einzusetzen, um ein letztes Mal Gewinn zu machen. Sein Schiff wird im Baltikum mit Waren vollgeladen, die er für das Doppelte würde verkaufen können. Nach vielen Widrigkeiten landet er bei einer Hafenstadt in Marokko. Ein vornehmer Herr (burggrâve) dort bietet ihm als gutes Geschäft Waren gegen seine, und es stellt sich heraus, dass es sich dabei um eine Anzahl edler (wie christlicher) Ritter und Damen handelt, unter denen eine noch an Schönheit (also Adel) herausragt. Diese Gefangenen im heidnischen Kerker seien an Lösegeld doppelt so viel wert wie alle seine Waren. Es stellt sich heraus, dass sie Gefolge des englischen Königs Willehalm gewesen waren, von dem sie unterwegs getrennt wurden. Die Schönste von ihnen sei dem König zur Ehe versprochen gewesen.

 

Ein Engel macht Gerhart nun klar, welch gute Tat er mit ihrem Freikauf begehen könne. Er willigt ein und fährt mit ihnen zurück, wobei sich alle bis auf mîn vrouwe und ir jungfrouwen zwô dann trennen und er mit den dreien nach Köln zurückkehrt. Dort lebt die Vornehme reich ausgestattet bei ihm und wird schließlich seinem Sohn versprochen, der auch noch zum Ritter gemacht wird. Als festliche Hochzeit gehalten werden soll, taucht ein elender Pilger dort auf, der sich schließlich als verschollener Willehalm herausstellt.

 

Gerhart bittet seinen Erzbischof nun um Rat und der rät dem Sohn, die Dame für den ihr Anverlobten freizugeben. Dies ist nun die zweite gute Tat, und die Dame und Willehalm können eine intensive Hochzeitsnacht auskosten.

 

Es geht jetzt nach England, wo man eine königslose Zeit mit der Wahl eines neuen Königs beenden möchte. Nachdem die hohen Herren erst Gerhart dafür vorschlagen, der ablehnt, wird Willehalm installiert, was erneute Festlichkeiten nach sich zieht. Gerhart wird schließlich mit Silber, Gold und Edelsteinen überschüttet und reist zurück.

 

Als der Kaiser diese Geschichte hört, ist er zutiefst gerührt. Am Ende erzählt der Autor noch, wie er an diese Geschichte gelangt ist.

 

 

Anders als in den Heldengeschichten von Rittern, Abenteuern und Kämpfen fehlt hier bis auf die Turniere mit buhurt und tanz, welche hier schon mal der reiche Bürger ausrichtet, ganz das ritterliche Element.

Andererseits lässt sich das Ganze aber auch insofern nicht als bürgerlich einordnen, als nicht das Geschäft, sondern fromme Moral im Vordergrund steht. Die aber ist wiederum insofern bürgerlich-zeitgemäß, als sie die gute/fromme Tat mit einem lôn ((142 u.a.O) in Beziehung setzt, der in dem von Gott verliehenen „ewigen Leben“ an seiner Seite besteht. Die Moral-Lehre dabei ist, dass man sich (zumindest) vor Gott nicht seiner guten Tat rühmen darf, weil diese dabei ihres himmlischen Lohnes verlustig geht. Durch die gute Tat geht man mit Gott einen Handel ein, den man aber nicht als solchen deklarieren darf.

 

Wiederum andererseits handelt es sich aber ihrem Wesen nach nicht um eine christlich-fromme Geschichte, als zwar einmal Christentum als eine Art Geschäftsmoral, aber ansonsten gar nicht auftaucht. Der heidnische Burggraf im fiktiven Marokko ist ein genauso höfisch geprägter und ehrlicher Geschäftsmann wie der idealisierte christliche Groß-Kaufmann Gerhart. Dieser geht zwar gelegentlich großer Anlässe schon mal zur Messe, aber bis zu seinen zwei (scheinbaren) Verzichtsleistungen ist er nicht einmal ein guter Almosengeber (945ff). Seine diemüete (Demut) wiederum entspringt nicht innerer Entscheidung, sondern einem Handel mit Gott: Verzichte darauf, dich deiner guten Tat zu rühmen und dein ist das Himmelreich. Er will dem Kaiser sogar 1000 Mark zahlen, damit er ihm nicht von seinen guten Taten erzählen muss. (1060f)

 

Es geht um Kapitaleinsatz und Gewinn (Lohn), und letztlich wird der Gewinn aus der guten Tat wie der aus dem Warenhandel betrachtet, mit dem Unterschied, dass man mit seinem materiellen Reichtum protzen kann und offenbar auch soll, während der himmlische Lohn nicht eingefordert werden darf. Dass die übermäßige Vermehrung (mehr als Verdopplung, 1206) des Warenwertes im Tausch Wucher (Sünde) ist, wie die Kirche (offiziell) sagt, bleibt unerwähnt. Dennoch spricht er von reht gewinne (1514), rechtschaffenem Gewinn gegenüber dem heidnischen Burggraf, wiewohl der ihm 100 000 Mark Warenwert für        50 000 anbietet.

 

Dazu kommt die als selbstverständlich angesehene Darstellung enormen Reichtums, mit dem der Kaufmann seine tatsächliche Werte-Orientierung offenbart. Dass er davon den Bedürftigen etwas abzugeben hat, bleibt außen vor. In der Geschichte ist Gerhart schließlich reicher als so mancher Adeliger, weswegen er gut darauf verzichten kann, sich über seinen (groß)bürgerlichen Stand (geburt 892) auch formal (standesrechtlich) zu erheben, auch wenn seinem Sohn das ansatzweise gelingt.

 

 

Die ganze Geschichte ist durchweg inkonsistent, was vermutlich Ausdruck eines Werte-Durcheinanders ist, welches früher Kapitalismus angerichtet hat. In der späteren Stauferzeit geschrieben, reflektiert sie die hohe Bedeutung des Kapitals, die sich im Geldbedarf von Königen und Fürsten darstellt, der allerdings vom ministerialen Autor tunlichst nicht erwähnt wird. Andererseits formuliert sie die Standesunterschiede, aber auf diesen beharrt unsinniger weise gerade der (bürgerliche) Kaufmann, während der englische Adel ihn sogar zum König machen will. Immerhin tritt der gute Kaufmann bereits am Anfang blutroten Rock und Mantel auf, mit Zobel verziert, mit Hermelin gefüttert,mit Schmuck mit manigem guotem steine (787), mit hovelîche Frisur usw., tritt also äußerlich soweit wie ein reicher Adeliger auf.

 

Schließlich formuliert sich Christentum bestenfalls noch als (bürgerliche) Ehrbarkeit, vor allem aber in der einen Sache, dass man sich seiner guten Tat nicht rühmen soll, weil man sich so nicht das Himmelreich einhandelt, also so nicht die sünde tilget (6623). Zwar wird die Paradiesgeschichte und die Dreifaltigkeit Gottes wie eine Litanei herunter gebetet, und diese dann auf die reine Jungfräulichkeit Mariens hin konzentriert, aber das wohl nur, um dann die reine Jungfrau, die Willehalm versprochen ist, damit auszuzeichnen.

 

Dass Almosen Geben, um Gott zu „dienen“ 572), in guter Absicht eine Sünde für alle Zeit auslöscht (leschet, 156), dürfte zwar der Vorstellung vieler Menschen und mancher geistlichen Propaganda damals entsprechen, macht aber in offiziell-kirchlicher Lesart in ganz unzulässiger Weise Gott zum direkten Handelspartner der Menschen, - unter Umgehung der Kirche nämlich. Die lêre (40) des Autors selbst wird dabei am Anfang anders dargestellt als dann später, denn zunächst geht es um Menschen, die zwischen übel unde guot (22) unterscheiden können, während es dann später um das schiere Urteil Gottes geht. Aber da ist die gute Tat doch nur ein Geschäft und kein Almosen, denn die eingehandelten Damen und Herren müssen versprechen, ihm sein eingesetztes Geld zurück zu zahlen (2143ff/2366ff). Der gute Kaufmann wäre nicht glaubhaft, wenn er alles verschenken würde.

 

Inkonsistent für eine fromme Geschichte sind schließlich die ausführlichen Beschreibungen von Festen, Turnieren und Tanz mit fahrendem Volk, die zeigen, wie sehr der Autor zwischen bürgerlich-christlicher Moral und dem Unterhaltungsbedürfnis der Leser/Zuhörer schwankt, das auch die Ritterromane der Zeit prägt.

 

Noch weniger christlich ist allerdings der zunächst unterschwellige erotische Ton, der sich einschleicht und neben manlîche tugent (1158) die süeziu jugent (2891) der so jungfräulich reinen vrouwe stellt, die er nach Köln mitsamt zweier, fast nicht weniger süßer Hofdamen mitgenommen hat und bei sich beherbergt.

 

Die Beinahe-Königin wird vom Kaufmann mit kostbarster Kleidung ausgestattet, die ihm sonst viel Geld eingebracht hätte (2931), was er sich nicht verkneifen kann zu sagen, und er betrachtet gerne ihre schoene: Wan ich mich des versach an ir / sî solte immer sîn bî mir, 3225) Sie, die der minne werc noch nicht kennt (3035), lässt sich dann darauf ein, nach zwei Jahren Aufenthalt beim Kaufmann dessen Sohn zu heiraten. Vor der Schwertleite samt Hochzeitsnacht, „liegt er“ noch nicht bei ihr noch ir ze wîbe phlaege (3928), verzehrt sich aber bereits nach ihr: nâch der vrouwen minne bran (3555f).

 

Dann kommt der, mit dem sie schon ze rehter ê verbunden war (4290). Der Sohn muss sie freigeben, um nicht ze dulden grôzen gotes zorn (4390). Nun beginnt eine lange Passage, die stark an die entsprechende bei Gottfried von Straßburg erinnert. Der Königssohn erkennt das herzelieb des herzen mîn ((4584), es wird geherzt und geküsst wol tûsentstund, zwei Leiber werden zu einem, Tränen und Glückseligkeit treffen zusammen, Sehnsucht (sende) findet ihr Ziel in manige sinne (gefühlvolle Sinnlichkeit) Das guot des Kaufmanns, sein Reichtum, hat noch einmal Gutes getan, wiewohl - ist die ausführliche Darlegung sexueller Lustbarkeit, wenn auch klischeehaft und mit vergleichsweise poetischem Unvermögen, etwas Gutes für eine Geschichte, die vorgibt, ein religiöses Exempel zu statuieren?

 

 

Was sagt uns das über Menschen dieser Zeit? Christliche Religion scheint für Menschen des bürgerlich-ministerialen Milieus wie den Autor und seine Leser/Hörer ein Randphänomen zu sein, wie auch die Heldenepen zeigen. Ein reicher Kapitaleigner kann zum zentralen Protagonisten einer Geschichte aufsteigen, deren wichtigstes Abenteuer ein moralisches ist, eines der Ehrbarkeit, mit der er erfolgreich mit der adeligen Ehre konkurriert. Und wie auch bislang für den (vor allem geistlichen) Adel sind die meisten Menschen als Produzenten völlig außerhalb des Blickpunktes des Autors.

Mit seinem Reichtum verwischt der Kaufmann die ansonsten erst gerade fixierten Standesgrenzen, die auch genau deshalb deutlicher festgezurrt werden müssen. Das Mittelalter ist weniger vom Christentum als vom aufsteigenden Kapitalismus geprägt, auch wenn das so, also abstrakt, nicht formuliert wird. Aber Kaiser, Könige und Fürsten bekommen es immer deutlicher zu spüren und den Alltag der Menschen prägt es immer mehr.