Zwischen Antike und Mittelalter
Auf dem Weg in die Gelehrsamkeit: Schola
Studenten/Scholare
Vernunft und Glaube
Logik und Dialektik bei Abaelard
Der Umweg über den Islam und das Judentum
Intellektualität (Anti-Intellektuelles / Die deutschen Lande)
Wissenschaft: Ius (Moral und Ethik)
Wandlungen des Naturbegriffs (Medizin / Eigentlichkeit /
Universitäten
Naturbeobachtung für ihre Nutzung
Geschichte
Kulturen sind schriftlos, weil sie der Schrift nicht bedürfen. Ihre Kommunikation ist mündlich, ihre Sprache anschaulich, und jede Entwicklung bei grundsätzlicher Beharrlichkeit beruht auf der mündlichen Weitergabe von Erfahrung. Zivilisationen erfinden oder übernehmen Schriftlichkeit als Mittel von Machtausübung, sei es zur Verwaltung großer Güter oder für die Gesetzgebung über Untertanen.
Die sich in Städten entwickelnden Zivilisationen des Mittelmeerraumes mit hochentwickelter Arbeitsteilung und großräumigem Handel führen zu weit verbreiteter Schriftlichkeit und Lesevermögen, auch wenn uns von den meisten Menschen keine Texte überliefert sind. Was im Westen des Römerreiches erhalten blieb sind Werke der Dichtkunst, der Philosophie und der antiken Ansätze von Wissenschaftlichkeit einerseits, und andererseits Texte jener Religion, die mit den Machtstrukturen des Reiches verschmolz.
Gegen Ende des westlichen Imperiums beginnen die Städte zu schrumpfen, sie müssen Zerstörungen über sich ergehen lassen. Der Handel und die Produktion gehen zurück. Anführer von Heerscharen, die sich als germanische Völkerschaften verstehen, übernehmen Teile des Reiches und möglichst viel von seinen Strukturen. Dabei sinkt die Bedeutung der Städte langsam weiter, die Welt der neuen Reiche wird agrarischer, teilweise erobert sich die Natur ganze Landschaften zurück.
Die Schriftlichkeit zieht sich immer mehr auf eine kleine, auf landbewirtschaftendem Großgrundbesitz basierende Oberschicht zurück, auf ähnlich wirtschaftende Klöster und auf die Spitzen der Kirche. Schließlich kann man fast nur noch im Kloster Lesen und Schreiben lernen und fast nur noch in seinen Bibliotheken ist antikes Schriftgut aufgehoben.
Das Christentum ist wie das Judentum und der Islam eine textgebundene Schriftreligion. Sie funktioniert nur, wenn wenigstens Priester, Rabbis und islamische "Geistliche" lesen können und so Zugang zu dem haben, was da "geoffenbart" ist und wortwörtlich gilt. Außerdem fallen in den neuen Reichen Religion und weltliche Machtausübung weiter zusammen. Wenn dann selbst Herrscher des Lesens und Schreibens bis ins hohe Mittelalter nicht mehr kundig sind und noch ein Barbarossa einen Vorleser braucht, werden wohlhabendere Klöster und Bischofskirchen zu Horten der Schriftlichkeit.
Deutlich mehr als 90% der Menschen leben schließlich auf dem Lande und erhalten ihr Christentum von Priestern, die oft selbst kaum lesen und schreiben können. Das trifft dann noch mehr auf den Raum jener germanischen Völkerschaften zu, die gerade erobert und christianisiert werden und die den Kern der zukünftigen deutschen Lande ausmachen werden.
In dem Amalgam aus christlicher Lehre und weltlicher Macht verschwindet jene antike Intellektualität, die seit den altgriechischen Philosophen ohne Berufung auf Religion auskommen konnte. Und seit Konstantin wird sogar eine von der offiziellen Kirche abweichende christliche Position unterdrückt, verfolgt und gelegentlich mit dem Tode bedroht.
Herrschaft in den neuen Reichen kommt nicht ganz ohne Schriftlichkeit aus, die nun im Auftrag weltlicher Macht von Priestern und Mönchen ausgeübt wird. Es gilt, Gesetze, Dekrete, Verordnungen niederzuschreiben - und an die wenigen Lesekundigen zu richten und an die, denen sie vorgelesen werden. Eine erste Bildungsoffensive findet unter dem eher analphabetischen großen Karl statt. Sie betrifft vor allem die Erweiterung der Schriftlichkeit in Kirche und Kloster und die Verbesserung der Religionsverkündigung und -ausübung, die immerhin ein Herrschaftsinstrument ist. Karl selbst umgibt sich mit Lese- und Schreibkundigen und bezieht sich gerne selbst auf die römische Antike, die ihm den Kaisertitel geliefert hat. Überhaupt bedarf sein Riesenreich vieler Völkerschaften der Schriftlichkeit, um es zusammen zu halten. Die meisten Menschen sind aber von seinen "Reformen" nicht unmittelbar betroffen und bekommen von ihnen auch nichts mit.
Solche Bildungsoffensiven finden an Herrscherhöfen statt und strahlen dann auf einzelne Klöster aus. Ihre Wirkung in die Breite ist sehr gering, betrifft also nur ganz wenige Menschen und darf nirgendwo die Enge kirchlicher Lehre und die Grenzen weltlicher Machtinteressen überschreiten.
Zwischen Antike und Mittelalter: Kenntnisse und Erkenntnisse
Kenntnisse von unserem Himmelskörper Erde, von den übrigen Himmelskörpern und vom Menschen zum Beispiel solche als medizinisch verwertbare, zudem Kenntnisse von Tier und Pflanze, von Aufgeschriebenem und mündlich Tradiertem oder von philosophischen Gedankengebäuden nehmen in der römischen Kaiserzeit bereits nach und nach ab. Symmachus, der gegen Ambrosius in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts noch für eine Gleichberechtigung von heidnischer und christlicher Weltsicht wirbt, steht auf verlorenem Posten. Einen frühen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung, sobald das Christentum Staatsreligion wird und ein Kaiser Theodosius in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts mit der Vernichtung "heidnischer " Texte beginnt. In der Person des Hieronymus zeigt sich, wie zwiespältig für manchen Belesenen sein Verhältnis zu heidnischer wie christlicher Weltbeschreibung bleibt.
Isidors visigotische Enzyklopädien um 600 sind Restesammlungen, andererseits wird dann mit solider Christianisierung und einem Netz von Klöstern und städtischen wie
frühen Kirchen auf dem Lande bald auch die Aufbewahrung und das Kopieren weltlicher Literatur bis hin zu den Erotika eines Ovid möglich und erwünscht.
In der Karolingerzeit werden dann in Skriptorien der Kathedralen und Klöster häufiger antike Texte kopiert und mit ansatzweise philologischen Methoden bereinigt und ergänzt. Schulmeisterliches Wissen sammelt der Mönch und Abt von Fulda sowie Erzbischof von Mainz in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts an. In Fulda kann er neben geistlichen Werken auch Sueton, Tacitus, PLinius, Cicero, Vitruv und anderes lesen. Bei Hofe und in Tours ist er dann Schüler von Alkuin. Unter seinen Schülern werden Lupus von Ferrières, Gottschalk von Orbais, Walahfrid Strabo und Otfried von Weißenburg sein.
Da Missionierung in den Volkssprachen stattfinden muss, gibt es nach und nach auch Texte in diesen, wozu schließlich auch Übersetzungen kommen wie die des Martianus Capella und des Boethius durch Notker III. von St. Gallen um das erste Millennium.
Auf dem Weg in die Gelehrsamkeit: Schola
Lesen und Schreiben sind entgegen dem kommerziellen Kulturbegriff der letzten fünfhundert Jahre, der gehobenes und modeorientiertes Amüsement meint, ganz deutlich kulturzerstörend. Da das machtbesetzte Vorgaben und offizielles Gedankengut monopolisierende Schreiben Sache ganz weniger Leute ist, verliert der mündliche Diskurs der meisten Menschen weitgehend die Kultur bildende und tradierende Funktion und verkommt langsam zum sich regulär unter die Macht duckenden Geschwätz.
Das wird mit der Einführung des Papiers und des Buchdrucks noch deutlicher, indem Schriftlichkeit und Lektüre nun einer zunehmenden Kommerzialisierung unterliegen, zugleich sich einer zunehmend breiteren Kundschaft öffnen.
Lesen und Schreiben aus Erkenntnisinteresse sind ohnehin immer auf ganz wenige Menschen oder sehr enge Themen beschränkt, und das wird bis heute kaum mehr werden. Dafür nimmt es im Mittelalter als Mittel jener Karrierebildung zu, die vor allem über das Lehren des Rechts der Mächtigen vermittelt wird.
Von Frankreich bis England und Italien bedeutet das, dass Karrieren nicht nur durch Kapitalbildung und -vermehrung am Adel vorbei stattfinden können, nicht nur durch seltene kirchliche Laufbahnen, sondern nun auch über (hohe) Schulen, die dann besonder seit dem 13. Jahrhundert zum Magisterium führen können, welches sogar zum Dienst bei Fürsten und Königen führen kann. "Schon im frühen 13. Jahrhundert war in England ein Drittel bis fast die Hälfte der königlichen Verwaltung mit Magistern besetzt, in Frankreich dagegen waren es weniger als 20 Prozent." (Haas, S.358) In duetschen Landen sind es erheblich weniger.
Die Fähigkeiten des Schreibens und Lesens dienen in der Nachantike vor allem religiösen Zwecken und verbreiten sich dann im 11./12. Jahrhundert im wesentlichen als Mittel von Machtausübung, an die auch die schriftlich überlieferte erzählende Literatur gebunden ist.
Dort, wo sich im 12./13. Jahrhundert Frühformen von Staatlichkeit entwickeln wie etwa in der Monarchie Frankreichs oder italienischen Städten, nimmt die Schriftlichkeit erheblich zu, ebenso wie danach in den obrigkeitsstaatlichen Strukturen deutscher Reichsstädte. Darüber hinaus wird Schriftlichkeit für Kapitaleigner langsam wichtiger.
Drei Gruppen entfalten im 12. Jahrhundert jene Zunahme von Schriftlichkeit, die dann in die ersten Universitäten und die Zunahme von niederen Schulen münden wird: Zum einen die höhere Geistlichkeit, dann die Könige und Fürsten und schließlich vom nördlichen Mittelmeerraum ausgehend die größeren Kapitaleigner. Bei Hartmann von der Aue findet sich dann ein früher Ritter, der so gelehrt ist, dass er in Büchern lesen kann. Aber gemeinhin ist es jenseits der Kirche der Aufbau fürstlicher Verwaltung, der Verschriftlichung voran treibt.
Träger dieses Bildungsschubes sind Kleriker, die auch die Lehrer stellen. Als Vertreter einer Schriftreligion par excellence haben Kirche und zunächst vor allem das Kloster ohnehin Lesen und Schreiben aus der Antike bis durch das frühe Mittelalter gerettet und damit auch durch Kopieren die antiken Texte, die durchaus auch weltlicher Art sein können.
Voraussetzung für das Kopieren ist, dass man Vorlagen aus anderen Klöstern geliehen bekommt. Am Beispiel eines Briefes des Abtes Gottfried von Admont wird um 1150 deutlich, dass nach unserer Schwellenzeit das Interesse auch an weltlichen antiken Texten wieder zunimmt:
Und so, mein Geliebter, erbitte ich von dir aus der berühmten Bibliothek deiner Kirche einiges, was wir nicht besitzen, entweder zur Abschrift oder von dir geschrieben, so dass unserem Mangel aus eurem Überfluss abgeholfen werden kann und dadurch die Erinnerung an deine Liebe in uns wachsen möge. Wegen des Werkes des Josephus über die Zerstörung Jerusalems und den berühmten römischen Triumph des Vespasian und des Titus bitte ich um gründliche Nachforschung, ob eure Bibliothek es besitzt, und,bei deiner Hilfsbereitschaft, keine Zeit zu verlieren, es uns zum Abschreiben zu schicken. (in: Gleba, S.92f)
Die fast immer innerkirchlichen intellektuellen Debatten des 12. Jahrhunderts hatten den Drang nach Beteiligung - meist unterhalb ihres hohen Niveaus - auch in geistlichen Kreisen verstärkt.
In den hohen weltlichen Kreisen herrscht mit dem Wunsch nach den Stand definierender curialitas, Höfischkeit die Neigung, zumindest einen Sohn in die Lese- und Schreibkünste einzuweihen und womöglich sogar dem Stand modischer Gelehrsamkeit näher zu bringen. An hohe Schulen gesandt, können sie zusammen mit einigen Vertretern des niederen Adels oder sogar unteradeliger Schichten Lehrern zu mehreren hundert Hörern, Schülern auf einmal verhelfen.
Die Schreibkünste von Händlern und Finanziers sind zunächst auch im Mittelmeerraum noch gering, dürften aber beim Fernhandel im 12. Jahrhundert deutlich zunehmen. Wesentlich dafür dürfte der Informationsaustausch über größere Entfernungen sein, der nicht mehr nur mündlich, sondern auch durch schriftliche Botschaften betrieben wird.
Die Situation, was alleine schon Literalität und Belesenheit angeht, ist im romanischen Raum teilweise etwas besser als im germanischen, wenn auch nur in jenen Städten, in denen eine gewisse Kontinuität durch die Jahrhunderte gewährleistet ist. Das alles ändert sich mit der Verwandlung der Städte mit ihrem neuartigen Bürgertum. Aber nicht dieses, sondern Einzelne im Klerus und insbesondere unter den Mönchen betreiben im 11. Jahrhundert eine Wende, die sich zunächst eines Zusammenhangs mit den bürgerlichen Veränderungen hinein in einen neuartigen Kapitalismus nicht bewusst ist, auch wenn sie ohne den neuen bürgerlichen und kapitalistischer werdenden Rahmen so kaum möglich gewesen wäre. Die Zusammenhänge sind quellenmäßig wenig zu erfassen, da sie damals so kaum beobachtet wurden.
Für die wenigen, die lesen und schreiben können sollen, war aus der Antike der Unterricht in dem grundlegenden Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik übernommen worden, letztlich eine gehobene Unterweisung in der lateinischen Sprache auch anhand antik-römischer Vorbilder. Für noch viel wenigere gab es dann noch das Quadrivium, welches die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasste. Dass die Musik zu dem mathematischen „Stoff“ dazugehört, sagt einiges über die Besonderheiten, in denen sich kunstvollere Musik im Abendland entwickeln wird.
Grammatik betraf die Lese- und Schreibkunst in lateinischer Sprache, der zunächst einzigen Schriftsprache und des universalen Kommunikationsmittels im westlichen und dann auch mittleren Abendland. Die Dialektik als Kunst überzeugender Gesprächsführung und des eigenen Nachdenkens beinhaltete die Elemente einer zwingenden Argumentation und bedurfte der Logik, der zwingenden Schlussfolgerungen. Dabei kam es auch auf klare Begrifflichkeit an. Die Rhetorik, die sich aus dem antik-griechischen Sprechen vor Gericht entwickelt hatte, ist die Übersetzung von Grammatik und Dialektik in die öffentliche Praxis, als ars dictaminis auch in den kunstvollen Text..
Wichtig wahrzunehmen scheint mir, dass Interesse und Begabungen in solche Richtungen selten waren und geblieben sind. Biologisch haben sich die Menschen seit dem Neolithikum kaum noch verändert und das heißt, dass von der Natur derartige Begabungen und Interessen auch gar nicht vorgesehen waren und sind. Jedes Verständnis der folgenden Zivilisationen hat ohnehin davon auszugehen, dass nur wenige talentiert waren, sie hervorzubringen und die meisten offensichtlich weder gewillt noch begabt waren, eine mehr als dienende Rolle dabei einzunehmen. Immerhin gründen alle Zivilisationen zunächst auf der Machtgier ganz weniger.
Prägend für die Zukunft der nächsten Jahrhunderte des Mittelalters wird, dass das Lateinische die Sprache aller Fachgebiete ist. Dabei wird das Denken in ihren spezifischen Strukturen eingeübt, die sich aus der antiken Zivilisation entwickelt hatten. Wer sich etwas näher mit romanischen und germanischen Sprachen beschäftigt, kann sehr schnell erkennen, dass dahinter unterschiedliche Welten standen, eine eher dinglich-rationale lateinische und die eher lebendige und naturhaft erklärende des Germanischen. Deutlich wird das schon an den unterschiedlichen Konzepten, die in den Wörtern Wirklichkeit und Realität enthalten sind.
Entsprechend werden alleine für die Welt des aus der Mittelmeer-Antike übernommenen Denkens in Sprachen wie dem Deutschen mit seinen Dialekten, oder vielleicht besser den deutschen Sprachen des Mittelalters, immer wieder Übernahmen aus dem Lateinischen nötig, manchmal über das Französische oder das Italienische vermittelt oder auch Anverwandlungen des Lateinischen und später auch des Griechischen ins Deutsche. Dadurch werden, um beim deutschen Beispiel zu bleiben, immer mehr Worte für die, die ihre fremden Wurzeln nicht kennen, zu relativ leeren und beliebigen Worthülsen. Am besten lässt sich das heute erkennen, wo durch Massenmedien, die ständig alle erreichen, die sich nicht bewusst entziehen, eine solche immer leerere Sprache propagiert wird, die ihre Qualität für die sie Benutzenden vor allem durch emphatische Aufladung erhält und ihre verordnete Bedeutung mindestens durch moralisierende Drohgebärden durchsetzt. Die Kirche, zunächst wichtigster Verbreiter von Ideologie, nutzte dieses Phänomen von Anfang an - schon im Zuge der Christianisierung.
Philosophie und Wissenschaften, soweit man bei letzteren davon für die Antike sprechen kann, entstanden in der hellenischen Polis unter dem Einfluss einer wohlhabenden Händlergesellschaft. Das bedeutete bis dato die radikalste gedankliche Trennung von der Natur in Gestalt von Zivilisation und das distanzierende Gegenübertreten zur ersteren. Bis so etwas im Mittelalter wieder möglich wird, muss eine neue städtische Gesellschaft als Raum dafür entstehen. Zuvor ist Bildung eine Sache der Klöster, die ihre monastischen Vorstellungen und Denkweisen an klerikal orientierte Schüler weitervermitteln.
Einen wichtigen Anschub leistet die Kirchenreform der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. In den daraus resultierenden Konflikten spielt das Argumentieren eine immer wichtigere Rolle, da Probleme immer häufiger als Rechtsfragen verstanden werden, in die Machtfragen eingekleidet werden. Leute wie Ivo von Chartres demonstrieren, wie man vermittels Durchdenken zu Problemlösungen kommen kann. Das aber muss erlernt und geübt werden. Und so schreibt schon Papst Gregor VII. jeder Kathedrale vor, eine Schule zu unterhalten.
Wichtiger noch ist vielleicht das, was in den Auseinandersetzungen über eine neue Ausrichtung des Klerus diesen stärker aus den weltlichen Strukturen absondern soll und sein Denken zumindest soweit aus diesen Machtstrukturen befreien kann. Schließlich findet das, was Rexroth als "Wissenschaftsrevolution" und Borgolte als "Bildungsrevolution" bezeichnen und was wohl eher als zarter Ansatz einer Emanzipation des Denkens von vorgegebenen Autoritäten zu benennen wäre, vorwiegend im klerikalen Rahmen statt.
Schließlich ist die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts im kirchlichen Raum ein Traditionsbruch. Ausdrücklich nicht um conventiones, sondern um veritas geht es Gregor VII. Und dieser Bruch wirkt in die entstehende neue Gelehrsamkeit hinein, die nach und nach beginnt, den nachbiblischen Autoritäten nicht mehr blind zu glauben, sondern sie im Zusammenhang mit den von Gott verkündeten "Wahrheiten" vernunftgemäß zu verstehen. Ewige Wahrheiten werden nun ansatzweise dem kritischen Nachvollzug ausgesetzt, ohne allerdings bezweifelt zu werden. Wissen vermehrt und verändert sich dabei.
Damit verlieren die Klosterschulen an Bedeutung, der Unterricht geht mehr und mehr an Kathedralschulen über. In Westfranzien ist das zunächst die alte Königsstadt Laon mit der Bibelauslegung von Magister Anselm, der seit etwa 1080 Leiter der dortigen Schule ist. Indem er neben die wichtigste heilige Schrift einen Kommentar aus Zitaten legt, der auf bisherigen Bibelauslegungen der Kirchenväter basiert, entsteht das Fundament für eine in sich geschlossenere Ausarbeitung einer Theologie. In Chartres ist eine Generation später Gilbert von Poitiers Kanzler und seit 1126 Leiter der dortigen Kathedralschule und später auch Lehrer in Paris. Zunächst vor allem Plato und dann Aristoteles werden dort
gelehrt. In einem der Portale der Kathedrale wird Maria von Cicero, Aristoteles, Euklid und Pythagoras umrahmt.
Dann sind da Reims, Tours und Orléans, alles fortgeschrittene Machtzentren. In Paris unterrichtet seit etwa 1095 Wilhelm von Champeaux an der Kathedralschule. Dort sind einige Klöster und Stifte wie Sainte-Geneviève und bald auch Saint-Victor eng mit dem städtischen Leben verbunden und es entwickeln sich auch dort bedeutende Schulen, als von der Seine-Insel ausgehend hauptstädtisches Leben wieder aufblüht. Offenbar ist es hier auch leichter, eine kirchliche Lehrerlaubnis zu erhalten.
Lehrer sind nun meist Weltgeistliche, die oft eine Pfründe als Basis besitzen und dann für Unterricht noch Schulgeld beziehen. 1127 wird die Kathedralschule in der Bischofspfalz auf der Île de la Cité untergebracht. Aber auf dem linken Seineufer unterrichten längst auch ganz selbständige Lehrer in einer jeweiligen Schola, einer Gemeinschaft von Lehrer und Scholaren, die sich ihren Unterrichtsort selbst sucht.
Im 12. Jahrhundert nimmt dabei die Bedeutung der Pariser Schulen immer mehr zu. So schicken römische Adelsfamilien wie die Pierleoni inzwischen wenigstens einen Sohn nach Paris. Abaelards Schüler kommen auch aus Spanien, den deutschen Landen und slawischen Gebieten.
Man kann auf diesem Weg Karriere machen. Da ist der niederadelige Peter von Blois aus der Bretagne, der bis an den palermitanischen und englischen Hof aufsteigt. Unter Abaelards Schülern sind auch ein späterer Papst und Arnold von Brescia.
Neben den an Kathedralen und Kathedralstädte gebundenen Schulen gibt es auch weiter den Privatlehrer für den einzelnen Schüler. Guibert von Nogent meint zu ihnen für die Mitte des 11. Jahrhunderts:
Erat paulo ante id temporis, et adhuc partim sub meo tempore tanta grammaticorum charitas, ut in oppidis pene nullus, in urbibus vix aliquis reperiri potuisset, et quos inveniri contigerat, eorum scientia tenuis erat, nec etiam moderni temporis clericulis vagantibus comparari poterat. (De vita sua, I,4: Es gab solch eine Knappheit an Grammatikern, das in den Kleinstädten kaum einer, und in den größeren Städten nur sehr wenige gefunden werden konnten, und die, die man entdeckte, hatten nur geringe Kenntnisse und konnten nicht mit den herumwandernden Klerikern heute verglichen werden.)
Dann beschreibt er, wie ihm seine verwitwete Mutter einen armen, spät und wohl wenig gebildeten Lehrer ins Haus holt, der ihn vom sechsten bis zwölften Lebensjahr im Esszimmer erzieht und unterrichtet.
In allem musste ich Selbstkontrolle in Worten, Auftreten und Handeln zeigen (…) Während andere meines Alters nach eigenem Gutdünken herumliefen, und nicht beim Nachgehen der ihrem Alter angemessenen Neigungen unterdrückt wurden (…I,V), muss er drin sitzen und lernen.
Dabei findet das statt, was bis ins zwanzigste Jahrhundert so häufig Erziehung ausmachen wird, nämlich die Verbindung von regelmäßiger Prügel und einer Bindung zwischen Erzieher/Lehrer und Zögling, die immer wieder als Liebe (amor) bezeichnet wird, bei Guibert als amor saevus.
Neben solch ortsfesten Hauslehrern gibt es in jüngeren Jahren herumwandernde Magister wie den späteren Abt von Bec und Erzbischof von Canterbury Lanfranc, der, aus begütertem Haus in Pavia stammend, in Frankreich umherzieht und an verschiedenen Orten als dialecticus Schüler annimmt, die wiederum seinen gelehrten Ruf verbreiten. Zum Ruhm des Lehrers gehört aber nicht nur die mündliche Verbreitung, sondern auch das Verfassen von Texten, die durch Kopieren verbreitet werden.
Magister sind entweder mit Pfründen versehene kirchliche Angestellte oder aber ein neuartiger freier Beruf neben dem notarius und dem medicus. Damit werden sie Teil eines vorwiegend städtischen Marktes, der Klienten braucht und bald auch das Geschäft der Konkurrenz untereinander. Das führt zur Kritik an den neuartigen, etwas freieren Geistern, die neue Unsitten benennt: Ruhmsucht von Lehrern, die zahlender Schüler bedürfen, persönliche Eitelkeit und Sektenbildung von Schulen gegeneinander.
Den Unterrichtsstil beschreibt Johannes von Salisbury im Metalogicon am Beispiel des Bernhard von Chartres, der viel für die Entwicklung der Naturphilosophie getan hat, wiewohl er ihn wohl nur vom Hörensagen kennt:
Weil Übung den Geist schärft und stark macht, legte Bernhard großen Wert darauf, dass seine Schüler wiederholen konnten, was sie gehört hatten. Manchmal beließ er es bei Ermahnungen, manchmal nahm er seine Zuflucht zu Strafen und prügelte sie. (so in: Moore, S.183)
Dieser neue Schub hin zu Sprachvermögen, Philosophie und Wissenschaft (scientia) findet zunächst in wenigen bischöflichen und königlichen Städten Westfranziens und Norditaliens statt, in denen Handel und Handwerk aufblühen. Der Zusammenhang ist nicht gleich offensichtlich. Die (stadt)bürgerlichen Schichten selbst sind zunächst kaum an den neuen Schulen beteiligt. Zu den Schulen in Kernfranzien werden zunächst für geistliche Karrieren bestimmte Söhne aus adeligen Kreisen und dann auch aus der ministerialen Oberschicht geschickt. Lebensunterhalt und Unterricht insbesondere an den freien Schulen kosten Geld. In den Kathedralschulen vor allem werden sie zu Klerikern ausgebildet, tragen klerikale Gewänder und sind in das kirchliche Leben eingebunden.
Zum Zusammenhang mit dem sich entfaltenden Kapitalismus des 11. und 12. Jahrhunderts gehört zunächst, dass dieser selbst im wesentlichen in Kathedralstädten seinen Ausgangspunkt hat. Die Schulen existieren so in unmittelbarer Nachbarschaft des aufblühenden Handels und Gewerbes, im Umfeld eines sich ausbreitenden Denkens in Elementarien des Marktes, die immer mehr aus den christlich vorgegebenen Lebensformen ausbrechen. Dass dort bestimmte Orte als Schulzentren besonders aufblühen, dürfte wohl an dem Renommé dort unterrichtender Lehrer liegen, welches sich offenbar schon um 1100 über große Teile des Kontinents verbreiten kann.
Andererseits ist die Welt des Lernens und Lehrens selbst sowohl bei der Kathedrale wie dem Kollegiatsstift ein in mancher Beziehung abgeschotteter Raum. Das betrifft nicht nur die Sprache, das Lateinische, für die meisten Stadtbewohner unverständlich, es betrifft auch das, was in ihr gelehrt wird. Solche Schulen schaffen eine kleine intellektuelle Elite, die auch zu einem solchen Selbstverständnis tendiert. Das neue Studieren, auch anders als das eher meditative Erfassen heiliger Schriften in den Klöstern, hebt eine kleine Gruppe von Lehrern und Studenten aus der Masse der Menschen heraus, ohne dass sie von ihnen abgetrennt lebt. Das betrifft die Lebensform in der Gruppe beim Vortrag des Magisters und im Disput mit ihm genauso wie das einsame, um Verständnis ringende Lesen.
Die Bedeutung des Laien wird sich dadurch langsam wandeln: War er bislang das weltliche "Volk" im Gegensatz zum Klerus, so wird daraus auf dem Weg ins 14. Jahrhundert, wo zum ersten Mal die neue Bedeutung auftaucht, der Nichtfachmann. Nicht nur ist damit der Gebildete von den anderen abgetrennt, sondern auch der in seinem Fach ausgiebig Bewanderte von den Gelehrten anderer Bereiche. Waren die meisten Menschen in der Zivilisation bereits von allen übergeordneten Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, weit entfernt, so beginnt nun jene Entwicklung, in der immer mehr alle den Überblick über das "Wissen" verlieren werden. Das ist eine Entwiclung, die erst im 16.-18. Jahrhundert abgeschlossen wird und mit der ein substantielles allgemeines Weltbild nicht mehr möglich ist. Die Menschen sind seitdem endgültig überfordert mit dem, was sie angerichtet haben.
Eine Schule wie die des Wilhelm von Champeaux von St.Victor bei Paris kann sich in manchem einem mönchischen Leben in einer Art Bildungskloster angleichen. Dieser Magister Gwillelmi war Archidiakon an der Kathedrale auf der Seine-Insel gewesen und zieht sich 1111 mit einigen seiner Schüler in eine cella (Eremitage) in der Nähe von Sainte Geneviève mit seiner kleinen Ansiedlung zurück, Wie es im Codex Udalrici heißt, unterrichtet er in dem ärmlichen Kirchlein dort für Gotteslohn göttliche und menschliche Wissenschaften.
Sein Bamberger Schüler ist von ihm begeistert:
Ich bin soeben in Paris in der Schule des Magisters Wilhelm (…) Der hat sich, als er Archidiakon und fast der erste Mann beim König war, unter Zurücklassung seines ganzen Besitzes am vergangenen Osterfest in ein armseliges Kirchlein zurückgezogen, um künftig allein Gott zu dienen. Dort unterrichtete er dann alle, die von überall her zu ihm kamen nach Art des Magisters Manegold seligen Angedenkens umsonst (gratis)und nur um Gottes willen. (in EhlersOtto, S. 63)
In einem Brief bestärkt der belesene Bischof von Le Mans, Hildebert von Lavardin, Wilhelm in seinem Vorhaben, Philosophieren wie in der Antike als Lebensform anzusehen. "Wissenschaft an einer schola zu treiben, die nicht auf karriere-relevante Kompetenzen abzielte, erscheint nach diesem Vorhaben als eine Handlungsoption in der Nähe von eremitischem, reguliertem und monastischem Leben, aber eben doch als eigener Lebensentwurf." (Rexroth, S.127)
Kirche und weltlicher Macht war wohl nicht ganz geheuer bei der Emanzipation von Erkenntnisinteresse aus ihren Fängen, und so sind dem Experiment nur höchstens drei Jahre beschieden. Wilhelm wird zum Bischof von Châlons gemacht, aus der freien Schule wird mit königlichen Dotationen ein Kollegiatsstift, und bald wird dort dessen berühmter Leiter Hugo eine ordentliche Stiftsschule leiten. (Rexroth, S.120ff)
In diesem regulierten Stift. in dem sich Frömmigkeit und Gelehrsamkeit verbinden, kann Hugo in seinem 'Didascalion' aber weiterhin formulieren, "dass dem vollkommenen Philosophen die ganze Welt ein Exil sei" (omnis mundus philosophantibus exsilium est, in: EhlersOtto, S.282)
Heloysa schreibt entsprechend ihrem Abaelard:
Man muss den Alltagsgeschäften widerstehen, sie nicht ausführen, sondern verdrängen (…) Bei den Heiden gab es dafür die Philosophen, denn Weisheit oder Philosophie bedeutete bei ihnen weniger das Erfassen der Wissenschaft als vielmehr eine Verbindlichkeit der Lebensführung. (Historia calamitatum)
Umgekehrt beschreiben Quellen das Verhältnis der charismatischen Anführer von armutsbewegten Eremitengruppen oft als das von Lehrer und Schülern. Stephan von Obazine ist in seiner Vita der magister seiner discipuli, denen er Vorträge (sermones) hält, in denen es um disciplina geht.
Auch bei der großen Wende des 11./12.Jahrhunderts bleibt alle Bildung (der ganz wenigen) zunächst weiterhin in den Rahmen der Religion bzw. Theologie eingebettet. Trivium und Quadrivium dienen im Kern dem Nachvollzug der immer stärker kirchlich eingegrenzten Religion, die allein schon wegen des eigenartigen Trinitätsglaubens von jeher einer Theologie bedurfte. Religion bzw. Theologie und Vernunft stehen dabei insofern weiter in keinem Widerspruch, als die Vernunft darauf beschränkt wird, die Religion für die Beleseneren zu erklären, verständlich zu machen. Darum war die Erinnerung an den Großmeister der Verbindung von antiker Philosophie und Wissenschaftlichkeit, Aristoteles, nie ganz geschwunden, auch wenn nur ein kleiner Teil seiner Schriften zunächst in lateinischer Übersetzung oder überhaupt zugänglich ist.
Bei einigen wenigen Belesenen war die aus der späten römisch-antiken Republik stammende Bewunderung für althellenische Intellektualität ohnehin nie geschwunden. Wer griechisch verstand, galt noch im 10. Jahrhundert als besonders gebildet. Aber es gab solche Leute.
Sprachschulung nach antiken Vorgaben trifft auf die Tatsache, dass die biblischen ("heiligen") Texte sich aufgrund unterschiedlicher Autorenschaft gelegentlich widersprechen, und manchmal auch wie die Evangelien in sich widersprüchlich sind, da sie einmal auf nicht identischen Traditionen beruhen und zum anderen ganz offensichtlich durch spätere Zusätze verändert worden waren. Waren sie früher durch den Zugriff weltlicher Machtinteressen auf eine einheitliche Doktrin gebracht worden, so ist die Erkenntnis der dahinter steckenden "Wahrheit" durch die Trennung von temporalia und spiritualia im institutionellen Raum nun stärker zur klerikalen Angelegenheit geworden. Dies wird sich in kleinen Schritten zunächst befreiend auf das Denken auswirken.
Erkenntnis von immer noch als solcher angenommener Wahrheit wird so einmal zu wenigstens ansatzweise philologischer Arbeit, also dem Herausfinden des korrekten Sinnes durch Textarbeit, und zum anderen zum Neuanfang von Philosophie, die nicht mehr nur die Alten rezipiert, sondern über ihr Instrumentarium nachdenkt und dieses dann zum Hilfsmittel für Erkenntnis über religiöse Fragen macht.
Dabei reibt sich der bewusstere Vernunftgebrauch an den zentralen Glaubenssätzen, wie sie in der Antike entwickelt worden waren: Gott ist zugleich einer und drei, ist als einer davon ganz körperlich der Sohn seines völlig unkörperlichen Vaters (gewesen?), dieses rein spirituelle Gott-Wesen hat es fertiggebracht, eine Jungfrau zu inseminieren, und die ist nach dem Gebären des Gottessohnes weiter Jungfrau; Priester können ganz gewöhnlichen Wein in das Blut Jesu verwandeln, der zugleich Gott ist, welches dann in den Körper der Gläubigen gelangt, - und vieles mehr. Was der gewöhnliche Sterbliche einfach so hinzunehmen, also zu glauben hat, wird für die sich von weltlicher Macht emanzipierende, weiter seltene Gelehrsamkeit zum Grund rationalen Nachdenkens.
Bevor dabei im 11. Jahrhundert die ersten Gelehrten zu Häretikern abgestempelt werden, also zu Leuten, die eigene Anschauungen (griechisch: hairesis) zu den zentralen Glaubensartikeln der Kirche entwickeln, beginnen Quellen von nicht gelehrten Laien zu berichten, die anfangen, weniger philosophisch aufgrund schlichteren Vernunftgebrauches die schwer glaubhaften kirchlichen Doktrinen auf ein für den Verstand erträglicheres Maß zu reduzieren. Sie greifen dabei manchmal die massive Ablehnung wesentlicher Aspekte des offiziellen Judentums durch den evangelischen Jesus auf und lehnen darum zuweilen sogar die behauptete Kontinuität von altjüdischen zu frühchristlichen Texten ab. Indem sie im Unterschied zur Kirche dadurch die evangelischen Botschaften wesentlich ernster nehmen und zudem die mehr oder weniger diese interpretierend verändernden Texte der Kirchenväter außen vor lassen, werden sie ebenfalls als Bedrohung der Kirche von dieser angesehen. In den Städten beginnt also nicht nur die Denkarbeit der Gelehrten, sondern auch die einiger Leute, die im Unterschied zum Adel keine Macht besitzen, die kirchlich legitimiert ist.
Daneben ist anzunehmen, dass ohnehin fast allen Menschen - fast schon so wie heute - religiöse wie philosophische Gegenstände gleichgültig bzw. unverständlich sind. Man macht mit, was einem von oben auferlegt wird und versucht, seinen Verstand möglichst angenehm auf das Nötigste zu beschränken.
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Apropos Schule. Die schola, eigentlich Zeit und Raum der Muße und damit auch der Lektüre, hatte in der Antike eine Vielzahl an Bedeutungen. In der Nachantike im wesentlichen Ausbildungsort für den kirchlichen und klösterlichen Nachwuchs, bleiben Schulen bis ins 13. Jahrhundert an Kathedralen angesiedelt. Erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts entstehen auch Schulen an Pfarreien in Stadtvierteln und im 14. Jahrhundert setzen dann Bürger erste weltliche Schulen durch, in denen aber das Religiöse auch oft nicht zu kurz kommt.
Schulpflicht in deutschen Lande gibt es in einigen Gegenden seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, in anderen erst Jahrhunderte später. In Preußen reicht bis 1918 eine Unterrichtspflicht, die auch außerschulisch abgeleistet werden kann. Massiv verschärft wird die Schulpflicht im Dritten Reich und gilt so auch bis heute weiter. Reine Unterrichtspflicht gilt heute in Spanien, England, den USA und anderen Ländern bis heute.
Die (hohen) Schulen des 11./12. Jahrhunderts mit ihrer Basis der septem artes liberales haben also wenig mit dem zu tun, was in Europa heute Schule heißt.
Studenten/Scholaren
Der Weg zur Universität Paris entsteht zunächst durch die Entwicklung, dass der gelehrte Unterricht aus den Klöstern an die Kathedralen und damit in die Städte abwanderte. Scholaren sammelten sich um Magister, die nicht nur verehrt, sondern manchmal auch verspottet wurden. Ein Hilarius (von Orléans?) schreibt in seinem Carmen XIV, 'De Papa Scolastico' über einen "scholastischen Papst", in dem man vielleicht Abaelard erkennen mag:
Papa summus, paparum gloria, / papa iugi dignus memoria, / pape plaudit scolaris curia, / pape dari non est iniuria / tort a qui ne li dune.Papam omnis cognoscit regio, / pape seruit scolaris legio, / papam amat affectu nimio, / papa quouis est dignus premio. / tort a qui ne li dune.Papam nouit miles et clericus, / papam tremit Gallus et Anglicus, / papa tutor et custos publicus, / pape donet quisquis est logicus. / Tort a qui ne li dune.Pape uox est dulcis et unica, /papa nouit iocunda cantica, /papam amat turba scolastica, / pape nummi dentur et reliqua. / tort a que ne li dune. // (fol.12v)Papa captus hunc uel hanc decipit, / papa quid uult in lectum recipit, / papa nullum uel nullam excipit, / pape detur, nam papa precipit. / tort a que ne li dune.Pape nichil excludit mentula, / pape puer atque puellula, / pape senex placet et uetula, / pape cibus detur et pocula. / tort a qui ne li dune.
Der höchste Papst, der Päpste Glorienschein, / Der Papst prägt sich so dem Gedächtnis ein. / Dem Papst Applaus! Die Schüler stimmen ein. / Dem Papst sich widmen wird rechtens sein! / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Ruhm ist weit und breit bekannt. / Dem Papste dient jeder Scholar im Land. / Den Papst zu lieben ist als gut erkannt. / Der Papst verdient sich jedes Unterpfand. / Weh dem, der ihm nicht frönt!Den Papst erkennen Pfaffe und Krieger. / Vorm Papst erbeben Brite und Gallier. / Der Papst hilft uns, Beschützer und Wächter. / Dem Papst zahlt Lohn ein jeder Logiker! / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Wort ist voll von süßem Klang. / Der Papst erweckt die Schönheit im Gesang. / Den Papst liebt der Scholar im Überschwang. / Dem Papst verschafft er Geld und Brot ohn’ Zwang! / Weh dem, der ihm nicht frönt! / Des Papstes List schlägt jeden übers Ohr. / Der Papst nimmt jeden sich im Bette vor. / Der Papst verschlingt sie allesamt im Chor. / Dem Papst gib’ dich! Das schreibt der Papst Dir vor. / Weh dem, der ihm nicht frönt!Des Papstes Schwanz lässt keine Chance aus. / Der Papst lädt Sohn und Tochter sich ins Haus. / Der Papst schließt Greis und Greisin auch nicht aus. / Der Papst verschmähet weder Trank noch Schmaus. / Weh dem, der ihm nicht frönt! (in RoblHilarius)
Dazu schreibt Robl: „Bei den Studentenfesten der damaligen Zeit wurde des Öfteren ein als Magister verkleideter Kommilitone präsentiert - analog zu den Bräuchen der Bakelfeste, bei denen während der Weihnachtsoktav ein Knabenbischof gekürt und zum allgemeinen Spaß mit dem baculum investiert wurde. Diese Feste, die man als Präkursoren des heutigen Faschings oder Karnevals ansiehen kann, waren besonders in den Kathedralstädten Frankreichs in großer Mode. (…) Möglicherweise setzten die Studenten, während sie Hilarius’ Lied skandierten, dem derart karikierten „Lehrer“ eine Nachbildung der Tiara aufs Haupt und sangen um ihn im Kreis, was den die Posse durchziehenden Titel „Scholastikerpapst“ erklären würde.“ (RoblHilarius)
Zwei bei Ehlers (Otto, S.83 f) übersetzte Texte belegen, wie unterschiedlich die neuen Schulen gesehen werden. Der Abt Peter von Celle schreibt 1164 an Johann von Salisbury:
O Paris, wie geschickt bist du im Fangen und Täuschen der Geister! In dir gibt es Netze der Laster und Fallen des Bösen, in dir durchbohrt der Pfeil der Hölle die Herzen der Naiven … O gesegnete Schule, in der Christus unsere Herzen unterweist … Dort wird kein Buch gekauft, kein Schreibmeister beschäftigt, es gibt keine täuschenden Disputationen, kein Gewirr von Sophistereien, dort ist die klare Lösung aller Fragen.
Im gleichen Jahr schreibt Johann an Thomas Beckett:
Dort sah ich solche Mengen an Lebensmitteln, ein so fröhliches Volk, solchen Respekt gegenüber dem Klerus, die Würde und den Ruhm der ganzen Kirche, die verschiedenen Beschäftigungen der Philosophierenden - ich sah und bewunderte das so, wie Jakob die Leiter bestaunte, deren Spitze bis zum Himmel reichte und auf der die Engel auf- und niederstiegen.
Um 1225 schreibt Jakob von Vitry über die aus Schülern, Lehrern und Prostituierten gemischte Bevölkerung in Paris (siehe Großkapitel: Körper4). Christlich moralisierend heißt es zudem:
Fast alle Pariser Gelehrten, Fremde wie Einheimische, beschäftigten sich mit nichts anderem als dem, etwas Neues zu lernen oder zu hören. Die einen lernten, um viel zu wissen. Das ist Neugier. Die anderen (lernten), um bekannt zu werden. Das ist Eitelkeit. Wieder andere (lernten), um Geld zu verdienen. Das ist Gier und das Übel der Simonie. Wenige jedoch lernten, um erbaut zu werden und zu erbauen. (Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 7 – Mittelalter (hypotheses.org))
Scholaren sind rechtlich ungeweihte Kleriker. Sie tragen eine Tonsur und eine der des Klerus verwandte Kleidung. Dennoch sind sie in einem städtischen Umfeld wohl die am meisten sozialer Kontrolle entzogenen Menschen ihrer Zeit und gerade der Pubertät entwachsende Jugendliche. Diese Ungebundenheit betrifft wohl zu allererst ihre jung erblühte Geschlechtlichkeit, aber auch ihre kritische Distanz zur Kirche. Aus Scholaren werden manchmal umherziehende Vaganten werden, deren antiklerikaler Spott sich dann in Texten wie denen der 'Carmina Burana' zur Gänze entfalten wird.
In einem lateinischen Vagantengedicht schwäbischer Scholaren in Paris heißt es in der Übersetzung von Langosch:
In das fremde Frankenreich / Ruft das Studium (studia) mich jetzt gleich. / Ich muss wandern, / Lass' die andern / Weinend nun im Rücken. / Ihr Scholaren, klagt mit mir, / Die der nahe Abschied schier / Traurig muss bedrücken. (In Rexroth, S. 237)
Geklagt wird gerne über das fehlende Geld, manche müssen bei geistlichen Herren um Stipendien bitten, insbesondere Söhne aus Familien des niederen Adels, der ärmeren Ministerialenfamilien oder bald auch der bäuerlichen Oberschicht. Knaben aus höherem Adel werden Propsteien zugeschustert, um das Studium zu finanzieren. Otto von Freising erhält seinen Unterhalt aus dem Klosterneuburger Stift und zusätzlich aus direkten Zuschüssen seines markgräflichen Vaters. So jemand reist dann mit Tutor und Bediensteten nach Paris (EhlersOtto, S.39).
Magister: Vernunft und Glaube
Im Kern geht es beim menschlichen Bewusstsein um die Herstellung der Illusion einer stabilen Welt, die sich dem steten Werden und Vergehen entzieht. Nur aus ihr heraus bewältigen wir unseren Alltag. Sie wird wesentlich über Sprache, aber auch über Bilder hergestellt. Aber so wie wir gelegentlich wahrnehmen, dass wir uns selbst in Zeit und Raum bewegen, so wird uns auch sonst punktuell Bewegung bewusst.
Nicht die illusorische stabile Welt, sondern jeder Einbruch der wirklichen, bewegten, alles, was Unruhe ausmacht und in uns auslöst, veranlasst uns, nach Erklärungen zu suchen. Daraus resultiert das, was wir als magisches Weltbild bezeichnen können - eines, welches nach Ursache und Wirkung sucht und das in ein Handeln mit Absicht und Wirkung übersetzen möchte. Magisch ist jede Erklärung von Bewegung, die nicht auf Kenntnis beruht.
Die Alternative sei hier als Wissenschaftlichkeit bezeichnet, die sich auf überprüfbares Wissen bezieht. Sie beginnt überall dort, wo es in frühen Zivilisationen um Machtausübung und Kommerz geht, verbindet sich aber auch dort mit magischen Elementen.
So wie die jüdische Tempelpriesterschaft verlangt auch die Kirche das Monopol über magische Kenntnisse und Rituale. Mehr als die anderen beiden Schriftreligionen ist sie selbst auf Magie und magische Vorstellungen angewiesen, aber da sie mit ihnen so ausgiebig operiert, kann sie die volkstümlicheren unterhalb der kirchlichen Kontrolle bis ins 11. Jahrhundert kaum irgendwo abstellen. Das ändert sich seit der Zeit der Kirchenreform, als die Kirche ihren Zugriff auf die Menschen erweitert und dabei immer strenger dogmatisch wird. Aber ausgerechnet aus ihr heraus erwächst in derselben Zeit mit der Philosophie ein Zweig, der der kirchlichen und der volkstümlichen Magie die der Sprache unter Bedingungen des Vernunftgebrauchs entgegensetzt.
Um zu verstehen, was im Mittelalter mit der Entwicklung von Gelehrsamkeit geschieht, muss man sich zunächst einmal des Unterschiedes von Kulten und Religionen bewusst werden. Kulte sind rituell durchgeformte Akte, die die Hoffnung auf eine gewisse Wirksamkeit enthalten, aber man kann sie auch befolgen, ohne daran zu glauben. Die relative Freiheit, die sich im antiken Hellas und Rom entfalten konnte, hat genau damit zu tun. Der platonische Sokrates hätte seinen Tod vermeiden können, wenn seine Gedanken nicht die Tendenz gehabt hätten, religiös-philosophische Züge anzunehmen (wie sie Plato zu eigen waren) und damit in Konkurrenz zu einer kultisch zentrierten Zivilisation getreten wäre. Ovid wiederum muss nicht in die Verbannung, weil Meinungsfreiheit nun abgeschafft wurde, sondern weil er offenbar die Sexualgesetzgebung des Augustus in einem bestimmten Moment gefährdet.
Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen natürlich bis heute dort, wo die jeweils Mächtigen ihre Macht gefährdet sehen. Ansonsten konnte man in der Antike die Kulte ignorieren und offen diskutieren. Das ändert sich mit den Religionen (Judentum, Christentum, Islam), die ganze Glaubenslehren entwickeln, die verpflichtend sind, und sie sind verpflichtend, weil sie eine Menge ewige Wahrheiten enthalten. Religionen sind unduldsam wie ihre politischen Nachfolger seit dem 18. Jahrhundert.
Das Problem ist auch ein psychologisches: In Zivilisationen mit ihren Unterdrückungsstrukturen scheint für die meisten Menschen Nichtwissen unerträglich zu sein, und Wissen ist ohnehin notgedrungen immer gering im Unterschied zu dem, was man nicht weiß. Unter psychischem Druck werden die Lücken des Nichtwissens durch den Glauben gefüllt, religiösem im Mittelalter, politischem heute. Und da Glauben eigentlich als Nichtwissen etwas sehr schwaches ist, wird er gestärkt durch emotionale Verstärkung. Und damit er sich aus der Gefahr der Ungewissheit löst, wird diese systematisch eintrainiert und in Massenveranstaltungen indoktriniert.
Das Absolvieren kultischer Handlungen ohne sonderliches Lehrgebäude enthält so die Chance größerer gedanklicher Freiräume, während ausführlicher Glaube welcher Art auch immer in Meinungsdiktatur führt und Hass auf abweichende Minderheiten.
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Die neuen Meister(denker), Magister, stammen, wie Robert Moore meint, wohl oft aus den Kreisen jüngerer Söhne kleiner Adeliger oder sind illegitime Söhne von Klerikern. (S.181). Ihnen eröffnet sich so ein neuer Karriereweg, und sie werden dann von Kirche, Kloster und weltlichen Ansätzen von Verwaltung nachgefragt werden.
Für die neue Gelehrsamkeit tun sich dabei zwei Wege auf: Entweder man nimmt an, dass Glaubensinhalte in antiker augustinischer Tradition und der des Boethius ihrem Wesen nach nicht unvernünftig sind, und darum der Vernunft durch Nachdenken über Methode und Inhalte des Zugangs offen stehen, oder aber man geht davon aus, dass der Kern der Inhalte des Glaubens nur jenem Glauben zugänglich ist, der nach Augustinus göttlicher Gnade entspringt. Beide Positionen ignorieren fast alle Menschen als die Dummen und Ohnmächtigen oder die dem Heil nicht Zugänglichen, deren Lebenssinn nur darin zu bestehen hat, den Reichtum der ganz Wenigen zu erarbeiten, die also fast ganz Körper zu sein haben, während die Gelehrsamkeit fast ganz Kopf, also Gehirn wird, Kopf, der sich mit Kopfgeburten beschäftigt.
Der Neubeginn von Philosophie und Wissenschaften wird so allemal mit seinen Türmen aus Elfenbein wesentlicher Beitrag dazu sein, dass unter den Bedingungen von Kapitalismus hochgradig abgeschottete Bereiche entstehen, die sich untereinander nicht mehr kennen, auch wenn sie im eher seltenen Einzelfall den Übergang von einem zum anderen erlauben werden. Wenn dann im 18. Jahrhundert im Deutschen ein Bildungs-Begriff auftaucht, der Zusammenhänge durch Vielseitigkeit herstellen möchte, ist es längst zu spät, aber selbst eine darauf aufbauende im neunzehnten Jahrhundert entwickelte Schule für die Wenigen, die sie überhaupt noch wollten und erreichen konnten, wird in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Interesse globalisierter Kapitalverwertung zerschlagen werden.
Die Vorstellung von der Vernunft (immerhin) als Dienerin der Religion überlebt in Einzelnen die Antike und lebt dann im 9. Jahrhundert mit dem vorwiegend am Hof Karls ("des Kahlen") lebenden irischen Gelehrten Johannes Scotus ("Eriugena") erneut auf. Als Kenner der sieben freien Künste konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf die Logik (dialectica). Als des (klassischen) Griechisch mächtiger Gelehrter übersetzt er griechische theologische Werke und entwickelt dabei einen christlichen Neoplatonismus, der von Glaubenssätzen ausgeht, um sie mit Vernunft zu überprüfen und danach dann darzustellen. Sein Gott ist das Eine, welches sich selbst denkend existiert und nicht weiter definiert werden kann. In der Schöpfung hat er den Urquell alles Seienden, die primordiales causae, geschaffen, aus denen sich Welt entwickelt, wobei sie nur ein schwacher Abglanz noch ist. Das Böse kann dann nur das Nicht-Seiende sein, da aus Gott nichts Böses emanieren kann. Entsprechend bedeutet Hölle nicht körperliche Qualen, sondern Abwesenheit von Glückseligkeit.
Wie weit er von der Wirklichkeit der meisten Menschen entfernt ist - ein altes Gelehrten-Phänomen - belegt er an der Ansicht, die Erlösung als vernünftig denkende Wahrnehmung Gottes auch eben in seiner Schöpfung betrachtet, also als vernünftigen Näherungsweg hin zu Gott.
Das hat weder etwas mit dem zu tun, was das "Volk" womöglich glaubt, noch mit offiziellem Kirchen-Christentum und wird deshalb mehrmals kirchlich verurteilt, aber sein König hält offenbar schützend seine Hand über ihn. Einige seiner gedanklich anspruchsvollen Texte werden einzelnen (religiösen) Gelehrten, wenn auch selten, in die Hände kommen. Immerhin wird durch ihn Neo-Platonismus in christlichem Gewand durch das Mittelalter gerettet werden.
Die seit der griechischen Antike und durch Nachantike und Mittelalter immer wieder versuchte Schärfung des Intellektes Einzelner trifft nicht nur auf die Religion und auf intellektuelle Minderleistung als ihre schärfsten Feinde, sondern innerhalb der Religion auf den Gegensatz zwischen einzelnen Beleseneren und Nachdenklicheren und den illiteraten Massen. Wo bei letzteren der Versuch der Erklärung fehlt, setzt besonders seit dem 11. Jahrhundert der Wunderglaube ein, der bekanntlich im 18. Jahrhundert beginnt, auch politische Fortschritts-Gläubigkeit zu durchziehen.
Ein Odo von Cluny kann noch über Gerald von Aurillac schreiben:
Ich glaube den Berichten der Augenzeugen, und diese geben nicht so sehr Kunde von zahlreichen Wundern, die das gemeine Volk so sehr beeindrucken, als von einem Leben in strenger Selbstzucht und von gottgefälligen Werken der Nächstenliebe. (in: Moore, S. 52)
1013 besucht der eher skeptische Bernhard von Angers Conques mit dem Kloster der heiligen Fides und schreibt in dem 'Liber miraculorum sancte Fidis' Wunderberichte auf:
Teils deswegen, weil die Kunde von diesen Wundern, so scheint es, nur auf Geschichten beruht, die im Volk umgehen, teils auch, weil die Berichte nach allgemeiner Meinung der Tradition und der Erfahrung widersprechen, haben wir ihnen keinen Glauben geschenkt und ihnen keinen wirklichen Wert zugemessen. (So an Fulbert von Chartres, in: Moore, S.53)
Weiter geht es ins 11. Jahrhundert und zu den Versuchen, Glaubensinhalte mit der Vernunft zu erfassen, während gleichzeitig durch die Reformer in der Kirche und deren Konflikte mit weltlicher Macht die unbelesenen Vielen mit einfachen Schlagworten aufgerüttelt werden.
Nunmehr gibt es durch den Zugang zu neuen Texten einen neuen Zugang zu Aristoteles. Einen Einstieg dahin bekommt, wer am normannischen Kloster Le Bec unter dem Pavesen Lanfranc Unterricht von erheblichem Renommée nimmt. Auf dieser Basis verkündet in der zweiten Häfte des 11. Jahrhunderts der aus Aosta in Oberitalien stammende adelige Mönch Anselm von Canterbury, der im Kloster Bec in der Normandie bei seinem Landsmann Lanfranc studiert hatte, dass der christliche (in kirchliche Doktrin gefasste) Glaube geradezu dazu einladen würde, ihn mit den Mitteln der Vernunft zu erklären, so dass man ihn gegenüber denen, denen er (noch) fehlte, auch argumentativ vertreten könne. Es geht um Philosophieren also, um das Handwerkzeug dafür in die Hand zu bekommen, sogar zu Gott finden zu können ohne zuvor zu glauben. Dabei „wurden die Vorgänge des Begreifens, Verstehens, Glaubens selbst zum Gegenstand des Nachdenkens.“ (KellerBegrenzung, S.299) Glauben ist nun nicht mehr blind, wie an sich von der Kirche für die ihr Unterworfenen gefordert, sondern kann mit Erkenntnis verbunden werden. Als Abt von Bec mit seinen 120 Schülern beginnt Anselm das, was man später Scholastik nennen wird, die Untersuchung von Begriffen und Gedanken mittels einer Beweisführung und über logische Schlüsse. Dabei verzichtet er auf das Belegen seiner Gedankengänge durch kirchliche Autoritäten: Die Vernunft bewegt sich dahin, Autonomie über das hinaus zu erreichen, was sie im Alltag ohnehin besitzt.
Das hatte sich als Gedankengut langsam seit dem 10. Jahrhundert entwickelt und findet in Anselm seinen ersten Höhepunkt. Soweit lässt sich das auch (damals) noch gut mit der Laufbahn eines Mönches vereinbaren, der dann Prior und Abt wird, um als Erzbischof von Canterbury und Heiliger zu enden. So kann Anselm noch schreiben:
Ich strebe nicht, o Herr, in deine Höhe vorzudringen, weil ihr mein Verstand niemals gewachsen ist; aber es verlangt mich danach, ein Stück weit Deine Wahrheit zu verstehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche nämlich nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu verstehen. Denn auch das glaube ich: Wenn ich nicht glauben würde, könnte ich nicht verstehen. (in KellerBegrenzung, S.312)
Daneben bleibt aber in den Gebeten und Meditationen eine zunehmend inniger werdende Beziehung zu Gott: Es deuten sich die ersten Anfänge einer späteren Trennung von Philosophie/Theologie und jener Frömmigkeit an, die manchmal als persönliche Religion bezeichnet wird.
Dieser neuartige Eintritt der Vernunft in die Theologie gipfelt bei Anselm in einem Gottesbeweis, also einem logisch vermittelten Beweis der Existenz Gottes, ein Weg, von dem niemand damals ahnen konnte, dass er später dem doktrinären Kirchen-Christentum und überhaupt jedem Gottesbegriff Schaden zufügen würde; der neue Eintritt der Vernunft in die Religion würde schließlich in der Erkenntnis ihrer grundlegenden Unvernünftigkeit enden. Aber davon sind wir noch einige Zeit entfernt, erst im 13. Jahrhundert wird die Pariser Kirche Aristoteles-Texte an ihrer Universität verbieten, da sie erkennt, dass freies Denken jede kirchlich vermittelte Religion zerstören kann.
Der Einfluss Anselms auf die wenigen Belesenen seiner Zeit ist enorm, auch wenn sie bald danach suchen, über die von ihm selbst gesetzten Grenzen hinaus zu gelangen. Und der wichtigste unter ihnen wird wohl Abaelard, bald niederer Kleriker, der in Paris erst lernte und dann lehrte. (siehe das ihm gewidmete, eher unphilosophische Großkapitel)
In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wirkt Hugo von St.Victor, der zum Beispiel schreibt: Der Logiker versteht, ehe er glaubt, der Theologe dagegen glaubt zuerst und versteht dann. (in: Dinzelbacher, S.90) Alleine das so zu denken, ist eine mächtige Neuerung, denn das Verstehen zu einer logischen Disziplin zu machen, auch wenn für ihn die Logik (Philosophie) Magd (ancilla) der Theologie bleibt, wird den Weg in die Emanzipation philosophischen Denkens öffnen.
Wie sehr der Versuch, Vernunft und Theologie zusammenzubringen, schon im 11. Jahrhundert zu Konflikten führen kann, belegt Berengar von Tours. Schüler des Bischofs Fulbert von Chartres, wird er um 1030 Kanoniker an Sankt Martin in Tours, dann Leiter der Domschule dort. Zudem ist er zugleich ab 1040 Archidiakon an der Kathedrale von Angers.
Laut ihm macht die Vernunft den Menschen zum Ebenbild Gottes, dem er in ihr nahekommt, und ohne Dialektik und eben damit Vernunft kann er sich dieser Ebenbildlichkeit nicht nähern:
Maximi plane cordis est per omnia ad dialecticam confugere, quia confugere ad eam ad rationem est confugere, quo quid non confugit, cum secundum rationem sit
factus ad imaginem die, suum honorem reliquit nec potest renovari de die in diem ad imaginem dei. (in: EhlersOtto, S.279). Kurz gesagt: Bei der Dialektik Zuflucht zu nehmen, heißt bei der
ratio Zuflucht zu nehmen.
In Konflikt, der auf mehreren Synoden ausgetragen wird, auf denen seine Ansichten verworfen werden, tritt er am Punkt der Eucharistie, also der in der Kirche seit dem 9. Jahrhundert immer enger formulierten Position, dass dabei Brot und Wein ihrer „Substanz“ nach in Leib und Blut Christi verwandelt werden, was allerdings als Mysterium nicht näher erklärt werden könne. Berengar wendet dagegen ein, dass das mit Aristoteles nicht möglich sei, da die Eigenschaften einer Substanz an diese gebunden seien. Die Präsenz Jesu könne also nur eine symbolische sein, wobei er sich auf frühe christliche Schriften und das Evangelium beruft und soweit eine Position Zwinglis vorwegnimmt.
1050 werden seine Ideen auf dem päpstlich geleiteten Konzil von Vercelli verdammt. Er wird mehrmals zum Widerruf gezwungen, den er dann jeweils später wieder zurücknimmt.
Den intellektuellen Konflikt trägt er vor allem mit Lanfranc, dem Abt des Klosters Le Bec aus, gegen den er in den 70er Jahren im 'Rescriptum contra Lanfrancum' seine Eucharistielehre verteidigt. Den Beteiligten ist dabei deutlich, dass die Eucharistie nur ein Beispiel für alle göttlich, d.h. kirchlich verfügten Glaubenswahrheiten ist.
Gelehrter Streit ist wie später bei Abaelard in sehr handfeste Machtkonflikte eingebunden. Seine Gegner Papst Leo IX. und König Henri I. sind zugleich Gegner des Grafen Gottfried von Anjou, der wiederum Berengar unteratützt.
Dieses Beispiel dient nicht nur dazu, eine über weite Räume ausgetragene intellektuelle Streitkultur zu etablieren, die einigen in ihrer Krisenhaftigkeit durchaus bewusst wird. Der Eingriff der Vernunft in Glaubensinhalte bringt die Kirche auch dazu, ihre Vorstellungen immer enger in Dogmen einzuengen. Sie wird versuchen, mit dem Wort Transsubstantiation und dem Dogma der Substanzveränderung von Brot und Wein über die Vernunftgründe hinweg zu springen. Immerhin darf man nicht vergessen, dass das Wunder als etwas nur durch Gottes magische Kräfte Erklärliches schon lange zum religiösen Alltag gehört.
Mit der Substantivierung des nicht Substantiellen, von Eigenschaften und Vorgängen, wird es möglich, einen Gott zu denken, der nicht mehr eine bestimmte Naturkraft repräsentiert, sondern als Superlativ gedacht, das Eine Einzige, das beste Gute, die unumstößliche Wahrheit oder das Größte überhaupt ist. Dann wird für Anselm von Canterbury der denkbare Gott zu etwas notwendig zu Denkendem, weil man nichts über ihn hinaus denken kann: Denken und Glauben verschmelzen so in einer sich verselbständigenden Vernunft, die sich ihre eigenen Gegenstände schafft. Joachim Ehlers formuliert für Anselm: "Weil Gott in meinem Denken existiert, existiert er (…) notwendigerweise und ist als nicht-existent undenkbar." (In EhlersOtto, S.103)
Besonders deutlich wird dies Unheil der Vernunft dort, wo es zur Gänze nicht in Kenntnissen fundiert ist, sondern auf Glauben beruht. Dann wird das, was man gerade nicht weiß, zur Grundlage von Urteilen. Um einmal ein Beispiel aus der Welt des Islams zu nehmen: Im 12. Jahrhundert versucht der Muslim Abu Hamid den ungarischen König Geza II. von folgendem zu überzeugen:
Die Gesetzmäßigkeit der Muslime ist nicht wie die Gesetzmäßigkeit der Christen. Der Christ trinkt Wein statt Wasser nach dem Essen und wird nicht betrunken; dies vermehrt seine Kraft. Der Muslim, welcher Wein trinkt, wird aber im höchsten Maße betrunken, die Vernunft verlässt ihn und er wird ein Narr: Er treibt Ehebruch, tötet und fällt vom Glauben ab (...) Was die Sklavinnen und Frauen betrifft, ist dem Muslim die Vielehe erlaubt wegen der Leidenschaft ihrer Veranlagung. (in: Borgolte, S.263).
Hier wird nicht nur das vermeintlich göttlich offenbarte Gesetz mit damit von vorneherein inkompatiblen (menschlichen) Vernunftgründen belegt, um es plausibel zu machen, sondern es werden auch religiöse Vorschriften auf natürliche (biologische) Besonderheiten der Anhänger der jeweiligen Religion zurückgeführt, das alles aber nur implizit. Abu Hamid ist ein vielgereister Islamgelehrter und belegt, dass weder religiöse Gelehrsamkeit noch das Reisen per se die Urteilsfähigkeit steigern. Wir können vielmehr vermuten, dass sie bei ihm auf diesen Wegen eher Schaden genommen hat.
Logik und Dialektik bei Abaelard
In der 'Historia Calamitates' schreibt der Lehrer Abaelard:
Ich befasste mich damals zuerst damit, die Grundlagen unseres christlichen Glaubens durch Analogien aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft zu erläutern, und verfasste eine theologische Abhandlung >Über die göttliche Einheit und Freiheit< für meine Studenten. Diese begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloße Worte (…) Man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen hätte.
Falls das tatsächlich von Abaelard stammt, was einige bezweifeln, gibt es doch immerhin das Zentrum jener Wende wieder, die das Denken auf die Dauer aus dem kirchlichen Rahmen entfernen wird, in dem es dann immer weiter abstirbt. Nur glauben, was man auch versteht, heißt zum Beispiel die Trinität, aber auch manches andere argumentativ untermauern zu müssen, damit es Bestand hat, andernfalls würde der christliche Glaube zerfallen, was Abaelard allerdings noch nicht wollen kann. Zudem ist es ein Dokument für die Anfänge dessen, was man als Intellektualität bezeichnen kann, das Selbstdenken und Untersuchen an allen Autoritäten vorbei, ein Ende des Nachplapperns und des Verneigens vor dem nicht mehr Diskutierbaren. Bei Abaelard ist das ein Drahtseilakt, denn er bleibt zugleich in der Praxis frommer Christ. Nicht die Destruktion des Glaubens ist sein Ziel, sondern dessen vernünftige Begründung.
Sein Bewunderer Otto von Freising, Schüler in Frankreich, als Abaelard dort Lehrer ist, und später Bischof von Freising, schreibt über seine Lehrer Alberich von Reims und Robert von Melun:
Bei allen Themen voller methodischer Zweifel fand der eine überall Anlass zu kritischer Untersuchung. Mochte eine Ebene noch so glatt erscheinen, nie fehlte ihm ein Stein des Anstoßes, und – wie man zu sagen pflegt – nirgends erschien ihm ein Grashalm ohne Knoten; denn er wies stets darauf hin, was noch entknotet werden müsse. Dagegen war der andere höchst schlagfertig im Antworten. Er wich keiner Frage aus, ergriff Partei, wenn sich die Standpunkte schroff widersprachen, oder bewies aus der Mehrdeutigkeit der Rede, dass es keine allgemeingültige Lösung geben könne. (in WGoez, S.222)
Dann, als Bischof und enger Berater Friedrich Barbarossas, zählt er die Inhalte der sechs Bücher der aristotelischen Logik auf, das Handwerkszeug des neuen Denkens. Da ist das Kapitel über die Kategorien, das über die Sätze, das über die logische Verknüpfung von Sätzen, dann das über die Methoden des Schließens, das über die Schlüssigkeit der Beweise und als letztes das
von den Mitteln, sich vor sophistischen Trugschlüssen zu hüten, um so den vollkommenen Philosophen umfassend zur Wissenschaft nicht nur der Wahrheitserkenntnis, sondern auch der Vermeidung von Irrtümern anzuleiten.
Im antiken Trivium ist als Titel nicht die Logik, sondern die Dialektik enthalten. Wörtlich aus dem Altgriechischen als "Gesprächsführung" zu übersetzen, wird es zur Kunst der Auseinandersetzung mit einem Thema auch bei dem einzelnen Nachdenkenden. Mit der von Aristoteles systematisierten Logik als vernunftgemäßer Kunst des Verbindens von Begriffen und Aussagen miteinander wird seit dem 11. Jahrhundert die Form benannt, in der Dialektik stattzufinden hat. Dabei wird unausdrücklich impliziert, dass die Struktur des menschlichen Denkapparates in Übereinstimmung mit der Welt der zu betrachtenden Gegenstände steht. Dass Gegenstände, also Objekte, überhaupt erst durch Wahrnehmung entstehen und in ihrer Benennung also Wahrnehmung durch das Subjekt enthalten ist, dass zudem das In-Beziehung-Setzen an die Struktur des Menschenhirns gebunden ist, kann dabei zum Thema werden. Dabei kann dann auch die Frage aufkommen, ob Benennungen von Gegenständen darauf verweisen, dass es diese Gegenstände, also zum Beispiel Gott, überhaupt "gibt", sie also wirklich gegeben sind, oder bloß imaginär, in einer Welt schier vorgestellter Dinge auftauchen.
Der von den jüdischen Tempelpriestern kultisch verehrte und völkisch definierte Gott auserwählter "Stämme" hatte durch den evangelischen Jesus etwas andere Charakterzüge erhalten. Diese wurden dann noch einmal massiv verändert und neu definiert durch die Integration von Einflüssen griechischer Philosophien. Indem das Altgriechische alle Eigenschaften (ähnlich wie zum Beispiel das Deutsche) nominalisieren (neutralisieren) kann, konnte dieser Gott nun alle positiv gewerteten nominalisierten, also an einem Gegenstand nicht mehr haftenden (eigentlichen) Akzidentien wie die des Guten, des Wahren, des Ewigen, der Liebe (einer nominalisierten Tätigkeit, die auch gerne als Haltung verklärt wird) in sich vereinen und durch sie definiert werden. Indem er so nun zum Sehnsuchtsort aller solcher positiven Phantasien wird, bietet er sich den Gelehrten dermaßen als Fixstern ihres Gedankenhimmels an, dass das Nichtsein desselben, wiewohl er nirgendwo erfahrbar ist, undenkbar geworden ist. Wer wollte schon eine Welt bewohnen, die nicht nach Maßgabe menschlicher Sprachakrobatik und ebenso menschlicher Sehnsüchte nach Behaustsein und Aufgehobensein gestaltet ist.
Wenn es aber diesen einen Gott "gibt", weil es ihn geben muss, dann wird das Denken klerikaler (und nunmehr auch mönchischer) Weisheitssuchender bei aller Aufbruchstimmung des 11./12. Jahrhunderts im Kern um ihn kreisen und Grammatik, Rhetorik und Dialektik dafür in Dienst nehmen, und dank des göttlichen Fixsterns im Himmel werden sie für einige in der philosophia zusammenfallen, aus der sie in der fast schon frühkapitalistischen altgriechischen Kaufleutewelt herstammen, die sie dann noch mit der mathematisierten Weltsicht verband, wie sie sich im (lateinischen) Quadrivium findet.
Andere hatten Abaelard schon vorgearbeitet, von dem sehr eigensinnig dafür aber kaum Dankbarkeit zu erfahren ist. Seit den 80er Jahren des elften Jahrhunderts begannen sich Schulen zu bilden, die sich in der Entscheidung darüber unterschieden, was denn genera und species bei Aristoteles (via Porphyrios) seien, nämlich entweder, in einer dialectica in re, real existierende Größen, oder aber voces, also rein sprachliche Phänomene. Eine dialectica in voce bedeutet dann Philosophieren als Sprachreflektion in ganz anderem Maße.
Philosophieren als Nachdenken über Sprache enthält eine enorme Sprengkraft, die sich dann verstärkt, wenn auch noch darüber nachgedacht wird, was (daneben?) als Wirklichkeit gedacht werden könnte. An beidem wird das Philosophieren im 18./19. Jahrhundert sein Ende (seine Enden) finden. Aber schon vor 1100 bemerken führende kirchentreuere Denker die Gefahren für die Religion. Zur Ketzerverfolgung sich verselbständigender Frommer kommt längst auch die der Falsch-Denker. Dabei sind richtig und falsch längst zu Gegenständen gelehrter Diskussion geworden. (Rexroth, S.136ff)
„Für Abaelard ist die Dialektik einerseits die Lehre darüber, wie man zwischen gültigen und ungültigen Argumenten zu unterscheiden hat, andererseits darüber, wie man zu den Argumenten selbst gelangt. Deshalb beschäftigt sich der Dialektiker nicht mit den Dingen der Welt, sondern mit den Wörtern, mit denen wir die Dinge bezeichnen. Die Logik ist also die Wissenschaft von den Wörtern, d.h. sie ist Sprachlogik. Deshalb untersucht er vor allem anderen, was wir mit unseren Begriffen, soweit wir sie in Wörtern ausdrücken, meinen.“ (Grane, S.44)
In seiner 'Dialectica' beschreibt Abaelard das so:
Um die Logik vollkommen zu beherrschen, ist es notwendig, zuallererst das Wesen der einfachen Ausdrücke zu erkennen, dann das der zusammengesetzten, um schließlich zum höchsten Ziel der Logik, der Argumentation zu gelangen. (in: Clanchy,.S.139)
Dabei kann Abaelard dann von Porphyrius über Aristoteles (Kategorien: Genus, Species, Differentia, Proprium und Accidens) zu Boethius voranschreiten, der letzterer sich dann mit Arten der Argumentation beschäftigt.
Aber wichtig ist, und das wird hier betont, dass man weiß, wovon man redet. Dabei schließt sich allerdings Philosophie in den Raum ihrer eigenen Begriffe ein und die lebendige Wirklichkeit ein gutes Stück weit aus. Auf diese Weise wird Abaelard die Auseinandersetzung mit seiner Sexualität am Ende vermeiden und sich am Ende zwischen Denken und Sexus entscheiden. Immerhin aber formuliert er einen Anspruch an Voraussetzungen für ein Gespräch, wie ihm selten Menschen folgen werden. Das wird in der aggressiv-terroristischen Propaganda des Politischen seit dem 18. Jahrhundert erst so richtig deutlich werden.
Damals entwickelt sich aus den Dialektiken in re und denen in voce der metaphysisch werdende Universalienstreit, in den Abaelard mitten hineingerät: Sind Allgemeinbegriffe das Gemeinsame in verschiedenen Einzelnen, also Abstraktionen, oder, wie die „Realisten“ unter den „Nominalisten" sagen, so wirklich wie der konkrete Baum und Berg. (Oder benennen sie auch schon mal das, was es nicht gibt!) Das wird, ganz implizit, wichtig für Begriffe wie Gott oder das Gute oder (später) die „Menschlichkeit“ und den "Fortschritt" werden... Immerhin, so ist hier zu sagen, denn die Politisierung der Moral als Ersatzreligion wird seit dem 18. Jahrhundert das Hinterfragen neu-heiliger Worte, die wie Begriffe daherkommen sollen, mindestens so aggressiv und brutal beantworten, fast ganz gleich, welche Politreligion dabei gerade angesagt ist.
Schon sieben Jahrhunderte vor Abaelard hatte Augustinus die Dialektik zur Disziplin aller Disziplinen erhoben, da der Weg des Lernens nur über sie führe. Verwurzelt ist sie aber in den Schriften des Aristoteles. In seinem 'Metalogicon' nennt Johannes von Salisbury Abaelard den Peripatetiker von Le Pallet (peripateticus palatinus), der sich im Fach der Logik in so unvergleichlicher Weise vor all seinen Zeitgenossen auszeichnete, dass man glaubte, nur alleine er verstehe Aristoteles wirklich. Johannes war ab 1136 Schüler von Abaelard in Paris. Abaelard wusste dabei wohl, dass dem Lateiner noch eine Menge Aristoteles (in der Übersetzung) fehlte, er konnte kein Griechisch. Immerhin scheint er sich etwas davon spekulativ erschlossen zu haben.
Die Vernunft kann bei Abaelard kein Neuland, schon gar kein religiöses entdecken, sie bewegt sich als kritische immer in den Bereichen, die schon vorgegeben sind. An den Dogmen und Autoritäten wird nicht gerüttelt, da sie ja auf Offenbarung zurückgehen, sondern sie werden nur vernunftgemäß erklärt.
Christus ist das Wort Gottes, aber, so heißt es in seinem 'Soliloquium':
Damit ist das gemeint, was die Griechen mit logos bezeichnen. Deshalb sagt auch Augustinus in dem 'Buch der dreundachtzig Fragen' in Kapitel 44: 'Am Anfang war das Wort (Johannes 1, 1), das auf Griechisch logos genannt wurde.' Folglich sollte – in Entsprechung mit der Etymologie des Begriffs – ein jeder, der aufgrund der Lehre und aus Liebe an diesem wahren und vollkommenen Wort festhält, wahrhaft 'Logiker' und Philosoph genannt werden. Insofern sollte man auch die christliche Lehre vor jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin im eigentlichen Wortsinn als 'Logik' bezeichnen. (im Deutsch von Clanchy, Abaelard., s.o.S.62)
Tatsächlich fällt für Abaelard die Logik mit der Dialektik zusammen. Die Logik ist der Weg der Vernunft, und die Dialektik seine Reflektion in den Sprachstrukturen.„Folglich ist die Dialektik so wenig ein abstrakt-theoretisches Spezialvorhaben, dass sie für Abaelard als angewandte Dialektik oft ein Synonym für die menschliche Vernunft, die ratio, wird.“ (Grane, S.96) Damit wird die Dialektik zur Methode, die sich auf alle möglichen Gegenstände übertragen lässt.
Glauben und Vernunft sind für Abaelard etwas verschiedenes und die Vernunft ersetzt nicht den Glauben, sondern besteht neben ihm. Diese Vernunft führt auch nicht in Richtung Metaphysik und entwickelt auch keine altgriechische theoria. Bei Bernhard von Clairvaux heißt es im anklagenden Brief 190: Du flüsterst mir ins Ohr, der Glaube sei nur eine Meinung und murmelst etwas von Zweideutigkeit, als ob es überhaupt keine Gewissheit gäbe. Für ihn ist der Glaube höchste Gewissheit, und das Anlegen der Vernunft etwas, was ihn in vernunftgemäße Meinungen zerlegt, die eben „weniger“ sind. Dagegen sagt Abaelard in der 'Historia' über die (vorgeschobenen) Forderungen seiner Schüler: Sie sagten, dass das bloße Aussprechen von Worten, denen kein Verständnis (intelligentia) folge, überflüssig sei, und dass man nichts glauben könne, was nicht zuvor verstanden wurde. (Zeilen 605ff) Dadurch, dass man einen Glaubenssatz versteht, wird er also laut Bernhard zur Meinung (opinio). Letztlich widerspricht das nicht Abaelards Position, dass es durch forschendes Denken nur Annäherungen an jene Wahrheit geben kann, die alleine bei Gott ist. Bloß hemmt das nicht seinen Forscherdrang, während man bei Bernhard durch den Glauben auf weiteres Nachforschen Abaelardscher Art besser verzichten solle.
Über die Kirchenväter heißt es in Abaelards Theologia:
Es genügte ihnen, die Probleme aufzulösen, die sie hörten, und die mit Zweifeln behafteten Fragen ihrer eigenen Zeit zu beantworten, dabei aber ihren Nachfolgern ein Beispiel dafür zu hinterlassen, wie man auf ähnliche Fragen achten muss, wenn sie sich einstellen sollten.
Ohne Quaestio keine Disputatio. Diese aber ist Urteilsbildung als „Beweisführung“ ('Dialectica'), das hohe Ziel der Dialektik. In demselben Text verweist Abaelard auf der Dialektik zugängliche Themen, in denen nämlich ein Urteil von richtig oder falsch getroffen werden kann, wie es Boethius in seinem 'De Topicis' behandelt hat.
Theologisch sieht sich Abaelard so wenig wie methodisch als Neuerer, sondern als Erklärer des Vorhandenen. Was fortschreitet, ist die Theologie, nicht der Glaubensinhalt. In der ersten Version seiner Theologie schreibt er:
Wir können zwar nicht versprechen, die Wahrheit (veritas) zu verkünden, von der uns ein jeder zugeben würde, dass weder wir selbst noch irgendein Sterblicher sie wissen kann, sondern nur eine Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitudo) mit ihr, die sich im Einklang mit der menschlichen Vernunft und nicht im Gegensatz zur Heiligen Schrift befindet. Wir wenden uns damit an jene, die sich rühmen, den Glauben mit menschlichen Vernünfteleien zu ergründen. ... Was die Wahrheit ist, weiß allein der Herr. Ich aber maße mir an, ein Urteil zu fällen über das, was man über ihre Wahrheitsähnlichkeit zu sagen vermag und was sich am meisten in Übereinstimmung mit den philosophischen Vernunftgründen, die wir handhaben, befindet. (im Deutschen von Clanchy, Abaelard, s.o.S.148)
Im selben Text heißt es: Die Vernunft belehrt einen jeden Menschen auf natürliche Weise über Gott. (s.o.S.345) Das Wort „natürlich“ ist hier entscheidend: Man kann also auch jenseits der Offenbarung zu Gott gelangen.
Heftiger noch äußert sich der christliche Gesprächspartner im 'Dialogus': ... keiner, der verständig ist, verbietet es, dass der Glaube mit Vernunft ergründet und erörtert wird, und keiner kann dem zustimmen, was nicht unzweifelhaft auf einer vernünftigen Voraussetzung beruht. (deutsch in Clanchy, S. 359)
Das heißt, die Axt ans Gebäude der christlichen Mysterien zu legen, auch wenn Abaelard das gewiss nicht bewusst war.
Und so wird er in der dritten Version seiner Theologie an der vernünftigen Beantwortung der Frage scheitern, warum ein Biss in den Apfel (sic!) mit dem Opfertod des Sohnes Gottes gesühnt werden muss. Er wird die Frage so ablehnen und vielmehr den Kreuzestod als umfassendes Liebesangebot verstehen. In seinem Kommentar zum Römerbrief besteht unsere Erlösung durch Christi Leiden in der Liebe des Höchsten zu uns... (deutsch in Clancy, S. 363).
Das klingt dann wie entsprechende Textstellen von Bernhard von Clairvaux:
Ich meine, dies war der entscheidende Grund, weshalb der unsichtbare Gott im Fleische gesehen werden und mit uns Menschen als Mensch zusammen leben wollte, nämlich indem Er zunächst jegliche Zuneigung der fleischlich gesinnten Menschen zur errettenden Liebe seines Menschseins hinzog, da sie zu einer anderen Form der Liebe nicht fähig waren, um sie daraufhin schrittweise zu einer spirituellen Liebe zu erheben. (Dreißigste Predigt De canticis canticorum, deutsch in Clanchy, S. 364)
Man sieht, Bernhard ist nicht so weit entfernt vom Platon des 'Symposion' wie der Aristoteliker Abaelard. Man sieht aber auch, dass beide hier nicht so weit entfernt sind vom zeitgenössischen Trobador Marcabru und seinem Versuch, die amors der cortesia gedanklich zu veredeln.
Seine 'Theologie' benutzt ein Wort als Titel, welches früher einmal auf die mythische Götterwelt der Antike bezogen war. Das schuf entsprechend Misstrauen, denn da Gott jenseits aller unserer Welt sinnlicher Erfahrung ist, kann man ihm nur gleichnishaft, in Analogien beikommen. Das versucht Abaelard auch bei der Trinität (wo es drei Namen sind, die ein und dieselbe göttliche Substanz bezeichnen, - 'Dialectica'), und legt sich damit die Fallstricke aus, die seine Feinde dann nutzen. Gottvater ist demnach Macht, Gott Sohn Weisheit, der heilige Geist ist Liebe. Alles drei sind Ausdrucksformen des Einen. Vernünftig mit der Trinität umzugehen heißt für Abaelards Gegner aber, etwas zu zerstören, weil es ganz jenseits der menschlichen Vernunft existiert. Abaelard setze dagegen, dass der vernünftige Mensch an der Vernunft Gottes teilhat und sich so in sie hineindenken kann.
Theologien bauen Gedankengebäude auf, Abaelard macht aber auch das Gegenteil. In 'Sic et Non' stellt er eine Zitatensammlung aus heiligen Schriften zusammen, die an 158 Themen Widersprüche in vielen zentralen religiösen bzw. theologischen Problemen zeigen und zu denkerischer bis philologischer Anstrengung auffordern:
Diese Zitate ziehen aus dem Missklang, den sie zu haben scheinen, die Hinterfragung auf sich, und veranlassen den jungen Leser,zu großem Eifer bei der Wahrheitssuche, damit sie durchs Untersuchen scharfsinniger werden. Der erste Schlüssel zur Wahrheit ist doch die beharrliche und wiederholte Frage. Aristoteles, der klarsichtigste aller Philosophen,hat in seiner Schrift ad aliquid die Schüler ermahnt,, sich die Befragung mit ganzem Sehnen einzuverleiben. Er sprach: Vielleicht ist es aber schwierig, sich verbindlich über derartige Dinge zu äußern, es sei denn, man hat sie sich öfter vorgenommen. Man wird gut daran tun, sie in einzelnen Punkten anzuzweifeln. (Sic et non)
In 'Sic et non' verweist Abaelard darauf, dass eine wortwörtliche Akzeptanz heiliger Schriften nicht möglich sei, weil sie ja und nein enthielten, also widersprüchliche Aussagen. Erst in einer spekulativ textkritischen Analyse könne ein Wahrheitsgehalt, etwas „richtiges“ aus ihnen entnommen werden. ... denn durch den Zweifel kommen wir zur Untersuchung und durch die Untersuchung erlangen wir die Wahrheit (Prolog zu 'Sic et non'). Damit entwickelt er reflektierend die dialektische Struktur der Scholastik weiter, ohne die alles spätere abendländische Philosophieren nicht möglich sein wird. Dass Wahrheit dann nur noch bei Gott ist, bedeutet, dass Menschen sich ihr nur annähern können.
Davon, dass die Wahrheit jenseits einer mathematisierten Welt elementar eher ein psychisches als ein philosophisches Phänomen ist, wird man allerdings erst im 19. Jahrhundert hören.
Das Ergebnis solcher Einstellung des Nachforschens und Zweifelns kann bei wenig ernsthaften Schülern natürlich auch Schaden anrichten. So berichtet Wilhelm von Conches in seinem 'Dragmaticon':
Die Schüler fragen vom ersten Schultag an, noch bevor sie sich hingesetzt haben, und, was noch schlimmer ist, sie urteilen. Nachdem sie ein Jahr oberflächlich studiert haben, dass die ganze Weisheit ihnen zugefallen sei, während sie doch nur Fetzen davon zusammengerafft haben; sie verlassen die Schule voll von Geschwätz und Arroganz, ohne Sachverstand. (in EhlersOtto, S.87)
Ihr erstes großes Erfolgserlebnis wird die Dialektik im Raum der Macht gewinnen, als Wilhelm von Champeaux 1119 zum päpstlichen Unterhändler gegenüber Heinrich V. im Investiturstreit ernannt wird. „Formal gegensätzliche Wortbedeutungen durch eine strenge begriffliche Unterscheidung miteinander zu versöhnen, war eine fundamentale Fertigkeit eines Logikers, und so konnte auch der Investiturstreit beigelegt werden.“ (Clanchy, S.157). Tatsächlich gab es ein Patt in dem Machtkampf zwischen Papst und Kaiser, und den gedanklichen Künsten der Dialektik gelang es durch verrechtlichte Klauseln einen Kompromiss zu finden. Wurden Konflikte früher bereinigt durch das persönliche Gespräch unter Beteiligung beider Gefolges, so finden sie nun einen juristischen Ausgang in rationalen Formeln.
Mit Abaelard beginnt der entscheidende Schritt der Emanzipation des Denkens aus der Fesselung durch die Tradition kirchlicher Autoritäten; kein Schritt aus dem Christentum heraus, aber doch einer hin zu einer kritischen Überprüfung von Glaubensinhalten. Unter anderem setzt er bei der Widersprüchlichkeit kirchlich sanktionierter Aussagen an und verlangt, dass diese über Argumentation und Beweisführung aufgelöst werden müssten, etwas, was Scholastik dann weiterführen wird, bis sie im Verlauf des Mittelalters daran scheitert und die Kirche sich wieder auf ihre Dogmen zurückzieht und damit einen Prozess der allgemeinen Säkularisierung unabsichtlich unterstützt.
Vor allem tritt mit Abaelard ein neuer, weithin von Institutionen unabhängiger Gelehrtentyp auf, der nicht mehr Themen in abgeschlossene Untersuchungen packt, sondern das denkende Forschen zu einem dauerhaften Prozess macht. Dreimal schreibt er so einen Text, den er jeweils Theologie nennt. Innerhalb dieser fortschreitenden Forschens rekurriert er manchmal explizit auf andere seiner Texte, denen er prägnante Titel gibt. Dabei pocht er beim Erkenntnisprozess nicht nur auf akademischen Fleiß, sondern mehr noch auf das ingenium, die Begabung, ohne aber dieser Quelle für Erkenntnis in dem Sinne kritisch gegenübertreten zu können, dass darin Subjektivität als Problem angelegt ist.
Neu ist auch, dass er keine Karriere anstrebt, die in die Machtstrukturen hineinführt. Wilhelm von Champeaux hatte sich wie andere auch dahin drängen lassen, ein Bischofsamt zu übernehmen. Wenn das Studium in ein Amt oder einen Beruf hineinführt, findet es sein Ziel nicht in fortschreitender Erkenntnis, sondern in der Integration in den Machtapparat. Der lässt nicht nur wenig Zeit für selbständiges Nachdenken, sondern schleift es auch durch die Praxis der Machtausübung ab. Abaelard erweckt Misstrauen, weil er nicht zu diesem "Club" dazugehört, und wird wohl auch deswegen abgestraft. Sein wichtigster Gegenspieler, Bernhard von Clairvaux, ist nicht nur Abt, sondern vor allem auch Machtpolitiker, und zwar ein solcher eines ganz neuen Typus. Sich mit hochheiligen Dingen zu beschäftigen, ohne eingebunden zu sein, macht verdächtig. Das wird bis heute so bleiben.
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Noch etwas anderes ist bemerkenswert: Die namhaften Gelehrten der Zeit sind alle Kleriker, und auch die, die keinerlei Weihen empfangen, sind in aller Regel ehelos. Der beweibte oder gar verheiratete Stern am Philosophenhimmel ist eher eine Seltenheit, vielleicht sogar eine Sensation gewesen. Er wird es oft auch bleiben.
Die katastrophale Begegnung Abaelards mit Heloysa unterstreicht das eher. Die Ausnahme-Persönlichkeit des Intellektuellen tendiert zur kaum anders zu bewältigenden Gefühlsarmut als Abspaltung des Geschlechtstriebes, seiner Desintegration. Die intellektuelle Distanz zum Gegenstand des Denkens macht das Gegenteil dessen, was dem gemeinen Menschen zu eigen ist: Die separiert Gefühl und Denken in dem Maße, in dem gemeinhin andererseits dem Fühlen erlaubt wird, das Denken in engen Grenzen zu halten.
So äußert sich Abaelard zum Beispiel in einer Version seiner 'Theologia':
Inde Hieronymus et Theophrastus dicunt: nulli sapienti ducenda est uxor. Kein Weiser also soll sich eine Frau ins Haus holen, bei anderem nämlich, etwa bevor wir ein Pferd kaufen, können wir die Beschaffenheit zuvor erproben; ein Weib aber dürfen wir nicht erproben, eh' wir's heimführen. (Dieser ebenso uncharmante wie vernunftgemäße Vergleich ist im Deutsch von Gilson, S.137 hier übernommen).
Andererseits ist die extrem sexuell fundierte Liebesgeschichte mit Heloysa in sich schon für den intellektuell denkenden Menschen eine Herausforderung, wie Moore feststellt: "Sie brauchten eine präzise, fein differenzierende Sprache, um diese Schwierigkeiten zu fassen, eine Technik, Lösungsansätze zu finden und auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen; sie brauchten einen Fundus von Idee, Beispielen und Argumenten, die ihnen helfen konnten, all die Aspekte und Dimensionen ihrer langen und facettenreichen Beziehung mit all ihren immer noch mächtig spürbaren emotionalen Erschütterungen auszuloten und die Leidenschaften, Gewissheiten, Zweifel und Sehnsüchte, die ihr Leben prägten und in neue Bahnen lenkten, bis in ihre feinsten Verästelungen hin zu begreifen." (S.177f)
Der Umweg über den Islam und das Judentum
Während auf solche Weise ein Fundament gelegt wurde, kam es durch äußeren Einfluss zu einer Erweiterung des Horizontes. Die arabische Welt hatte erst kurz vor der Erfindung des Islams eigene Schriftlichkeit und eine gemeinsame Sprache entwickelt, wobei sie mit verschriftlichter Textproduktion erst bei ihrem schnellen Eroberungszug nach Norden, insbesondere durch Syrer und Perser, vertraut wird. Mit der Ausweitung des Machtbereichs und der Übernahme und den Ausbau von Großstädten mit den damals bedeutendsten antiken Schulen und Bibliothekenwie der von Alexandria kommen Vertreter einer neuen islamischen Gelehrsamkeit auch mit altgriechischer Philosophie in Berührung, was von den abbassidischen Kalifen auch gefördert wird.
Aristoteles kann zunächst einmal recht schnell vor allem im neunten Jahrhundert von einigen und wie immer wenigen Gelehrten adaptiert werden, denn der Islam kommt von Anfang an ohne die verzwickten Probleme christlicher Theologie aus. Arabische Philosophen müssen aber ebenfalls vorsichtig sein, sobald sie Grenzen hin zur Religion betreten oder gar überschreiten.
Das gilt auch für jenen persischen Universalgelehrten um die erste Jahrtausendwende , der im lateinischen Raum Avicenna heißt. Er ist Arzt, Natur"wissenschaftler", Philosoph und manches mehr, und gewinnt über seine Rezeption in Toledo im 12. Jahrhundert Einfluss in Gelehrtenkreisen nicht zuletzt wegen seiner krtischen Auseinandersetzung mit Aristoteles.
Eine solche Grenzüberschreitung gelingt dann im 12. Jahrhundert dem Juristen, Arzt und Philosophen Ibn Roschd (1110-85), griechisch Averroes, in Cordoba, dort wo Islam, Judentum und Christentum mit orientalischer Prachtentfaltung und Handelswesen zusammentreffen. Bei ihm ist die Religion zu einer Art Leitfaden für die Lebensführung der Massen der Ungebildeten herabgestuft, während die aristotelische Philosophie den eigentlichen Zugang zum Wissen bietet. Der Mann wird das mit dem Exil in Marrakesch büßen müssen, wo damals etwas mehr Offenheit herrscht. (ausführlicher bei FlaschDenken S.282ff).
Averroes kennt "keinen personalen Gott, sondern nur eine Geistseele, an der wir alle teilhaben; individualisiert, solange wir leben, danach durch Rückkehr unserer personalen geistigen Substanz zum großen Ganzen." (Seibt, S.309) Die Welt ist ungeschaffen und darum ewig.
Averroes verfasst Kommentare zu zahlreichen Aristoteles-Texten, auch zu solchen, die im lateinischen Westen noch unzugänglich gewesen waren, und über Übersetzungen gelangen sie nun auch zurück in das lateinische Abendland. Seine Interpretationen von Aristoteles und dessen Schriften selbst geraten bei der Kirche zunehmend in Verruf, aber das alles sickert vom Mittelmmerraum aus langsam in den Norden in eine weithin notgedrungen heimliche Anhängerschaft ein. Eines unter vielen Problemen wird, dass der Islam wie Aristoteles den Einen wirklich in der Einzahl denkt, wogegen der verflixte Trinitätsgedanke, wie er im vierten Jahrhundert fixiert worden war, dicker Wälzer als Erklärungsversuch und sehr viel blinden Glaubens bedarf.
Die Begegnung mit antiker Gelehrsamkeit über den Umweg der islamischen Welt begann schon im 10. Jahrhundert. Ein Laienbruder des Klosters Monte Cassino, Constantinus Africanus, übersetzt Mitte des 11. Jahrhunderts Übersetzungen griechischer Texte ins Arabische nun ins Lateinische.
Mit der Eroberung Toledos 1085 durch Alfons VI. und mit seiner Bevölkerung aus Muslimen, Juden und Christen um einen aus dem Gebiet des späteren Frankreich stammenden Kathedralklerus wird die Begegnung mit den Gelehrten der islamischen Welt intensiver. Gerhard von Cremona reist hierhin, um arabische medizinische Texte zu übersetzen. Domingo Gundisalvo studiert 1162-81 den Aristoteliker Al-Farabi. Der Jude Abraham ibn Daud (Avendaud) übersetzt Avicennas 'De anima" und Domingo Gonsalvo übersetzt ihn dann um 1160 weiter ins Lateinische. Später wird dieser Text dann in Oxford auftauchen.
Ein ähnliches Schicksal haben Texte von Averroes (Ibn Rushd).
Ein modisches Missverständnis ist es, diese Tradierung antiker griechischer und lateinischer Texte dem Islam zuzuschreiben, der das ähnlich behindert wie auch das Christentum, sondern es ist eher naheliegend, sie als Ausfluss eines Kosmopolitismus und erheblichen Wohlstandes der Mächtigen in der inzwischen riesigen islamischen Welt zu betrachten.
Nicht über Spanien, sondern wohl über Sizilien und den Nahen Osten gelangt ein Adelard von Bath zur Kenntnis des Arabischen und Erweiterung der Kenntnisse in der Mathematik. Er übersetzt als erster Euklids 'Elemente' vollständig ins Lateinische. Dazu kommt Naturphilosophie, die er in den 'Questiones naturales' zusammenfasst und zunächst in England verbreitet: Ich habe immer unter der Leitung der Vernunft von meinen arabischen Lehrmeistern etwas gelernt, heißt es dort. Einfluss übt auch der getaufte spanische Jude Petrus Alfonsi aus, der zu einem der Leibärzte von König Henry I. wird.
Die neuartigen Ansätze von Selbstdenken, Befreiungsversuche aus kirchlich verordneter und von der weltlichen Macht durchgesetzter Unmündigkeit, entfernen sich immer deutlicher von kirchlicher Doktrin, was nun bei Berengar von Tours, Abaelard, Gilbert von Porreta (bzw. Porrée) und anderen zu heftigen und aufsehenerregenden Ketzerprozessen führt, die der Berühmtheit der Opfer solch dumpfer Unduldsamkeit allerdings eher zuträglich ist.
Gottfried von Viterbo lobt die Bibliothek Friedrich Barbarossas und über andere wissen wir von der Bibliothek der Hildesheimer Domschule mit vielen medizinischen Schriften aus Salerno Mitte des 12. Jahrhunderts.
In der Person des Stauferkaisers Friedrich II. findet die Förderung der über Averroes vermittelten Neubegegnung mit Aristoteles und zugleich grausamster Terror gegen Ketzer statt. Die Erklärung liegt wohl darin, dass der despotische Gewaltherrscher wenigen, vom Herrscher instrumentalisierten Intellektuellen einen von der Macht kontrollierten und dennoch freieren Raum zuweist, während den Massen der Untertanen jede Äußerung auch nur ansatzweise freieren Denkens verboten und mit dem Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leibe bestraft wird.
Dabei neigt Friedrich II. weniger zur Entwicklung eines scholastischen Aristotelismus als zu einer naturwissenschaftlich gegründeten Empirie. Scholastische Spitzendenker wie Thomas von Aquin stimmen ebenfalls zu, dass Häretiker durch den Tod von der Welt ausgeschlossen werden sollen.
In der Person des Michael Scotus verbindet sich freieres Denken und Forschungsdrang mit kaiserlicher Macht am Hofe Kaiser Friedrichs II.. Nach seinem Studium kommt er in Toledo mit jenen Übersetzern aus dem Arabischen ins Lateinische in Berührung, die sowohl antike griechische Tadition über den Orient wieder ins Abendland transferieren, in das lateinische nun, als auch mit dem entsprechenden jüdisch/hebräischen Umweg. Des weiteren wird er eigenständige Forschungen der islamischen Welt übersetzen. Roger Bacon wird später schreiben, er habe maßgeblichen Einfluss auf das Anwachsen des aristotelischen Einflusses in der lateinischen Welt gehabt.
Noch vor Beginn frühwissenschaftlicher Ansätze beschäöftigt er sich offensichtlich auch mit Fragestellungen, auf die es keine Antworten außer Unfug geben kann, wie jene Fragen, die Kaiser Friedrich II. an seinen Hofgelehrten Michael Scotus stellt, z.B. die nach dem Ort der Residenz Gottes, nach dessen Verwaltung durch seinen himmlischen Hofstaat, nach den Namen von Geistern und Dämonen und dem Wirken Verstorbener aus einem Jenseits in das Diesseits. (siehe Stürner S. 416 zu Michaels 'Liber introductorius').
Neben dem Umweg über den Islam, der die Antike immerhin frei von theologischen Spitzfindigkeiten rezipieren konnte, soweit sich Mächtige dabei nicht bedroht sahen, spielt der über das mittelalterliche Judentum eine wichtige Rolle, welches nicht nur dank fehlender Theologie, sondern dank einer Praxis von rabbinischem Pragmatismus, antikes freieres Denken auch über die Vermittlung durch die Gelehrsamkeit im Rahmen der islamischen Welt und über Versöhnungsversuche mit dem Judentum an die christliche Welt weitergeben konnte. Umgekehrt macht sich bei gebildeten Juden eine ähnliche Tendenz wie bei Averroes breit, zwischen dem Zeremoniellen und Rituellen für das einfache Volk und einer philosophierenden Religiosität der Wenigen zu unterscheiden. Maimonides geht am Ende so weit, im 'Führer der Unschlüssigen' Jesus und Mohammed als Wegbereiter des Messias zu bezeichnen, der eine neue Welt der Gotteserkenntnis bereiten würde (Angenendt).
Juden möchten, dass ihre Söhne wenigstens ein bisschen Schulbildung haben. In Mainz gibt es dann nach dem Millennium eine Anzahl bedeutende Rabbis, die sich vor allem praktischer Lebesnweisheit widmen. Ein Rashi (Rabbi Salomon ben Isaak) zieht dann nach Troyes und gründet dort eine jüdische Gelehrtenschule. Er übt wiederum Einfluss auf Hugo von St.Victor aus, der auch Kontakt zu anderen jüdischen Gelehrten hat.
Ketzerverfolgung bei den Untertanen und Erweiterung des Horizontes des Herrschers gehen so nebeneinander einher. Der gelehrte Forscherdrang andererseits hat gar keine Alternative, als sich an solche Herrscher zu wenden, da er ihrer Unterstützung bedarf.
Über die Begegnung mit den Intellektuellen der islamischen Welt bekamen aber auch andere Bereiche neuer Wissenschaftlichkeit Auftrieb. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts übersetzt Constantinus Africanus, ein weitgereister nordafrikanischer Arzt, im Auftrag von Robert Guiskard in Salerno und im Kontakt mit dem Kloster Monte Cassino und mit dem belesenen Bischof Alfanus von Salerno medizinische Handbücher aus dem Arabischen ins Lateinische. In Salerno, etwas südlich von Neapel, war etwas von antiker Medizin erhalten geblieben und wird unter dem Einfluss des nahen großarabischen Raumes weiterentwickelt. Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft und eine, der das neugierige Forschen naheliegt. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erforscht von dorther ein Urso Naturabläufe und versucht sie zu mathematisieren. In Toledo entwickelt sich unter dem Einfluss der antiken auf die islamische Welt eine weitere herausragende Medizinschule. Heimlich wird begonnen, Leichen zu sezieren, um mehr über den Menschen zu lernen.
Es kommt zu einer Öffnung bei einzelnen abendländisch-christlich geprägten Intellektuellen seit dem 10. Jahrhundert für von Juden im islamischen Raum und von Muslimen in die jeweilige Gegenwart transportierte antike Gelehrsamkeit. Ein wenig entsteht so etwas wie eine winzige transkontinentale, an der Mittelmeer-Antike orientierte geistige Gelehrtenrepublik, an der Cordoba, Toledo, Palermo, Salerno und wohl auch Foggia, auf jeden Fall aber auch Paris, Chartres und bald auch andere Orte beteiligt sind.
Aber all das geschieht in einer Welt, in der mächtige Papst 1239 in der Sprache der Apokalypse Kaiser Friedrich verdammt:
Es steigt aus dem Meer eine bestia voller Namen der Lästerung, die mit den Tatzen eines Bären und dem Rachen eines Löwen wütet und an den übrigen Gliedern gestaltet wie ein Panther sein Paul zu Lästerungen des göttlichen Namen öffnet und nicht aufhört, auf Gottes Zelt und die Heiligen, die im Himmel wohnen, die gleichen Speere schleudert. ( Enzyklika Gregors IX. vom Juni 1239)
Was derart Angst machen soll, die Bildersprache romanischer Kleinplastiken mitten in der sich entfaltenden Gotik, wird bei den Gegnern Zweifel an der Autorität der Kirche vertiefen. Andererseits wird der ungeheuerliche Bruch zwischen kirchenchristlicher Welt und weltlicher Macht wird auf die Dauer auch für die Kirche schlimme Folgen haben.
Und die Möglichkeit des Zweifels, einmal anerkannt, wird die Autoritäten bei Menschen mit der Neigung zum Selberdenken unter der Gegnerschaft zu solchen Kirchenfürsten weiter ins Wanken bringen, denn sie wird nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein.
Intellektualität
Der Intellektuelle taucht in dieser Benennung in deutschen Landen erst Ende des 19. Jahrhundert auf, in Frankreich wenig vorher. Intellegere kann wahrnehmen, erkennen, verstehen und manches mehr heißen. Zum Intellektuellen stempelte die institutionalisierte Macht und ihre mediale Öffentlichkeit vor allem ihre belesenen Kritiker und die ungebildete Menge die Verfasser ihr unangenehmer Texte.
Wenn wir Intellektualität als Praxis eines Selbstdenkens möglichst jenseits weltlicher wie geistlicher Autoritäten definieren, verbunden mit ausführlichem Studium, mit Forschergeist und Belesenheit, dann beginnt sie hier und jetzt in ersten Ansätzen aufs Neue. In der eigenständigen Lektüre der Evangelien und dem Wunsch, sich von der Kirche nicht länger an ihrem Verständnis hindern zu lassen, findet Selbstdenken zudem gleichzeitig in schlichterer Form, eher unintellektuell, aber dafür eben nicht nur bei einer kleinen Handvoll Leute statt. Mit diesen beiden Aufbrüchen der Köpfe beginnt allerdings auch die Verfolgung durch Diffamierung und physische Vernichtung. Freier Geist und Macht bzw. Religion sind sich wesensfremd und werden es bleiben.
Der Intellektuelle als seltener menschlicher Sonderfall besitzt einen ungebändigten Wissensdurst und Forschergeist. Mit ihm, und nicht erst in der sogenannten Renaissance, beginnt die Suche nach Texten, ihre größere Verbreitung und die Entstehung einer „Szene“, die miteinander kommuniziert, aber sich nicht nur austauscht, sondern auch miteinander konkurriert.
Dabei entsteht jener relativ offene Diskurs, dessen erster Wesenszug die Frage ist, die auch vor den heiligsten Texten nicht haltmacht, die zwar nicht verurteilt werden, aber durch vernunftgemäßes Befragen verständlich werden sollen, wobei dieser Vorgang dann wieder einer Diskussion offensteht.
Eine Art frühphilologisches Interesse treibt bereits Stephen Harding in Citeaux, als der seinem Kloster 1109 eine von ihm revidierte Bibel schenkt. Er hatte Kontakt zu einigen gelehrten Juden aufgenommen, um Passagen dieser Revision leisten zu können:
Da das Zeugnis der hebräischen und aramäischen Bücher das der meisten lateinischen Versionen bestätigte, tilgten wir alle jene Hinzusetzungen, die in vielen Fällen offensichtlich unnötig sind, namentlich in den Büchern der Könige, wo sie besonders zahlreich auftreten. Für alle Zukunft machen wir mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass diese Erweiterungen und Zusatzverse nicht in den korrekten Text gehören. (so in: Moore, S.230)
Im Extremfall machen sich Kollegen untereinander sogar als Konkurrenten zugespitzter Positionen lächerlich. Neben den Drang nach Erkenntnis tritt eine Welt der Eitelkeiten „intellektueller“ Natur. Unter den von weither gereisten Schülern macht sich Stolz über den jeweils eigenen Lehrer breit, der sich manchmal später in eigenen Texten niederschlägt.
Darum, und nicht wegen der Inhalte seiner Texte, lehnt Otto von Freising den Abaelard ab, (1,49) weil er so arrogant und seinem eigenen Geist vertrauend war, dass er kaum von der Höhe seiner Gedanken herabstieg und sich herbeiließ, Lehrern zuzuhören.
Wichtig wird dabei der Rekurs auf Begabung, besonders die eigene. Das ingenium des Abaelard taucht bei Wilhelm von Conches etwas weniger selbstverliebt als ingenium naturale auf, quo aliquid novi perspicimus.(Glossen zu Priscian). Mit der Begabung ganz weniger zu Philosophie oder sich erweiternder Wissenschaft tritt aber ein der Macht analoges Phänomen der Aufspaltung der Menschen. Glauben können nicht nur, sondern müssen alle. Die Macht und die fortschreitende Erkenntnis sind Sache weniger, so wie die Kontrolle über die Kapitalverwertung.
Unübersehbar befreit sich das Denken in ersten Schritten aus den Fesseln von Kirche und weltlicher Macht in der Zeit, in der der Kapitalismus seinen Siegeszug antritt. Man kann geradezu sagen, dass geistige Befreiung mit den Freiheiten des Marktes einhergeht, so wie dem intellektuellen Streit mit all seinen Eitelkeiten, der aufkommt, die Konkurrrenz auf dem Markt geradezu analog wird. Dabei wird allerdings der Warencharakter von Theorien und Literaturen aufgrund technischen Vermarktungsrückstandes bis zur Einführung der Papierproduktion und des Buchdruckes hinter dem anderer Produkte hinterher hinken.
Schule, schola, entwickelt sich um Lehrer, die teils von Geldern ihrer Studenten, teils von Honoraren der kirchlichen und bald auch weltlichen Träger leben. Das gilt neben Nord- und Mittelitalien insbesondere für einige Städte in Westfranzien wie zeitweilig Chartres, und vor allem in Paris, wo sich eine Vielzahl von solchen Schulen um berühmte Geister bilden, die dann Ende des 12. Jahrhunderts zur Universität zusammenwachsen werden.
Die Lernbegierigen beginnen in diesem 12. Jahrhundert, weit zu reisen, um ihre Studien an Kathedralschulen in Frankreich und an solchen norditalienischer Städte zu betreiben. Intellektualität wird eine übergreifende Erscheinung einiger weniger im ganzen lateinischen Abendland. Um 1150 schicken die Pierleoni und Frangipani wie andere römische Geschlechter ihre Söhne bereits an Pariser Schulen. Sie kommen nach einem Steuerverzeichnis von 1313 vor allem aus Italien, dem Jura, aus Lothringen und dem Kaiserreich, aus Flandern, England und der Bretagne.
In der Regel schicken Väter ihre Söhne nicht auf irgendwelche hohen Schulen, damit sie ein Ausbund an Gelehrsamkeit oder gar Wissenschaftler oder Philosophen werden, sondern als Basis für eine Karriere in geistlichen und zunehmend auch weltlichen Positionen. Dazu tritt nach dem Trivium eine spezielle Ausbildung, die einen Nutzen in der Welt haben soll. Frühe Spezialisten werden die Theologen einerseits, andererseits die Juristen und die Mediziner. Wer es brotloser haben möchte, begibt sich in die Erforschung der "Natur", aber dabei kann er ebenfalls auf das Mäzenatentum eines Fürsten stoßen.
Wenn Intellektualität die glückliche Verbindung von Begabung und Wissensdurst ist und nicht in den Grenzen irgendeiner Schule aufgehen möchte, geht sie weit über das eher jugendliche Studium hinaus. Daniel Morley studiert in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zunächst in Oxford, stößt dort aber an Grenzen:
Die Studierleidenschaft hatte mich aus England verjagt. Ich blieb einige Zeit in Paris. Ich sah dort nur Wilde, die mit würdevollem Gesicht auf ihren Schulsitzen thronten, vor ihnen zwei oder drei Schemel mit riesigen, die Lehren des Ulpian in Goldschrift wiedergebenden Werken; sie hielten Bleifedern in Händen, mit denen sie ernsthaft Asterisken und Obelen in ihre Bücher malten. Ihre Unwissenheit zwang ihnen die Haltung von Statuen auf, doch sie gaben vor, ihre Weisheit gerade durch ihr Schweigen zu demonstrieren. Sobald sie den Mund zu öffnen versuchten, hörte ich nur noch Kindergestammel. Sobald ich die Lage begriffen hatte, dachte ich darüber nach, wie ich diesen Risiken entgehen und jene die Schriften erhellenden "Künste" anders erfassen könnte, als indem ich sie im Vorübergehen grüßte, oder sie durch Abkürzungen mied. Da heutzutage die Lehren der Araber, die fast ausschließlich aus den Lehren des Quadrivium bestehen, in Toledo unter die Menge gebracht werden, beeilte ich mich daher, dorthin zu gelangen, um mich von den weisesten Philosophen der Erde belehren zu lassen. Da Freunde mich zurückriefen, und ich gebeten wurde, aus Spanien heimzukehren, bin ich mit einer kostbaren Ladung von Büchern nach England gekommen. (um 1187. In: Borgolte, S.283)
Ein wenig Lust am Karikieren, etwas Selbstherrlichkeit mischen sich hier mit dem Bild dessen, der bis an die Grenzen vorfindbarer Gelehrsamkeit vorstoßen möchte.
***Anti-Intellektuelles***
Aber es gibt nicht nur einen gelegentlichen Anti-Intellektualismus in deutschen Landen, sondern als Reaktion auf die neue Vernünftigkeit auch dort, wo sie entsteht. Hugo von St.Victor lehnt nicht nur die Gleichwertigkeit heidnisch-antiker Texte mit christlichen ab, sondern rechnet mit einer ganzen Zunft ab: Die Schriften der Philosophen wirken äußerlich durch den Glanz der Beredsamkeit und überdecken wie eine übertünchte schmutzige Wand den Dreck des Irrglaubens; wenn sie einmal den Anschein der Wahrheit vorgeben, mischen sie wie eingerührte Farbe Falsches darunter. (in EhlersOtto, S.72) Wer aus den Bahnen der neu sich entwickelnden Theologie ausbricht, geht in die Irre.
Kirche: 1210 spricht eine Pariser Synode ein Verbot aus, die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles oder die Kommentare dazu in Paris öffentlich oder insgeheim zu lesen. Fünf Jahre später wird seine Metaphysik verboten, was Papst Gregor IX. 1231 noch einmal wiederholt.
Die Probleme eines wieder erwachenden selbständigen Denkens geraten auf zweifache und sich oft überlappende Weisen in Konflikt mit der Kirche. Da gerät einmal der Rekurs auf vorchristliche Texte von hoher Qualität in Kollision mit der (pseudo)rationalen Konstruktion christlicher Doktrin. Das geschieht zum Beispiel, wenn antike Philosophen das „Eine“ denken und dieses Eine in der Religion dreifach bzw. als Dreifaltigkeit (Trinität) auftritt, was seriöserweise nicht denkbar ist. Oder wenn der judäochristliche Schöpfungsmythos durch die rationalere These von der Ewigkeit von „Welt“ ersetzt wird, die schon für Aristoteles galt und im 12./13. Jahrhundert wieder aufgegriffen wird. Ohne Schöpfung aber kein judäochristlicher Gott und übrigens auch kein arabisch-islamischer.
Genauso elementar wird es, den Intellekt im mittelalterlichen Wortsinn als einheitlich und einzig zu denken, und damit auf die Unsterblichkeit der individuellen „Seele“ zu verzichten. Da damit die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert würde, wird sich der Mainstream abendländischen Denkens bis in die frühe Neuzeit öffentlich nicht derart äußern können und auch wenig geneigt sein, sich einen solchen Gedanken überhaupt zu leisten. Immerhin liegt es in der Natur des Menschen, nichts zu denken, was dem eigenen Leben gefährlich werden könnte, sobald es ausgesprochen würde. Die wenigen Ausnahmen mit tödlichem Ausgang bestätigen die Regel. In Zivilisationen ist ohnehin für die allermeisten Menschen Selbstdenken eine gefährliche Abartigkeit, der ohnehin nicht verfällt, wer die enormen Mühen der persönlichen Befreiung aus der Allgegenwart von der Macht betriebener Propaganda nicht extra auf sich nimmt.
***Die deutschen Lande***
Die neue Gelehrsamkeit und Intellektualität geht vom Frankreich der langue d'oeil aus und wandert von dort recht langsam in die deutschen Lande, so wie das schneller auch die Ideen von der Ritterlichkeit, die neuartige Dichtung, die das kolportiert und die höfischen Moden tun.
Es kann hier nicht im Detail erörtert werden, welche Rolle dabei spielt, dass die Umgangssprache in Westfranzien ein zunehmend verändertes Latein aus romanischen Dialekten ist, und die Sprache der neuen Intellektuellen das nicht mehr ganz klassische Lateinische der Kirche, - während im deutschen Raum ein massiver Gegensatz zwischen auf Germanischem fußendem entstehendem Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschem und der lateinischen Schriftsprache und Kirchensprache vorhanden ist. Aber die deutschen Idiome des "hohen Mittelalters" transportieren eine wesentlich andere Welt, wie sie sich zentral in dem Unterschied zwischen den Begriffen von Wirklichkeit und Realität äußert. Die neue Intellektualität aber fußt auf einer in der lateinischen Sprache enthaltenen Weltsicht, insbesondere in der antik-römischen Adaption hellenischer Vorstellungen. Diese wurden schon in der römischen Kirche jenen Deutschen ein wenig nahegebracht, die als höhere Geistliche der lateinischen Sprache des Mittelalters mächtig wurden.
Immerhin gibt es auch in deutschen Landen im 12. Jahrhundert (lateinische) Kloster- und Kathedralschulen, aber der neue Kult der Vernünftigkeit unter den (wenigen) Gelehrten - immer auf Basis unumstößlicher Glaubenssätze - kommt hier über das Studium hin, welches deutsche Scholaren im entstehenden Frankreich betreiben. Das es verspätet ankommt, hat vor allem mit der langsameren Kommerzialisierung zu tun, die wiederum auch mit den anderen Machtstrukturen zusammenhängt.
Diese Wanderbewegung deutscher Wissbegieriger, die schon in den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts einsetzt, hat dann im 12. Jahrhundert immer mehr Männer erfasst, unter denen Leute wie Otto von Freising herausragen. Solche Magister, die in die deutschen Lande zurückkehren, bringen Texte und Ansichten mit und machen in der Kirche oder bei Hofe Karrieren. In der privaten Büchersammlung eines Bischofs Bruno von Hildesheim sind dann Schriften Ivos von Chartres, Gilbert Porrée (Porretas) oder von Hugo von St. Victor vorhanden. Der Nordwestslawen-Missionar Vicelin hat in Laon studiert. Dennoch ist selbst ein Teil der deutschen Bischöfe noch schreibunkundig.
Während zunehmend mehr Deutsche zum Studieren nach Frankreich reisen, sind es im 12. Jahrhundert eher wenige, die sich in Bologna zum Rechtsstudium einfinden. Die Machtstrukturen in deutschen Landen bedürfen noch wenig der Inspiration durch römisches Recht. "Bezeichnend ist dafür der Eigentumsbegriff. Gegenüber dem Besitz, dem Innehaben von Rechten und ihrer Nutzung, etwa bei der Allmende und ihrem gemeinschaftlichen Gebrauch, setzten sich Eigentumsrechte neben dem lebensnäheren Lehnrecht nur allmählich durch. Deutsche gingen der Begrifflichkeit im römischen Recht aus dem Weg." (Haas, S. 334f) Noch im Mainzer Landfrieden Friedrichs II. von 1235 heißt es an einer Stelle: Die Bewohner ganz Deutschlands leben bei ihren Streitsachen und Händeln nach den altüberlieferten Gewohnheiten und nach ungeschriebenem Recht. (in: Haas, S.337)
Hugo ist der seltene Fall von einem Deutschen, der in Frankreich bleibt. Aus dem Stift Hamersleben komemnd, tritt er in Paris in das neugegründete Stift von St.Victor ein, wo er sein weiteres Gelehrtenleben führt, aber im Kontakt mit seiner Heimat bleibt und dorthin einige seiner Schriften schickt.
Nicht jeder, der sich mit den nordfranzösischen Versuchen einer Verbindung von Vernunft und Religion auseinandersetzt, ist davon auch begeistert, denn mancher wie Gerhoch von Reichersberg erkennt, welche zersetzende Kraft freieres Denken freisetzen kann. Aber nicht jeder denkt überhaupt so weit, viele sehen eher eine Karriere als Kapellane, Notare und überhaupt bei Hofe, die ohnehin den Denkrahmen wieder einschränken.
Neben dem intellektuellen Einfluss bringen solche Leute auch die Kenntnis neuer Dichtung mit, wie sie um den Kriegszug des großen Karl nach Spanien oder um die in der Bretagne tradierten keltischen Sagen kreisen. Der pfaffe Chunrât schreibt dann für den Hof Heinrichs ("des Löwen") ein Rolandslied nach französischem Vorbild, und ein Eilhart von Oberg einen Tristrant. Gefeiert wird vor allem im Rolandslied das ritterliche Kämpfen, wobei bereits ansatzweise auch französische Vorstellungen von Rittertum einfließen.
Hohe Schulen wie in Frankreich wird es in deutschen Städten auch weiterhin nicht geben, der freie Geist wird nicht derart intellektuell, sondern lebt sich wie im übrigen lateinischen Europa im nur gelegentlich bezeugten individuellen Unglauben gegenüber allem Mirakulösen und Magieträchtigen der Religion aus, der allerdings nicht öffentlich wirksam werden darf. Immerhin ist generelle Ungläubigkeit ein direkterer Weg zur übrig bleibenden Wirklichkeit als es philosophierende Konstrukte sind, wie sie dann im späteren Mittelalter auch in deutschen Landen bei den wenigen Belesenen überhand nehmen.
Die Entscheidung Friedrich Barbarossa, das Schwergewicht seines Interesses stärker nach Italien zu verlagern, vertieft das Phänomen einer deutschen "Rückständigkeit", welches in weithin fehlenden unmittelbaren antiken Traditionen seine erste Ursache hat.
Mit dem Aufkommen von Philosophie und Wissenschaften in Westfranzien im 11./12. Jahrhundert wird solche deutsche Rückständigkeit in diesen Dingen bereits deutlich. Der deutsche Klerus bleibt überwiegend deutlich ungebildeter, unbelesener, und es setzt von erlauchten Kreisen wie bei Gerhoch von Reichersberg und anderen eine Art anti-intellektuelle Reaktion ein, die nicht jede Bildung, aber eine allzu selbständiger Geister wie es Abaelard und Gilbert von Poitiers sind, vehement ablehnt. Mit der Verbindung von "Volk", "Nation" und "Staat" wird sich in den romanischen Ländern ein Bild von deutschen Barbaren herausbilden. Wenn Madame de Stael anfängt, dies für die Franzosen zu korrigieren, zeigt das, wie lange diese Vorstellung anhalten wird.
Irgendwo in deutschen Landen entsteht für eine breitere Leserschaft der '(E)Lucidarius', von dem es im Prolog in deutschem Idiom heißt, Herzog Heinrich habe es in Braunschweig seinen Kapellänen in Auftrag gegeben. In dieser an ein breites Publikum gerichteten Enzyklopädie des "Wissens" findet sich märchenhaftes wie dass in Indien Kinder ihre alten Eltern verspeisen, aber es wird auch Handfesteres mehr oder weniger geklärt. Natürlich wird auch diese volkssprachliche Mischung aus (zumindest aus heutiger Sicht) Unfug, Halbwissen und wenig Brauchbarem nur an eine winzige Gruppe von Lesekundigen und deren Zuhörer gerichtet, und sie ist ein ganz frühes Beispiel für den Schaden, den enzyklopädischer Schund bei denen anrichtet, die er erreicht. Aber die meisten Menschen bescheiden sich ohnehin stattdessen auf ihr eigenes, enges Umfeld überprüfbaren Wissens und sie wissen dabei darin zweifellos viel mehr als eine medial gefütterte Elite.
Wissenschaft: Ius
Der Urgrund aller Wissenschaften im Mittelalter ist ihre im 12. Jahrhundert beginnende langsame Ausgliederung aus einem rein religiös zentrierten "Bildungs"programm, also die Spezialisierung auf Medizin, die Rechtswissenschaft, die Geometrie, die Arithmetik usw. Damit nimmt auch die Rolle der Erfahrung und des Experiments an Bedeutung zu, wie man an der Baukunst zum Beispiel ablesen kann.
Neben den Anfängen einer neuen Theologie, aus der sich eine neue Philosophie im Verlauf von Jahrhunderten emanzipieren wird (bis hin zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft' als Schlusspunkt) und einem Neuanfang in Richtung Naturwissenschaften kommt es in derselben Zeit auch zur stärkeren Wiederentdeckung des römischen Rechtes für den weltlichen Raum. So wie die Theologie auf unverrückbaren Glaubenssetzen beruht, beginnt auch das neue Ius-Studium mit der dogmatischen Aneignung römischen Rechtes der späten Kaiserzeit, insbesondere den juristischen Erläuterungen kaiserlichen Rechtes, die Justinian hatte zusammenfassen lassen, den Digesten. Vorlesungen bringen dies "Recht" Studenten nahe, Glossen kommentieren es als Marginalien.
Schon vor dem Aufschwung kaiserlich-römischen Rechtes kommt es zu einer Systematisierung des (päpstlichen) Kirchenrechtes, in dem die spätrömischen Rechtsvorstellungen ohnehin immer lebendig geblieben waren. Kanonistik und Legistik beeinflussen sich nun gegenseitig und unterstützen sich bei der Ausbreitung. Kirchliche und weltliche Machtausübung waren schließlich seit Kaiser Konstantin Hand in Hand gegangen.
Durch die Spätantike und das frühe Mittelalter (etwa 400-1000) war die kaiserliche römische Gesetzgebung bekannt gewesen, ohne zunächst viel Einfluss ausüben zu können. Erst mit dem Erläuterungsbestand der Digesten wird es nun für Fachleute handhabbar. Die stammen soweit erkennbar aus der Oberschicht von Bologna und seiner Umgebung. Ein Irnerius (Gwanerius, Werner, 1055-1130) fängt damit an. Da römisches Recht kaiserliches Recht ist, tendieren diese frühen Ius-Lehrer zur kaiserlichen Seite, und Irnerius wird denn auch als Anhänger Heinrichs V. gebannt. Mitte des 12. Jahrhunderts beginnt dort in Bologna ein regulärer Schulbetrieb.
Auch in anderen bedeutenden Städten wie Mailand beginnen einzelne Juristen römisches Recht zu studieren und - was wesentlich ist - parallel dazu sogenanntes feudales Recht aufzuschreiben.
Neben dem kirchlichen Interesse gibt es schließlich ein sehr weltliches an einer ausgebildeten Juristerei in den italienischen Städten. In der Lombardei und der Toskana nehmen die Notariatsurkunden erheblich zu, und ein ganzer Juristenstand breitet sich aus. Das gilt auch für das südliche Gallien, wo in Montpellier eine Rechtsschule aufblüht, die um 1220 dann in einer Universität aufgehen wird, und für England, wo es im 12. Jahrhundert in Oxford bereits neben Schulen der artes bereits Rechtsschulen gibt.
Derweil hatte nach 1130 ein Gratian, der in Bologna Kirchenrecht lehrt, mit der 'Concordantia discordantium canonum' (kurz "Decretum Gratiani' genannt) das offizielle und noch ungeordnete Kirchenrecht nicht nur gesammelt, sondern auch vereinheitlicht, indem er es harmonisiert.
"Mehr als zweitausend Entscheidungen aus einer unübersichtlichen Vielfalt von Quellen - päpstliche Sendschreiben und Dekrete, Beschlüsse und Empfehlungen von Konzilien und Synoden, Schriften von Kirchenvätern, frühere Arbeiten zum Kirchenrecht von Burchard von Worms, Anselm von Lucca, Ivo von Chartres, - wurden einer systematischen Analyse unterworfen mit dem Ziel, Widersprüche und Ungereimtheiten aufzulösen und die dem Ganzen zugrundeliegende Harmonie und Kohärenz sichtbar zu machen." (Moore, S.186)
Nach 1150 wird das ganze so überarbeitet, dass das römische Recht deutlicher zur Anwendung kommt. Damit ist das kanonische Recht von der Theologie und vom weltlichen Recht geschieden, welches sich wiederum aus dem Raum der Philosophie entfernt hat.
Im zwölften Jahrhundert nimmt im weltlichen Bereich so etwas wie Gesetzgebung zu, und es gibt immer mehr Verfügungen der Päpste, die längst Kirchenrecht als päpstliches Recht darstellen.. Das Recht als Instrumentarium der Macht bringt einen ganzen Berufsstand hervor. Der hat andererseits seit dem späten 11. Jahrhundert und dann zunehmend im 12. zunächst in Norditalien auch mit ganz anderen Rechtsvorstellungen zu tun, denen, die aus der sich entfaltenden Feudalisierung der Machtstrukturen ergeben und wie sie von Feudisten dann zunehmend in ein normatives Gewand gebracht werden. Die vielfältigen Verbindungen von römischen und feudalen Strukturelementen werden dann den Weg in neuartige Staatlichkeit begleiten.
Das Studium des Rechts (ius) gehörte nicht zu den klassischen artes liberales. Am ehesten war es noch mit der Rhetorik in Verbindung zu bringen. Andererseits durchliefen die Leute, die sich in Bologna mit dem römischen Recht auseinanderzusetzen beginnen, zunächst zumindest das klassische trivium als erste Voraussetzung. Dann aber wenden sie sich einer anderen Wahrheit als der der Philosophen zu, der nämlich der verschriftlichten Macht als Rahmenbedingung für institutionalisierte Macht. Und es ist kein Zufall, dass der Regulierungsbedarf des immer kapitalistischer dominierten Marktes mit dem neuer Staatlichkeit (und Kirchlichkeit) und den Offerten der Schulen zusammenfallen. Aber Gerechtigkeit und Recht fallen nun formal auseinander. Im weltlichen Rechtsstreit spielt auch das Gewissen keine Rolle mehr, selbst wo es propagandistisch herangezogen wird.
Zwischen Alexander III. (1159-81) und Innozenz III. (1198-1216) sind dann fast alle Päpste Experten in Kirchenrecht.
1179 lässt der selbst juristisch gebildete Papst Alexander III. von einem Konzil in Erweiterung einer Bestimmung von Gregor VII. beschließen, dass jede Kathedrale einen Lehrer bezahlen soll, der armen Schülern Gratis-Unterricht erteilt. Das Studium zum Juristen wird dabei immer länger, Jurist oder Theologe wird man nun manchmal erst mit über zwanzig Jahren. Die Kirche wird zu einer zunehmend verrechtlichten, parastaatlichen Einrichtung, was parallel dazu von den Fürsten und einer Oberschicht in den Städten übernommen wird. Und mit der Verrechtlichung beginnt zunehmende Verschriftlichung kirchlicher wie weltlicher Verwaltung, die in die Hand von ausgebildeten Juristen gerät.
Scholastik und Ius gehören von Anfang an zusammen, auch wenn sie sich konsequent auseinander entwickeln. Eine neue Sprache des Rechts (C.H.F.Meyer) vermittelt eine neue Art zu denken. Das Bezugnehmen auf ewige Wahrheiten gehört nicht mehr der Papstkirche alleine, sondern verbreitet sich im weltlichen Raum mit jener mit Gewalt durchzusetzenden Dogmatik, mit der schon die christlich-römischen Kaiser ihre umfassende Macht begründet hatten. Während die städtischen Politiker" sich nun nach und nach auf das vorkaiserliche Rom beziehen und so zu ihrem "Humanismus" finden werden, wenden sich Könige/Kaiser und Territorialfürsten erneut der Begründung von Staatlichkeit zwischen Konstantin und Justinian zu.
Juristen sind zunächst einmal Schreibkundige und dabei möglichst versiert im jeweils aktuellen Mittellatein. Sie treten als Notare auf, die rechtsverbindliche Texte "notieren", und als Advokaten, als rechtliche Vertreter anderer.
Während es den Philosophen und Wissenschaftlern nur dort gelingen wird, eine Art Berufsstand zu entwickeln, wo sie in das Regelwerk von Universitäten eingebunden werden, identifizieren sich die Juristen mit der Macht und ihrem Reichtum, versuchen selber reich zu werden und umgeben sich mit berufsständischer Prächtigkeit. Man heiratet untereinander oder in die städtische Oberschicht hinein und übernimmt deren Lebensformen.
Mit dem Aufstieg der Juristen zu einem Berufsstand und der neuartigen Verrechtlichung des Alltags, was eine neue Form der Unterordnung und Unterwerfung der meisten Menschen bedeutet, wächst auch der Widerstand. Es werden sich Phantasien einer Rückkehr zu einfacheren Formen des Zusammenlebens entwickeln, die nicht juristischer Expertokratie bedürfen. Der common sense, nunmehr auf private Räume abgeschoben, die im Laufe der Zeit immer engere Grenzen bekommen, wird nun der Verachtung einer juristischen Elite ausgesetzt, die sich mit den Machteliten identifiziert, von denen das geschriebene Recht abgeleitet ist.
***Moral und Ethik*** (erster Versuch)
Das Recht ist in Zivilisationen immer ein Herrschaftsrecht, ein Machtinstrument, es ist gelöst von dem, was alltäglich als richtig bzw. gerecht empfunden wird. Näher daran sind die tradierten Volksrechte, deren Bedeutung im Laufe des Mittelalters immer weiter zurück geht, und ist das, was, viel moderner gesprochen, als Moral oder Sittlichkeit das Volksempfinden prägt.
Der Beitrag von Kirche und Religion für die Laien ist jenseits der Sexualmoral und der Rechtfertigung der Machtverhältnisse gering. Die antik-jüdischen und vom evangelischen Jesus übernommenen "Zehn Gebote" gelten einerseits, werden aber alltäglich eher ignoriert, soweit sie nicht anderen Sitten und Gebräuchen entsprechen (du sollst nicht stehlen!)
Der ritterliche Adel entwickelt einen Tugendkatalog, der aber mehr Ideal als Wirklichkeit bleibt. Tugendideale sind aber nicht moralisch, sondern praktisch konstruiert und nur geringfügig christlich angehaucht. Sie konstruieren auch nicht Recht, sondern reflektieren es höchstens. Andere Tugenden entwickelt das Handwerker-Bürgertum und das der Kapitaleigner nach ihren Bedürfnissen und dem Maß ihrer Freiräume.
Alltagsbewältigung beruht auf konstruktiven Erfahrungswerten, und deren Rechtsvorstellungen tragen, denn das Recht der Mächtigen interveniert nur punktuell und ist auf die alltäglichen Verhaltensnormen angewiesen, einen oft stillen und vorgelebten Konsens. Ganz außerhalb aller dieser Welten steht das, was das Mittelalter mit den antiken Römern philosophia moralis nennt, und was viel später auch als Ethik bezeichnet wird.
Ethik ist ein philosophierendes und normierendes Nachdenken über menschliche Verhaltensweisen und zeichnet sich wie alle Philosophie durch ihre angestrebte, aber nie erreichte Über-Geschichtlichkeit aus. Ihr Einfluss bleibt fast immer inner-philosophisch, auf wenige Gelehrte beschränkt; vielmehr reflektiert sie Veränderungen in den Machtstrukturen.
Der grundsätzlich konservative Charakter des kurzen Mittelalters besagt, dass Gott die Wahrheit sei und die von ihm geoffenbarten oder inspirierten Schriften damit für alle Zeiten gelten. Das im 12. Jahrhundert sich durchsetzende, vernunftgemäße Nachdenken von Theologen-Philosophen über diese Wahrheit(en) wird einerseits in den nächsten Jahrhunderten in die Sackgassen der späteren Scholastik führen, andererseits aber in unübersehbare Auflösungserscheinungen: Logisches Denken kann in "Systeme" führen, aber auch daraus heraus. Für ein frühes Beispiel steht an herausragender Stelle neben anderen Abaelard mit seinem Satz:
Nicht was geschieht, sondern was im Geist geschieht, das beurteilt Gott. Nicht im Werk, sondern in der Absicht liegt Verdienst oder Lobwürdigkeit des Handelnden. (Ethica 3) Wenn die "Mörder" Christi in guter Absicht handelten, wären sie dann unschuldig.
Diese in letzter Konsequenz verheerende Ansicht, ein philosophierendes Konstrukt, relativiert nicht nur jede mögliche Rechtsvorstellung, sie individualisiert sie zugleich auch in positivem Sinne: Sie gesteht dem Individuum einen eigenständigen Innenraum zu. Nur in diesem letzteren Sinne wird sie ganz langsam erfolgreich an der Individualisierung des Menschenbildes beteiligt sein: Spätestens im 15. Jahrhundert, manchmal schon früher, kommt das Portrait in Malerei und Skulpur auf. Schon vorher werden die Namen von Kunst-Handwerkern öffentlich bekannt. Die sogenannte "Renaissance" wird zwischen Idealisierung und Individualisierung schwanken.
Nur erschließen lässt sich, wie frühe Kapital-Agenten, Kommerzialisierung samt Marktgeschehen und Individualisierung zusammen passen. Andererseits gibt es eine gegenläufige Entwicklung. Zunächst gilt für Bauern und Bürger in der Praxis noch lokales Recht, von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt verschieden.
Mit der Durchsetzung eines dem römischen entlehnten (allgemeineren) Rechtes für Königreiche wie England und Frankreich und dann auch die deutschen Fürstentümer findet jene Entwicklung statt, die im Untertanen als Staatsbürger enden wird, der nur noch durch seine Standeszugehörigkeit unterschieden ist. In einem Übergang ist der modernisierende Kaiser Friedrich II. situiert, der über die Menschen der deutschen Lande im Mainzer Landfrieden von 1235 schreiben lässt:
Diese leben bekanntlich in ganz Deutschland in ihren Rechtshändeln und -geschäften nach Gewohnheiten, die sie von alters her überliefert bekommen haben, und nicht nach schriftlichem Recht (...) So konnte es dazu kommen, dass die Rechtsfälle, in denen es zum Prozess kam, eher nach frei erdichteter Meinung als durch Anwendung festen Gesetzesrechts (...) beendet wurden. (in: Dinzelbacher, S.163)
Wandlungen des Naturbegriffs
Der römische Naturbegriff kommt von dem lateinischen Verb her, welches gebären und geboren werden meint (nasci), und beschreibt alles, was nicht spezifisch vom Menschen hervorgebracht wird, sondern was er von der „Allesgebärerin“ vorgesetzt bekommt. Er ist nicht verstandlich ohne den Gegenbegriff „Kultur“, der vom lateinischen Verb für „den Boden bearbeiten“, „Ackerbau“ treiben“ und überhaupt „pfleglich mit Leib und Seele/Geist umgehen“ abgeleitet ist (colere).
Die Erfindung dieser Vorstellung einer derart bipolaren „Welt“ ist eine römische Errungenschaft, die so noch den alten Griechen fremd war. Was Kultur meinte, lässt sich auch an dem auf uns überkommenen Wort „Kolonie“ erkennen. Der colonus war der römische "Bauer", eine colonia war ein mit Gebäude(n) ausgestatteter Ort römisch-zivilisierter Prägung und zugleich ein Ort des Ackerbaus. Zugleich lässt es sich an dem vom selben Verb herkommenden und untrennbar mit der „colonia“ verbundenen cultus erkennen, der die Verwandlung des natürlichen in den kultivierten Menschen bezeichnete, deren höchste Form der Götterkult war.
Mit den Veränderungen in der Zeit der Völkerwanderungen wird diese Vorstellungswelt fast nur noch im kirchlichen und monastischen (mönchischen) Raum tradiert, und zwar christlich und zum Teil germanisch „anverwandelt“.
Die Idealisierung von „Natur“ ist längst ein Projekt der römischen Oberschicht, die tatsächliche Landbearbeitung als Verwandlung von Natur ist spätestens in der Kaiserzeit vorwiegend Sklaven und oft immer weniger freien Bauern überlassen. Die Sklaverei und die bäuerliche Abhängigkeit werden bruchlos in die christliche Nachantike übernommen, war erste doch schon bei den Germanen, wenn auch mit geringerer Bedeutung, vorhanden gewesen.
Unter mittelalterlichen Bedingungen ist (Land)Arbeit etwas besonders Widerwärtiges. Sie dient viel zu wenig dem eigenen Wohlstand und zu sehr dem aufkommenden Luxus der neuen Herren. Es ist davon auszugehen, dass bis ins Hochmittelalter die Existenz der das Land bearbeitenden Bevölkerung überwiegend elend, notdürftig und immer wieder auch demütigend ist.
Unter solchen Bedingungen ist die „Natur“ der Feind des Menschen: Angefangen bei dem Mühsal der Arbeitsvorgänge bis zu den Produktionsverhältnissen, den Verhältnissen von „Herrn und Knecht“ zueinander, zu der Bedrohung durch wilde Tiere und zu den Härten des Urbarmachens, des Rodens, Trockenlegens von Sümpfen usw.
Mühe kann als selbst gewählte auch Freude machen, aber die Bedingungen der Mühen der Landarbeit sind weithin miserabel. Tatsächlich wissen wir kaum etwas davon, nicht einmal von den Holz- und Lehmhäusern sind mehr als die Überbleibsel von Pfosten im Boden zurückgeblieben.
Da nun kommt das deutsche Wort Arbeit herein, eine Tätigkeit benennend, die ohne große Not niemals in Angriff genommen würde. Die Wortwurzel meinte mit großer Wahrscheinlichkeit das „Verwaisen“ eines Kindes, welches sich darum, ohne Ansprüche stellen zu können, verdingen muss. Arbeit ist damit also die unerfreulichste Form von Tätigkeit. Erst ganz langsam wird sich in den Städten ein positiver konnotierter Arbeitsbegriff entwickeln, dem später Calvin und Luther den geistlichen Goldglanz aufsetzen werden.
Derselbe Kern von Qual und Pein steckt auch im lateinischen labor, und der wird in der christlichen Parallelentwicklung immer positiver besetzt (ora et labora). Schon bei Benedikt von Nursia wurde er als Gottesdienst im mönchischen Leben aufgefasst. Als das Wort über das Französische ins Englische gelangt, wird es gleich wieder abgewertet. Im Französischen ist labourer zunächst ein etwas neutraleres Wort insbesondere für die Feldarbeit. Die französische Entsprechung für „arbeiten“ wird travailler, es heißt quälen und sich quälen und leitet sich von einem römischen Folterinstrument ab, dem tripalium. Einen positiveren Beigeschmack bekommt dies Wort noch langsamer als die deutsche „Arbeit“.
Arbeit als leidiges Abringen des Existenzminimums von der „Natur“ unter Machtstrukturen, die das nicht erleichtern, macht die „Natur“ zum Feind und die Fest-„Kultur“ zum rettenden Ufer in einem unerquicklichen Meer von Notbewältigung.
Soviel zu einem Naturbegriff, wie er die meisten Menschen berührt. Das Wesen der Intellektualität, wie sie sich im 12. Jahrhundert etabliert, ist, dass sie ihr Interesse und ihre Vorstellungswelt massiv von der Erfahrungswelt der meisten löst, und in extremo leistet das die Philosophie.
Ein anderer Aspekt ist die Rolle des Christentums: Sie entheiligt die Natur, die Bäume, die Quellen, alles, was bislang mit einem heiligen Schauern betrachtet werden konnte, denn die irdische Wirklichkeit ist des Teufels bzw. der vielen Teufel, und es gilt, zwecks Spiritualisierung Distanz zu ihr aufzubauen und durchzuhalten. Das wird allerdings eher zur Sache von Städtern, die ohnehin die aus der Natur herausgehobene Stadt als zivilisierte Insel in einer Welt größerer Barbarei anzusehen beginnen, und Natur als Rohstoff für gewerbliche Produktion.
Aber das Ganze ist für die Beleseneren und Nachdenklichen schwierig: Da Pflanzen und Tiere von Gott geschaffen sind, wie der Mythos sagt, und nicht an der ererbten Schuldhaftigkeit der Menschen teilhaben, und noch schwieriger und sich etwas mit ersterer Aussage beißend: Die Natur ist eine natura operans, das heißt, sie bringt sich selbst hervor, wie es im 12. Jahrhundert heißt.
Wenn unser Text Natur als den lebendigen Teil von Welt, den Raum des Lebendigen versteht, um so dem ursprünglichen Wortsinn zu genügen, dann ist das eine Entscheidung zugunsten klarerer Erkenntnis im Vergleich zu einem Naturbegriff, wie er sich stärker unter dem Einfluss sich verallgemeinernder Kapitalverwertung aus der griechischen physis entwickelt. Indem er eine vom Menschen geschaffene Welt, der inneren Logik des Kapitalismus entsprechend, von einer von Gott geschaffenen bzw. dann später sich aus sich selbst schaffenden Welt als Natur unterscheidet, wird die Unterscheidung zwischen Lebewesen und unbelebten Dingen zu einem untergeordneten Aspekt, werden doch beide gleichermaßen und gleich rücksichtslos benutzt und in Waren verwandelt.
Der organische Metabolismus der Ernährung und der anorganische der Warenproduktion werden also gleichgesetzt. Dieser Vorgang wird durch den Gleichmacher Geld und seine Verbreitung, durch zunehmende Produktion für einen Markt, also durch Kommerzialisierung ungemein befördert, und so dient die Mathematik als Rechnen nicht nur dem technischen Fortschritt, sondern schon vorher der Berechenbarkeit im Kommerz.
Mit dem nun einsetzenden Ausrotten von Nahrungskonkurrenten in der Tierwelt und von jenen großen Raubtieren, die des Menschen Feind sein konnten, beginnt ein flächendeckender Krieg gegen alles Leben, welches nicht durch Zähmung und Veränderung nutzbar ist.
Einer der Ausgangspunkte christlicher Problematik ist wohl der Widerspruch zwischen einer altorientalischen Welt als Gottes Schöpfung und einer "Welt" als Reich des Bösen. 1022 jedenfalls kommt es in Orléans zu einem Häretikerprozess gegen Lehrer, deren Einsatz des Wortes Natur verdächtig geworden ist. Andererseits ist die zur selben Zeit in Teilen Europas einsetzende Häresie, die später unter dem Namen Katharer zusammengefasst wird, in ihrem radikalen Vergeistigungsbestreben als Leibfeindlichkeit die genaue Gegenbewegung, für das Kompromiss-Christentum der Kirche sogar gefährlicher, weil es hier nicht nur um wenige Gelehrte geht.
Es gibt immer einmal wieder Einzelne, die Welt auch ohne biblische Erklärmuster verstehen wollen wie Johannes Scotus Eriugena, ein griechischkundiger Gelehrter und Hoflehrer bei Karl ("dem Kahlen"). Er versteht in seinem Periphysion, lateinisch als de divisiona naturae später bekannt, Welt als allgegenwärtige Anwesenheit Gottes und kann sie so aus sich selbst heraus beschreiben, um dann christliche Belege hinzu zu fügen. Ihm werden seitens der Kirche denn auch immer wieder Häresien vorgeworfen und 1225 verbietet ein Papst das Periphysion.
In etwa zur selben Zeit erfindet ein Pacificus von Verona ein Sternenrohr zur Zeitbestimmung in der Nacht. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts führt der mathematisch und astronomisch interessierte Gerbert von Aurillac aus dem entstehenden Katalonien das Astrolabium ein, auf dem sich Sternbilder, Kalenderdaten und die Stunden des Tages ablesen lassen. Im 11. Jahrhundert sind es dann vor allem Mönche, die gegen Widerstände die neue Kenntnis von Welt vorantreiben.
Gerade die freien und die sich jeder Kontrolle entziehenden herumwandernden Magister seit dem 11. Jahrhundert beginnen aber Misstrauen bei den Institutionen zu erregen. Wenn sich die Aufmerksamkeit auf Grammatik, Rhetorik und Dialektik in Sprachreflektion verselbständigt, kann "Natur" sich eben aus dem Kontext der heiligen Schriften lösen.
In der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts lehrt in Paris der deutsche Grafensohn Hugo von St.Victor. Er möchte zwar die Religion der Theologie überlassen, da Philosophie sie nur zersetzen würde, aber mit ihm beginnt die Aufwertung der Naturwissenschaften, die bis dahin eher spekulativ als auch nur ansatzweise wissenschaftlich gewesen sind. Indem er die Gleichwertigkeit von artes liberales (trivium und quadrivium) mit den artes mechanicae propagiert, beginnt an ersten Orten und in ersten Ansätzen weitergehende Naturforschung. Zumindest ist mit diesem ansonsten sehr frommen Mann nun der Weg eingeschlagen, auf dem sich Naturbetrachtung um ihrer selbst willen aus den Fesseln sowohl von Philosophie wie von Theologie lösen wird und daneben Bestand haben kann.
In Chartres taucht ein Theoderich auf, der der Erforschung der Natur einen Eigenwert zuerkennt. Er will den Schöpfungsbericht der Genesis ausschließlich gemäß der physikalischen Grundlagen (physicas rationes) zu deuten versuchen. "Nicht mehr Erkenntnis des Schöpfers anhand seiner Werke war das Ziel, sondern Aufschluss über die Eigengesetzlichkeit der Natur." (EhlersOtto, S.79)
Ähnlich drückt sich Adelard von Bath in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus, der unter anderem nach der Normandie, nach Salerno, Sizilien und Antiochia reist und zum Übersetzer griechischer und arabischer Texte wird:
Ich nehme Gott nichts weg. Alles nämlich, was ist, ist von ihm und durch ihn (ad ipso et per ipsum est). Aber es ist nicht verworren, und es ist nicht ohne Ordnung, und wir müssen vernehmen, wie weit das menschliche Wissen diese Ordnung erschließt. (…) Nur wenn dieses Wissen vollständig versagt, sollte man auf Gott zurückgehen. (in Rexroth, S.287)
Die Emanzipation der Naturerforschung kann also nun mit dem christlichen Gott begründet werden.
Wenn Natur im Umfeld von Chartres und anderswo unter dem Einfluss von Platos 'Timaios' als die Schöpfung eines vernünftigen Gottes über die Kräfte menschlicher Vernunft zum Gegenstand forschenden Nachdenkens wird, erklärt Wilhelm von Conches, der 1154 stirbt, im Umkehrschluss, dass man Gottes Größe eben durch die Erforschung der Naturgesetze auch näherkommen könne. Dabei bedient er sich Platons Timaios, den er in das christliche Weltbild zu integrieren sucht. In seiner 'Philosophia Mundi' taucht der Versuch auf, die Genesis als Naturgeschichte zu interpretieren, der man forschend auf den Leib rücken könne, indem man die vires naturae, die Kräfte der Natur untersuche. Das wird jene auf den Plan rufen, die auch den anders interessierten Abaelard verfolgen.
Ebenfalls vom lateinisch übersetzten Timaios beeinflusst ist Bernardus Silvestris, der um 1150 mit 'De mundi universitatis' eine Kosmographie schreibt. Darin "schilderte er die Schönheit und Nützlichkeit der Welt, schloss mit dem Preis der männlichen Zeugungsorgane und durchtränkte das Ganze mit einem Fruchtbarkeitskult, in dem Religion und Sexualität" sich wenig christlich vereinen. (Langosch, S.242) Ähnliches gilt auch für Alanus ab Insulis (von Lille), der im 'de planctu nature' die Natur "als herrliches, überall Freude und Liebe erweckendes Weib" darstellt (s.o.) und im 'Anticlaudianus' die Natur die Laster überwinden lässt.
In der erotischen Lyrik und im Heldenepos ist topische Naturbenennung weithin Dekor, der ins Erotische einstimmen soll. Aber wenigstens als solcher ist sie präsent. In wenigen Einzelfällen taucht sie aber als jene Alternative zum Leben in Palast oder Stadt auf, die dann später sowohl Adel wie Bürger genießen. Der auch durch Liebeslyrik bekannte Bischof Marbod von Rennes schreibt irgendwann um 1100 in einem (lateinischen) Gedicht:
Ein Landgut im Walde besitzt mein Oheim, wohin ich mich für gewöhnlich oft zu den Annehmlichkeiten des Landlebens zurückziehe, den Sorgenstaub und alles, was den Menschen quält, abschüttelnd. Pflanzengrün, Waldesstille, ein linder Lufthauch und der freundlich plätschernde Wiesenquell erfrischen den ermüdeten Geist und geben mich mir zurück, erlauben mir, mich zu sammeln. Denn wer kann schon in der geschäftigen Stadt bestehen, die sich in mannigfachen Aufregungen erhitzt, ohne dass er sich selbst verlöre. (in: Dinzelbacher, S.175)
***Medizin*** (in Arbeit)
Schon das antike Griechenland begann in seinem Philosophieren mit einer von Sprache nahegelegten begrifflichen Zergliederung der Welt als Natur in nicht mehr zerlegbare Teile, die Atome. Daneben wurde sie in vier Elemente aufgeschlüsselt, Erde, Feuer, Wasser und Luft. Ähnlich wie die Körpersäfte der Humoraltheorie des menschlichen Körpers tauchen solche Vorstellungen im 11. Jahrhundert wieder als Grundlagen des Denkens auf. Und nicht nur in der Medizin, sondern auch in der philosophierenden Betrachtung des Menschen spielen sie im 12. Jahrhundert dann eine zunehmende Rolle.
Religiös hieß das, zwischen dem unwandelbaren und einfachen und eben darum dem Denken attraktiven Gott und der sich ständig wandelnden Welt zu unterscheiden. Ihre Unstetigkeit wird nun mit den im Widerstreit stehenden Elementen erklärt, bei Otto von Freising kann es das Auf und Ab von Herrschern und Reichen erklären, eine eben am Ende immer dem Leiden verfallene Welt. In der Humorallehre werden Krankheiten durch die Unausgeglichenheit der Körpersäfte beschrieben, die allerdings im Unterschied zur Welt als Ganzer medizinisch behandelt werden kann, während eine konfliktdurchzogene (Menschen)Welt nur durch die Wiederkehr Gottes und ihr Ende geheilt werden kann.
Überhaupt spielt die Medizin dort, wo sie überhaupt noch auf antiken Wurzeln beruht wie in Salerno eine Sonderrolle. Wo Verletzungen, Schmerzen und Krankheiten auftauchen, darf sie Freiräume einnehmen, die Religion und insbesondere Theologie in den Hintergrund drängen. Von Theologen, Philosophen und Juristen weiter (mit Ausnahme des Wilhelm von Conches) als Wissenschaft nicht ernstgenommen bzw. ausgegrenzt, übt sie eher durch die Hintertür doch zunehmend mit ihrem spezifischen Bild von der Funktion der Bestandteile des menschlichen Körpers Einfluss aus.
Schon im 9. Jahrhundert scheint Salerno samt amalfitanischen Ärzten ein Zentrum medizinischer Forschung und Praxis gewesen zu sein. Wer es sich leisten kann, scheint im 10. Jahrhundert dorthin gereist zu sein, um sich heilen zu lassen. Sogar Operationen an der Harnblase sind offenbar vorgenommen worden.
Im 11. Jahrhundert gewinnt die Medizin durch Übersetzungen aus dem Griechischen und auch über den Umweg des Arabischen wieder stärkeren Anschluss an ihre antiken Wurzeln (Hippokrates und Galen vor allem).
Der um 1015 in Ifriquiya als Muslim geborene Constantin Africanus, ein Kräuter- und Gewürzhändler, der den ganzen Mittelmeerraum und Teile Asiens bereist, kommt mit sechzig Jahren nach Kampanien, wo er sich erst in Salerno niederlässt, wird Christ und tritt am Ende ins Kloster Montecassino ein. Er wird vom Bischof von Salerno wie vom Abt Desiderius von Montecassino gefördert und scheint sich dabei alsAutor eigener Werke und als Übersetzer von Texten ebenso hervorgetan zu haben wie Leute in Al-Andalus.
Im Verlauf des 11. Jahrhunderts scheint sich in Salerno ein regelrechter medizinischer Schulbetrieb ausgebildet zu haben, wobei auch Wert auf Ernährung und Hygiene (im heutigen Wortsinn) geachtet wird. Von einer Trota/Trocta ist (wohl) aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Text über Frauenheilkunde überliefert, der belegt, dass auch Frauen in diesem Zusammenhang auftreten.
1180 entsteht in Montpellier eine medizinische Hochschule, wobei ein Teil der Lehrer aus Salerno kommt, einige weitere sind jüdische Ärzte aus Spanien.
***Die Natur der Eigentlichkeit***
Neben die Natur als physis und jene als natura tritt eine dritte, jene, die in die Philosophie die Vorstellung der Eigentlichkeit einführt. Danach ist nicht erst seit Lukrez das Eigene als das Eigentliche jeden Gegenstandes seine "Natur". Dieser Autor bringt mit 'De rerum natura' epikuräische Gedanken in Umlauf. Welt ist Natur, die auf sich selbst beruht, woraus man schließen kann, dass sich eine Natur der Dinge erkennen lässt, sobald man alle tröstlichen Vorstellungen der Spekulation abstreift. Sein Text ist allerdings dem Mittelalter völlig unbekannt. Aber die Vorstellung, dass alle Gegenstände "eine Natur haben", was dann im Deutschen zu ihrem Wesen wird, dem eigentlichen Sein, dass etwas also eine Natur habe, überlebt. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist für den Naturphilosophen und Vermittler zwischen Okzident und Orient Adelard von Bath natura die essentia, also das Wesen einer Sache. Wir sind dabei weit weg von der Vorstellung einer lebendigen Natur.
Diese Natur der Dinge bringt Burgundio von Pisa dazu, einen Text 'Über die Natur des Menschen' zu übersetzen, den er unter anderem mit folgendem Satz Kaiser Friedrich I. widmet: Weil ich in Gesprächen mit Euch, durchlauchtester Kaiser, gemerkt habe, dass Eure Majestät die Natur der Dinge und deren Ursachen kennen lernen möchte, habe ich beschlossen, dies Buch in Eurem Namen zu übersetzen. (in Rexroth, S.247)
Dieser mit Byzanz und Süditalien vertraute iudex Burgundio von Pisa begegnet Kaiser Friedrich mit dem Versprechen, ihm Übersetzungen über den materiellen Bestand des Himmels, seine Gestalt und seine Bewegungen, über alles, was unterhalb des Himmels ist (…) über Blitz und Donner, über den Regenbogen, über den Regen, Hagel und Tau, warum das Meer salzig ist usw. zu liefern. (in Staufer und Italien, S.263) Zur Natur der Dinge gehört eben auch die Erklärung, warum sie sich wie verhalten.
Natur wird ein in sich immer unklarerer Begriff gerade weil vernünftiges Denken Hochkonjunktur bekommt und seine Wurzeln eben auch im über das Lateinische vermittelten Griechisch hat und physis zu natura wird, deren Eigentliches als Ureigenstes Denkgegenstand wird. War Jesus auf Erden von menschlicher Natur, wie Rupert von Deutz und Gerhoch von Reichersperg erklären, also zugleich ganz körperlich Mensch und zugleich ganz immateriell Gott, können also in einem zwei Naturen zugleich sein, oder ist das ein inakzeptabler Widerspruch, wie Gilbert von Poitiers und in Vorreiterfunktion wohl auch Berengar von Tours meinten ?
Das lässt sich auf den Menschen von heute übertragen, der die damals konservative Position de facto akzeptiert: Er ist körperlich ganz Mensch, zugleich aber kollektiver Schöpfergott einer zweiten Natur, die sich über die verallgemeinerten Vorgänge des Kapitals einstellt. Ist sein Menschenbild nicht in Wahrheit noch dichotomischer, wenn er in sich Gott und Teufel zugleich hineinnimmt, indem er die Ergebnisse von Kapitalverwertung zugleich bejubelt und beklagt und dabei ignoriert, dass es sich dabei um dieselben Vorgänge handelt?
Das Wesen, das Eigentliche, die Natur von etwas oder jemand, - bis heute ein Propagandainstrument gegen nachdenkliches Verstehen. Bei Thomas von Aquin, der sich im Denken wohl von allen Menschen des Mittelalters am konsequentesten aus der Wirklichkeit löst, ist das Wesen eines Geschöpfes seine quidditas vel natura seu forma sua. Er schreibt das in einem Text 'Über das Sein und das Wesen', zwei Gedankenkonstrukte, die nur für Philosophen nützlich sind.
In die fiktive Welt der Eigentlichkeit gehört auch das "Naturrecht". Abt Suger von St.Denis meint in seiner Vita des Ludwig bezüglich des Begräbnisses König Philipps I., sepultura patrum suorum regum, que in ecclesia Beati Dionisii quasi jure naturali habetur. Sozusagen nach Naturrecht hätte er in St.Denis begraben werden müssen. Dass Natur und Recht per se nichts miteinander zu tun haben, wird so in einer Welt der Eigentlichkeit ignoriert.
In der lex naturalis des Thomas von Aquin finden vernünftige (göttliche) Weltordnung und menschliche Vernunft zusammen. Wenn in der Einleitung eines Privilegs von Erzbischof Dietrich von Hengebach von 1211 von ius tam naturale quam scriptum die Rede ist, ist das aber kein Vorgriff darauf, sondern die bereits sehr alte Vorstellung, es gebe "von Natur aus" ein Recht, und soweit es die ratio ermöglicht, sei es in geschriebenes verwandelt (in: Groten2, S.48). Mit einem solchen ius naturae wird auch Rudolf von Habsburg operieren, um Österreich an seinen Sohn zu übertragen: Die Liebe des Vaters zum Kind ist natürlich, weil göttlich inspiriert.
Eine nicht erfahrene, sondern fiktive Natur wird so zum Feld für Argumentationen, die bis heute ihr Unheil anrichten werden.
Im Reich abstrakter Eigentlichkeit verharren Algebra und Geometrie, die der Handel und diverse technische Probleme hervorgebracht hatten. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts übersetzt Adelard von Bath die 'Elemente' des Euklid aus dem Arabischen vollständig ins Lateinische. Hundert Jahre später studiert Leo von Pisa ("Fibonacci") auf seinen Handelsreisen im Mittelmeerraum Mathematik und schreibt mit seinem 'Liber abaci' ein Standardwerk. Sein Ruhm reicht dann so weit, dass er am Hofe Kaiser Friedrichs II. für dessen Lieblingsgelehrten Michael Scotus arbeitet.
Universitäten
Der Begriff universitas bezeichnet im 12. Jahrhundert eine Körperschaft, die alle Menschen einer Definition zusammenfasst, eine Allgemeinheit oder Gemeinschaft. Solche universitates im akademischen Raum bilden sich um 1200 in Bologna, Paris und Oxford aus dem heraus, was im 12. Jahrhundert als scholae bezeichnet wird, den Gemeinschaften von Lehrern mit ihren Schülern.
In italienischen Städten und vor allem in Bologna konzentrieren sich im 12. Jahrhundert immer mehr Lehrer, die sich mit dem Kirchenrecht und vor allem mit dem antiken römischen Recht der Kaiserzeit beschäftigen. Diese römische Antike besaß andere Strukturen, aber dafür eine Form entwickelter Staatlichkeit, an der sich die Machtstrukturen des lateinischen Abendlandes zunehmend orientieren möchten. Solche belesene Juristen werden so zu Dienern der neuartigen Mächte. Als erster näher fassbar taucht zwischen 1116 und 1140 in Bologna ein Irnerius auf, dann Gratian, der im Decretum Gratiani das Kirchenrecht zusammenträgt.
Als Friedrich Barbarossa 1155 nach Bologna kommt, legen ihm die scolares, die studium exercere volentes eine Bittschrift in Gedichtform vor, die um Schutz für den Weg von und nach Bologna bittet. Der Kaiser stellt die Scholaren von Bologna unter seinen besonderen Schutz:
Aus Liebe zur Wissenschaft heimatlos geworden (amore scientie facti exules), aus Reichen zu Armen, entäußern sie sich selbst, setzen ihr Leben allen Gefahren aus und erdulden oft von den gemeinsten Menschen unverschuldet körperlichen Schaden. (KellerBegrenzung, S.310)
Natürlich werden damit die studentischen Reisewege nicht wirklich sicherer.
Man kann im Nachherein auch sagen, die Herrscher entdecken das Potential des Studiums des Rechtes der antiken Kaiserzeit und möchten es nutzen. Die Privilegierung von Universitäten als ihre Gründungsurkunde schafft ihr somit Freiräume, allerdings nur soweit, wie sie kirchliche wie weltliche Macht nicht bedrohen. Das wird so bleiben.
In Bologna stellt Barbarossa die Scholaren außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit. 1189 verspricht der Rat von Bologna "dem Juristen Lothat, der aus Cremona stammte, ihn nicht durch Eide mehr als üblich an den städtischen Dienst zu binden und seine Lehrtätigkeit weder zu verbieten noch diese zu erzwingen. Lothar seinerseits schwor, nur in Bologna und nirgendwo sonst das Recht zu lehren, niemals den Schulbetrieb der Stadt zu schädigen und den Rat sofort zu verständigen, wenn er von entsprechenden Absichten anderer Lehrer erfuhr; außerdem wollte er sein Fachwissen dem Rat der Stadt sowie den Behörden der Stadtverwaltung zur Verfügung stellen." (Borgolte, S307) Überhaupt verbindet sich bei den Lehrenden die Verbindung von Theorie und Praxis durch die Rechtsberatung für Städte und hohe Herren.
Die Studenten bilden bald danach Nationen und dann, "den Zünften oder gar einer Kommune vergleichbar, eine >Universität< unter selbstbestimmter Leitung, eine Körperschaft, die in die Gemeinschaften der >Cismontani< und der >Ultramontani< der von diesseits und jenseits der Alpen Stammenden, gegliedert ist. Sie bestellen und bezahlen die Professoren, die auf der Basis von Verträgen einer strengen Kontrolle unterworfen werden: Wer mit dem Stoff nicht durchkommt, muss Hörgeld zurückgeben, wer nicht mit dem Läuten der Vorlesung begann, erhält einen Abzug.“ (KellerBegrenzung, S.311)
1222 kommt es zu Konflikten zwischen Universität und Gemeinde, was zur Flucht eines Teils der gelehrten Gemeinschaft nach Padua und zur Gründung einer neuen Universität dort führt.
Seit den Zeiten Abaelards nimmt die Bedeutung der Kathedralschulen in Chartres, Laon und Reims langsam ab, und zwar in dem Maße, in dem die der Pariser Schulen steigt.
Die Pariser Schulen insbesondere auf dem linken Seine-Ufer und der Île de la Cité wachsen im 12. Jahrhundert immer mehr zu dem zusammen, was Rexroth ein "Schulenmilieu" nennt. Ab etwa 1180 werden dann Vorlesungen bekannt, mit denen ein Neuankömmlung sich um ein Magisterium bewirbt, was Rexroth "Antrittsvorlesungen" (in Anführungsstrichen) nennt (S.318) Bald sind nach Schätzungen rund 130 Magister vertreten, die wohl über 3000 Scholaren unterrichten. Paris wird immer mehr auch von seinen Schulen geprägt.
Ist die Universität von Bologna wie später auch die von Neapel eine durchaus weltliche Einrichtung, so wird die von Paris mit ihren überwiegend klerikalen Schülern von vorneherein in das hierarchische System der Kirche eingebunden, wobei der Bischof und unter ihm der Kanzler über Lehrer und Schüler „regieren“. Dagegen schließen sich die Professoren in der Zeit nach 1200 zu einer universitas der Lehrenden und Lernenden zusammen, und zwar für eine eigene Gerichtsbarkeit, aber auch um neue Lehrende berufen zu können und so über die inhaltliche Ausrichtung zu bestimmen. Der Bischof muss sie dann bestätigen. Unabhängigkeit entwickelt sich auch darüber, dass die Lehrenden von ihren Schülern bezahlt werden. 1200 gibt es dazu das Scholarenprivileg König Philipps II., in dem die Studenten der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellt werden. Die langsam entstehende Universität unterstellt sich dem Papst und erhält von ihm 1215 die Bestätigung ihrer Satzungen mit vielen Detailregelungen wie einer Kleiderordnung, einer Liste verbotener Texte oder der Verpflichtung des Scholaren auf einen bestimmten Magister.
Als klerikale Einrichtung ist die Sprache der Lehre Latein, und ein Mittellatein dürfte wohl auch die Umgangssprache untereinander gewesen sein, - in einer Umwelt, die ein altes Französisch spricht, welches sich schon weit vom Lateinischen entfernt hat.
Schon 1208/09 wird in einem Brief von Papst Innozenz III. deutlich, dass die Institutionalisierung der Pariser universitas auch Disziplinierung gegen übermäßige Freiheiten ist. Einige nämlich "trügen unangemessene Kleidung, hielten die gebotene Ordnung der Vorlesungen und Disputationen nicht ein und ignorierten die Memorialgemeinschaft der Kleriker, wenn ein Kleriker gestorben sei." (Rexroth, S.321) Nicht klar ist, wieviel von dieser Ordnung vom Papst aufoktroyiert wird und was sich die Universität selbst als Satzung gibt.
1215 werden vom päpstlichen Legaten die Naturschriften des Aristoteles für den Unterricht verboten. Sie werden von nun an heimlich gelesen.
1221 taucht die Bezeichnung von der universitas der Pariser Lehrer und Schüler (universitas magistrorum et scolarium Parisiensium) zum ersten Mal auf und 1222 sind die Studenten bereits in Nationen geteilt. 1231 erfolgt die endgültige päpstliche Anerkennung in Gregors Bulle 'Parens scientiarum', die der Universität sogar eine Art Streikrecht zugesteht (Favier) und eine Vielzahl von Einzelheiten festlegt.
In Bologna wie in Neapel später werden nur die Rechte gelehrt, in Paris dagegen die vier Fakultäten der Artes (Theologen, Artisten, Kanonisten, Mediziner), während das Zivilrecht nach Orléans ausgelagert ist. Der Unterricht findet beim Lehrer zu Hause oder in angemieteten Räumen statt. Die Hohe Schule wird zum Wirtschaftsfaktor.
Pariser Lehrer leben einmal von der Bezahlung durch ihre Studenten, aber auch des öfteren über meist kleine kirchliche Pründe, über die die Kirche Einfluss auf die Lehre hat. Darüber hinaus kümmert sie sich im Fall extremer Bedürftigkeit.
Private Investoren und Stifter und Orden errichten bald Kollege für vielleicht fünf oder 10 Studenten, Namensgebend für die Universität wird später die Stiftung des Robert de Sorbon von 1257 für 20 Theologie-Studenten, die Ludwig IX. dann noch um mehrere Häuser erweitert.
Um dieselbe Zeit entsteht eine medizinische Fakultät in Montpellier, die 1220 päpstlich verliehene Statuten erhält. Als Juristen und Vertreter der Artes dazukommen, handelt es sich bereits um eine umfassende Universität. Aus Konflikten mit der Stadt und dem Auszug eines Teils der Pariser Universität 1229-31 folgt dann die Entstehung neuer Universitäten in Orléans und Angers.
Eine Besonderheit wird die Gründung einer Universität in Toulouse, die dem dortigen Grafen zur Rekatholisierung des okzitanischen Südens aufgezwungen wird.
Franziskus hatte Gelehrsamkeit auf dem Weg zur Heiligkeit abgelehnt. Das hindert Franziskaner nach ihm bald nicht mehr daran, sich in die belesenen Diskurse der Zeit einzumischen. Die Dominikaner wiederum, bewusst als Predigerorden gegen die Ketzer gegründet, legen als Kampforgan der Kirche von vorneherein mehr Wert auf Gelehrsamkeit.
In Paris versuchen Bettelmönche, sich in die universitären Sphären von Logik und Theologie zu integrieren. Der englische Scholastiker Alexander von Hales tritt 1236 den Franziskanern bei und behält seinen Lehrstuhl, der dann zu einem franziskanischen wird. Zwei sichern sich etwa in derselben Zeit die Dominikaner.
Etwa zugleich entwickelt sich die Frühform einer Universität in Oxford. Im frühen 12. Jahrhundert lehrte dort ein Theobald von Étampes. Um 1180 liest dort Gerald of Wales den Doktoren der verschiedenen Fakultäten und ihren besten Schülern aus seinem Buch über Irland vor (Carpenter, S. 463) Es entstehen collegia, die zu Gebäuden um größere Innenhöfe führen, welche auf Stiftungen zurückgehen. Hier gilt ein ganztägiger Stundenplan bis zur Nachtruhe im Dormitorium. Zwischen Student und Magister tritt nach und nach der baccalarius (bachelor).
Um 1200 gibt es Fakultäten des Rechts, der artes und der Theologie. Großer Wert wird auf das Studium des Aristoteles gelegt und auf die Naturphilosophie. Dabei hilft, dass die Aufsicht des Bischofs von Lincoln weit entfernt ist.
1209 kommt es zum Konflikt um die akademische Freiheit, als nämlich ein Student eine Frau tötet und flüchtet und darauf Vertreter der Gemeinde drei seiner Mitbewohner ersatzweise ergreifen und aufhängen. Darauf flüchtet ein Teil der Universität in die Diözese Ely und gründete dort eine neue Universität (Cambridge).
Der Einrichtung wird darauf mehr Selbstverwaltung vom König (John "Lackland") gewährt, die um 1214 in der Einrichtung eines vom Bischof von Lincoln bestellten Kanzlers gipfelt. Als den Studenten dann auch bessere Lebensbedingungen in der Stadt eingeräumt werden, kehren sie zurück. Um 1216 taucht in Oxford die universitas der Magister in den Quellen auf. Mit Leuten wie Robert Grosseteste entwickelt sich der Kanzler immer mehr zum Vertreter der Lehrenden und zum juristischen Herrn über die Studenten.
1231 erlässt Henry III Briefe an Oxford und Cambridge, in denen er von Aufmüpfigkeit der Studenten schreibt und diese dadurch beendet, dass jeder Student einem lehrenden Magister direkt unterstellt wird.
Um 1260 kommt es zu einer erneuten Abwanderung von Studenten und Magistern nach Northampton, was der König zunächst unterstützt, was aber dann zu Protesten des Bischofs von Oxford führt. Darauf nimmt Henry III Northampton seinen universitären Charakter und verpflichtet die Magister auf einen Eid, nur noch in Oxford oder Cambridge zu studieren. Wie man sieht, Universitäten sind und bleiben Herrschaftsinstrumente der Machthaber, von akademischer Freiheit kann keine Rede sein.
1224 richtet Fridrich II. in Neapel Studien ein, die ihm eine höher qualifizierte Beamtenschaft zuführen sollen. Sie umfassen alle damals von der Kirche anerkannten Wissenschaften, stehen aber unter enger Aufsicht des Kaisers und ihnen wird entsprechend keine ansatzweise Autonomie einer universitas zuerkannt. Entsprechend wenig attraktiv sind sie für Lehrende aus Bologna, die aber manchmal nach Padua abwandern, wo dann nach 1260 eine UNiversität entsteht.
1254 erhebt Alfons X. von Kastilien und Leon, 'El Sabio' (der Weise), eine schon seit 1245 bestehende Schule in den Rang einer Universität. Bei ihm, wie bei Friedrich II., ist die Basis eine gewisse Bildung, Förderung von Literatur und Geschichtsschreibung, aber im Unterschied zum Staufer beschränkt er seine Einrichtung nicht auf das Rechtsstudium. Die Bezahlung der Lehrer in Salamanca wird vom König geregelt, der darüber Einfluss ausübt. Damit entsteht keine wirkliche universitäre Autonomie.
Das Wesen solcher Universitäten besteht vor allem darin, dass nicht mehrere (hohe) Schulen an einem Ort nebeneinander bestehen, sondern zu einer Institution zusammengefasst werden. Diese bildet eine beschworene Einung, die sich mehr oder weniger selbstverwaltet und tendentiell auf Autonomie auch betreffs der Inhalte der Lehre und Forschung besteht. So wie die städtische Kommune als Schwurgemeinschaft ist auch die Universität im Mittelalter eine Besonderheit des lateinischen Abendlandes.
Nicht übersehen werden aber darf, dass Universitäten (Herrschafts)Instrumente von Kirche und werdenden Staaten sind. Hier werden Leute zunehmend für Karrieren in Regierung und Verwaltung abgerichtet. Mit ihrer Abschließung nach außen und ihrem Ausschluss von Vertretern nicht akzeptierter Positionen tendieren sie dazu, die Gelehrtenwelt zu dominieren.
Keller fasst Formen von Lehre und Vermittlung so zusammen: „Textanalyse aufgrund gemeinsamer Lektüre, Kommentierung, Eingrenzung und Aufgliederung des durch den Text und seine Konfrontation mit anderen Autoritäten gestellten Problems, argumentative Lösung, Einordnung in das übergreifende System. Fächer und Disziplin differenzierten sich.“ (Begrenzung, S.311) Das heißt, die Autoritäten werden nicht mehr einfach nur rezipiert, sondern argumentativ diskutiert.
Die Beendigung des Studiums durch Examina setzt dann erst im 13. Jahrhundert ein.
Eine neue (Vor)Form von Wissenschaftlichkeit mit philologischen Elementen konstituiert sich, die alle Chancen auf Innovation und Emanzipation vom Hergebrachten hat. Aber wirkliche gedankliche Freiheit wird erst im ganz späten Kapitalismus und nur in wenigen Bereichen möglich sein, jenen nämlich, die außerhalb des akademischen Rahmens nicht mehr wahrgenommen werden. Nietzsche, Marx und Freud werden ihre wichtigen Texte jenseits eines akademischen Rahmens formulieren.
Naturbeobachtung für ihre Nutzung
Hatten in antiken Zivilisationen die Nutznießer von Großgrundbesitz Phantasien von Parklandschaften literarisch (bukolisch, idyllisch usw.) und als Anhang ihrer Villen und Paläste entwickelt, so kommt mit der Vernutzung von Forsten als aristokratisch-fürstliche Jagdreviere, also für "Sport", die Nutzung größerer Räume für rekreative Freizeiträume hinzu. Diese Idee von "Natur" als eines in neue Nützlichkeit verformten Erholungs- und Vergnügungsparkes wird durch den Aufstieg des Kapitalismus bis heute immer breiteren Schichten der Bevölkerung zugänglich gemacht.
In solche Zusammenhänge gehört nach der Verwandlung von Hunden auch die von Greifvögeln (Raubtieren also wie der Mensch eines ist) in eine Art domestiziertes Sportgerät. Bekannt ist durch die Überlieferung seines Falkenbuches, wie bei Kaiser Friedrich II. der hochprivilegierte Freizeitsport der Jagd mit Greifvögeln mit dem neuen naturwissenschaftlich-technischen Interesse zusammenkommt. Die Erforschung des "Funktionierens" von Natur als eines technisch konstruierten Ensembles ist und bleibt mit ihrer Nutzbarkeit und anschließenden Vernutzung verbunden.
Stürner fasst meines Erachtens den Kern des Neuen beim kaiserlichen Text zutreffend zusammen: Solche Vögel "zu fangen und zum willigen Helfer des Falkners bei der Jagd heranzuziehen, bedeutete nach Friedrichs Auffassung deshalb, ihre natürliche Eigenart wenigstens zum Teil umzuformen. Dazu taugten freilich nicht Zwang und Gewalt, dazu war vielmehr allein der menschliche Verstand befähigt. Allein er vermochte die Natur der Vögel beziehungsweise das Wirken der Natur in ihnen zu untersuchen und zutreffend darzulegen, um dann verändernd darauf einzuwirken." (S. 442)
Die Analogie der Vernutzung tierischer und menschlicher Natur bei Friedrich ist schon länger Historikern aufgefallen, wobei es aber wichtig ist, die Problematik der Anwendung des Naturbegriffs auf den Menschen nach seinem Durchgang erst durch Kultur und dann Zivilisation nicht außer Acht zu lassen. Doch wenn Friedrich in 'De arte venandi' sich als vir inquisitor et sapientiae amator bezeichnet, also als zugleich forschenden Menschen und Liebhaber jenes längst etwas verunklarten Begriffes Weisheit/Wahrheit/Wissen bzw. Kenntnis, dann darf man nicht vergessen, dass solches "Forschen" und "Wissen" zwar nicht immer in einer Person mit dessen Vernutzung einhergeht, aber meist in einer Haltung.
Tatsächlich wird ja dann die Vernutzung von Erkenntnis zu ihrem Prüfstein und schließlich als Technik zu ihrem Antrieb. Ist aber dabei Technik das Experiment im Nachhinein, dann wird das Experiment selbst zur Voraussetzung. In seinem Buch über die Beizjagd beschreibt der Kaiser Experimente, die er selbst angestellt hat. In der Zusammenfassung von Stürner sieht eines darunter so aus: "In wiederholten Tests vergewisserte er sich außerdem beispielsweise darüber, dass Geier das Aas allein mit dem Auge, nicht mit dem Geruchssinn wahrnehmen. Dazu ließ er Geiern eigens die Augenlider zusammennähen; legte man ihnen dann Fleisch vor, beachteten sie dieses nach seinen Feststellungen niemals, obwohl ihr Geruchssinn nicht behindert war. Ebenfalls mit Hilfe einer bewusst und gezielt gestalteten Versuchsanordnung überprüfte er, ob Geier unter allen Umständen nur Aas verzehrten: Er warf völlig ausgehungerten Vögeln lebende Küken vor und konstatierte, dass sie dieses Angebot trotz ihres Hungers in der Tat stets ablehnten." (Stürner, S.448)
Tierquälerei zum Nutzen von Forschung (und hier dann des Jagdvergnügens) wird dann bekanntlich immer häufiger werden. Friedrich II. lässt wie andere Fürsten Greifvögeln zeitweilig die Augen zunähen, um auch so ihre "Zähmung" zu betreiben. Tatsächlich sind ganze Bereiche der Wissenschaften wie zum Beispiel auch von Branchen der chemischen Industrie der heutigen Zeit davon abhängig. Erkenntnis ist im Sinne von Nietzsche dort furchtbar, wo sie zu Wahrheiten führt. Dort, wo sie Technik vorantreibt und von ihr bestimmt wird, beginnt die Furchtbarkeit gelegentlich nicht erst beim Ergebnis, sondern bereits bei ihrem Ausgangspunkt, dem Experiment.
Andererseits wirkte der neue Forschergeist auch befreiend, wenn auch nicht immer unbedingt auf die Objekte. Die Beobachtung von (lebendiger) Natur an der Stelle von Behauptungen und Hörensagen konnte den Blick von der Verblendung durch die "geoffenbarten" Schriftreligionen lösen, und ihn so schärfen für die ihr innewohnenden Antriebe, die sich als intrinsische Gesetzlichkeiten bzw. Willensäußerungen beschreiben ließen. Zum zweiten Kaiser Friedrich kann Stürner so schreiben: Er nahm "gerade mit seiner Konzentration auf das konkret vor Augen stehende, auf die Beobachtung der einzelnen Lebewesen und ihrer typischen Verhaltensformen, sowie mit seiner Neigung, dieses Verhalten immanent, aus deren eigener Natur zu begründen und zu verstehen, ganz offenkundig einen charakteristischen und bedeutsamen Grundsatz des künftigen naturwissenschaftlichen Denkens schon vorweg. " (Stürner, S.456)
Die Dinge, die sind, darzustellen, so wie sie sind, verlangt Friedrich in seinem Falkenbuch. Deshalb verlangt jeder Text nach Überprüfung durch die Erfahrung. Auch einem Aristoteles kann er nur insoweit folgen, als der sich nicht auf Hörensagen beruft: Oft fügt er dem, worüber er in seinem Tierbuch berichtet, hinzu, dass man es so gesagt hätte; aber das, was irgendwer behauptet hat, sah vielleicht weder er selbst noch wer es sagte; denn Gewissheit erlangt man nicht durch das Ohr. (in Eickels/Brüsch, S.248)
Das wird sich auf das Verhältnis zur Religion auswirken, denn deren Aussagen sind durch nichts überprüfbar. Allerdings wird sich diese Maßgabe der Wissenschaftlichkeit bis heute nur sehr selten und kaum im Alltag durchsetzen, sondern in den Elfenbeintürmen von den Mächtigen kontrollierter Fachwissenschaften eingesperrt bleiben.
In einem Text Kaiser Friedrichs II. zum Tod seines von ihm inhaftierten Sohnes Heinrich heißt es: Aber eines jeden Fürsten Sinn, sei er noch so starr, ist der Herrschaft der allmächtigen Natur unterworfen. Sie, die ihre Macht über jeden ausübt, kennt weder Könige noch Kaiser. (so in: Houben2, S.122) Es ist unübersehbar, dass hier das Abstraktum Natur an die Stelle der Fiktion Gott tritt und deren "Allmacht" übernimmt. Gemeinhin ist dem Mittelalter auch der Topos vertraut, dass der Tod weder Mächtige noch Machtlose kennt. Der aus dem Jüdischen tradierte mittelalterliche Gott der Christen steht außerhalb jener Welt, die damals auch "Natur" bei lateinisch gebildeten Menschen genannt wird. Überhaupt kommt in diesen Vater-Sohn-Passagen über weite Strecken kein wie auch immer verstandener Gott vor.
In anderen Texten taucht für Natur auch Gott auf, allmächtig meist wie ein neuartiger Fürst im Bereich seiner Herrschaft werden möchte, formelhaft, wie überhaupt im hohen Mittelalter längst üblich, man darf wohl auch vermuten, gedankenlos. Gott ist öffentlich dabei jene Instanz, mit der man bei der mächtigen Kirche eher Verbündete findet, als mit der "Natur". Dass die Begriffe im allgemeinen Bereich nach und nach austauschbar werden, geschieht wohl meist gedankenlos, ohne unmittelbar gedankliche Folgen zu bedenken.
Der Sohn der Amme von Richard Löwenherz wird schon etwas früher in 'De natura rerum' über dessen Hof schreiben: Welche Feinde könnten einem Königreich widerstehen, das fähig ist, über die Wissenschaft zu triumphieren? Welche bösartigen Gegner würden sich nicht der subtilen Intelligenz derer ergeben, die der Wahrheit nachgejagt haben, die im Herzen der Natur selbst versteckt ist? (in Löwenherz, S.119) Der Wahrheit nähert man sich ganz ungeniert nicht mehr mit den Mitteln der Theologie, sondern der "Wissenschaft", die sie in der "Natur" aufspürt. Natur ist dabei nichts anderes mehr als ein Synonym für Welt, das Diesseits, eine dem Philosophieren entnommene, recht sinnentleerte Denkfigur.
Geschichte
Mit Johannes von Salisbury spätestens wird die Nutzanwendung der neuen Wissenschaftlichkeit für die praktische Ausübung von Herrschaft angemahnt. Bildung taucht als Wort in der neuen Bedeutung erst im 18. Jahrhundert in deutschen Landen auf, nachdem es als Wortschöpfung Meister Eckharts schon in frommer Bedeutung erscheint und dann wieder in der neuzeitlichen Pädagogik. Aber in der Sache entwickelt er sich im 12. Jahrhundert als Summe aus Belesenheit, Kenntnissen und Persönlichkeitsbildung vor jedem später so aufgefassten Humanismus bzw. der sogenannten Renaissance. Neben die Scholastik tritt so eine kleine "gebildete" Welt, die der Scholastik entwächst und sich mit der praktischen Nutzanwendung des Erlernten beschäftigt. Gelegentlich werden solche Leute, die im Dienst der Mächtigen dann "mitten im Leben stehen" und sich vor allem in Briefen über die Anwendung von Erkanntem äußern, heute als Humanisten bezeichnet (z.B. Rexroth, S.268ff). An die Stelle der reinen Anhäufung von Erkenntnis-Technik und Wissen treten Aspekte des Ethischen und Ästhetischen (ars dictaminis).
Zugleich beginnt mit der Professionalisierung des Magisteriums die Spezialisierung mit ihrem Spezialwissen, die Fachterminologien entwickelt und sich so einem breiteren Verständnis entzieht. Spezialisierung führt so vor allem die Theologie in die klerikale Isolation. Wenn dann der Trend zu immer neuen Reformationen einsetzt, die am Ende nicht mehr alle militärisch vernichtet werden können, wird es nötig, die Inhalte massiv zu banalisieren, um noch eine größere Anzahl von Menschen zu erreichen.
Ein wesentlicher Bereich des "humanistischen" Zuges der Zeit wird die Geschichtsschreibung, überhaupt die Bedeutung von Geschichte. Hugo von St.Victor macht (zum Beispiel für Otto von Freising) deutlich, das Geschichte als Heilsgeschichte zu einer neuen Form der Geschichtsschreibung führen kann, wenn in ihr vernunftgemäße Strukturen und Abfolgen aufgespürt werden.
Was geschichtliche Bedingtheit ist, die durch logisches Denken erfasst werden kann, zeigt Bernold von Konstanz schon gegen Ende des 11. Jahrhunderts auf:
Es darf uns nicht verdrießen, nicht bloß die Exzerpte aus den kanonischen Satzungen, sondern ihre vollständigen Texte genau zu prüfen und miteinander zu vergleichen. (...) die Unterschiedlichkeit der Statuten wird keineswegs absurd oder konträr erscheinen, wenn man findet, dass sie der Unterschiedlichkeit der Entstehungszeiten, -orte und der Personen entspricht. (in: Dinzelbacher, S.113)
Otto von Freising selbst versucht in zwei großen Werken, einmal einer Menschheitsgeschichte, und dann im Tatenbericht Kaiser Friedrichs I., eine gelehrte mit einer christlichen Weltsicht zusammen zu bringen. Dabei führt er die noch immer für ihn und andere aktuelle Vorstellung davon, sich in der Endzeit der Menschheitsgeschichte vor der Wiederkunft des Erlösers zu befinden, zusammen mit der eher philosophischen von der Unbeständigkeit alles Irdischen im Gegensatz zur Ewigkeit Gottes.
Anders als bei Widukind von Corvey oder noch bei Thietmar von Merseburg wird die Vergangenheit auf ihre Sinnhaftigkeit hin untersucht. Sie wird stärker auf eine Zukunft hin zielgerichtet, die Erlösung der Welt von sich selbst, was im entfalteteren Kapitalismus dann zu einem säkularen Fortschrittsgedanken führen wird. Gegen konservative Kleriker taucht der Gedanke auf, dass es der Menschheit möglich sei, immer mehr Wissen zu erlangen. Und bei Anselm von Havelberg kommt daneben die Vorstellung auf, dass der Heilige Geist die Menschheit immer größerer Vollendung entgegenführen könne.
In Otto von Freisings Historia der zwei civitates entfaltet sich das Elend der Menschen in ihren Konflikten. Der zentrale Gegensatz ist der zwischen den in Gottes Gnade Aufgenommenen und den ewig Verdammten. Aber es gibt auch weniger religiöses Konfliktpotential:
Müssen wir doch mit ansehen, wie die Kleinen von den Großen, die Schwachen von den Starken verschlungen werden und wie diese sich schließlich, wenn sie keine andere Beute mehr finden, gegenseitig zerfleischen, heißt es im Prolog der Historia. Es ist seine Absicht, die leidvollen Nöte alles Vergänglichen darzustellen (…) um an den Kriegen und den mannigfachen Wechselfällen das Elend alles Vergänglichen zu zeigen. (2,32)
In dieser Weltchronik wird Sinnhaftigkeit von Geschichte andererseits in der deutschen Version von der Vorstellung einer translatio imperii deutlich: Herrschaft geht vom (christlichen) Rom auf Byzanz über, dann mit Chlodwig auf die Franken, die mit Karl ("dem Großen") dann auch den Kaisertitel erringen, womit er 69. Herrscher seit Augustus wird. Parallel dazu werden Franzosen ihre Version entwickeln, die dann spätestens um 1200 beginnt, immer erfolgreicher verwirklicht zu werden.
Ius, Natur, Medizin, Geschichte waren keine formalen Teile der artes-Schulung gewesen, und für die neuen Philosophen sind sie höchstens als Randphänomene in ihr Philosophieren ein- und untergeordnet. Indem sich aus den Themen bei mehr Menschen scientia entwickelt, also vernunftgemäß verstehendes Wissen, werden Kenntnisse in diesen Bereichen wichtiger, was zur Spezialisierung führt. Daraus entsteht in der Neuzeit auch in der deutschen Sprache ein Begriff von "Wissenschaft", der mehr als bloße Anhäufung von Kenntnis bedeutet.