INTELLEKTUALITÄT 1 (11.Jh.-1250)

 

 

Ein Versuch: Vom Verstehen, Wissen, Glauben, dem Denken und vom Unwesen des Geistes

Auf dem Weg in die Gelehrsamkeit: Schola 

Vernunft und Glaube (Vom Unheil der Vernunft)

Logik und Dialektik bei Abaelard

Der Umweg über den Islam und das Judentum

Intellektualität (Die deutschen Lande)

Wissenschaft: Ius

Wandlungen des Naturbegriffs (Medizin / Eigentlichkeit / Idylle)

Geschichte

 

Sprache ist die Weiterentwicklung von Formen des Ausdrucks und der Kommunikation bei den übrigen Tieren. Sie erweitert das Machtpotential des Einzelnen wie der Gattung Mensch parallel zu dem, was wir gemeinhin heute als Technik fassen. Beide zusammen bringen seine Überlegenheit über alle Mit-Lebewesen hervor, deren katastrophale Ergebnisse für den Lebensraum Erde längst absehbar sind. Sprache ist dabei Teil einer verheerenden Erfolgsgeschichte, an der zwei Dinge heute unumkehrbar erscheinen: Die massive Überbevölkerung mit einer Art von Lebewesen, deren steigende Ansprüche die immer rabiatere und zudem längst nicht mehr reparable Ausplünderung des Planeten immer stärker forcieren, und die Bereitstellung eines ausgeklügelten Instrumentariums zur schlagartigen Vernichtung alles komplexeren Lebens zumindest, das jederzeit das Ende des Lebensraums Erde herbeiführen kann.

 

Sprache setzte die Herausbildung eines komplexen Sprechapparates und zugleich eines damit verbundenen Teils des Gehirns voraus. Zweierlei wurde damit erreicht: Vorgänge im Gehirn werden in der Form bewusst, dass sie als Text wahrgenommen werden können, und der Horizont der Mitteilungen an Artgenossen nimmt zu. Menschen gewinnen dadurch an Macht gegenüber allen anderen Lebewesen und gegeneinander.

 

Mit der altgriechischen Philosophie setzt dann neben dem Zusammenspinnen von von der Erfahrung abstrahierenden Gedankengebäuden auch das Nachdenken über Sprache selbst ein. In der Folge werden die ersten Grammatiken entwickelt, von gramma, dem griechischen Wort für Buchstabe, und im späten römischen Imperium werden sie zum Erlernen des richtigen Gebrauches des Lateinischen im Unterricht eingesetzt, neben Rhetorik und Dialektik. Sprache beschreibend laden sie aber auch zur Reflektion über Sprache ein, was dann im 11. Jahrhundert nach und nach auch Einkehr in das lateinisch-christliche Abendland findet.

 

Schon auf dem Weg zum großen Abaelard wird dabei deutlich, dass Wörter bei unterschiedlichen Menschen durchaus mehr oder weniger unterschiedliche Bedeutungen haben können. Am einfachsten ist es noch mit Namen für einzelne Gegenstände, einen bestimmten Menschen, Berg oder Baum. Schwieriger wird es schon, wenn man von ihnen jeweils abstrahiert, was all diese drei Wörter implizit tun. Sie verallgemeinern bzw. abstrahieren, sehen vom einzelnen Gegenstand ab. Das lässt sich begründen durch Definition, Bestimmung, und es ist bekannt, dass die meisten Menschen beim Spracherwerb diese Definitionen nur mangelhaft oder gar nicht nachvollziehen, Sprache besteht zunächst weithin auf unreflektierter Übernahme.

 

Noch schwieriger wird es bei der Benennung von Tätigkeiten bzw. Vorgängen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten in einem Wort zusammenfassen können, wie arbeiten, denken, herrschen, singen, lieben. Die Abstraktion vom einzelnen Vorgang schafft Namen für sie, die vergessen lassen, wie vielfältig das sein kann, was sich dahinter verbirgt. Nicht zuletzt wandeln sich Bedeutungen von Worten unentwegt. Manchmal, wie bei der Liebe oder der Herrschaft vergisst man geradezu die Vielfalt an Aktivität, die sich dahinter verbirgt, und das kann sogar beabsichtigt sein.

 

Ganz schwierig wird es, wenn Eigenschaften, die ja einen Gegenstand benötigen, an den sie geheftet sind, von ihm gelöst werden. "Gibt" es überhaupt das Richtige, das Gute, die Schwere, das Runde oder das Helle, gar die Helligkeit oder Wahrheit jenseits von Gegenständen, die damit ausgezeichnet sind? Das deutsche "Geben" ist dabei noch einmal eine Besonderheit mit seinem neutralen "es" als Gebendem.  

 

Das alltägliche Gespräch verweigert sich dem Nachdenken über das, was es gerade tut, hat es doch oft ohnehin eher psychisch erklärliche Antriebe als irgendwelche anderen. Und das Philosophieren und die Wissenschaft(en), um die es bald auch gehen soll? Die ersteren nehmen Grundbegriffe einfach als selbstverständlich an, wie zum Beispiel im Mittelalter die Worte "Gott", "Wahrheit" oder "Natur", die letzteren, immer stärker an technisches Interesse gebunden, definieren gerade so, dass es in die Textanordnung hineinpasst. 

 

Hier soll das als Vorwort versuchsweise angedeutet werden, was den Worten/Wörtern ursprünglich zukam, als sie vor aller Zivilisation in den jeweiligen Kulturen entwickelt wurden. Alle Wörter nämlich hatten ursprünglich eine der menschlichen Erfahrung unmittelbar entstammende Bedeutung, bevor sich beispielsweise die Propaganda institutionalisierter Macht darüber stülpte

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Wenn man sich mit einem späten Abschnitt der Geschichte der Menschen beschäftigt, wie dem des entstehenden Kapitalismus, muss man sich entscheiden, ob man die Sprache der Mächtigen annehmen möchte, die ihre Sicht der Dinge transportiert, oder eine, die bei den Untertanen manchmal noch eine Weile überlebte und die in den Worten bei genauerem Hinsehen noch enthalten ist, auch wenn heute alles daran gesetzt wird, das zu vergessen.

 

 

Ein Versuch: Vom Verstehen, Wissen, Glauben, dem Denken und vom Unwesen des Geistes

 

Als ich anfing, aus meinen Studien einen Textzusammenhang zu machen, hatte ich die Hoffnung, dass das Gießen von Text in eine konzise Form eine heilsame Disziplin herbeiführen würde. Ich wollte ein wenig Welt verstehen, das heißt, die Menschen darin, und war in meinem bisherigen Leben doch nicht weiter gekommen, als zu entdecken, daß jeder Ansatz von Verständnis durch das Kennenlernen von Neuem wieder zerstört werden kann: Alles ist verschieden und nichts ist gleich, - außer in der Mathematik mit ihren Postulaten.

 

Texte, die Menschen verstehen wollen und sollen, sind allerdings in Gefahr, sich mathematischen Formeln anzunähern, um eine gewisse Allgemeingültigkeit vorzugeben. So wie die Mathematik ihre Gebäude auf Axiomen aufbaut, besteht eben auch beim Umgang mit Menschen (die in der Mathematik nur als Zahlen vorkommen) die Möglichkeit, letzte oder erste Wahrheiten zugrunde zu legen und auf ihnen aufbauend oder zu ihnen hinführend zu systematisieren. Wir sind gezwungen zu verstehen, um nicht irre zu werden, dürfen aber im Zeitalter der Wissenschaftsgläubigkeit, “Wissenschaftsreligion” nennt das Freud, keine Glaubenssätze zugrunde legen; also neigen wir dazu sie zu ignorieren oder zu verleugnen, - sie, ohne die wir keine Texte über uns Menschen zustande bekommen. Dabei ist das Nachdenken über das, was wir da tun, gar nicht so schwierig; viele halten es nur für unangenehm und lästig., 

 

Verstehen zum Beispiel ist offensichtlich etwas, was nach dem Stehen kommt. Der Stand macht uns körperlich aufrecht, Kopf oben, Füße unten, Verdauung und Fortpflanzung im unteren Mittel. Nur wenn wir stehen, können wir etwas mit Händen greifen, begreifen, comprehendere. Die romanischen Sprachen setzen ohnehin Verstehen als Begreifen. Das Greifen kommt offensichtlich vor dem Begreifen, welches bei Schreibtischtätern im Sitzen, aber nicht ohne die Fähigkeit zum Stehen veranstaltet wird; im Mittelalter schrieb (und las) man noch oft aus dem Stand, am Stehpult.

 

Im Begreifen wird besser als beim Verstehen deutlich, daß wir es zunächst mit einem körperlichen Vorgang zu tun haben: Beim Greifen (alternativ dem Fassen des Erfassens) führt der Tastsinn zur Wahrnehmung, deren letzte Instanz im Hirn ist, welches den Text produziert: Von der sinnlichen Erfahrung bis zum Text besteht ein unzerreißbarer Zusammenhang, wir vermeinen, Wahrheit produziert zu haben. Leider ist diese (“nur”) höchstpersönlich, wir sind sinnlich nur recht ähnlich, aber nicht gleich ausgestattet, und auch die Qualität und Struktur unserer Hirne unterscheidet uns voneinander.

 

Zwischen den Gegenständen unserer Erfahrung und den Texten, mit denen wir sie verarbeiten, besteht aber auch eine unaufhebbare Trennungslinie, die die lateinische Grammatik zwischen Subjekt und Objekt definiert. Skepsis oder Einsicht in mangelhafte Erkenntnis ist also angebracht. Diese verstärkt sich, wenn wir uns germanischer Sprachlichkeit bedienen (und oft auch, wenn wir aufs alte Griechisch verfallen); während den Romanen die ratio, raison, razon Hoffnung macht, den res einer Realität näher zu kommen, eine beliebte Illusion seitdem, ist das angelsächsische Unterstehen (understanding) und das deutsche Verstehen zunächst doch eher mysteriös.

 

Einen festen Stand haben will von klein auf erst einmal gelernt werden und erfordert Kraft, aber stehen muß man als Mensch können. Ver- ist ein Präfix, das dazu neigt, eine gründliche Tätigkeit zu beschreiben, bei der am Schluß fast entropisch kaum etwas übrig bleibt: verbrauchen, vergehen, vergeuden, verderben; noch zerstörerischer mutet nur die Vorsilbe zer- an. Das Verstehen sollte also eine so gründliche Tätigkeit sein, daß kein Rest beim Prozeß einer Transformation als Veränderung (die jede Tätigkeit ist) mehr übrigbleibt, - eine substantielle Verwandlung, und dazu eine unabweisbar nötige, denn ohne Verstand und Verständnis sind wir zumindest extrem hilfsbedürftig.

 

Der Verstand ist nicht etwas, wie ein Haus, ein Baum oder ein Gehirn, auch wenn die substantivische Form zu dieser Annahme verleiten mag. Er existiert vielmehr als Vorgang, eine Tätigkeit, die wir sprachlich zum Gegenstand gemacht haben, dem wir dann auch einen Namen geben, - wir haben die Tätigkeit nominalisiert.

 

Bei dieser Tätigkeit handelt es sich um eine schwer verständliche, die des Verstehens nämlich, eine Nominalisierung, die nicht ganz so fehlleitet, aber leichthin doch immer noch sehr täuscht. Überhaupt muss man sich bewusst machen, dass Nominalisierungen von Tätigkeiten wie von Eigenschaften (Selbst)Täuschungsmanöver sind: Hinter die Liebe und hinter dem Kapital verstecken wir gerne Vorgänge, in die wir Tätigkeiten verkleiden, und wenn wir das Gute oder das Wahre formulieren, ignorieren wir ungeniert, dass Eigenschaften immer an Gegenstände gebunden sind. Sprache hat eben auch einen psychischen Urgrund, und der hat mit Täuschung und Selbst-Täuschung zu tun. 

 

Als Nietzsche von der Lüge im außermoralischen Sinne schrieb, näherte er sich (in der 'Genalogie der Moral') diesem Phänomen, dass das Bedrohliche von Erkenntnis durch Sprache gemildert werden muss: Indem dabei jeder sich die ihm gemäße, überlebens-notwendige Welt schafft, schaffen wir uns gemeinsam in Sprache eine jenseits aller Erkenntnismöglichkeit für uns erträgliche. Wenn es hier um die Entstehung des Kapitalismus geht, ist in einer Zivilisation inzwischen Sprache zudem zur Machtfrage geworden: Sie ist zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert längst mit physischer Gewalt der Machthaber über die Menschen hinweg gezogen. 

 

Das Verstehen ist eine recht deutsche, d.h. deutschsprachige Angelegenheit, aber das Stehen dabei ist germanisches Gemeingut. Die Engländer zwischenstehen zum Beispiel: to understand. (Im Altenglischen gab es noch forstandan). Under meinte eben bei den Angelsachsen wie den übrigen Germanen nicht nur „unter“, sondern auch „zwischen“. Mitten drin sein ist also ihre Vorstellung von „verstehen“.

 

Sinngemäß stellten sie sich verstehen und kennenlernen als ziemlich identisch vor, jedenfalls ganz anders als in unserer Vorstellung vom Verstand heute, der (leider) weithin auf wirkliche Kenntnis verzichtet. Im Indogermanischen lassen sich dabei noch zwei Wörter erschließen, die im Lateinischen als infra (unter) und inter (zwischen) unterschieden sind. Im Deutschen ist „unter“ als „zwischen“ auch noch erhalten: in „unterdessen“ und in „unter anderem“ zum Beispiel.

 

Dafür kennen die Engländer nicht die Vorstellung vom Verstand, sondern nur die des Verstehens, des understanding. Ansonsten sind sie gute Lateiner und benutzen das oft attributiv verstärkte sense (sensus) für Verstand, was ihrem sensualistisch begründeten Empirismus sehr zugute kommen wird: Der Verstand ver-arbeitet das sinnlich Aufgenommene und möglichst sonst nichts. Im 18. Jahrhundert kulminiert das im good sense, wie bei Jane Austen dann zum Beispiel, bei den Gemeineren eher im common sense, dem nämlich, was die Engländer manchmal den Deutschen voraus hatten, denen die Erfahrung nur allzu oft nicht geholfen hat, weswegen sie auf den Hegel und den Marx gekommen sind und Kant es schon vorher nicht bei seiner ersten Kritik belassen hat.

 

Die lateinisch verwurzelten Franzosen spalten das Verstehen - wie so manches andere auch - in zwei Vorstellungen auf, das entendre (verstehen als richtig-hören) und das comprendre (verstehen als be-greifen). Das lateinische com-prehendere, das Begreifen als eine Form des Ergreifens, ist eine vom Verstehen völlig verschiedene Angelegenheit, es ist englisch comprehensive, um-fassend, und weil wir nur zwei Hände haben, naturgemäß ziemlich beschränkt: Die „Beschränkung“ ziemt sich hier und ist noch nicht diminutiv, verkleinernd als peiorativ, abwertend gemeint. Die Komprehension als mit (den) Händen greifen ist dabei allzu oft eine fragwürdige Annektion (der nexus ist die Ver-Knüpfung). Das Be-Greifen ist eine manuelle Form der Be-Rührung, das Subjekt tritt mit dem Objekt tastend in Kontakt, verwandelt es aber dabei nicht, eignet es sich nicht an, es bleibt bestehen, hat Bestand, Kon-stanz (con-stare).

 

Das Begreifen, wortwörtlich genommen, läßt den Gegenstand intakt, nachdem er taktil in Angriff genommen wurde: Die Greiforgane werden wieder zurückgezogen. Das Realitätsprinzip der lateinischen Kultur beläßt die Dinge nach der (subjektiven) Wahrnehmung und der Textproduktion objektiv. Das Verstehen transformiert die Gegenstände in einem Prozeß der Aneignung in Anteile des Subjekts: Etwas nicht begreifen (wollen) kann der freudige Verzicht auf eine Tätigkeit sein, etwas nicht verstehen tendiert dazu, auf einen aggressiven Akt zurückgeführt zu werden, der seinerseits Aggression hervorruft: Es ist oft ein gravierendes Verdikt, wenn man für etwas kein Verständnis hat, und kann bis zum Tod des Gegenübers führen. Für etwas keinen Begriff haben hingegen wird gerne durch die blinde Übernahme eines solchen ohne Vorgang des Begreifens ersetzt. Es gibt also verschiedene Auf-Fassungen von dem, was Deutsche verstehen nennen.

 

Dieses Verständnis meint ein Einverständnis, das fast synonym mit Zustimmung ist. Der andere Akt des Verstehens beruht auf vielen im unübersehbaren Klicken unserer Synapsen kaum wahrnehmbaren Urteilen, dieser aber auf einem einzigen, der Übereinstimmung signalisiert, einen wohltuenden Zustand unter Ausschüttung der richtigen Botenstoffe im Gehirn. Wenn ich “kein Verständnis habe”, drücke ich mit dieser Botschaft Ablehnung aus, wenn ich aber etwas nicht verstehe, widersetzt sich mir der Gegenstand meiner Betrachtung. Das ist so unangenehm, dass wir dazu neigen, es zu ignorieren und Verstehen vorzutäuschen.

 

Wenn wir meinen, etwas verstanden zu haben, besitzen wir einen (neuen) Text, mit dem wir einverstanden sind: Der Text stimmt. Diese Übereinstimmung entsteht durch die gelungene Aneignung eines Gegenstandes, durch jenen Vorgang des Verstehens, der aus etwas Fremdem etwas Eigenes macht. Etwas stimmt, wenn es sich in Übereinstimmung mit allem anderen befindet. Die Stimmung ist die Tonlage der Harmonie, das Fremde ist dissonant. Verstehen ist also zugleich produktiv und illusorisch.

 

Der Prozeß des Verstehens führt zu einer Veränderung des Menschen, wenn das Fremde, Andere in der Aneignung nicht allzu sehr verloren geht, Einfluß ausübt. Widersetzt sich der Wahrnehmende dem Anderen in der Aneignung, so formt er dies so um, daß es leichter verdaulich wird, die Metaphern der Wahrnehmung entstammen alle dem Reich elementarer Körperlichkeit. Wer sich seiner lebendigen Leiblichkeit gewiß und sicher ist und spürt, dass sie seinen Verstand auf eine heilsame Weise regiert, wird das Andere als äußerlich begreifen und sich weniger bedroht fühlen. Das Andere, das Fremde, das Unverstandene aushalten bedingt Stärke, die auch aber nicht nur Muskelkraft beinhaltet, sondern jene Kraft, “die von innen kommt”, je nach Belieben aus der Seele, der Psyche, dem Gemüt.

 

Verstehen müssen wir alle und immer wieder, und keiner kann sich zurücklehnen und die Augen verschließen davor, daß das Außen für das Innen eine stete Herausforderung ist: Wir produzieren ständig Text und besonders wenn wir die Augen ver-schließen zusätzlich Bilder. Eine angenehme und eher schlichte Art des Umgangs ist es, vieles für selbstverständlich zu halten; von selbst versteht sich in der Regel das, was uns keine Anstrengung des Verstehens wert ist. Etwas ist ein Baum, wir definieren, ohne uns die Kriterien bewußt zu machen. Wir spüren spontan, daß etwas gut oder schlecht oder jemand gar böse ist, ohne uns immer davon Rechenschaft abzulegen. Das zugehörige Stichwort heißt “Tradition” oder “Gewohnheit” oder “Vorurteil”, praeiudicium. In der Zeit des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts werden daraus die Schimpfwörter, mit denen die Fortschrittlichen die Reaktionäre, die Abergläubischen, die nicht Illuminierten bedenken. Aber fast alle “alltäglichen” Wahrnehmungen und Urteile sind spontan, unwillkürlich und präjudiziert. Die richtige Stimmung des Wahrgenommenen resultiert im angenehmen Gefühl, so wie Zeiten ohne viel Verstehen willkommene Entspannung sind; entspannend ist das Selbstverständliche, das gerne auch mit dem scheinbar unauffälligen Adjektiv natürlich versehen wird. Das meint, es sei "einfach" da...

 

Wir haben also keinen Verstand als Besitz und wir besitzen auch keine Vernunft, sondern nur mehr oder weniger die Anlage dazu. In ersterem Wort ist eine Flut von Vorgängen enthalten, das zweite benennt eine Instanz, die nämlich, die unser Denken formatiert (formuliert), und zwar nicht in Begrifflichkeiten, wie der eine oder andere gerne hofft, sondern in Zusammenhänge.

 

Verstehen tun wir ständig, wenn auch höchst unterschiedlich, immer dabei uns jeweils gemäß. Wir verstehen, sobald wir stehen und sprechen können, wenn auch manchmal Bahnhof. Das war übrigens das, was die Soldaten im ersten Weltkrieg als einziges verstehen wollten, sie wollten nämlich in den Zug nach Hause. Aber jenes Verstehen ist nur ein misslungener Vorgang des Hörens, bei dem er in den Konnex oberflächlicher oder sich hochschiebender Teile der memoria, der Erinnerung, mehr oder minder erfolglos eingeht.

 

Das, was wir Vernunft nennen, ist, um Kant einmal Recht zu geben, hingegen als Form angeboren, wir müssen es aber wie das Stehen, Gehen, und Essen ein-üben.

 

Das Repertoire der Vernunft ist, wie schon von Aristoteles schön dargelegt, recht klein, wenn auch lebenswichtig. Es formatiert uns so, daß wir lebensfähig sind, und wir üben sie vor allem in der Betrachtung des anzueignenden Anderen ein, dem, woraus unsere große Welt in unseren Augen besteht, zu der aber auch die Erfahrung mit uns selbst und unseren Nächsten gehört.

 

Die Vernunft ist es, mit der wir Sätze formulieren, lateinisch Sentenzen, Urteile also. Das einfachste Urteil setzt einen Gegenstand und ein Wort in Beziehung zueinander. In der Subjekt-Objekt-Grammatik sind alle Aussagen solche Relationen. Wenn das Kind auf einen Baum zeigt und „Baum“ sagt, stellt es eine Beziehung zwischen sich und dem Baum her, als Urteil bzw. Satz heißt das: „Das ist ein Baum.“ Urteile sind soweit immer diskutabel. Bei obigem kindlichen Satz brauchen wir für den Diskurs eine Definition: was „ist“ ein Baum für uns?

 

Definieren kommt von der lateinischen Grenze (finis) und führt dann zu definire, abgrenzen. Was wird da abgegrenzt: Ein Gegenstand vom anderen, und zwar dadurch, dass er einen Namen erhält, der ihn von jedem anderen Gegenstand wie Namen abgrenzt.

 

Bekanntlich bringt uns die Vernunft alleine nicht gut durchs Leben. Wir brauchen zwar Sätze wie den: „Der Baum ist umgefallen, weil er alt ist“, in ihm gewinnt unsere Welt ein kausales Format. „Ich arbeite, um zu leben“ kleidet dieselbe Welt in ein finales Gewand. Aber unsere meisten alltäglichen Urteile, in denen Sätze zunächst eine eher kleine Welt zusammensetzen, sind zunächst bar jeder Vernunft, wie der Satz: „Es ist schlecht (oder gut), dass der Baum umgefallen ist“. Erst die Begründung macht den Satz diskutabel, also „der Vernunft“ zugänglich.

 

Ein Satz wie „Ich möchte ein Auto haben“ ist schließlich in dieser Form gar nicht diskutabel, denn das Mögen, oder das Wollen, das Meinen und das Lieben sind allesamt nicht rundherum vernünftig, wenn auch zutiefst menschlich. Auch solche Sätze sind Urteile, aber keine, die „ich“ fälle, sondern solche, die mir vorgegeben werden wie der Hunger und der Durst. Wir sind „zu ihnen verurteilt“, solange wir dabei nicht unterscheiden können, zum Beispiel zwischen dem Notwendigen und dem Luxus, dem Sinnvollen und dem Unsinnigen. Wenn „ich finde, dass dies Bild schön ist“, landen wir am Ende unmittelbar bei dem lateinischen Spruch, dass über die gustibus nicht disputandem ist.

 

Dennoch kann man sich über solche Sätze verständigen (Ich liebe die Therese, ich mag Mozartmusik, ich hätte gerne eine schlankere Figur). Dazu muß man sie transponieren in eine Tonart, die der Vernunft zugänglich ist. Manchmal ist das sogar nötig, nie allerdings ist es angenehm. Die Vernunft wie das Geld und die Mathematik schert alles über einen Kamm, sie ist ein großer Gleichmacher.

 

„Ich liebe Therese / Mozart, weil…“ ist ein in letzter Instanz zerstörerischer Text, während der Satz, „Das Auto ist viel zu teuer für dich“ immerhin noch enttäuschend ist, weil einengend, das Mögen mit dem anstrengenden Korsett der Bescheidenheit unangenehm verschlankend. Die Liebe am Objekt begründen zerstört den Urgrund der Liebe, der im Schenken von Liebe gegründet ist und im Beschenktwerden mit derselben, - das eben, was glückliche Kinder schon im frühesten Alter kennen-lernen, durch Kennen lernen sollten: das Beschenktwerden mit Liebe durch die Eltern nämlich, wodurch das Leben zu einem Geschenk wird, und nur so.

 

Dem emotiven Wollen mit dem starren Knochengerüst der Vernunft entgegentreten führt in schönstem Neudeutsch zu der Notwendigkeit, Frustrationsbewältigung zu betreiben, (die Not der Vereitelung muß gewendet werden, frustrare ist vereiteln). Das ist die eine Seite dessen, was menschliche Kulturleistung durch die Zeiten war. Die andere Seite ist die, das Knochengerüst mit schönen Gewändern zu schmücken, uns (Fleisch)Ersatz als Entschädigung zu ver-schaffen, der Mühe der Arbeitstage genügend ausgelassene Festtage entgegen zu setzen, der schnöden Notwendigkeit des Ab-Wendens der Not im Tanz und Gesang, im Rausch von Minuten einen Ausgleich zu geben, der das Leben für manche erst hinreichend lebenswert macht. Wo das gelingt, hatte jene Einheit ihren Platz, die wir längst in Religion und Kunst abgespalten und weithin aufgegeben haben. Der Rausch, wo nicht in solche (Fest)Kultur eingefügt, ist dann keine kulturelle Verarbeitung, sondern nur noch Flucht.

 

Gelegentlich wird seit der Aufklärung das Begreifen als Tätigkeit der Vernunft gesehen, im Unterschied zum Verstehen, welches eben dem Verstand verbunden ist. Seit dem 19. Jahrhundert wird zum Begreifen gesagt, es bringe etwas auf den Begriff. Lessing war einer der ersten, der einen, genauer hier keinen, Begriff von etwas hatte: man kann sagen, der Gegenstand einer transcendentalen Idee sei etwas, wovon man keinen Begrif hat, obgleich diese Idee nothwendig von der Vernunft erzeugt worden. (Zitiert nach dem Grimmschen Wörterbuch). Eine Vernunftidee kann also nicht begriffen werden (mit Händen zum Beispiel). Ich möchte ergänzen, sie kann auch nicht anders als psychologisch verstanden werden. Wenn Goethe an die Frau von Stein schreibt, er zeichne etwas für sie zum leichteren Begrif des Unbegreiflichen (dieselbe Quelle), dann will er es gewiß nicht hegelianisch auf den Begriff bringen, sondern ganz im Gegenteil veranschaulichen, heute könnten wir sagen, vom (problematischen) Begriff zur Anschauung bringen.

 

Tatsächlich neigen dann philosophisch eingefärbte (idealistische) Leute im 19. Jahrhundert dazu, das zum Begriff zu machen, was sich jeder Anschauung widersetzt, in der Folge von Lessings Zitat und insbesondere von Kant zum Beispiel: Transzendenz und Idee sind beide unanschaulich, der Geist ebenso, außer im englischen Schloss als Gespenst.

 

Wörter wie Verstand oder Vernunft werden in unseren Schulen heute und schon seit längerem in der Regel nicht erklärt. Sie werden für selbstverständlich genommen, d.h. sie bleiben hochgradig unklar, worauf man aber nicht achten soll: Sie sind Material für Geschwätz. Die sprachliche Wurzel der Vernunft ist das Vernehmen, und soweit ist die Vernunft vom Verstehen nur undeutlich unterschieden. In Grimms Lexikon stand aber schon folgendes: die bedeutung ist ursprünglich: das richtige auffassen, das aufnehmen, aber schon im ältesten deutsch ist es das vermögen womit wir die aufgenommenen gegenstände in uns verarbeiten, die überlegung. ahd. ist schon die rein geistige bedeutung die einzig herrschende, ...

 

Also: Der Verstand versteht, die Vernunft überlegt und vernimmt nicht nur, das Stehen und das Nehmen bedienen sich beide des Präfixes -ver. Der Unterschied wird deutlicher im ebenfalls im Grimm zitierten ‚Engelhard’ des Konrad von Würzburg, wo es heißt: ich was in minem herzen / verdaht uf iuwer minne also / daz ich von rechter minne do / vernunst und sinne gar verlos.

 

Hier wird die Vernunft von den Sinnen unterschieden. Die Sinne aber sind es, durch die etwas zum Verstand gelangt, dem Sinn in der Einzahl, sensus, englisch sense, und das Sinnen führt zum Verstehen, wenn es kein Grübeln ist. Da der Sinn aber zugleich die Richtung meint, sind Verstand und Vernunft miteinander verbunden, denn die Vernunft gibt dem Verstand seine Richtung, anders gesagt, seine Ordnung. Schon vor Kant wurde dabei der Richtungs- oder Ordnungsfaktor der Vernunft des Menschen mit dem der Natur gleichgesetzt, sind wir doch Teil der Natur. Bei Luther heißt das: begert nichts weiters, dann die vernunft der natur begert.

 

Eine weitere Doppelung findet sich im ‚Simplicissimus’ des Grimmelshausen: ermahnungen beydes von der gesunden vernunft und seinem gewissen empfand ...Avarus. Vernunft und Gewissen sind hier etwas verschiedenes, zwei Instanzen eines Oberstübchens. Was immer aber genau unter Vernunft verstanden wird, bleibt unklar und soll es wohl auch. Denn eine gesunde Vernunft von einer ungesunden zu unterscheiden, ist wenig plausibel, es sei denn, die Gesundheit der Vernunft ist moralisch gemeint, oder aber hier ist der englische common sense gemeint, der „gesunde Menschenverstand“. Dieser aber ist bekanntlich ein undurchdringliches Gemisch aus Erfahrung, Vernunft und flagranter, trotziger Dummheit. Wir sehen, die frühe Neuzeit nutzt das Wort Vernunft in seiner ganzen umgangssprachlichen Unklarheit, so, wie es an Schulen noch heute vorkommt, nicht zuletzt in der drohenden Version: „Nun werd’ doch endlich mal vernünftig“, oder: „nimm doch Vernunft an“, was beides zu nichts anderem als der Einsicht in die Notwendigkeit der Unterwerfung führen soll. Das aber klingt nicht sehr schön in der demokratischen Paedagogisiererei.

 

Erst im 18. Jahrhundert ebnet der Weg in die Aufklärung für die wenigen, die daran teilhaben, die Chance auf mehr Klarheit: In den ‚vernünftige Gedanken von Gott’ formuliert Christian Wolff: je mehr man den zusammenhang der wahrheiten einsiehet je mehr hat man vernunft ... wo man gar nicht einsiehet, wie die dinge zusammenhängen, da ist gar keine vernunft. (Alles auch weiterhin aus Grimms Wörterbuch). Solche Zusammenhänge sind zeitlich, räumlich, kausal oder final.

 

Also: Die Vernunft setzt im Verstand in Beziehungen. Diese sind abstrakt, sie ordnen das zu Verstehende nach menschlichem Maß, dem Maß seiner Abstraktionsfähigkeit. Diese letztere Erkenntnis als theoretische ist das Verdienst der englischen Aufklärung und von Kant, bei dem es dann heißt:

alle unsere erkenntnisz hebt von den sinnen an, geht von da zum verstande und endigt bey der vernunft, über welche nichts höheres in uns angetroffen wird, den stoff der anschauung zu bearbeiten und unter die höchste einheit des denkens zu bringen. Und: vernunft ist das vermögen, die verknüpfung des allgemeinen mit dem besonderen einzusehen. Und: verstand ist die erkenntnisz des allgemeinen; urtheilskraft die anwendung des allgemeinen auf das besondere; vernunft ist das vermögen, die verknüpfung des allgemeinen mit dem besonderen einzusehen. (Alles zitiert nach Grimm)

 

Unübersehbar haben wir es hier mit einer problematischen Hierarchie zu tun, mit der Vernunft als absolutem Fürsten im Oberstübchen, mit der aufgeklärten Despotie par excellence. Das Problem ist nicht die Definition selbst, sondern die im Hintergrund drohende implizite Einladung, die sinnliche Wahrnehmung und die Verständigung auszuschalten, die Möglichkeiten der Vernunft beliebig einzusetzen und dabei die eigenen psychischen Störungen und unbewußten Regungen außer Acht zu lassen. Dann wird man wie Zeitgenosse William Godwin darüber spekulieren, daß die Vernunft als „politische Gerechtigkeit“ Krankheit, Tod und überhaupt jegliches Leid abschaffen kann. Dann wird man wie seine kurzzeitige Ehefrau Mary Wollstonecraft darüber spekulieren, daß die Abschaffung von Weiblichkeit und erotischen Reizen im Sinne des aberwitzigen "Feminismus" die Vermeidung von Leiden bedeutet. Dann wird man mit Robespierre die Vernunft als Tugend zum Fallbeil machen, mit Hitler die Logik der Biologie zum höchsten Politikum. Alles das höchst aktuell.

 

Ich habe weiter oben den Unterschied zwischen Verstehen und Begreifen angedeutet. Ich meine, mehr ist (für uns) nicht drin. Das eine ist nicht vernünftiger als das andere und beides erweist sich nur zu oft eben, bald und auch: als unvernünftig

 

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Die Aufrichtigkeit, die kristalline Durchsichtigkeit (des Berlin-Weimarischen Tugendbundes zum Beispiel, die schon zuvor bei Rousseau zwischen Julie und Saint-Preux flirrte), ist Wahrhaftigkeit, jene moderne Illusion, die später auf die spät-mittelalterliche Eigenschaft wahrhaft folgt. Bis zur Wahrheit ist es dann noch ein gutes Stück Weges zurück.

 

Ganz alt ist hingegen die Wahrheit, jene veritas, der am Anfang deutsch noch das -h- fehlt. Das Wahre (ware) ist das, dem man Vertrauen schenken kann, das, was man damals glauben kann, was gewiss intensiver als wissen ist, immerhin kann man ganz fest glauben, aber nur sicher wissen, und das Wissen unterliegt leider dabei immer dem Irrtum, der Glaube eben nie, - weswegen er viel bedrohlicher werden kann als das Wissen und zugleich um so leichter gewechselt. Die Slawen haben das alles immer schon gewusst und haben darum aus derselben Wurzel eine vera gezogen, die wir heute noch mit Glauben übersetzen.

 

Bekanntlich war Jesus als Christus, zu dem er nach seinem Tod gemacht wurde, der Weg, die Wahrheit und das Leben. Er ist das eigentliche Leben, das geistige, jenseitige. Aber was ist die Wahrheit in diesem Fall? Ist es mit Kant das, was man wissen kann oder das, was man glauben muss? (Müssen heißt hier: nicht anders können, wie Kant in den ‚Prolegomena’ darlegt).

 

Der Rabbi Jesus wird so Christus, Messias, und zwar der einzig wahre, - denn es gab damals im Judenland auch falsche Fuffziger. Aber als Wahrheit ist er ohne Zweifel Repräsentant der sich dann langsam herausbildenden Trinität: Vater, Sohn und heiliger Geist, zusammen der wahre Gott eben. Insofern ist er das Wahre oder der Richtige. Ganz früh hätte man gesagt, es sei der rechte Gott (der Juden, der Christen, der Muslime). Mit ihm hat man jeweils recht (bzw. Recht). Mit der Wahrheit hat es also seine Richtigkeit und mit ihr ist man im Recht, bevor die Justiz es einem wegnimmt.

 

Wer dem zum Beispiel christlich vertraut, weiß, was er hat: Glauben nämlich, wenn auch seit Boccaccio und Lessing nicht mehr den einzig wahren, aber immer noch einen ein bisschen wahren … Was machen aber Leute, denen dieser Glaube fehlt, die aber auch hin und wieder glauben (und übrigens auch wieder und wieder mal dieses und mal jenes)? Und: Geht das überhaupt - ein bisschen Wahrheit (nur).

 

Eine schwierige Frage gewiss, besonders wenn man bedenkt, wie verlottert unsere Sprache inzwischen ist. Verlassen wir darum zunächst einmal das „an etwas glauben“ und beschränken uns auf das „etwas glauben“. Wir bemerken gleich, dass es sich vom Meinen in der Intensität unterscheidet: Glauben ist schwächer und stärker als Wissen, Meinen nur schwächer. Meinungen halten meist nicht lange an, denn sie sind von außen beeinflussbar. Richtiges Wissen kann man nicht derart beeinflussen, denn es wird nicht abgekupfert, sondern erworben. Erwerben als Übernehmen kann man nur den Glauben an etwas, aber man kann auch ohne solchen Erwerb einfach etwas glauben.

Etwas glauben ist nämlich einfach, denn es beruht auf einem unbewussten Urteil, und: Urteilen ist dergestelt einfach, solange es nur gläubig ist: Ich glaube nicht, dass du Recht hast... Dabei ist soweit ganz gleich, ob das Urteil richtig ist oder falsch.

 

Wie erwirbt man Wissen? Doch wohl nur über In-Kenntnis-Nahme, über das Erkennen, Kennenlernen, den Prozess der Erfahrung. Dementsprechend wissen wir ohne Raumkapsel nicht, dass die Erde fast rund ist, aber wir können es mit gutem Grund glauben, wenn wir der Vernunft folgen, die richtige Schlüsse zieht. Die Vernunft kann allerdings auch richtige Schlüsse ziehen, denen zufolge die Erde eine Scheibe ist.

Wir können gute Gründe haben, die einsteinische Relativitätstheorie zu glauben oder auch nicht, aber zu wissen gibt es dabei gar nichts: ich glaube, das mir Herr Einstein hier folgen würde. Die ganzen modernen Naturwissenschaften beruhen nicht mehr auf: kennen, sondern auf: urteilen.

 

Kennen muss dabei noch etwas erläutert werden. Ursprünglich meint es „bekannt machen“, noch ursprünglicher die Fähigkeit, etwas zur Kenntnis zu geben In „bekennen“ schimmert das „zur Kenntnis geben“ noch durch. Später wird daraus das Kennen als Voraussetzung für die Bekanntmachung, bevor es dann in der Moderne zum Kennen als Können wird, die Propaganda als Information zu verkaufen. Wer die Propaganda gehört hat, weiß dann, was er oder sie zu wissen hat.

 

Womit wir zum guten Schluss bei der Erkenntnis wären, der sich Kant mit akribischer Hingabe gewidmet hat, wiewohl er keine „Erkenntnistheorie“ schrieb, sondern eine Erkenntniskritik. Theorien sind nämlich nie kritisch, sie unterscheiden nicht, sondern konstruieren. 

 

Die Moderne hat vielleicht nur zweimal den Versuch gemacht, den Glauben an einen Gott der Vernunft plausibel zu machen, beide Male im Bekenntnis zur existentiellen Unvernunft. Im 17. Jahrhundert erklärt der eine der beiden Großen, Blaise Pascal, ein von Augustinus beeinflußter Mathematiker und Naturwissenschaftler, seinen Glauben gemäß seiner logique du coeur als Wagnis einer Wette auf Gott. Sie ist notwendig, denn ohne ihn können wir seiner Ansicht nach nicht auf ein gutes Leben hoffen. Von demselben Mut zur Paradoxie des Glaubens ist der Miguel de Unamuno des zwanzigsten Jahrhunderts, der den Glauben an Gott als den todesverachtenden Sprung ins Ungewisse formuliert. Der Glaube nimmt jene Angst, die durch die Sterblichkeit für jeden konstitutiv ist. Es bleibt allerdings problematisch, das Argument der Vernunft für die Unvernunft einzusetzen. Aber jenseits des Textes geht es schließlich nur um die existentielle Fundierung des eigenen Lebens unter den Bedingungen zunächst fehlender Selbstverständlichkeit, die als persönliches Manko empfunden wird.

 

Nochmal schiebe ich ein wenig Wortgeschichte nach. Vor allem Glauben stand, seit es vordeutsche Texte gibt, die Liebe, die ein lieb machen und lieb werden war. Diese erzeugt das Loben, welches im Schwedischen als lova noch dem englischen love sehr nahe steht: Lieb machen und für lieb halten führt zum Loben. Das Glauben war im Althochdeutschen das gilouben. Darin lässt sich das Loben wahrnehmen. Im altenglischen geliefan, welches später zu believe wird, wird das Glauben als für-lieb-Halten noch sehr deutlich.

 

Ähnlich wie bei den alten Griechen und Römern drückt das Glauben bei den Germanen ein inniges Zutrauen zu den Göttern aus, denen man sich im Kultus freundschaftlich ergeben verbindet.

 

In der christlichen Religion wird dieses persönliche Verhältnis durch die Kirche mediatisiert, vermittelt. Glaube wird zur Akzeptanz einer Institution und ihrer Doktrin und Rituale. Damit wird die Grundlage dafür gelegt, dass Glaube etwas beliebiges, etwas propagiertes, etwas institutionalisiertes und etwas ist, was man zur Not auch wechseln kann. Am Ende des Mittelalters wird das durch die Bildung des Adjektivs „glaubwürdig“ dokumentiert. Der Glaube wird dabei sprachlich zur Gewissenssache, zur persönlichen Entscheidung, in die Willkür des Einzelnen gelegt. Bevor hundert Jahre später der Kredit aus dem Italienischen übernommen wird, die Glaubwürdigkeit dessen, der etwas leiht, bilden die Deutschen im 15. Jahrhundert zugleich den „Gläubiger“, den, der dem Glaubwürdigen glaubt. Wir sind im Zeitalter der Refomationen angekommen, der Suche nach dem glaubwürdigen Gott und dem Glauben an den Kredit (lateinisch: credo. Ich glaube)

 

Das Glauben erschließt sich (sprachlich) aus dem Lieben, nicht allerdings aus dem, was seit dem Spätmittelalter darunter verstanden wird. Es ist eine Haltung, die aus jener Erfahrung hervorgeht, die Zutrauen hervorruft. Das Wissen geht unmittelbar aus Erfahrung hervor, der sinnlicher Wahrnehmung nämlich. Glauben beruht auf dem Geschenk der Liebe, welches Vertrauen erzeugt. Wissen beruht darauf, dass man erst sehen muss, um dann fühlen zu können.

 

Das altdeutsche wizzan entspricht dem lateinischen videre (sehen) und dem altgriechischen idein (sehen), aus dem eidenai gebildet wird: wissen. Wer also nichts gesehen hat, mag informiert sein, aber er weiß nichts. Als nach dem Mittelalter analog zur lateinischen scientia die deutsche „Wissenschaft“ gebildet wird, wird nicht mehr spekuliert, sondern im Sinne von Francis Bacon experimentiert. Der schreibt im ‚Novum Organum’ in deutscher Übersetzung: Daher müssen wir die Natur erst einmal auflösen und zersplittern, nicht durch Kohlefeuer, sondern durch das göttliche Feuer des Geistes… Hundert Jahre später beginnt das Zeitalter vorurteilsfreien Experimentierens, zu dessen konsequentesten Protagonisten ein Arzt namens Mengele und seine heutigen Nachfolger gehören werden.

 

Übrigens: Nur wer nichts kennenlernt, muss sich laufend informieren. Anstatt etwas zu wissen, glaubt er (?) an die Information, besser gesagt, er meint etwas, was ihm „vorgemeint“ wurde. In der Sprache fehlender Nachdenklichkeit bzw. der der Gedankenlosigkeit wird aus dem (etwas) Glauben aufgrund von Urteilen ein an etwas Glauben aufgrund einer gewissen Wahrscheinlichkeit bzw. ein: Jemandem Glauben. Die Wahrscheinlichkeit gibt es im deutschen Sprachraum erst im Barock, als ein Bedarf entsteht, das lateinische verisimilis einzudeutschen. Verus meint wahr und similis ähnlich.

 

Was der Wahrheit ähnlich sieht, kann aber völlig falsch sein, so wie das, was bloß wahr zu sein scheint. Jemandem (etwas) glauben macht nur Sinn, wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass er oder sie und nur darum etwas des Glaubens würdig ist. Die Vorstellung, dass etwas oder jemand es wert sei, geglaubt zu werden, bildet sich erst am Ausgang des Mittelalters, als der Schwundprozess des sogenannten christlichen Glaubens einsetzt und mit der Buchdruckerkunst immer mehr Lügen schwarz auf weiß in Umlauf kommen („Er lügt wie gedruckt“.)

Für die meisten glaubwürdig ist aber vor allem der, der neben seine Verkündigungen jemanden bereitstellt, der die Waffe entweder in der Hand, oder noch besser in der Hinterhand hat. So jemand ist überzeugend, er zeugt nämlich besser als andere. Das deutsche Zeugen fand ursprünglich vor Gericht statt, wohin man den Zeugen zog. Das „über“ wiederum gehört der oben-unten-Bildersprache an: Oben ist der Stärkere, Mächtigere, der andere ist untergeben. Der Über-Zeuge schafft es Recht zu bekommen, ob er nun recht hat oder nicht.

 

Wer nur eine Meinung „hat“, also dem Meinen verfällt, war im Mittelalter jemand, der etwas glaubte im Sinne von Wähnen. Dieses bewegte sich zwischen Gespür und Verdacht. Vermeinen war: irrtümlich meinen. Wer das sehr obstinat tut, verfällt in der späten Neuzeit dem Wahn. Das Problem mit dem Meinen wird im Englischen deutlicher. Dort heißt es (meanan, später mean) schon im früheren Mittelalter sowohl beabsichtigen, meinen (im Sinne von: sagen) und bedeuten. Das Meinen ist also subjektiv, intentional und interaktiv. Deshalb kann man in der deutschen Neuzeit etwas anderes meinen als sagen, und man kann die bloße Meinung als ein vorübergehendes Geschwätz hinstellen. In diesen Zusammenhang gehört die Kenntnislosigkeit des politischen Tagesjournalismus, der Meinung produziert, wo er Information liefert. Zur Meinung fühlt sich aber nur der nicht genötigt, der sich nicht über etwas äußert, wovon er möglichst keine Ahnung hat.

 

In diesen Zusammenhang gehört schließlich noch das Denken, welches sich erst in der Äußerung offenbart. Wer umgangssprachlich „etwas denkt“, meint etwas (in seinem Gehirn ist etwas vorgegangen), was nach Ausdruck verlangt. Dieses sogenannte Denken bringt immer einmal wieder grammatisch korrekte Sätze zustande, aber da es vorwiegend in der exkulpierenden Vergangenheitsform des „ich dachte doch nur, dass…“ oder so ähnlich vorkommt, ist es gewiss die verächtlichste Form der Textproduktion.

 

Kurioserweise wird mit Denken auch jene Betätigung vernunftgeleiteter Verständigkeit gemeint, die die Spontaneität einer Äußerung dem Nachdenken unterzieht, bevor sie anderen zugänglich gemacht wird. Dann ist das Nachdenken eher ein Vordenken. Ohne gewaltiges Training ist das im Gespräch nicht möglich. Dann ist aber der Gedanke nicht bloß etwas, was jemand gerade „gedacht“ hat, sondern das Ergebnis jener lebenslangen Wahrnehmung, aus der (immer vorläufige) Kenntnis entsteht, die als Erfahrung einen auch einmal etwas halbwegs solide glauben lassen kann.

 

Das Nachdenken unterscheidet sich geringfügig von Nietzsches „es denkt“ (in einem), das heißt von der Passivität dessen, in dessen Kopf Gedanken sich breitmachen. Es versieht das Denken als die Flatterhaftigkeit von Gedanken einem mehr oder weniger genau definierten Vorsatz: Es soll mehr bringen als nur den Sprechwerkzeugen Aktivität ermöglichen. Dabei darf man nicht vergessen, dass Sprechen meist nur die Erweiterung außersprachlicher Kommunikation ist, also ihre Ziele verstärken soll und darüber hinaus wenig bedeutsame Inhalte zu vermitteln hat. Wir reden alle viel mehr als wir zu sagen haben.

 

Das Glauben ist ein weites Feld, das Wissen immer eng beschränkt. Soweit ich sehen kann, brauchen wir für ein gutes Leben beides. Dabei kommt es aufs Unterscheiden an, die Kritik, die Analyse!

 

Etwas „nur glauben“ betont, es nicht zu wissen. Wenn das Glauben dann nicht mehr auf Urteilen beruht, und auch nicht auf Schlüssen, die auf Erfahrung mit den Quellen der Mitteilung beruhen, dann haben wir es mit jenem üblichen Meinen zu tun, welches bloßes Nachplappern ist. Die Freiheit, die ich meine, war ursprünglich die, die ich liebte. Wenn es später einmal die wurde, die ich bloß noch meine, dann hat meine Sprache ein Wort verloren, weil es bloß noch Chiffre für den Ersatz von Wahrnehmung durch diffuse Bedürfnisse nach Gefühlen ist.

 

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Eine besondere abendländische Unheilsgeschichte nimmt mit dem Wort Geist (spirit / esprit etc.) und seiner Nutzung ihren Lauf, jenem Wort, welches seine Vorläufer auch im griechischen pneuma und dem lateinischen spiritus hat. In diesen Fällen handelt es sich um etwas körperlich-materiell kaum fassbares, um den Lufthauch, den Atem, oder als psyche mit Lebensgeistern verbunden, anima im Lateinischen, also dann mit einem kaum fassbaren Innenleben. Vom germanischen Ursprung her hat das Wort zudem mit einer ominösen inneren Bewegung zu tun, die sich etwa als von außen affiziertes Erschauern oder Schaudern übersetzen lässt. Der Gegenstand, der schaudern lässt, ist eben dann ein Geist in dem Sinne, wie er später ein wenig als Gespenst weiterlebt.

 

Es wird dann ein zweifelhafter Verdienst der Philosophen, Geist ganz ernsthaft nicht mehr nur in Vorgängen des menschlichen Gehirns zu verorten, sondern auch außerhalb. Er schwebt dann frei in einer Welt von Vorstellungen, die es eigentlich nur im Kopf ihrer Erzeuger gibt, die aber losgelassen ein Eigenleben zu führen beginnen. In diesem Sinne kann ein paulinisches pneuma als Emanation des Christengottes zum hagion pneuma werden, dem spiritus sanctus (heiligen Geist) der lateinischen Kirche, als dessen Vorläufer schon der altjüdische Atem (ruach) Gottes auftauchte.

 

Ein menschlicher Vorstellung entsprungender Gott kann in der Folge diesen „Geist“ oder „Atem“ aus seinem schwer vorstellbaren Mund in den Auserwählter einhauchen, was lateinisch inspirare heißt und zur Inspiration führt. Solche Berufenen oder eher sich selbst Berufenden können daraus einen Text fabrizieren, der einen gewissen Vorzug der Heiligkeit erhält, also unhinterfragbarer Wahrheit. Leute mit solch erstaunlichen Talenten heißen gelegentlich Propheten, und sie produzieren auf diese Weise Offenbarungen. Dazu imstande sehen sich in zunehmendem Maße insbesondere stadtrömische Bischöfe. Ihr direkter Draht zum Christengott vermittelt sich dadurch, dass dessen angeblicher Sohn Jesus in seiner überschaubaren Anhängerschaft einen Simon hatte, dem eine spätere Einfügung ins Evangelium die besonders frohe Botschaft beigibt, er sei der Fels, auf den Gott seine Kirche bauen werde, und darum mit Beinamen Petrus (petros) heißen solle. Dieser Auftrag zur Kirchengründung, für den Gott entweder die aramäische oder die griechische Sprache verwandte, wurde dann nachträglich auch noch mit dem Phänomen einer Dauer-Inspiration durch diesen Gott ausgestattet, und dieser Vorzug ging dann nach und nach immer mehr auf diejenigen Bischöfe über, die an einem möglicherweise dort irgendwo vorhandenen Petrusgrab dauer-inspiriert werden – und das bis heute.

 

Derart entstandene heilige Wahrheiten, auf solch mysteriöse Weise in den Besitz der Kirche gelangt, werden seit dem vierten Jahrhundert mit blutiger Gewalt und brutalem Terrror den Menschen in Europa aufgezwungen: Mensch glaub oder stirb! hieß es nun. Die im Koran später aufgeschriebenen Wahrheiten des Koran wurden angeblich ähnlich vom Engel Gabriel einem Mohammed eingeflüstert, so leise und unbemerkt von allen anderen, dass man vielleicht auch hier von Einhauchen sprechen kann. Jedenfalls sind auch sie, wie zudem die Texte der jüdischen Thorarollen, so unglaublich wahr, dass sie nur aus nebulösen oder numinosen Sphären ins Menschengehirn und bis in dessen Sprachzentrum gelangt sein konnten.

 

Für die Entstehung des Kapitalismus wichtig wird, dass sie in einer solchen Welt unumstößlicher Wahrheiten stattfindet, diese dann für sich nutzt und verändert, um sie am Ende als einzige noch normative Kraft komplett wegzufegen. Dafür wichtig aber war, dass die Philosophen sich mit dieser wohlinspirierten Welt von Priestern aller Arten nicht zufrieden gaben, sondern sie durch Vorstellungen und Abstraktionen verfeinerten, die zwar nur ihren Köpfen entsprangen, aber sich gut in Schriften verbreiten ließen. In ihren Köpfen waltete Geist, nicht immer ganz heilig, aber produktiv. Der kleine Mann, mit seiner täglichen Mühe und Arbeit beschäftigt, ließ sie machen, besonders, da er von ihrem Wirken unmittelbar gar nichts merkte. Mit den radikalen Nominalisten, die Abstraktionen darauf zurückführen, dass sie den Köpfen geistig tätiger Menschen entspringen, beginnt die Bindekraft christlicher Wahrheiten und philosophischer Gedankenarbeit auf einem langen Weg sich aufzulösen. Nach und nach merkte man: Der sich in den Menschenköpfen entfaltende „Geist“, also seine vernunftgeleitete Gedankenarbeit, hatte ganze Gedankengebäude aus Wörtern erfunden, die außerhalb der Köpfe so keinen Gegenstand haben, und behauptete indirekt, es gäbe sie schon alleine deshalb, weil ihre klugen Köpfe sie erfinden könnten. Solche Menschen werden dem Kapitalismus die Wege freimachen, die Religion und Gebräuche versperren wollten.

 

Mit dem Niedergang der Priestermacht und der geringen Zugänglichkeit der Philosophien brauchte es nun ein Neues, um einer Welt des schnöden Mammons und der nackten Gewalt ein hübsches Gewand zu weben. Zu diesem Zweck wurde eine neue Bedeutung für das Wort Kunst erfunden. Sie leitete sich nicht mehr von handwerklichem Können und auch nicht aus dem lateinischen artes-Begriff ab, sondern sie wurde zu einem zusätzlichen Feld für sinnlich gestaltete Inspirationsergebnisse und schuf Kunstwerke aller Arten, die nun Offenbarungscharakter bekamen und von den Reichen und Mächtigen finanziert wurden. Max Weber nannte das ganz trefflich Rückverzauberung der Welt.

 

Woher diesen begnadeten Künstlern das geoffenbarte Kunstwerk eingehaucht wurde, blieb in der angenommenen Sphäre von irgendetwas Geistigem oder gar unbestimmt Göttlichem, Hauptsache es propagierte die immer weniger gottgewollten und immer mehr „natürlichen“ Machtstrukturen der Geldgeber. Dazu holte man sich aus dem Römerreich den genius und verpflanzte ihn in begnadete menschliche Innenräume. Wenn einige Dichter um 1800 bekennen, sie haben die Nachfolge der Priester angetreten, dann kann das noch mehr als zuvor das Heim der Schicht zwischen Industrieproletariat und Großkapital schmücken.

 

Ganz geisterhaft werden seit dem 18. Jahrhundert jene Texte, die man Verfassungen nennt, und die die jeweiligen Machtverhältnisse politisierend in Rechtsverhältnisse umdeuten. Sie werden von keinem Gott und keinem Engel mehr eingehaucht oder eingeflüstert, weswegen man längst propagandistisch erprobte Wahrheiten hernimmt und sie zu ewigen umstilisiert: Das Zeitalter des Glaubens ist zu Ende und das der genauso großen Selbstverständlichkeiten angebrochen: Die Wahrheiten seien aus sich selbst heraus verständlich, heißt es nun, niemand muss sich mehr die Mühe machen, sie zu verstehen: es lohnt sich nicht und führt auch nur zu offensiven Lügengebilden wie dem, die Menschen eines Staates hätten sich in der Verfassung zusammengeschlossen, um so ihre Freiheit zu genießen. In den letzten Jahrtausenden hatten die meisten ihre Bibel nicht gelesen und auch nicht die Texte der Philosophen – man konnte sicher sein, dass sie die Verfassungen ebenfalls nicht lesen würden, wozu auch, sie würden ihnen weiterhin vorgesetzt werden wie vorher die religiösen Glaubenssätze, um einfach nur hingenommen zu werden.

 

Der Geist bedarf am Ende nur noch der Inspiration durch die Macht des Tatsächlichen  als der tatsächlichen Macht, die der jeweiligen Machthaber eben, inzwischen die Herren und zugleich Untergebenen der Finanzströme. Er verlässt sein Gehäuse, wird zu Text und verfasst Wahrheiten, die auf Texten beruhen. Sobald er sich dabei mit der Macht verbindet, werden diese ewig, selbst wenn sie manchmal nur kurze Zeiten überdauern. Und wer sich lauthals dagegen wendet, weil sein Geist andere Vorstellungen produziert, verliert leicht schon mal seinen Lebensunterhalt, manchmal seine Freiheit und gelegentlich auch sein Leben.

 

Bevor es nun zur Entstehung und Frühphase einer christlich gefärbten Intellektualität geht, die auffällig parallel zur Entstehung von Kapitalismus agiert, sollen einige Wörter und (Schein)Begriffe ihrer gern gesehenen Selbstverständlichkeit benommen werden. Ein Jahrhundert vor der Einführung des Intellektes in die deutsche Sprache wurde im 18. Jahrhundert, dem der sogenannten Aufklärung, die Intelligenz entdeckt, jenes vernunftgemäße Erkenntnisvermögen von Dingen, die über schiere Sinneswahrnehmung hinausgehen. Damit wurde der Geist re-latinisiert und stärker wieder in das Verstandesvermögen des menschlichen Gehirns hineingenommen, welches auf der Ebene reiner, sprachlich gefasster Vorstellungen, welches man auch als Abstraktionsvermögen bezeichnen kann, dann zum Intellekt wurde.

 

Wenn nun hier von Intellektualität die Rede sein soll, so ist damit keine „linke“ Schickeria vom passenderweise linken Seineufer anfangs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint, sondern das Erwachen eines Bewusstsein davon, dass sich Gedanken als Sprache reflektieren lassen und so einer kritischen Untersuchung zugänglich werden. Die um 1100 vorliegenden sind vorwiegend in Glaubenskenntnis und mehr oder weniger heiligen Schriften und daneben noch einigen antik-"heidnischen" Texten vorhanden.

 

Worte und aus ihnen gebildete Aussagen kann man so, anstatt sie bloß als von einem heiligen Geist gesandt hinzunehmen, zu verstehen versuchen. Der Geist beginnt dahin zurückzukehren, wovon er einmal ausging: vom menschlichen Verstand. Dieser aber ist die Instanz, die einmal sinnliche Wahrnehmung versprachlicht und zum anderen die Lücken des nicht Wahrnehmbaren zu schließen versucht. Er kommt also zunächst dem menschlichen Bedürfnis nach Vergewisserung im Text nach, und zum anderen der Selbst-Beruhigung über das, was Menschen nicht wissen können. Das Nicht-Aushalten-Können von Nichtwissen aber ist wesentlich ein Phänomen von Zivilisationen, in denen mit der Macht auch die Macht des Wissens und über das Wissen verbunden ist.

 

Verstehen ist so primär ein psychisches Phänomen, bevor es zu Text gerinnt. Im Verstehen wird „Welt“ menschengemäß anverwandelt und nach menschlichem Maß gerechtfertigt. Sie wird zu etwas gemacht, was sie auch für Menschen aushaltbar macht, deren Verstand zwar primär immer noch dem Überleben und Fortpflanzen dienstbar ist, dabei aber Strukturen entwickelt hat, die zu den Gedanken, die ihn überfallen, noch das Nachdenken ermöglicht. Dieses kritische Vermögen, also jenes Talent zu unterscheiden, welches das griechische Wort einmal meinte, wird gerne der Vernunft unterschoben, aber im Deutschen entwickeln sich beide Wörter – Verstand und Vernunft - als Angabe einer Instanz im Menschen erst in der Neuzeit mit ihrem sich erweiternden Institutionen-Wesen auseinander.

 

Das Stehen des Verstehens hieß wohl zunächst, dass etwas fest-gestellt wurde, es wurde zur „Wahrheit“, und das Nehmen der Vernunft, des Vernehmens also, war wohl zuerst dem schieren Erkenntnisvorgang geschuldet. Erst in der Identifizierung der Vernunft mit der lateinischen ratio und deren Verortung in Gehirn bekommt sie nach und nach jede Bedeutung, die sie zum Ausführungsorgan für das macht, was man nach dem Griechischen Logik nannte, also einer schlüssigen Verbindung von Gedanken, die Wörter sind oder ganze Sätze.

 

Kritik als Unterscheidung (kritein) und Logik als Schlüssigkeit sind zunächst einmal als Vermögen mehr oder weniger dem voll ausgebildeten Menschen naturgegeben, aber sie können auch bewusst eingesetzt werden. Dann tut sich allerdings für aufmerksame Beobachter ein Zwiespalt zum Glauben auf, und das ist in Zivilisationen jener, den institutionalisierte Macht propagiert. Damit wird nach dem Jahr 1000 nicht nur der ein zu verfolgender Ketzer, der am offiziellen Glauben vorbeiglaubt, sondern auch schon derjenige, der ihm kritisch und logisch und zunehmend ergebnisoffen zu Leibe rückt, auch wenn er noch an solche Absurditäten wie die Dreifaltigkeit des Christengottes, an Jungfrauengeburten und die magische Verwandlung von Wasser in Wein oder von Wein in Blut glaubt. Das betrifft heute diejenigen zum Beispiel, die öffentlich nicht an eine Realität von Verfassungen jenseits ihres schönen jeweiligen Textes oder an die heilsamen Absichten regierender Politiker glauben, hinter denen sich die Macht globaler Finanzströme verbirgt.

 

Die Ergebnisoffenheit eines Selbstdenkens ohne Glaubensfundament wird erst mit Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud ansatzweise erreicht werden, und sie führt bei beiden in die Aporie, die Ausweglosigkeit eines befreiten Denkens, dem der Trostcharakter abhanden kommt, und zudem in psychisch verursachte Ausflüchte, beim ersten ins späte Phantasieren bis zum Zusammenbruch, beim letzteren in eine erst spät wohl aufgegebene Wissenschaftsgläubigkeit. Es ist schwer, sich selbst auszuhalten ohne die Tröstungen der Ausflüchte aus gelungener Selbsterkenntnis heraus.

 

Das lateinische Mittelalter war da noch anders. Die Welt war noch nicht generell out of joint, vielmehr gab es solide Angelpunkte, sei es Gott oder das noch nebelhaftere Göttliche, sei es eine Natur, in die Göttliches einfloss, sei es eine wie auch immer geartete Eigentlichkeit, zum Beispiel das ideale Humane, sei es der Fortschritt zu immer Besserem im Sinne von Vervollkommung. Aber in exakter zeitlicher und räumlicher Parallelität zum Aufstieg des Kapitalismus wird die Entschleierung der Welt des christlichen Glaubens und die Verschleierung der Welt der Kapitalverwertung betrieben, an deren Ende Karl Marx in parareligiösem Engagement sie als notwendigen Weg in irdische Paradiese hochlobt.

 

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Kulturen sind schriftlos, weil sie der Schrift nicht bedürfen. Ihre Kommunikation ist mündlich, ihre Sprache anschaulich, und jede Entwicklung bei grundsätzlicher Beharrlichkeit beruht auf der mündlichen Weitergabe von Erfahrung. Zivilisationen erfinden oder übernehmen Schriftlichkeit als Mittel von Machtausübung, sei es zur Verwaltung großer Güter oder für die Gesetzgebung über Untertanen.

Die sich in Städten entwickelnden Zivilisationen des Mittelmeerraumes mit hochentwickelter Arbeitsteilung und großräumigem Handel führen zu weitverbreiteter Schriftlichkeit und Lesevermögen, auch wenn uns von den meisten Menschen kaum Texte überliefert sind. Was im Westen des Römerreiches erhalten blieb sind Werke der Dichtkunst, der Philosophie und der antiken Ansätze von Wissenschaftlichkeit einerseits, und andererseits Texte jener Religion, die mit den Machtstrukturen des Reiches verschmolz. 

Gegen Ende des westlichen Imperiums beginnen die Städte zu schrumpfen, sie müssen Zerstörungen über sich ergehen lassen. Der Handel und die Produktion gehen zurück. Anführer von Heerscharen, die sich als germanische Völkerschaften verstehen, übernehmen Teile des Reiches und möglichst viel von seinen Strukturen. Dabei sinkt die Bedeutung der Städte langsam weiter, die Welt der neuen Reiche wird agrarischer, teilweise erobert sich die Natur ganze Landschaften zurück. 

Die Schriftlichkeit zieht sich immer mehr auf eine kleine, auf landbewirtschaftendem Großgrundbesitz basierende Oberschicht zurück, auf ähnlich wirtschaftende Klöster und auf die Spitzen der Kirche. Schließlich kann man fast nur noch im Kloster Lesen und Schreiben lernen und fast nur noch in seinen Bibliotheken ist antikes Schriftgut aufgehoben.

 

Das Christentum ist wie das Judentum und der Islam eine textgebundene Schriftreligion. Sie funktioniert nur, wenn wenigstens Priester, Rabbis und islamische "Geistliche" lesen können und so Zugang zu dem haben, was da "geoffenbart" ist und wortwörtlich gilt. Außerdem fallen in den neuen Reichen Religion und weltliche Machtausübung weiter zusammen. Wenn dann selbst Herrscher des Lesens und Schreibens bis ins hohe Mittelalter nicht mehr kundig sind und noch ein Barbarossa einen Vorleser braucht, werden wohlhabendere Klöster und Bischofskirchen zu Horten der Schriftlichkeit. 

 

Deutlich mehr als 90% der Menschen leben schließlich auf dem Lande und erhalten ihr Christentum von Priestern, die oft selbst kaum lesen und schreiben können. Das trifft dann noch mehr auf den Raum jener germanischen Völkerschaften zu, die gerade erobert und christianisiert werden und die den Kern der zukünftigen deutschen Lande ausmachen werden. 

In dem Amalgam aus christlicher Lehre und weltlicher Macht verschwindet jene antike Intellektualität, die seit den altgriechischen Philosophen ohne Berufung auf Religion auskommen konnte. Und seit Konstantin wird sogar eine von der offiziellen Kirche abweichende christliche Position unterdrückt, verfolgt und gelegentlich mit dem Tode bedroht. 

 

Herrschaft in den neuen Reichen kommt nicht ganz ohne Schriftlichkeit aus, die nun im Auftrag weltlicher Macht von Priestern und Mönchen ausgeübt wird. Es gilt, Gesetze, Dekrete, Verordnungen niederzuschreiben - und an die wenigen Lesekundigen zu richten und an die, denen sie vorgelesen werden. Eine erste Bildungsoffensive findet unter dem eher analphabetischen großen Karl statt. Sie betrifft vor allem die Erweiterung der Schriftlichkeit in Kirche und Kloster und die Verbesserung der Religionsverkündigung und -ausübung, die immerhin ein Herrschaftsinstrument ist. Karl selbst umgibt sich mit Lese- und Schreibkundigen und bezieht sich gerne selbst auf die römische Antike, die ihm den Kaisertitel geliefert hat. Überhaupt bedarf sein Riesenreich vieler Völkerschaften der Schriftlichkeit, um es zusammen zu halten. Die meisten Menschen sind aber von seinen "Reformen" nicht unmittelbar betroffen und bekommen von ihnen auch nichts mit. 

Solche Bildungsoffensiven finden an Herrscherhöfen statt und strahlen dann auf einzelne Klöster aus. Ihre Wirkung in die Breite ist sehr gering, betrifft also nur ganz wenige Menschen und darf nirgendwo die Enge kirchlicher Lehre und die Grenzen weltlicher Machtinteressen überschreiten.

 

 

Auf dem Weg in die Gelehrsamkeit: Schola  

 

Lesen und Schreiben sind entgegen dem kommerziellen Kulturbegriff der abendländischen Neuzeit, der gehobenes und modeorientiertes Amüsement meint, ganz deutlich kulturzerstörend. Da das machtbesetzte Vorgaben und offizielles Gedankengut monopolisierende Schreiben Sache ganz weniger Leute ist, verliert der mündliche Diskurs der meisten Menschen die Kultur bildende und tradierende Funktion und verkommt zum sich regulär unter die Macht duckenden Geschwätz.

Das wird mit der Einführung des Papiers und des Buchdrucks noch deutlicher, indem Schriftlichkeit und Lektüre nun einer zunehmenden Kommerzialisierung unterliegen, zugleich sich einer zunehmend breiteren Kundschaft öffnen.

Lesen und Schreiben aus Erkenntnisinteresse sind ohnehin immer auf ganz wenige Menschen beschränkt, und das wird bis heute kaum mehr werden. Dafür nimmt es im Mittelalter als Mittel jener Karrierebildung zu, die vor allem über das Lehren des Rechts der Mächtigen vermittelt wird.

 

Die Fähigkeiten des Schreibens und Lesens dienen im frühen Mittelalter vor allem religiösen Zwecken und verbreiten sich dann im hohen Mittelalter im wesentlichen als Mittel von Machtausübung, an die auch die Masse erzählender Literatur gebunden ist.

Dort, wo sich im späten Mittelalter Frühformen von Staatlichkeit entwickeln wie in der Monarchie Frankreichs, nimmt die Schriftlichkeit erheblich zu, ebenso wie danach in den obrigkeitsstaatlichen Strukturen deutscher Reichsstädte. Darüber hinaus wird Schriftlichkeit für Kapitaleigner immer wichtiger.

 

Drei Gruppen entfalten im 12. Jahrhundert jene Zunahme von Schriftlichkeit, die dann in die ersten Universitäten und die Zunahme von niederen Schulen münden wird: Zum einen die höhere Geistlichkeit, dann die Könige und Fürsten und schließlich vom nördlichen Mittelmeerraum ausgehend die größeren Kapitaleigner.

Träger dieses Bildungsschubes sind Kleriker, die auch die Lehrer stellen. Als Vertreter einer Schriftreligion par excellence hatten Kirche und Kloster ohnehin Lesen und Schreiben aus der Antike bis durch das frühe Mittelalter gerettet. Die fast immer innerkirchlichen intellektuellen Debatten des 12. Jahrhunderts hatten den Drang nach Beteiligung - meist unterhalb ihres hohen Niveaus - auch in geistlichen Kreisen verstärkt.

In den hohen weltlichen Kreisen herrscht mit dem Wunsch nach den Stand definierender curialitas, Höfischkeit die Neigung, zumindest einen Sohn in die Lese- und Schreibkünste einzuweihen und womöglich sogar dem Stand modischer Gelehrsamkeit näher zu bringen. An hohe Schulen gesandt, können sie zusammen mit einigen Vertretern des niederen Adels oder sogar unteradeliger Schichten Lehrern zu mehreren hundert Hörern, Schülern auf einmal verhelfen.

Die Schreibkünste von Händlern und Finanziers sind zunächst auch im Mittelmeerraum noch gering, dürften aber beim Fernhandel im 12. Jahrhundert deutlich zunehmen. Wesentlich dafür dürfte der Informationsaustausch über größere Entfernungen sein, der nicht mehr nur mündlich, sondern auch durch schriftliche Botschaften betrieben wird.

 

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Die Situation, was alleine schon Literalität und Belesenheit angeht, ist im romanischen Raum teilweise etwas besser als im germanischen, wenn auch nur in jenen Städten, in denen eine gewisse Kontinuität durch die Jahrhunderte gewährleistet ist. Das alles ändert sich mit der Verwandlung der Städte mit ihrem neuartigen Bürgertum. Aber nicht dieses, sondern Einzelne im Klerus und insbesondere unter den Mönchen betreiben im 11. Jahrhundert eine Wende, die sich zunächst eines Zusammenhangs mit den bürgerlichen Veränderungen hinein in einen neuartigen Kapitalismus nicht bewusst ist, auch wenn sie ohne den neuen bürgerlichen und kapitalistischer werdenden Rahmen so kaum möglich gewesen wäre. Die Zusammenhänge sind quellenmäßig wenig zu erfassen, da sie damals so kaum beobachtet wurden.

 

Für die wenigen, die lesen und schreiben können sollen, war aus der Antike der Unterricht in dem grundlegenden Trivium aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik übernommen worden, letztlich eine gehobene Unterweisung in der lateinischen Sprache auch anhand antik-römischer Vorbilder. Für noch viel wenigere gab es dann noch das Quadrivium, welches die Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasste. Dass die Musik zu dem mathematischen „Stoff“ dazugehörte, sagt einiges über die Besonderheiten, in denen sich kunstvollere Musik im Abendland entwickeln wird.

 

Grammatik betraf die Lese- und Schreibkunst in lateinischer Sprache, der zunächst einzigen Schriftsprache und des universalen Kommunikationsmittels im westlichen und dann auch mittleren Abendland. Die Dialektik als Kunst überzeugender Gesprächsführung und des eigenen Nachdenkens beinhaltete die Elemente einer zwingenden Argumentation und bedurfte der Logik, der zwingenden Schlussfolgerungen. Dabei kam es auch auf klare Begrifflichkeit an. Die Rhetorik, die sich aus dem antik-griechischen Sprechen vor Gericht entwickelt hatte, ist die Übersetzung von Grammatik und Dialektik in die öffentliche Praxis, als ars dictaminis auch in den kunstvollen Text..

Wichtig wahrzunehmen scheint mir, dass Interesse und Begabungen in solche Richtungen selten waren und geblieben sind. Biologisch haben sich die Menschen seit dem Neolithikum kaum noch verändert und das heißt, dass von der Natur derartige Begabungen und Interessen auch gar nicht vorgesehen waren und sind. Jedes Verständnis der folgenden Zivilisationen hat ohnehin davon auszugehen, dass nur wenige talentiert waren, sie hervorzubringen und die meisten offensichtlich weder gewillt noch begabt waren, eine mehr als dienende Rolle dabei einzunehmen.

 

Prägend für die Zukunft der nächsten Jahrhunderte des Mittelalters wird, dass das Lateinische die Sprache aller Fächer wird. Dabei wird das Denken in ihren spezifischen Strukturen eingeübt, die sich aus der antiken Zivilisation entwickelt hatten. Wer sich etwas näher mit romanischen und germanischen Sprachen beschäftigt, kann sehr schnell erkennen, dass dahinter unterschiedliche Welten standen, eine eher dinglich-rationale lateinische und die eher lebendige und naturhaft erklärende des Germanischen. Deutlich wird das schon an den unterschiedlichen Konzepten, die in den Wörtern Wirklichkeit und Realität enthalten sind. Entsprechend werden alleine für die Welt des aus der Mittelmeer-Antike übernommenen Denkens in Sprachen wie dem Deutschen mit seinen Dialekten, oder vielleicht besser den deutschen Sprachen des Mittelalters, immer wieder Übernahmen aus dem Lateinischen nötig, manchmal über das Französische oder das Italienische vermittelt oder auch Anverwandlungen des Lateinischen und später auch des Griechischen ins Deutsche. Dadurch werden, um beim deutschen Beispiel zu bleiben, immer mehr Worte für die, die ihre fremden Wurzeln nicht kennen, zu relativ leeren und beliebigen Worthülsen. Am besten lässt sich das heute erkennen, wo durch Massenmedien, die ständig alle erreichen, die sich nicht bewusst entziehen, eine solche immer leerere Sprache propagiert wird, die ihre Qualität für die sie Benutzenden vor allem durch emphatische Aufladung erhält und ihre verordnete Bedeutung mindestens durch moralisierende Drohgebärden durchsetzt. Die Kirche, zunächst wichtigster Verbreiter von Ideologie, nutzte dieses Phänomen von Anfang an - schon im Zuge der Christianisierung. 

 

Philosophie und Wissenschaften, soweit man bei letzteren davon für die Antike sprechen kann, entstanden in der hellenischen Polis unter dem Einfluss einer wohlhabenden Händlergesellschaft. Das bedeutete bis dato die radikalste gedankliche Trennung von der Natur in Gestalt von Zivilisation und das distanzierende Gegenübertreten zu ihr. Bis so etwas im Mittelalter wieder möglich wird, muss eine neue städtische Gesellschaft als Raum dafür entstehen. Zuvor ist Bildung eine Sache der Klöster, die ihre monastischen Vorstellungen und Denkweisen an Schüler weitervermitteln.

 

Einen wichtigen Anschub leistet die Kirchenreform der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. In den daraus resultierenden Konflikten spielt das Argumentieren eine immer wichtigere Rolle, da Probleme immer häufiger als Rechtsfragen verstanden werden, in die Machtfragen eingekleidet werden. Leute wie Ivo von Chartres demonstrieren, wie man vermittels Durchdenken zu Problemlösungen kommen kann. Das aber muss erlernt und geübt werden. Und so schreibt Papst Gregor VII. jeder Kathedrale vor, eine Schule zu unterhalten.

Wichtiger noch ist vielleicht das, was in den Auseinandersetzungen über eine neue Ausrichtung des Klerus diesen stärker aus den weltlichen Strukturen absondern soll und sein Denken zumindest soweit aus diesen Machtstrukturen befreien kann. Schließlich findet das, was Rexroth  als "Wissenschaftsrevolution" und Borgolte als "Bildungsrevolution"  bezeichnen und was wohl eher als zarter Ansatz einer Emanzipation des Denkens von gottgegebenen Autoritäten zu benennen wäre, vorwiegend im klerikalen Rahmen statt. 

Schließlich ist die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts im kirchlichen Raum ein Traditionsbruch. Ausdrücklich nicht um conventiones, sondern um veritas geht es Gregor VII. Und dieser Bruch wirkt in die entstehende neue Gelehrsamkeit hinein, die nach und nach beginnt, den nachbiblischen Autoritäten nicht mehr blind zu glauben, sondern sie im Zusammenhang mit den von Gott verkündeten "Wahrheiten" vernunftgemäß zu verstehen. Ewige Wahrheiten werden nun ansatzweise dem kritischen Nachvollzug ausgesetzt, ohne allerdings bezweifelt zu werden. Wissen vermehrt und verändert sich.

 

Damit verlieren die Klosterschulen an Bedeutung, der Unterricht geht mehr und mehr an Kathedralschulen über. In Westfranzien ist das zunächst die alte Königsstadt Laon mit der Bibelauslegung von Magister Anselm, der seit etwa 1080 Leiter der dortigen Schule ist. Indem er neben die wichtigste heilige Schrift einen Kommentar aus Zitaten legt, der auf bisherigen Bibelauslegungen der Kirchenväter basiert, entsteht das Fundament für eine in sich geschlossenere Ausarbeitung einer Theologie. In Chartres ist eine Generation später Gilbert von Poitiers Kanzler und seit 1126 Leiter der dortigen Kathedralschule und später auch Lehrer in Paris. Zunächst vor allem Plato und dann Aristoteles werden dort

gelehrt. In einem der Portale der Kathedrale wird Maria von Cicero, Aristotel, Euklid und Pythagoras umrahmt.

Dann sind da Reims, Tours und Orléans, alles fortgeschrittene Machtzentren. In Paris unterrichtet seit etwa 1095 Wilhelm von Champeaux an der Kathedralschule. Dort sind einige Klöster und Stifte wie Sainte-Geneviève und bald auch Saint-Victor eng mit dem städtischen Leben verbunden und es entwickeln sich auch dort bedeutende Schulen, als von der Seine-Insel ausgehend hauptstädtisches Leben wieder aufblüht. Offenbar ist es hier auch leichter, eine kirchliche Lehrerlaubnis zu erhalten.

 

Lehrer sind nun meist Weltgeistliche, die oft eine Pfründe als Basis besitzen und dann für Unterricht noch Schulgeld beziehen. 1127 wird die Kathedralschule in der Bischofspfalz auf der Île de la Cité untergebracht. Aber auf dem linken Seineufer unterrichten längst auch ganz selbständige Lehrer in einer Schola, einer Gemeinschaft von Lehrer und Scholaren, die sich ihren Unterrichtsort selbst sucht.

 

Im 12. Jahrhundert nimmt dabei die Bedeutung der Pariser Schulen immer mehr zu. So schicken römische Adelsfamilien wie die Pierleoni inzwischen wenigstens einen Sohn nach Paris. Abaelards Schüler kommen auch aus Spanien, den deutschen Landen und slawischen Gebieten.

 

Man kann auf diesem Weg Karriere machen. Da ist der niederadelige Peter von Blois aus der Bretagne, der bis an den palermitanischen und englischen Hof aufsteigt. Unter Abaelards Schülern sind auch ein späterer Papst und Arnold von Brescia.

 

Neben den an Kathedralen und Kathedralstädte gebundenen Schulen gibt es auch weiter den Privatlehrer für den einzelnen Schüler. Guibert von Nogent meint zu ihnen für die Mitte des 11. Jahrhunderts:

Erat paulo ante id temporis, et adhuc partim sub meo tempore tanta grammaticorum charitas, ut in oppidis pene nullus, in urbibus vix aliquis reperiri potuisset, et quos inveniri contigerat, eorum scientia tenuis erat, nec etiam moderni temporis clericulis vagantibus comparari poterat. (De vita sua, I,4: Es gab solch eine Knappheit an Grammatikern, das in den Kleinstädten kaum einer, und in den größeren Städten nur sehr wenige gefunden werden konnten, und die, die man entdeckte, hatten nur geringe Kenntnisse und konnten nicht mit den herumwandernden Klerikern heute verglichen werden.)

 

Dann beschreibt er, wie ihm seine verwitwete Mutter einen armen, spät und wohl wenig gebildeten Lehrer ins Haus holt, der ihn vom sechsten bis zwölften Lebensjahr im Esszimmer erzieht und unterrichtet. In allem musste ich Selbstkontrolle in Worten, Auftreten und Handeln zeigen (…)  Während andere meines Alters nach eigenem Gutdünken herumliefen, und nicht beim Nachgehen der ihrem Alter angemessenen Neigungen unterdrückt wurden (…I,V), muss er drin sitzen und lernen. 

Dabei findet das statt, was bis ins zwanzigste Jahrhundert so häufig Erziehung ausmachen wird, nämlich die Verbindung von regelmäßiger Prügel und einer Bindung zwischen Erzieher/Lehrer und Zögling, die immer wieder als Liebe (amor) bezeichnet wird, bei Guibert als amor saevus.

 

Neben solch ortsfesten Hauslehrern gibt es in jüngeren Jahren herumwandernde Magister wie den späteren Abt von Bec und Erzbischof von Canterbury Lanfranc, der, aus begütertem Haus in Pavia stammend, in Frankreich umherzieht und an verschiedenen Orten als dialecticus Schüler annimmt, die wiederum seinen gelehrten Ruf verbreiten. Zum Ruhm des Lehrers gehört aber nicht nur die mündliche Verbreitung, sondern auch das Verfassen von Texten, die durch Kopieren verbreitet werden.

 

Magister sind entweder mit Pfründen versehene kirchliche Angestellte oder aber ein neuartiger freier Beruf neben dem notarius und dem medicus. Damit werden sie Teil eines vorwiegend städtischen Marktes, der Klienten braucht und bald auch das Geschäft der Konkurrenz untereinander. Das führt zur Kritik an den neuartigen, etwas freieren Geistern, die übertreibend neue Unsitten benennt: Ruhmsucht von Lehrern, die zahlender Schüler bedürfen, persönliche Eitelkeit und Sektenbildung von Schulen gegeneinander.  

 

Dieser neue Schub hin zu Sprachvermögen, Philosophie und Wissenschaft (scientia) findet zunächst in wenigen bischöflichen und königlichen Städten Westfranziens und Norditaliens statt, in denen Handel und Handwerk aufblühen. Der Zusammenhang ist nicht gleich offensichtlich. Die (stadt)bürgerlichen Schichten selbst sind zunächst kaum an den neuen Schulen beteiligt. Zu den Schulen in Kernfranzien werden zunächst für geistliche Karrieren bestimmte Söhne aus adeligen Kreisen und dann auch aus der ministerialen Oberschicht geschickt. Lebensunterhalt und Unterricht insbesondere an den freien Schulen kosten Geld. In den Kathedralschulen vor allem werden sie zu Klerikern ausgebildet, tragen klerikale Gewänder und sind in das kirchliche Leben eingebunden.

 

Zum Zusammenhang mit dem sich entfaltenden Kapitalismus des 11. und 12. Jahrhunderts gehört zunächst, dass dieser selbst im wesentlichen in Kathedralstädten seinen Ausgangspunkt hat. Die Schulen existieren so in unmittelbarer Nachbarschaft des aufblühenden Handels und Gewerbes, im Umfeld eines sich ausbreitenden Denkens in Elementarien des Marktes, die immer mehr aus den christlich vorgegebenen Lebensformen ausbrechen. Dass dort bestimmte Orte als Schulzentren besonders aufblühen, dürfte wohl an dem Renommé dort unterrichtender Lehrer liegen, welches sich offenbar schon um 1100 über große Teile des Kontinents verbreiten kann.

 

Andererseits ist die Welt des Lernens und Lehrens selbst sowohl bei der Kathedrale wie dem Kollegiatsstift ein in mancher Beziehung abgeschotteter Raum. Das betrifft nicht nur die Sprache, das Lateinische, für die meisten Stadtbewohner unverständlich, es betrifft auch das, was in ihr gelehrt wird. Solche Schulen schaffen eine kleine intellektuelle Elite, die auch zu einem solchen Selbstverständnis tendiert. Das neue Studieren, auch anders als das eher meditative Erfassen heiliger Schriften in den Klöstern, hebt eine kleine Gruppe von Lehrern und Studenten aus der Masse der Menschen heraus, ohne das sie von ihnen abgetrennt lebt. Das betrifft die Lebensform in der Gruppe beim Vortrag des Magisters und im Disput mit ihm genauso wie das einsame um Verständnis ringende Lesen. 

Die Bedeutung des Laien wird sich dadurch langsam wandeln: War er bislang das weltliche "Volk" im Gegensatz zum Klerus, so wird daraus auf dem Weg ins 14. Jahrhundert, wo zum ersten Mal die neue Bedeutung auftaucht, der Nichtfachmann. Nicht nur ist damit der Gebildete von den anderen abgetrennt, sondern auch der in seinem Fach ausgiebig Bewanderte von den Gelehrten anderer Bereiche. Waren die meisten Menschen in der Zivilisation bereits von allen übergeordneten Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, weit entfernt, so beginnt nun jene Entwicklung, in der immer mehr alle den Überblick über das "Wissen" verlieren werden.  

 

Dabei kann sich eine solche Schule wie die des Wilhelm von Champeaux von St.Victor bei Paris in manchem einem mönchischen Leben in einer Art Bildungskloster angleichen. Magister Gwillelmi war Archidiakon an der Kathedrale auf der Seine-Insel gewesen und zieht sich 1111 mit einigen seiner Schüler in eine cella (Eremitage) in der Nähe von Sainte Geneviève mit seiner kleinen Ansiedlung zurück, Wie es im Codex Udalrici heißt, unterrichtet er in dem ärmlichen Kirchlein dort für Gotteslohn göttliche und menschliche Wissenschaften.

Sein Bamberger Schüler ist von ihm begeistert: Ich bin soeben in Paris in der Schule des Magisters Wilhelm (…) Der hat sich, als er Archidiakon und fast der erste Mann beim König war, unter Zurücklassung seines ganzen Besitzes am vergangenen Osterfest in ein armseliges Kirchlein zurückgezogen, um künftig allein Gott zu dienen. Dort unterrichtete er dann alle, die von überall her zu ihm kamen nach Art des Magisters Manegold seligen Angedenkens umsonst  (gratis)und  nur um Gottes willen. (in EhlersOtto, S. 63)

In einem Brief bestärkt der belesene Bischof von Le Mans, Hildebert von Lavardin, Wilhelm in seinem Vorhaben, Philosophieren wie in der Antike als Lebensform anzusehen. "Wissenschaft an einer schola zu treiben, die nicht auf karriere-relevanten Kompetenzen abzielte, erscheint nach diesem Vorhaben als eine Handlungsoption in der Nähe von eremitischem, reguliertem und monastischem Leben, aber eben doch als eigener Lebensentwurf." (Rexroth, S.127)

Kirche und weltlicher Macht war wohl nicht ganz geheuer bei der Emanzipation von Erkenntnisinteresse aus ihren Fängen, und so sind dem Experiment nur höchstens drei Jahre beschieden. Wilhelm wird zum Bischof von Châlons gemacht, aus der freien Schule wird mit königlichen Dotationen ein Kollegiatsstift, und bald wird dort dessen berühmter Leiter Hugo eine ordentliche Stiftsschule leiten. (Rexroth, S.120ff)

In diesem regulierten Stift. in dem sich Frömmigkeit und Gelehrsamkeit verbinden, kann Hugo in seinem 'Didascalion'  aber weiterhin formulieren, "dass dem vollkommenen Philosophen die ganze Welt ein Exil sei" (omnis mundus philosophantibus exsilium est, in: EhlersOtto, S.282) 

 

Heloysa schreibt ihrem Abaelard: Man muss den Alltagsgeschäften widerstehen, sie nicht ausführen, sondern verdrängen (…)  Bei den Heiden gab es dafür die Philosophen, denn Weisheit oder Philosophie bedeutete bei ihnen weniger das Erfassen der Wissenschaft als vielmehr eine Verbindlichkeit der Lebensführung. (Historia calamitatum)

 

Umgekehrt beschreiben Quellen das Verhältnis der charismatischen Anführer von armutsbewegten Eremitengruppen oft als das von Lehrer und Schülern. Stephan von Obazine ist in seiner Vita der magister seiner discipuli, denen er Vorträge (sermones) hält, in denen es um disciplina geht.

 

Auch bei der großen Wende des 11./12.Jahrhunderts bleibt alle Bildung (der ganz wenigen) zunächst weiterhin in den Rahmen der Religion bzw. Theologie eingebettet. Trivium und Quadrivium dienen im Kern dem Nachvollzug der immer stärker kirchlich eingegrenzten Religion, die allein schon wegen des eigenartigen Trinitätsglaubens von jeher einer Theologie bedurfte. Religion bzw. Theologie und Vernunft stehen dabei insofern weiter in keinem Widerspruch, als die Vernunft darauf beschränkt wird, die Religion für die Beleseneren zu erklären, verständlich zu machen. Darum war die Erinnerung an den Großmeister der Verbindung von antiker Philosophie und Wissenschaftlichkeit, Aristoteles, nie ganz geschwunden, auch wenn nur ein kleiner Teil seiner Schriften zunächst in lateinischer Übersetzung oder überhaupt zugänglich ist.

Überhaupt: Bei einigen wenigen Belesenen war die aus der späten römisch-antiken Republik stammende Bewunderung für althellenische Intellektualität nie geschwunden. Wer griechisch verstand, galt noch im 10. Jahrhundert als besonders gebildet. 

 

Sprachschulung nach antiken Vorgaben trifft auf die Tatsache, dass die biblischen ("heiligen") Texte sich aufgrund unterschiedlicher Autorenschaft gelegentlich widersprechen und manchmal auch wie die Evangelien in sich widersprüchlich sind, da sie einmal auf nicht identischen Traditionen beruhen und zum anderen ganz offensichtlich durch spätere Zusätze verändert worden waren. Waren sie früher durch den Zugriff weltlicher Machtinteressen auf eine einheitliche Doktrin gebracht worden, so ist die Erkenntnis der dahinter steckenden "Wahrheit" durch die Trennung von temporalia und spiritualia im institutionellen Raum nun ganz zur klerikalen Angelegenheit geworden. Dies wirkt sich in kleinen Schritten zunächst ungeheuer befreiend auf das Denken aus.

 

Erkenntnis von immer noch als solcher angenommener Wahrheit wird so einmal zu philologischer Arbeit, also dem Herausfinden des korrekten Sinnes durch Textarbeit, und zum anderen zum Neuanfang von Philosophie, die nicht mehr nur die Alten rezipiert, sondern über ihr Instrumentarium nachdenkt und dieses dann zum Hilfsmittel für Erkenntnis über religiöse Fragen macht.

Dabei reibt sich der bewusstere Vernunftgebrauch an den zentralen Glaubenssätzen, wie sie in der Antike entwickelt worden waren: Gott ist zugleich einer und drei, ist als einer davon ganz körperlich der Sohn seines  völlig unkörperlichen Vaters (gewesen?), dieses rein spirituelle Gott-Wesen hat es fertiggebracht, eine Jungfrau zu inseminieren und die ist nach dem Gebären des Gottessohnes weiter Jungfrau, Priester können ganz gewöhnlichen Wein in das Blut Jesu verwandeln, der zugleich Gott ist, welches dann in den Körper der Gläubigen gelangt, - und vieles mehr. Was der gewöhnliche Sterbliche einfach so hinzunehmen, also zu glauben hat, wird für die sich von weltlicher Macht emanzipierende Gelehrsamkeit zum Grund rationalen Nachdenkens. 

 

Bevor dabei im 11. Jahrhundert die ersten Gelehrten zu Häretikern abgestempelt werden, also zu Leuten, die eigene Anschauungen (griechisch: hairesis) zu den zentralen Glaubensartikeln der Kirche entwickeln, beginnen Quellen von nicht gelehrten Laien zu berichten, die anfangen, weniger philosophisch aufgrund schlichteren Vernunftgebrauches die schwer glaubhaften kirchlichen Doktrinen auf ein für den Verstand erträglicheres Maß zu reduzieren. Sie greifen dabei manchmal die massive Ablehnung wesentlicher Aspekte des offiziellen Judentums durch den evangelischen Jesus auf und lehnen darum zuweilen sogar die behauptete Kontinuität von altjüdischen zu frühchristlichen Texten ab. Indem sie im Unterschied zur Kirche dadurch die evangelischen Botschaften wesentlich ernster nehmen und zudem die mehr oder weniger diese interpretierend verändernden Texte der Kirchenväter außen vor lassen, werden sie ebenfalls als Bedrohung der Kirche von dieser angesehen. In den Städten beginnt also nicht nur die Denkarbeit der Gelehrten, sondern auch die einiger Leute, die im Unterschied zum Adel keine Macht besitzen, die kirchlich legitimiert ist.

Daneben ist anzunehmen, dass ohnehin fast allen Menschen - fast schon so wie heute - religiöse wie philosophische Gegenstände gleichgültig bzw. unverständlich sind. Man macht mit, was einem von oben auferlegt wird und versucht, seinen Verstand angenehm auf das Nötigste zu beschränken.

 

Vernunft und Glaube

 

Um zu verstehen, was im Mittelalter mit der Entwicklung von Gelehrsamkeit geschieht, muss man sich zunächst einmal des Unterschiedes von Kulten und Religionen bewusst werden. Kulte sind rituell durchgeformte Akte, die die Hoffnung auf eine gewisse Wirksamkeit enthalten, aber man kann sie auch befolgen, ohne daran zu glauben. Die relative Freiheit, die sich im antiken Hellas und Rom entfalten konnte, hat genau damit zu tun. Der platonische Sokrates hätte seinen Tod vermeiden können, wenn seine Gedanken nicht die Tendenz gehabt hätten, religiöse Züge anzunehmen (wie sie Plato zu eigen waren) und damit in Konkurrenz zu einer kultisch zentrierten Zivilisation getreten wäre. Ovid wiederum muss nicht die Verbannung, weil Meinungsfreiheit nun abgeschafft wurde, sondern weil er offenbar die Sexualgesetzgebung des Augustus in einem bestimmten Moment gefährdete. 

Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen natürlich bis heute dort, wo die jeweils Mächtigen ihre Macht gefährdet sehen. Ansonsten konnte man in der Antike die Kulte ignorieren und offen diskutieren. Das ändert sich mit den Religionen (Judentum, Christentum, Islam), die ganze Glaubenslehren entwickeln, die verpflichtend sind, und sie sind verpflichtend, weil sie eine Menge ewige Wahrheiten enthalten. Religionen sind unduldsam wie ihre politischen Nachfolger seit dem 18. Jahrhundert.

 

Das Problem ist auch ein psychologisches: In Zivilisationen mit ihren Unterdrückungsstrukturen scheint für die meisten Menschen Nichtwissen unerträglich zu sein, und Wissen ist immer gering im Unterschied zu dem, was man nicht weiß. Unter psychischem Druck werden die Lücken des Nichtwissens durch den Glauben gefüllt, religiösem im Mittelalter, politischem heute. Und da Glauben eigentlich als Nichtwissen etwas sehr schwaches ist, wird er gestärkt durch emotionale Verstärkung. Und damit er sich aus der Gefahr der Ungewissheit löst, wird diese systematisch eintrainiert und in Massenveranstaltungen indoktriniert.

Das Absolvieren kultischer Handlungen ohne sonderliches Lehrgebäude enthält so die Chance größerer gedanklicher Freiräume, während ausführlicher Glaube welcher Art auch immer in Meinungsdiktatur führt und Hass auf abweichende Minderheiten.

 

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Für die neue Gelehrsamkeit tun sich zwei Wege auf: Entweder man nimmt an, dass Glaubensinhalte in antiker augustinischer Tradition und der des Boethius ihrem Wesen nach nicht unvernünftig sind, und darum der Vernunft durch Nachdenken über Methode und Inhalte des Zugangs offen stehen, oder aber man geht davon aus, dass der Kern der Inhalte des Glaubens nur jenem Glauben zugänglich ist, der nach Augustinus göttlicher Gnade entspringt. Beide Positionen ignorieren fast alle Menschen als die Dummen und Ohnmächtigen oder die dem Heil nicht Zugänglichen, deren Lebenssinn nur darin zu bestehen hat, den Reichtum der ganz Wenigen zu erarbeiten, die also fast ganz Körper zu sein haben, während die Gelehrsamkeit fast ganz Kopf, also Gehirn wird, Kopf, der sich mit Kopfgeburten beschäftigt.

 

Der Neubeginn von Philosophie und Wissenschaften wird so allemal mit seinen Türmen aus Elfenbein wesentlicher Beitrag dazu sein, dass unter den Bedingungen von Kapitalismus hochgradig abgeschottete Bereiche entstehen, die sich untereinander nicht mehr kennen, auch wenn sie im eher seltenen Einzelfall den Übergang von einem zum anderen erlauben werden. Wenn dann im 18. Jahrhundert im Deutschen ein Bildungs-Begriff auftaucht, der Zusammenhänge durch Vielseitigkeit herstellen möchte, ist es längst zu spät, aber selbst eine darauf aufbauende im neunzehnten Jahrhundert entwickelte Schule für die Wenigen, die sie überhaupt noch wollten und erreichen konnten, wird in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Interesse globalisierter Kapitalverwertung zerschlagen werden.  

 

Zurück ins 11. Jahrhundert und zu den Versuchen, Glaubensinhalte mit der Vernunft zu erfassen, während gleichzeitig durch die Reformer in der Kirche und deren Konflikte mit weltlicher Macht die unbelesenen Vielen mit einfachen Schlagworten aufgerüttelt werden.

Nunmehr gibt es durch den Zugang zu neuen Texten einen neuen Zugang zu Aristoteles. Auf dieser Basis verkündet in der zweiten Häfte des 11. Jahrhunderts der aus Aosta in Oberitalien stammende adelige Mönch Anselm von Canterbury, der im Kloster Bec in der Normandie bei seinem Landsmann Lanfranc studiert hatte, dass der christliche (in kirchliche Doktrin gefasste) Glaube geradezu dazu einladen würde, ihn mit den Mitteln der Vernunft zu erklären, so dass man ihn gegenüber denen, denen er (noch) fehlte, auch argumentativ vertreten könne. Es geht um Philosophieren also, um das Handwerkzeug dafür in die Hand zu bekommen, sogar zu Gott finden zu können ohne zuvor zu glauben. Dabei „wurden die Vorgänge des Begreifens, Verstehens, Glaubens selbst zum Gegenstand des Nachdenkens.“ (KellerBegrenzung, S.299) Glauben ist nun nicht mehr blind, wie an sich von der Kirche für die ihr Unterworfenen gefordert, sondern kann mit Erkenntnis verbunden werden. Als Abt von Bec mit seinen 120 Schülern beginnt Anselm das, was man später Scholastik nennen wird, die Untersuchung von Begriffen und Gedanken mittels einer Beweisführung und über logische Schlüsse. Dabei verzichtet er auf das Belegen seiner Gedankengänge durch kirchliche Autoritäten: Die Vernunft bewegt sich dahin, Autonomie über das hinaus zu erreichen, was sie im Alltag ohnehin besitzt.

 

Das hatte sich als Gedankengut langsam seit dem 10. Jahrhundert entwickelt und findet in Anselm seinen ersten Höhepunkt. Soweit lässt sich das auch (damals) noch gut mit der Laufbahn eines Mönches vereinbaren, der dann Prior und Abt wird, um als Erzbischof von Canterbury und Heiliger zu enden. So kann Anselm noch schreiben: Ich strebe nicht, o Herr, in deine Höhe vorzudringen, weil ihr mein Verstand niemals gewachsen ist; aber es verlangt mich danach, ein Stück weit Deine Wahrheit zu verstehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche nämlich nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu verstehen. Denn auch das glaube ich: Wenn ich nicht glauben würde, könnte ich nicht verstehen. (in KellerBegrenzung, S.312) Daneben bleibt aber in den Gebeten und Meditationen eine zunehmend inniger werdende Beziehung zu Gott: Es deuten sich die ersten Anfänge einer späteren Trennung von Philosophie/Theologie und jener Frömmigkeit an, die manchmal als persönliche Religion bezeichnet wird.

 

Dieser neuartige Eintritt der Vernunft in die Theologie gipfelt bei Anselm in einem Gottesbeweis, also einem logisch vermittelten Beweis der Existenz Gottes, ein Weg, von dem niemand damals ahnen konnte, dass er später dem doktrinären Kirchen-Christentum und überhaupt jedem Gottesbegriff Schaden zufügen würde; der neue Eintritt der Vernunft in die Religion würde schließlich in der Erkenntnis ihrer grundlegenden Unvernünftigkeit enden. Aber davon sind wir noch einige Zeit entfernt, erst im 13. Jahrhundert wird die Pariser Kirche Aristoteles-Texte an ihrer Universität verbieten, da sie erkennt, dass freies Denken jede kirchlich vermittelte Religion zerstören kann.

 

Der Einfluss Anselms auf die wenigen Belesenen seiner Zeit ist enorm, auch wenn sie bald danach suchen, über die von ihm selbst gesetzten Grenzen hinaus zu gelangen. Und der wichtigste unter ihnen wird wohl Abaelard, bald niederer Kleriker, der in Paris erst lernte und dann lehrte. (siehe das ihm gewidmete, eher unphilosophische Großkapitel)

 

Wie sehr der Versuch, Vernunft und Theologie zusammenzubringen, schon im 11. Jahrhundert zu Konflikten führen kann, belegt Berengar von Tours. Schüler des Bischofs Fulbert von Chartres, wird er Kanoniker an Sankt Martin in Tours, dann Leiter der Domschule dort. Laut ihm macht die Vernunft den Menschen zum Ebenbild Gottes, dem er in ihr nahekommt, und ohne Dialektik und eben damit Vernunft kann er sich dieser Ebenbildlichkeit nicht nähern: Maximi plane cordis est per omnia ad dialecticam confugere, quia confugere ad eam ad rationem est confugere, quo quid non confugit, cum secundum rationem sit factus ad imaginem die, suum honorem reliquit nec potest renovari de die in diem ad imaginem dei. (in EhlersOtto, S.279).

 

In Konflikt, der auf mehreren Synoden ausgetragen wird, auf denen seine Ansichten verworfen werden, tritt er am Punkt der Eucharistie, also der in der Kirche seit dem 9. Jahrhundert immer enger formulierten Position, dass dabei Brot und Wein ihrer „Substanz“ nach in Leib und Blut Christi verwandelt werden, was allerdings als Mysterium nicht näher erklärt werden könne. Berengar wendet dagegen ein, dass das mit Aristoteles nicht möglich sei, da die Eigenschaften einer Substanz an diese gebunden seien. Die Präsenz Jesu könne also nur eine symbolische sein, wobei er sich auf frühe christliche Schriften und das Evangelium beruft.

Er wird mehrmals zum Widerruf gezwungen, den er dann jeweils später wieder zurücknimmt. Den intellektuellen Konflikt trägt er vor allem mit Lanfranc, dem Abt des Klosters Le Bec aus, gegen den er im 'Rescriptum contra Lanfrancum' seine Eucharistielehre verteidigt. Den Beteiligten ist dabei deutlich, dass die Eucharistie nur ein Beispiel für alle göttlich, d.h. kirchlich verfügten Glaubenswahrheiten ist.

 

Dieses Beispiel dient nicht nur dazu, eine über weite Räume ausgetragene intellektuelle Streitkultur zu etablieren, die einigen in ihrer Krisenhaftigkeit durchaus bewusst wird. Der Eingriff der Vernunft in Glaubensinhalte bringt die Kirche auch dazu, ihre Vorstellungen immer enger in Dogmen einzuengen. Sie wird versuchen, mit dem Wort Transsubstantiation und dem Dogma der Substanzveränderung von Brot und Wein über die Vernunftgründe hinweg zu springen. Immerhin darf man nicht vergessen, dass das Wunder als etwas nur durch Gottes magische Kräfte Erklärliches schon lange zum religiösen Alltag gehört.

 

 

***Vom möglichen Unheil der Vernunft***

 

Andererseits: Sobald Vernunft in Sprache auch reflektiert wird und sich von bestimmten Inhalten verselbständigen kann, kann sie auch systematisch in die Irre führen. Der Mensch ist zwar der vernünftigen Reflektion fähig, aber wenn man ihn auf sie reduziert, verliert er sich selbst. Das geschieht umso mehr, wenn der Verstand des Verständigen versucht, Sinnhaftigkeit in das Leben seines Trägers zu bringen, sich dabei zwar der Vernunft bedient, aber nicht von ihr ausgeht, denn sie ist als Urgrund seines Daseins unerträglich. 

 

Bekanntlich formatiert die Vernunft Interaktionen zwischen Körper und Gehirn im Kopf in Sprache. Die Dominanz des körperlichen Begehrens und des im und am Körper Gefühlten beruht auf dem triebhaften Willen zu leben, zu überleben und sich fortzupflanzen. Schon alleine insofern würde sich Zivilisation als für die Untertanen unvernünftig erweisen, würde Religion sie nicht plausibel machen und würden Konsumversprechen sie nicht tragen. Einordnung in eine überschaubare Gemeinschaft mit einer ebenso überschaubaren Umwelt wird ergänzt und immer mehr ersetzt durch den damit nicht unmittelbar übereinstimmenden Willen institutionalisierter Macht. Unmittelbare Lebenserfahrung wird nun durch Setzungen solcher Macht eingegrenzt und neu interpretiert. Der widerstrebende Körper wird dabei überkopf durch Propaganda manipuliert.

 

Die reflektierende Vernunft der städtischen Zivilisationen des antiken Hellas und des Imperium Romanum wie die derer des 11. und 12. Jahrhunderts, eine Sache weniger, tendiert des öfteren zur Weltflucht, einer, in die sich das Christentum gut einbetten ließ. Diese Fluchttendenz, die Philosophen wie fromme Einfältige dazu bringt, den Kopf den Körper über die Maßen zwingen zu lassen, praktiziert zugleich im Übermaß das, was die Fäuste, die Waffen und die Propaganda der Machthaber mit den Untertanen praktizieren: Untertänigkeit.

Das alles ist deshalb wichtig, weil die Vernunft der Machthaber, die der Gelehrten und die sich nun entwickelnde des Kapitals als zweiter, analoger Natur beginnen, unmerklich zusammen zu fallen. Dabei wird Vernunft vom Mittel zum Zweck werden, der sich in der Maschine und am Ende im Automaten erweist: Da die Vernunft den Menschen als unvollkommen vorfindet, in ihrer Autonomie aber nach Vollkommenheit strebt, wird aus christlichem Erlösungsglauben die Vervollkommnungs-Maschinerie des Kapitals. Aus der vergleichsweise harmlosen Despotie früherer Gewaltherrscher wird so die allumfassende und als übergeordnete Naturgewalt wirkende Logik des Kapitals fungieren.

 

Der sinnlich und gefühlsmäßig erlebende und Erfahrung sammelnde Mensch wird zu einem Geschöpf der Vernunft des Kapitals, und als Lebewesen hält er das nur aus, indem er sich immer mehr aufspaltet. Die befreiende Kraft, die von den gelehrten und belesenen Denkern des 11. Jahrhunderts ausgeht, wird ein Vernunftwesen Mensch kreieren, welches sich der Logik des Kapitals adaptiert. Fühlen und Verstehen, unmittelbare Erfahrung und Nachdenken, vernünftiges Denken und sein Fundament im ganzen Menschen werden auseinanderfallen. 

 

Sprache, in der frühes Philosophieren im antiken Hellas begann, also das Format der Artikulation von Vernunft, erwies sich schon früh als eine Falle für das Denken. Mit der Substantivierung des nicht Substantiellen, von Eigenschaften und Vorgängen, wird es möglich, einen Gott zu denken, der nicht mehr eine bestimmte Naturkraft repräsentiert, sondern als Superlativ gedacht, das Eine Einzige, das beste Gute, die unumstößliche Wahrheit oder das Größte überhaupt ist. Dann wird für Anselm von Canterbury der denkbare Gott zu etwas notwendig zu Denkendem, weil man nichts über ihn hinaus denken kann: Denken und Glauben verschmelzen so in einer sich verselbständigenden Vernunft, die sich ihre eigenen Gegenstände schafft. Joachim Ehlers formuliert für Anselm: "Weil Gott in meinem Denken existiert, existiert er (…) notwendigerweise und ist als nicht-existent undenkbar." (In EhlersOtto, S.103)

Der Gott, der über der Natur (als sich stets wandelnde Welt gedacht) diese beherrscht, wird parallel zum Kapitalismus entstehen, und dann von denen abgelöst werden, die kollektiv an seine Stelle treten, weil sie meinen, aus vernunftgeleitetem Verstehen der Natur der Dinge diese nun im Dienste des Kapitalismus selbst beherrschen zu können. Der naive Glaube an die Macht der Vernunft entfesselt die Explosivkraft des Kapitals: Eine wirkliche Revolution wird dann am Ende ihre Kinder fressen.

 

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Besonders deutlich wird das Unheil der Vernunft dort, wo es zur Gänze nicht in Kenntnissen fundiert ist, sondern auf Glauben beruht. Dann wird das, was man gerade nicht weiß, zur Grundlage von Urteilen. Um einmal ein Beispiel aus der Welt des Islams zu nehmen: Im 12. Jahrhundert versucht der Muslim Abu Hamid den ungarischen König Geza II. von folgendem zu überzeugen: Die Gesetzmäßigkeit der Muslime ist nicht wie die Gesetzmäßigkeit der Christen. Der Christ trinkt Wein statt Wasser nach dem Essen und wird nicht betrunken; dies vermehrt seine Kraft. Der Muslim, welcher Wein trinkt, wird aber im höchsten Maße betrunken, die Vernunft verlässt ihn und er wird ein Narr: Er treibt Ehebruch, tötet und fällt vom Glauben ab (...) Was die Sklavinnen und Frauen betrifft, ist dem Muslim die Vielehe erlaubt wegen der Leidenschaft ihrer Veranlagung. (in: Borgolte, S.263).

Hier wird nicht nur das vermeintlich göttlich offenbarte Gesetz mit damit von vorneherein inkompatiblen (menschlichen) Vernunftgründen belegt, um es plausibel zu machen, sondern es werden auch religiöse Vorschriften auf natürliche (biologische) Besonderheiten der Anhänger der jeweiligen Religion zurückgeführt, das alles aber nur implizit. Abu Hamid ist ein vielgereister Islamgelehrter und belegt, dass weder religiöse Gelehrsamkeit noch das Reisen per se die Urteilsfähigkeit steigern. Wir können vielmehr vermuten, dass sie bei ihm auf diesen Wegen eher schaden genommen hat.

 

 

Logik und Dialektik bei Abaelard

 

In der 'Historia Calamitates' schreibt der Lehrer Abaelard: Ich befasste mich damals zuerst damit, die Grundlagen unseres christlichen Glaubens durch Analogien aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft zu erläutern, und verfasste eine theologische Abhandlung >Über die göttliche Einheit und Freiheit< für meine Studenten. Diese begehrten eine verständliche philosophische Beweisführung und wollten Begreifbares hören, nicht bloße Worte (…) Man könne erst etwas glauben, wenn man es zuvor begriffen hätte.

 

Falls das tatsächlich von Abaelard stammt, was einige bezweifelten, gibt es doch immerhin das Zentrum jener Wende wieder, die das Denken auf die Dauer aus dem kirchlichen Rahmen entfernen wird, in dem es dann immer weiter abstirbt. Nur glauben, was man auch versteht, hieße zum Beispiel, die Trinität, aber auch manches andere argumentativ untermauern zu müssen, damit es Bestand hat, andernfalls würde der christliche Glaube zerfallen, was Abaelard allerdings noch nicht wollen konnte. Zudem ist es ein Dokument für die Anfänge dessen, was man als Intellektualität bezeichnen kann, das Selbstdenken und Untersuchen an allen Autoritäten vorbei, ein Ende des Nachplapperns und des Verneigens vor dem nicht mehr Diskutierbaren. Bei Abaelard ist das ein Drahtseilakt, denn er bleibt zugleich in der Praxis frommer Christ. Nicht die Destruktion des Glaubens ist sein Ziel, sondern dessen vernünftige Begründung.

 

Sein Bewunderer Otto von Freising, Schüler in Frankreich, als Abaelard dort Lehrer ist, und später Bischof von Freising, schreibt bewundernd über seine Lehrer Alberich von Reims und Robert von Melun: Bei allen Themen voller methodischer Zweifel fand der eine überall Anlass zu kritischer Untersuchung. Mochte eine Ebene noch so glatt erscheinen, nie fehlte ihm ein Stein des Anstoßes, und – wie man zu sagen pflegt – nirgends erschien ihm ein Grashalm ohne Knoten; denn er wies stets darauf hin, was noch entknotet werden müsse. Dagegen war der andere höchst schlagfertig im Antworten. Er wich keiner Frage aus, ergriff Partei, wenn sich die Standpunkte schroff widersprachen, oder bewies aus der Mehrdeutigkeit der Rede, dass es keine allgemeingültige Lösung geben könne. (in WGoez, S.222)

 

Dann, als Bischof und enger Berater Friedrich Barbarossas, zählt er die Inhalte der sechs Bücher der aristotelischen Logik auf, das Handwerkszeug des neuen Denkens. Da ist das Kapitel über die Kategorien, das über die Sätze, das über die logische Verknüpfung von Sätzen, dann das über die Methoden des Schließens, das über die Schlüssigkeit der Beweise und als letztes das von den Mitteln, sich vor sophistischen Trugschlüssen zu hüten, um so den vollkommenen Philosophen umfassend zur Wissenschaft nicht nur der Wahrheitserkenntnis, sondern auch der Vermeidung von Irrtümern anzuleiten.

 

Im antiken Trivium ist als Titel nicht die Logik, sondern die Dialektik enthalten. Wörtlich aus dem Altgriechischen als "Gesprächsführung" zu übersetzen, wird es zur Kunst der Auseinandersetzung mit einem Thema auch bei dem einzelnen Nachdenkenden. Mit der von Aristoteles systematisierten Logik als vernunftgemäßer Kunst des Verbindens von Begriffen und Aussagen miteinander wird seit dem 11. Jahrhundert die Form benannt, in der Dialektik stattzufinden hat. Dabei wird unausdrücklich impliziert, dass die Struktur des menschlichen Denkapparates in Übereinstimmung mit der Welt der zu betrachtenden Gegenstände steht. Dass Gegenstände, also Objekte, überhaupt erst durch Wahrnehmung entstehen und in ihrer Benennung also Wahrnehmung durch das Subjekt enthalten ist, dass zudem das In-Beziehung-Setzen an die Struktur des Menschenhirns gebunden ist, kann dabei zum Thema werden. Dabei kann dann auch die Frage aufkommen, ob Benennungen von Gegenständen darauf verweisen, dass es diese Gegenstände, also zum Beispiel Gott, überhaupt "gibt", sie also wirklich gegeben sind, oder bloß imaginär, in einer Welt schier vorgestellter Dinge auftauchen.

 

Der von den jüdischen Tempelpriestern kultisch verehrte und völkisch definierte Gott  auserwählter "Stämme" hatte durch den evangelischen Jesus etwas andere Charakterzüge erhalten. Diese wurden dann noch einmal massiv verändert und neu definiert durch die Integration von Einflüssen griechischer Philosophien. Indem das Altgriechische alle Eigenschaften (ähnlich wie zum Beispiel das Deutsche) nominalisieren (neutralisieren) kann, konnte dieser Gott nun alle positiv gewerteten nominalisierten, also an einem Gegenstand nicht mehr haftenden (eigentlichen) Akzidentien wie die des Guten, des Wahren, des Ewigen, der Liebe (einer nominalisierten Tätigkeit, die auch gerne als Haltung verklärt wird) in sich vereinen und durch sie definiert werden. Indem er so nun zum Sehnsuchtsort aller solcher positiven Phantasien wird, bietet er sich den Gelehrten dermaßen als Fixstern ihres Gedankenhimmels an, dass das Nichtsein desselben, wiewohl er nirgendwo erfahrbar ist, undenkbar geworden ist. Wer wollte schon eine Welt bewohnen, die nicht nach Maßgabe menschlicher Sprachakrobatik und ebenso menschlicher Sehnsüchte nach Behaustsein und Aufgehobensein gestaltet ist. 

 

Wenn es aber diesen einen Gott "gibt", weil es ihn geben muss, dann wird das Denken klerikaler (und nunmehr auch mönchischer) Weisheitssuchender bei aller Aufbruchstimmung des 11./12. Jahrhunderts im Kern um ihn kreisen und Grammatik, Rhetorik und Dialektik dafür in Dienst nehmen, und dank des göttlichen Fixsterns im Himmel werden sie für einige in der philosophia zusammenfallen, aus der sie in der fast schon frühkapitalistischen altgriechischen Kaufleutewelt herstammen, die sie dann noch mit der mathematisierten Weltsicht verband, wie sie sich im (lateinischen) Quadrivium findet. 

 

Andere hatten Abaelard schon vorgearbeitet, von dem sehr eigensinnig dafür aber kaum Dankbarkeit zu erfahren ist. Seit den 80er Jahren des elften Jahrhunderts begannen sich Schulen zu bilden, die sich in der Entscheidung darüber unterschieden, was denn genera und species bei Aristoteles (via Porphyrios) seien, nämlich entweder, in einer dialectica in re, real existierende Größen, oder aber voces, also rein sprachliche Phänomene. Eine dialectica in voce bedeutet dann Philosophieren als Sprachreflektion in ganz anderem Maße.

Philosophieren als Nachdenken über Sprache enthält eine enorme Sprengkraft, die sich dann verstärkt, wenn auch noch darüber nachgedacht wird, was (daneben?) als Wirklichkeit gedacht werden könnte. An beidem wird das Philosophieren im 18./19. Jahrhundert sein Ende (seine Enden) finden. Aber schon vor 1100 bemerken führende kirchentreuere Denker die Gefahren für die Religion. Zur Ketzerverfolgung sich verselbständigender Frommer kommt längst auch die der Falsch-Denker. Dabei sind richtig und falsch längst zu Gegenständen gelehrter Diskussion geworden. (Rexroth, S.136ff)

 

„Für Abaelard ist die Dialektik einerseits die Lehre darüber, wie man zwischen gültigen und ungültigen Argumenten zu unterscheiden hat, andererseits darüber, wie man zu den Argumenten selbst gelangt. Deshalb beschäftigt sich der Dialektiker nicht mit den Dingen der Welt, sondern mit den Wörtern, mit denen wir die Dinge bezeichnen. Die Logik ist also die Wissenschaft von den Wörtern, d.h. sie ist Sprachlogik. Deshalb untersucht er vor allem anderen, was wir mit unseren Begriffen, soweit wir sie in Wörtern ausdrücken, meinen.“ (Grane, S.44)

In seiner 'Dialectica' beschreibt Abaelard das so: Um die Logik vollkommen zu beherrschen, ist es notwendig, zuallererst das Wesen der einfachen Ausdrücke zu erkennen, dann das der zusammengesetzten, um schließlich zum höchsten Ziel der Logik, der Argumentation zu gelangen. (In: Clanchy,.S.139) Dabei kann Abaelard dann von Porphyrius über Aristoteles (Kategorien: Genus, Species, Differentia, Proprium und Accidens) zu Boethius voranschreiten, der letzterer sich dann mit Arten der Argumentation beschäftigt. 

  

Aber wichtig ist, und das wird hier betont, dass man weiß, wovon man redet. Dabei schließt sich allerdings Philosophie in den Raum ihrer eigenen Begriffe ein und die lebendige Wirklichkeit ein gutes Stück weit aus. Auf diese Weise wird Abaelard die Auseinandersetzung mit seiner Sexualität am Ende vermeiden und sich am Ende zwischen Denken und Sexus entscheiden. Immerhin aber formuliert er einen Anspruch an Voraussetzungen für ein Gespräch, wie ihm selten Menschen folgen werden. Das wird in der aggressiv-terroristischen Propaganda des Politischen seit dem 18. Jahrhundert erst so richtig deutlich werden.

 

Damals entwickelt sich aus den Dialektiken in re und denen in voce der metaphysisch werdende Universalienstreit, in den Abaelard mitten hineingerät: Sind Allgemeinbegriffe das Gemeinsame in verschiedenen Einzelnen, also Abstraktionen, oder, wie die „Realisten“ unter den „Nominalisten" sagen, so wirklich wie der konkrete Baum und Berg. (Oder benennen sie auch schon mal das, was es nicht gibt!) Das wird, ganz implizit, wichtig für Begriffe wie Gott oder das Gute oder (später) die „Menschlichkeit“ und den "Fortschritt" werden... Immerhin, so ist hier zu sagen, denn die Politisierung der Moral als Ersatzreligion wird seit dem 18. Jahrhundert das Hinterfragen neu-heiliger Worte, die wie Begriffe daherkommen sollen, mindestens so aggressiv und brutal beantworten, fast ganz gleich, welche Politreligion dabei gerade angesagt ist.

  

Schon sieben Jahrhunderte vor Abaelard hatte Augustinus die Dialektik zur Disziplin aller Disziplinen erhoben, da der Weg des Lernens nur über sie führe. Verwurzelt ist sie aber in den Schriften des Aristoteles. In seinem 'Metalogicon' nennt Johannes von Salisbury Abaelard den Peripatetiker von Le Pallet (peripateticus palatinus), der sich im Fach der Logik in so unvergleichlicher Weise vor all seinen Zeitgenossen auszeichnete, dass man glaubte, nur alleine er verstehe Aristoteles wirklich. Johannes war ab 1136 Schüler von Abaelard in Paris. Abaelard wusste dabei wohl, dass dem Lateiner noch eine Menge Aristoteles (in der Übersetzung) fehlte, er konnte kein Griechisch. Immerhin scheint er sich etwas davon spekulativ erschlossen zu haben.

  

Die Vernunft kann bei Abaelard kein Neuland, schon gar kein religiöses entdecken, sie bewegt sich als kritische immer in den Bereichen, die schon vorgegeben sind. An den Dogmen und Autoritäten wird nicht gerüttelt, da sie ja auf Offenbarung zurückgehen, sondern sie werden nur vernunftgemäß erklärt.

Christus ist das Wort Gottes, aber, so heißt es in seinem 'Soliloquium': Damit ist das gemeint, was die Griechen mit logos bezeichnen. Deshalb sagt auch Augustinus in dem 'Buch der dreundachtzig Fragen' in Kapitel 44: 'Am Anfang war das Wort (Johannes 1, 1), das auf Griechisch logos genannt wurde.' Folglich sollte – in Entsprechung mit der Etymologie des Begriffs – ein jeder, der aufgrund der Lehre und aus Liebe an diesem wahren und vollkommenen Wort festhält, wahrhaft 'Logiker' und Philosoph genannt werden. Insofern sollte man auch die christliche Lehre vor jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin im eigentlichen Wortsinn als 'Logik' bezeichnen. (im Deutsch von Clanchy, Abaelard., s.o.S.62)

 

Tatsächlich fällt für Abaelard die Logik mit der Dialektik zusammen. Die Logik ist der Weg der Vernunft, und die Dialektik seine Reflektion in den Sprachstrukturen.„Folglich ist die Dialektik so wenig ein abstrakt-theoretisches Spezialvorhaben, dass sie für Abaelard als angewandte Dialektik oft ein Synonym für die menschliche Vernunft, die ratio, wird.“ (Grane, S.96) Damit wird die Dialektik zur Methode, die sich auf alle möglichen Gegenstände übertragen lässt.

Glauben und Vernunft sind für Abaelard etwas verschiedenes und die Vernunft ersetzt nicht den Glauben, sondern besteht neben ihm. Diese Vernunft führt auch nicht in Richtung Metaphysik und entwickelt auch keine altgriechische theoria. Bei Bernhard von Clairvaux heißt es im anklagenden Brief 190: Du flüsterst mir ins Ohr, der Glaube sei nur eine Meinung und murmelst etwas von Zweideutigkeit, als ob es überhaupt keine Gewissheit gäbe. Für ihn ist der Glaube höchste Gewissheit, und das Anlegen der Vernunft etwas, was ihn in vernunftgemäße Meinungen zerlegt, die eben „weniger“ sind Dagegen sagt Abaelard in der 'Historia' über die (vorgeschobenen) Forderungen seiner Schüler: Sie sagten, dass das bloße Aussprechen von Worten, denen kein Verständnis (intelligentia) folge, überflüssig sei, und dass man nichts glauben könne, was nicht zuvor verstanden wurde. (Zeilen 605ff) Dadurch, dass man einen Glaubenssatz versteht, wird er also laut Bernhard zur Meinung (opinio). Letztlich widerspricht das nicht Abaelards Position, dass es durch forschendes Denken nur Annäherungen an jene Wahrheit geben kann, die alleine bei Gott ist. Bloß hemmt das nicht seinen Forscherdrang, während man bei Bernhard durch den Glauben auf weiteres Nachforschen Abaelardscher Art besser verzichten solle.

  

Über die Kirchenväter heißt es in Abaelards Theologia: Es genügte ihnen, die Probleme aufzulösen, die sie hörten, und die mit Zweifeln behafteten Fragen ihrer eigenen Zeit zu beantworten, dabei aber ihren Nachfolgern ein Beispiel dafür zu hinterlassen, wie man auf ähnliche Fragen achten muss, wenn sie sich einstellen sollten. Ohne Quaestio keine Disputatio. Diese aber ist Urteilsbildung als „Beweisführung“ ('Dialectica'), das hohe Ziel der Dialektik. In demselben Text verweist Abaelard auf der Dialektik zugängliche Themen, in denen nämlich ein Urteil von richtig oder falsch getroffen werden kann, wie es Boethius in seinem 'De Topicis' behandelt hat.

  

Theologisch sieht sich Abaelard so wenig wie methodisch als Neuerer, sondern als Erklärer des Vorhandenen. Was fortschreitet, ist die Theologie, nicht der Glaubensinhalt. In der ersten Version seiner Theologie schreibt er:

Wir können zwar nicht versprechen, die Wahrheit (veritas) zu verkünden, von der uns ein jeder zugeben würde, dass weder wir selbst noch irgendein Sterblicher sie wissen kann, sondern nur eine Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitudo) mit ihr, die sich im Einklang mit der menschlichen Vernunft und nicht im Gegensatz zur Heiligen Schrift befindet. Wir wenden uns damit an jene, die sich rühmen, den Glauben mit menschlichen Vernünfteleien zu ergründen. ... Was die Wahrheit ist, weiß allein der Herr. Ich aber maße mir an, ein Urteil zu fällen über das, was man über ihre Wahrheitsähnlichkeit zu sagen vermag und was sich am meisten in Übereinstimmung mit den philosophischen Vernunftgründen, die wir handhaben, befindet. (im Deutschen von Clanchy, Abaelard, s.o.S.148)

Im selben Text heißt es: Die Vernunft belehrt einen jeden Menschen auf natürliche Weise über Gott. (s.o.S.345) Das Wort „natürlich“ ist hier entscheidend: Man kann also auch jenseits der Offenbarung zu Gott gelangen.

Heftiger noch äußert sich der christliche Gesprächspartner im 'Dialogus': ... keiner, der verständig ist, verbietet es, dass der Glaube mit Vernunft ergründet und erörtert wird, und keiner kann dem zustimmen, was nicht unzweifelhaft auf einer vernünftigen Voraussetzung beruht. (deutsch in Clanchy, S. 359) Das heißt, die Axt ans Gebäude der christlichen Mysterien zu legen, auch wenn Abaelard das gewiss nicht bewusst war.

Und so wird er in der dritten Version seiner Theologie an der vernünftigen Beantwortung der Frage scheitern, warum ein Biss in den Apfel (sic!) mit dem Opfertod des Sohnes Gottes gesühnt werden muss. Er wird die Frage so ablehnen und vielmehr den Kreuzestod als umfassendes Liebesangebot verstehen. In seinem Kommentar zum Römerbrief besteht unsere Erlösung durch Christi Leiden in der Liebe des Höchsten zu uns... (deutsch in Clancy, S. 363).

 

Das klingt dann wie entsprechende Textstellen von Bernhard von Clairvaux:

Ich meine, dies war der entscheidende Grund, weshalb der unsichtbare Gott im Fleische gesehen werden und mit uns Menschen als Mensch zusammen leben wollte, nämlich indem Er zunächst jegliche Zuneigung der fleischlich gesinnten Menschen zur errettenden Liebe seines Menschseins hinzog, da sie zu einer anderen Form der Liebe nicht fähig waren, um sie daraufhin schrittweise zu einer spirituellen Liebe zu erheben. (Dreißigste Predigt De canticis canticorum, deutsch in Clanchy, S. 364) Man sieht, Bernhard ist nicht so weit entfernt vom Platon des 'Symposion' wie der Aristoteliker Abaelard. Man sieht aber auch, dass beide hier nicht so weit entfernt sind vom zeitgenössischen Trobador Marcabru und seinem Versuch, die amors der cortesia gedanklich zu veredeln.

  

Seine 'Theologie' benutzt ein Wort als Titel, welches früher einmal auf die mythische Götterwelt der Antike bezogen war. Das schuf entsprechend Misstrauen, denn da Gott jenseits aller unserer Welt sinnlicher Erfahrung ist, kann man ihm nur gleichnishaft, in Analogien beikommen. Das versucht Abaelard auch bei der Trinität (wo es drei Namen sind, die ein und dieselbe göttliche Substanz bezeichnen, - 'Dialectica'), und legt sich damit die Fallstricke aus, die seine Feinde dann nutzen. Gottvater ist demnach Macht, Gott Sohn Weisheit, der heilige Geist ist Liebe. Alles drei sind Ausdrucksformen des Einen. Vernünftig mit der Trinität umzugehen heißt für Abaelards Gegner aber, etwas zu zerstören, weil es ganz jenseits der menschlichen Vernunft existiert. Abaelard setze dagegen, dass der vernünftige Mensch an der Vernunft Gottes teilhat und sich so in sie hineindenken kann.

 

 

Theologien bauen Gedankengebäude auf, Abaelard macht aber auch das Gegenteil. In 'Sic et Non' stellt er eine Zitatensammlung aus heiligen Schriften zusammen, die an 158 Themen Widersprüche in vielen zentralen religiösen bzw. theologischen Problemen zeigen und zu denkerischer bis philologischer Anstrengung auffordern: Diese Zitate ziehen aus dem Missklang, den sie zu haben scheinen, die Hinterfragung auf sich, und veranlassen den jungen Leser,zu großem Eifer bei der Wahrheitssuche, damit sie durchs Untersuchen scharfsinniger werden. Der erste Schlüssel zur Wahrheit ist doch die beharrliche und wiederholte Frage. Aristoteles, der klarsichtigste aller Philosophen,hat in seiner Schrift ad aliquid die Schüler ermahnt,, sich die Befragung mit ganzem Sehnen einzuverleiben. Er sprach: Vielleicht ist es aber schwierig, sich verbindlich über derartige Dinge zu äußern, es sei denn, man hat sie sich öfter vorgenommen. Man wird gut daran tun, sie in einzelnen Punkten anzuzweifeln. (Sic et non)

 

In 'Sic et non' verweist Abaelard darauf, dass eine wortwörtliche Akzeptanz heiliger Schriften nicht möglich sei, weil sie ja und nein enthielten, also widersprüchliche Aussagen. Erst in einer spekulativ textkritischen Analyse könne ein Wahrheitsgehalt, etwas „richtiges“ aus ihnen entnommen werden. ... denn durch den Zweifel kommen wir zur Untersuchung und durch die Untersuchung erlangen wir die Wahrheit (Prolog zu 'Sic et non'). Damit entwickelt er reflektierend die dialektische Struktur der Scholastik weiter, ohne die alles spätere abendländische Philosophieren nicht möglich sein wird. Dass Wahrheit dann nur noch bei Gott ist, bedeutet, dass Menschen sich ihr nur annähern können.

 

Davon, dass die Wahrheit jenseits einer mathematisierten Welt elementar eher ein psychisches als ein philosophisches Phänomen ist, wird man allerdings erst im 19. Jahrhundert hören.

 

Das Ergebnis solcher Einstellung des Nachforschens und Zweifelns kann bei wenig ernsthaften Schülern natürlich auch Schaden anrichten. So berichtet Wilhelm von Conches in seinem 'Dragmaticon': Die Schüler fragen vom ersten Schultag an, noch bevor sie sich hingesetzt haben, und, was noch schlimmer ist, sie urteilen. Nachdem sie ein Jahr oberflächlich studiert haben, dass die ganze Weisheit ihnen zugefallen sei, während sie doch nur Fetzen davon zusammengerafft haben; sie verlassen die Schule voll von Geschwätz und Arroganz, ohne Sachverstand. (in EhlersOtto, S.87)

 

Ihr erstes großes Erfolgserlebnis wird die Dialektik im Raum der Macht gewinnen, als Wilhelm von Champeaux 1119 zum päpstlichen Unterhändler gegenüber Heinrich V. im Investiturstreit ernannt wird. „Formal gegensätzliche Wortbedeutungen durch eine strenge begriffliche Unterscheidung miteinander zu versöhnen, war eine fundamentale Fertigkeit eines Logikers, und so konnte auch der Investiturstreit beigelegt werden.“ (Clanchy, S.157). Tatsächlich gab es ein Patt in dem Machtkampf zwischen Papst und Kaiser, und den gedanklichen Künsten der Dialektik gelang es durch verrechtlichte Klauseln einen Kompromiss zu finden. Wurden Konflikte früher bereinigt durch das persönliche Gespräch unter Beteiligung beider Gefolges, so finden sie nun einen juristischen Ausgang in rationalen Formeln.

 

Mit Abaelard beginnt der entscheidende Schritt der Emanzipation des Denkens aus der Fesselung durch die Tradition kirchlicher Autoritäten; kein Schritt aus dem Christentum heraus, aber doch einer hin zu einer kritischen Überprüfung von Glaubensinhalten. Unter anderem setzt er bei der Widersprüchlichkeit kirchlich sanktionierter Aussagen an und verlangt, dass diese über Argumentation und Beweisführung aufgelöst werden müssten, etwas, was Scholastik dann weiterführen wird, bis sie im Verlauf des Mittelalters daran scheitert und die Kirche sich wieder auf ihre Dogmen zurückzieht und damit einen Prozess der allgemeinen Säkularisierung unabsichtlich unterstützt.

 

Vor allem tritt mit Abaelard ein neuer, weithin von Institutionen unabhängiger Gelehrtentyp auf, der nicht mehr Themen in abgeschlossene Untersuchungen packt, sondern das denkende Forschen zu einem dauerhaften Prozess macht. Dreimal schreibt er so einen Text, den er jeweils Theologie nennt. Innerhalb dieser fortschreitenden Forschens rekurriert er manchmal explizit auf andere seiner Texte, denen er prägnante Titel gibt. Dabei pocht er beim Erkenntnisprozess nicht nur auf akademischen Fleiß, sondern mehr noch auf das ingenium, die Begabung, ohne aber dieser Quelle für Erkenntnis in dem Sinne kritisch gegenübertreten zu können, dass darin Subjektivität als Problem angelegt ist. 

Neu ist auch, dass er keine Karriere anstrebt, die in die Machtstrukturen hineinführt. Wilhelm von Champeaux hatte sich wie andere auch dahin drängen lassen, ein Bischofsamt zu übernehmen. Wenn das Studium in ein Amt oder einen Beruf hineinführt, findet es sein Ziel nicht in fortschreitender Erkenntnis, sondern in der Integration in den Machtapparat. Der lässt nicht nur wenig Zeit für selbständiges Nachdenken, sondern schleift es auch durch die Praxis der Machtausübung ab. Abaelard erweckt Misstrauen, weil er nicht zu diesem "Club" dazugehört, und wird wohl auch deswegen abgestraft. Sein wichtigster Gegenspieler, Bernhard von Clairvaux, ist nicht nur Abt, sondern vor allem auch Machtpolitiker, und zwar ein solcher eines ganz neuen Typus. Sich mit hochheiligen Dingen zu beschäftigen, ohne eingebunden zu sein, macht verdächtig. Das wird bis heute so bleiben.

 

 

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Noch etwas anderes ist bemerkenswert: Die namhaften Gelehrten der Zeit sind alle Kleriker, und auch die, die keinerlei Weihen empfangen, sind in aller Regel ehelos. Der beweibte oder gar verheiratete Stern am Philosophenhimmel ist eher eine Seltenheit, vielleicht sogar eine Sensation gewesen. Er wird es oft auch bleiben.

Die katastrophale Begegnung Abaelards mit Heloysa unterstreicht das eher. Die Ausnahme-Persönlichkeit des Intellektuellen tendiert zur kaum anders zu bewältigenden Gefühlsarmut als zur Abspaltung des Geschlechtstriebes, seiner Desintegration.  Die intellektuelle Distanz zum Gegenstand des Denkens macht das Gegenteil dessen, was dem gemeinen Menschen zu eigen ist: Die separiert Gefühl und Denken in dem Maße, in dem gemeinhin andererseits dem Fühlen erlaubt wird, das Denken in engen Grenzen zu halten.

 

So äußert sich Abaelard zum Beispiel in einer Version seiner 'Theologia': Inde Hieronymus et Theophrastus dicunt: nulli sapienti ducenda est uxor. Kein Weiser also soll sich eine Frau ins Haus holen, bei anderem nämlich, etwa bevor wir ein Pferd kaufen, können wir die Beschaffenheit zuvor erproben; ein Weib aber dürfen wir nicht erproben, eh' wir's heimführen. (Dieser ebenso uncharmante wie vernunftgemäße Vergleich ist im Deutsch von Gilson, S.137 hier übernommen).

 

 

Der Umweg über den Islam und das Judentum

 

Während auf solche Weise ein Fundament gelegt wurde, kam es durch äußeren Einfluss zu einer Erweiterung des Horizontes. Die arabische Welt hatte erst kurz vor der Erfindung des Islams eigene Schriftlichkeit und eine gemeinsame Sprache entwickelt, wobei sie mit verschriftlichter Textproduktion erst bei ihrem schnellen Eroberungszug nach Norden, insbesondere durch Syrer und Perser, vertraut wird. Über die Ausweitung des Machtbereichs und die Übernahme und den Ausbau von Großstädten kommen Vertreter einer neuen islamischen Gelehrsamkeit auch mit altgriechischer Philosophie in Berührung, wobei Aristoteles zunächst einmal recht schnell vor allem im neunten Jahrhundert von einigen und wie immer wenigen Gelehrten adaptiert werden kann, denn der Islam kommt von Anfang an ohne die verzwickten Probleme christlicher Theologie aus. Arabische Philosophen müssen aber ebenfalls vorsichtig sein, sobald sie Grenzen hin zur Religion überschreiten.

 

Eine solche Grenzüberschreitung gelingt dann im 12. Jahrhundert dem Juristen, Arzt und Philosophen Averroes in Cordoba, dort wo Islam, Judentum und Christentum mit orientalischer Prachtentfaltung und Handelswesen zusammentrafen. Bei ihm ist die Religion zu einer Art Leitfaden für die Lebensführung der Massen der Ungebildeten herabgestuft, während die aristotelische Philosophie den eigentlichen Zugang zum Wissen bietet. Der Mann wird das mit dem Exil in Marrakesch büßen müssen, wo damals etwas mehr Offenheit herrschte. (ausführlicher bei FlaschDenken S.282ff)

 

Averroes verfasst Kommentare zu zahlreichen Aristoteles-Texten, auch zu solchen, die im lateinischen Westen noch unzugänglich gewesen waren, und über Übersetzungen gelangen sie nun auch zurück in das lateinische Abendland. Seine Interpretationen von Aristoteles und dessen Schriften selbst geraten bei der Kirche zunehmend in Verruf. Eines unter vielen Problemen wird, dass der Islam wie Aristoteles den Einen wirklich in der Einzahl denkt, wogegen der verflixte Trinitätsgedanke, wie er im vierten Jahrhundert fixiert worden war, dicker Wälzer als Erklärungsversuch und sehr viel blinden Glaubens bedarf.

 

Die Begegnung mit antiker Gelehrsamkeit über den Umweg der islamischen Welt begann schon im 10. Jahrhundert. Ein Laienbruder des Klosters Monte Cassino, Constantinus Africanus, übersetzt Mitte des 11. Jahrhunderts Übersetzungen griechischer Texte ins Arabische nun ins Lateinische. 

 

Mit der Eroberung Toledos 1085 durch Alfons VI.  und mit seiner Bevölkerung aus Muslimen, Juden und Christen um einen aus dem Gebiet des späteren Frankreich stammenden Kathedralklerus wird die Begegnung mit den Gelehrten der islamischen Welt intensiver. Gerhard von Cremona reist hierhin, um arabische medizinische Texte zu übersetzen. Domingo Gundisalvo studiert 1162-81 den Aristoteliker Al-Farabi. Der Jude Abraham ibn Daud (Avendaud) übersetzt Avicennas 'De anima" und Domingo Gonsalvo übersetzt ihn dann um 1160 weiter ins Lateinische. Später wird dieser Text dann in Oxford auftauchen.

Ein ähnliches Schicksal haben Texte von Averroes (Ibn Rushd).

Ein modisches Missverständnis ist es, diese Tradierung antiker griechischer und lateinischer Texte dem Islam zuzuschreiben, der das ähnlich behindert wie auch das Christentum, sondern es ist eher naheliegend, sie als Ausfluss eines Kosmopolitismus und erheblichen Wohlstandes der Mächtigen in der inzwischen riesigen islamischen Welt zu betrachten.

 

Die neuartigen Ansätze von Selbstdenken, Befreiungsversuche aus kirchlich verordneter und von der weltlichen Macht durchgesetzter Unmündigkeit, entfernen sich immer deutlicher von kirchlicher Doktrin, was nun bei Berengar von Tours, Abaelard, Gilbert von Porreta (bzw. Porrée) und anderen zu heftigen und aufsehenerregenden Ketzerprozessen führt, die der Berühmtheit der Opfer solch dumpfer Unduldsamkeit allerdings eher zuträglich ist.

 

Gottfried von Viterbo lobt die Bibliothek Friedrich Barbarossas und über andere wissen wir von der Bibliothek der Hildesheimer Domschule mit vielen medizinischen Schriften aus Salerno Mitte des 12. Jahrhunderts. 

 

In der Person des Stauferkaisers Friedrich II. findet die Förderung der über Averroes vermittelten Neubegegnung mit Aristoteles und zugleich grausamster Terror gegen Ketzer statt. Die Erklärung liegt wohl darin, dass der despotische Gewaltherrscher wenigen, vom Herrscher instrumentalisierten Intellektuellen einen von der Macht kontrollierten und dennoch freieren Raum zuweist, während den Massen der Untertanen jede Äußerung auch nur ansatzweise freieren Denkens verboten und mit dem Tod durch Verbrennen bei lebendigem Leibe bestraft wird. 

Dabei neigt Friedrich II. weniger zur Entwicklung eines scholastischen Aristotelismus als zu einer naturwissenschaftlich gegründeten Empirie. Scholastische Spitzendenker wie Thomas von Aquin stimmen ebenfalls zu, dass Häretiker durch den Tod von der Welt ausgeschlossen werden sollen.

 

In der Person des Michael Scotus verbindet sich freieres Denken und Forschungsdrang mit kaiserlicher Macht. Nach seinem Studium kommt er in Toledo mit jenen Übersetzern aus dem Arabischen ins Lateinische in Berührung, die sowohl antike griechische Tadition über den Orient wieder ins Abendland transferieren, in das lateinische nun, als auch mit dem entsprechenden jüdisch/hebräischen Umweg. Des weiteren wird er eigenständige Forschungen der islamischen Welt übersetzen. Roger Bacon wird später schreiben, er habe maßgeblichen Einfluss auf das Anwachsen des aristotelischen Einflusses in der lateinischen Welt gehabt.

 

Neben dem Umweg über den Islam, der die Antike immerhin frei von theologischen Spitzfindigkeiten rezipieren konnte, soweit sich Mächtige dabei nicht bedroht sahen, spielt der über das mittelalterliche Judentum eine wichtige Rolle, welches nicht nur dank fehlender Theologie, sondern dank einer Praxis von rabbinischem Pragmatismus, antikes freieres Denken auch über die Vermittlung durch die Gelehrsamkeit im Rahmen der islamischen Welt und über Versöhnungsversuche mit dem Judentum an die christliche Welt weitergeben konnte. Umgekehrt macht sich bei gebildeten Juden eine ähnliche Tendenz wie bei Averroes breit, zwischen dem Zeremoniellen und Rituellen für das einfache Volk und einer philosophierenden Religiosität der Wenigen zu unterscheiden. Maimonides geht am Ende so weit, im 'Führer der Unschlüssigen' Jesus und Mohammed als Wegbereiter des Messias zu bezeichnen, der eine neue Welt der Gotteserkenntnis bereiten würde (Angenendt).

 

Ketzerverfolgung bei den Untertanen und Erweiterung des Horizontes des Herrschers gehen so nebeneinander einher. Der gelehrte Forscherdrang andererseits hat gar keine Alternative, als sich an solche Herrscher zu wenden, da er ihrer Unterstützung bedarf.

 

Über die Begegnung mit den Intellektuellen der islamischen Welt bekamen aber auch andere Bereiche neuer Wissenschaftlichkeit Auftrieb. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts übersetzt Constantinus Africanus, ein weitgereister nordafrikanischer Arzt, im Auftrag von Robert Guiskard in Salerno und im Kontakt mit dem Kloster Monte Cassino und mit dem belesenen Bischof Alfanus von Salerno medizinische Handbücher aus dem Arabischen ins Lateinische. In Salerno, etwas südlich von Neapel, war etwas von antiker Medizin erhalten geblieben und wird unter dem Einfluss des nahen großarabischen Raumes weiterentwickelt. Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft und eine, der das neugierige Forschen naheliegt. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erforscht von dorther ein Urso Naturabläufe und versucht sie zu mathematisieren. In Toledo entwickelt sich unter dem Einfluss der antiken auf die islamische Welt eine weitere herausragende Medizinschule. Heimlich wird begonnen, Leichen zu sezieren, um mehr über den Menschen zu lernen.

 

 

Intellektualität

 

Der Intellektuelle taucht in dieser Benennung in deutschen Landen erst Ende des 19. Jahrhundert auf, in Frankreich wenig vorher. Intellegere kann wahrnehmen, erkennen, verstehen und manches mehr heißen. Zum Intellektuellen stempelte die institutionalisierte Macht und ihre mediale Öffentlichkeit vor allem ihre belesenen Kritiker und die ungebildete Menge die Verfasser ihr unangenehmer Texte. 

 

Wenn wir Intellektualität als Praxis eines Selbstdenkens möglichst jenseits weltlicher wie geistlicher Autoritäten definieren, verbunden mit ausführlichem Studium, mit Forschergeist und Belesenheit, dann beginnt sie hier und jetzt in ersten Ansätzen aufs Neue. In der eigenständigen Lektüre der Evangelien und dem Wunsch, sich von der Kirche nicht länger an ihrem Verständnis hindern zu lassen, findet Selbstdenken zudem gleichzeitig in schlichterer Form, eher unintellektuell, aber dafür eben nicht nur bei einer kleinen Handvoll Leute statt. Mit diesen beiden Aufbrüchen der Köpfe beginnt allerdings auch die Verfolgung durch Diffamierung und physische Vernichtung. Freier Geist und Macht bzw. Religion sind sich wesensfremd und werden es bleiben.

 

Der Intellektuelle als seltener menschlicher Sonderfall besitzt einen ungebändigten Wissensdurst und Forschergeist. Mit ihm, und nicht erst in der sogenannten Renaissance, beginnt die Suche nach Texten, ihre größere Verbreitung und die Entstehung einer „Szene“, die miteinander kommuniziert, aber sich nicht nur austauscht, sondern auch miteinander konkurriert. Im Extremfall machen sich Kollegen untereinander sogar als Konkurrenten zugespitzter Positionen lächerlich. Neben den Drang nach Erkenntnis tritt eine Welt der Eitelkeiten „intellektueller“ Natur. Unter den von weither gereisten Schülern macht sich Stolz über den jeweils eigenen Lehrer breit, der sich manchmal später in eigenen Texten niederschlägt.

Darum, und nicht wegen der Inhalte seiner Texte, lehnt Otto von Freising den Abaelard ab, (1,49) weil er so arrogant und seinem eigenen Geist vertrauend war, dass er kaum von der Höhe seiner Gedanken herabstieg und sich herbeiließ, Lehrern zuzuhören.

 

Wichtig wird dabei der Rekurs auf Begabung, besonders die eigene. Das ingenium des Abaelard taucht bei Wilhelm von Conches etwas weniger selbstverliebt als ingenium naturale auf, quo aliquid novi perspicimus.(Glossen zu Priscian). Mit der Begabung ganz weniger zu Philosophie oder sich erweiternder Wissenschaft tritt aber ein der Macht analoges Phänomen der Aufspaltung der Menschen. Glauben können nicht nur, sondern müssen alle. Die Macht und die fortschreitende Erkenntnis sind Sache weniger, so wie die Kontrolle über die Kapitalverwertung.  

 

Unübersehbar befreit sich das Denken in ersten Schritten aus den Fesseln von Kirche und weltlicher Macht in der Zeit, in der der Kapitalismus seinen Siegeszug antritt. Man kann geradezu sagen, dass geistige Befreiung mit den Freiheiten des Marktes einhergeht, so wie dem intellektuellen Streit mit all seinen Eitelkeiten, der aufkommt, die Konkurrrenz auf dem Markt geradezu analog wird. Dabei wird allerdings der Warencharakter von Theorien und Literaturen aufgrund technischen Vermarktungsrückstandes bis zur Einführung der Papierproduktion und des Buchdruckes hinter dem anderer Produkte hinterher hinken.

 

Schule,  schola, entwickelt sich um Lehrer, die teils von Geldern ihrer Studenten, teils von Honoraren der kirchlichen und bald auch weltlichen Träger leben. Das gilt neben Nord- und Mittelitalien insbesondere für einige Städte in Westfranzien wie zeitweilig Chartres, und vor allem in Paris, wo sich eine Vielzahl von solchen Schulen um berühmte Geister bilden, die dann Ende des 12. Jahrhunderts zur Universität zusammenwachsen werden.

 

Die Lernbegierigen beginnen in diesem 12. Jahrhundert, weit zu reisen, um ihre Studien an Kathedralschulen in Frankreich und an solchen norditalienischer Städte zu betreiben. Intellektualität wird eine übergreifende Erscheinung einiger weniger im ganzen lateinischen Abendland. Um 1150 schicken die Pierleoni und Frangipani wie andere römische Geschlechter ihre Söhne bereits an Pariser Schulen. Sie kommen nach einem Steuerverzeichnis von 1313 vor allem aus Italien, dem Jura, aus Lothringen und dem Kaiserreich, aus Flandern, England und der Bretagne.

 

In der Regel schicken Väter ihre Söhne nicht auf irgendwelche hohen Schulen, damit sie ein Ausbund an Gelehrsamkeit oder gar Wissenschaftler oder Philosophen werden, sondern als Basis für eine Karriere in geistlichen und zunehmend auch weltlichen Positionen. Dazu tritt nach dem Trivium eine spezielle Ausbildung, die einen Nutzen in der Welt haben soll. Frühe Spezialisten werden die Theologen einerseits, andererseits die Juristen und die Mediziner. Wer es brotloser haben möchte, begibt sich in die Erforschung der "Natur", aber dabei kann er ebenfalls auf das Mäzenatentum eines Fürsten stoßen.

 

Wenn Intellektualität die glückliche Verbindung von Begabung und Wissensdurst ist und nicht in den Grenzen irgendeiner Schule aufgehen möchte, geht sie weit über das eher jugendliche Studium hinaus. Daniel Morley studiert in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zunächst in Oxford, stößt dort aber an Grenzen: Die Studierleidenschaft hatte mich aus England verjagt. Ich blieb einige Zeit in Paris. Ich sah dort nur Wilde, die mit würdevollem Gesicht auf ihren Schulsitzen thronten, vor ihnen zwei oder drei Schemel mit riesigen, die Lehren des Ulpian in Goldschrift wiedergebenden Werken; sie hielten Bleifedern in Händen, mit denen sie ernsthaft Asterisken und Obelen in ihre Bücher malten. Ihre Unwissenheit zwang ihnen die Haltung von Statuen auf, doch sie gaben vor, ihre Weisheit gerade durch ihr Schweigen zu demonstrieren. Sobald sie den Mund zu öffnen versuchten, hörte ich nur noch Kindergestammel. Sobald ich die Lage begriffen hatte, dachte ich darüber nach, wie ich diesen Risiken entgehen und jene die Schriften erhellenden "Künste" anders erfassen könnte, als indem ich sie im Vorübergehen grüßte, oder sie durch Abkürzungen mied. Da heutzutage die Lehren der Araber, die fast ausschließlich aus den Lehren des Quadrivium bestehen, in Toledo unter die Menge gebracht werden, beeilte ich mich daher, dorthin zu gelangen, um mich von den weisesten Philosophen der Erde belehren zu lassen. Da Freunde mich zurückriefen, und ich gebeten wurde, aus Spanien heimzukehren, bin ich mit einer kostbaren Ladung von Büchern nach England gekommen. (um 1187. In: Borgolte, S.283)

Ein wenig Lust am Karikieren, etwas Selbstherrlichkeit mischen sich hier mit dem Bild dessen, der bis an die Grenzen vorfindbarer Gelehrsamkeit vorstoßen möchte.

 

***Die deutschen Lande***

 

Die neue Gelehrsamkeit und Intellektualität geht vom Frankreich der langue d'oeil aus und wandert von dort langsam in die deutschen Lande, so wie das auch die Ideen von der Ritterlichkeit, die neuartige Dichtung, die das kolportiert und die höfischen Moden tun.

Es kann hier nicht im Detail erörtert werden, welche Rolle dabei spielt, dass die Umgangssprache in Westfranzien ein zunehmend verändertes Latein aus romanischen Dialekten ist, und die Sprache der neuen Intellektuellen das nicht mehr ganz klassische Lateinische der Kirche, - während im deutschen Raum ein massiver Gegensatz zwischen auf Germanischem fußendem entstehendem Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschem und der lateinischen Schriftsprache und Kirchensprache vorhanden ist. Aber die deutschen Idiome des "hohen Mittelalters" transportieren eine wesentlich andere Welt, wie sie sich zentral in dem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität äußert. Die neue Intellektualität aber fußt auf einer in der lateinischen Sprache enthaltenen Weltsicht, insbesondere in der antik-römischen Adaption hellenischer Vorstellungen. Diese wurden schon in der römischen Kirche jenen Deutschen ein wenig nahegebracht, die als höhere Geistliche der lateinischen Sprache des Mittelalters mächtig wurden.

 

Immerhin gibt es auch in deutschen Landen im 12. Jahrhundert (lateinische) Kloster- und Kathedralschulen, aber der neue Kult der Vernünftigkeit unter den Gelehrten - immer auf Basis unumstößlicher Glaubenssätze - kommt hierher über das Studium, welches deutsche Scholaren im entstehenden Frankreich betreiben.

Diese Wanderbewegung deutscher Wissbegieriger, die schon in den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts einsetzt, hat dann im 12. Jahrhundert immer mehr Männer erfasst, unter denen Leute wie Otto von Freising herausragen. Solche Magister, die in die deutschen Lande zurückkehren, bringen Texte und Ansichten mit und machen in der Kirche oder bei Hofe Karrieren. In der privaten Büchersammlung eines Bischofs Bruno von Hildesheim sind dann Schriften Ivos von Chartres, Gilbert Porrée (Porretas) oder von Hugo von St. Victor vorhanden. Der Nordwestslawen-Missionar Vicelin hat in Laon studiert.

 

Hugo ist der seltene Fall von einem Deutschen, der in Frankreich bleibt. Aus dem Stift Hamersleben komemnd, tritt er in Paris in das neugegründete Stift von St.Victor ein, wo er sein weiteres Gelehrtenleben führt, aber im Kontakt mit seiner Heimat bleibt und dorthin einige seiner Schriften schickt. 

 

Nicht jeder, der sich mit den nordfranzösischen Versuchen einer Verbindung von Vernunft und Religion auseinandersetzt, ist davon auch begeistert, denn mancher wie Gerhoch von Reichersberg erkennt, welche zersetzende Kraft freieres Denken freisetzen kann. Aber nicht jeder denkt überhaupt so weit, viele sehen eher eine Karriere als Kapellane, Notare und überhaupt bei Hofe, die ohnehin den Denkrahmen wieder einschränken. 

Neben dem intellektuellen Einfluss bringen solche Leute auch die Kenntnis neuer Dichtung mit, wie sie um den Kriegszug des großen Karl nach Spanien oder um die in der Bretagne tradierten keltischen Sagen kreisen. Der pfaffe Chunrât schreibt dann für den Hof Heinrichs ("des Löwen") ein Rolandslied nach französischem Vorbild, und ein Eilhart von Oberg einen Tristrant. Gefeiert wird vor allem im Rolandslied das ritterliche Kämpfen, wobei bereits ansatzweise auch französische Vorstellungen von Rittertum einfließen. 

 

Hohe Schulen wie in Frankreich wird es in deutschen Städten auch weiterhin nicht geben, der freie Geist wird nicht derart intellektuell, sondern lebt sich wie im übrigen lateinischen Europa im nur gelegentlich bezeugten individuellen Unglauben gegenüber allem Mirakulösen und Magieträchtigen der Religion aus, der allerdings nicht öffentlich wirksam werden darf. Immerhin ist generelle Ungläubigkeit ein direkterer Weg zur übrig bleibenden Wirklichkeit als es philosophierende Konstrukte sind, wie sie dann im späteren Mittelalter auch in deutschen Landen bei den wenigen Belesenen überhand nehmen.

 

Irgendwo in deutschen Landen entsteht für eine breitere Leserschaft der '(E)Lucidarius', von dem es im Prolog in deutschem Idiom heißt, Herzog Heinrich habe es in Braunschweig seinen Kapellänen in Auftrag gegeben. In dieser an ein breites Publikum gerichteten Enzyklopädie des "Wissens" findet sich märchenhaftes wie dass in Indien Kinder ihre alten Eltern verspeisen, aber es wird auch Handfesteres mehr oder weniger geklärt. Natürlich wird auch diese volkssprachliche Mischung aus (zumindest aus heutiger Sicht) Unfug, Halbwissen und wenig Brauchbarem nur an eine winzige Gruppe von Lesekundigen und deren Zuhörer gerichtet, und sie ist ein ganz frühes Beispiel für den Schaden, den enzyklopädischer Schund bei denen anrichtet, die er erreicht. Aber die meisten Menschen bescheiden sich ohnehin stattdessen auf ihr eigenes, enges Umfeld überprüfbaren Wissens und sie wissen dabei darin zweifellos viel mehr als eine medial gefütterte Elite.

 

Wissenschaft: Ius

 

Neben den Anfängen einer neuen Theologie, aus der sich eine neue Philosophie im Verlauf von Jahrhunderten emanzipieren wird (bis hin zu Kants 'Kritik der reinen Vernunft' als Schlusspunkt) und einem Neuanfang in Richtung Naturwissenschaften kommt es in derselben Zeit auch zur Wiederentdeckung des römischen Rechtes für den weltlichen Raum. So wie die Theologie auf unverrückbaren Glaubenssetzen beruht, beginnt auch das neue Ius-Studium mit der dogmatischen Aneignung römischen Rechtes der späten Kaiserzeit, insbesondere den juristischen Erläuterungen kaiserlichen Rechtes, die Justinian hatte zusammenfassen lassen, den Digesten. Vorlesungen bringen dies "Recht" Studenten nahe, Glossen kommentieren es als Marginalien.

Schon vor dem Aufschwung kaiserlich-römischen Rechtes kommt es zu einer Systematisierung des (päpstlichen) Kirchenrechtes, in dem die spätrömischen Rechtsvorstellungen ohnehin immer lebendig geblieben waren. Kanonistik und Legistik beeinflussen sich nun gegenseitig und unterstützen sich bei der Ausbreitung. Kirchliche und weltliche Machtausübung waren schließlich seit Kaiser Konstantin Hand in Hand gegangen.

 

Durch die Spätantike und das frühe Mittelalter (etwa 400-1000) war die kaiserliche römische Gesetzgebung bekannt gewesen, ohne zunächst viel Einfluss ausüben zu können. Erst mit dem Erläuterungsbestand der Digesten wird es nun für Fachleute handhabbar. Die stammen soweit erkennbar aus der Oberschicht von Bologna und seiner Umgebung. Ein Irnerius (Gwanerius, Werner, 1055-1130) fängt damit an. Da römisches Recht kaiserliches Recht ist, tendieren diese frühen Ius-Lehrer zur kaiserlichen Seite, und Irnerius wird denn auch als Anhänger Heinrichs V. gebannt. Mitte des 12. Jahrhunderts beginnt dort in Bologna ein regulärer Schulbetrieb.

Auch in anderen bedeutenden Städten wie Mailand beginnen einzelne Juristen römisches Recht zu studieren und - was wesentlich ist - parallel dazu sogenanntes feudales Recht aufzuschreiben.

 

Derweil hatte um 1140 ein Gratian, der in Bologna Kirchenrecht lehrt, mit der 'Concordantia discordantium canonum' (kurz "Decretum Gratiani' genannt) das offizielle Kirchenrecht nicht nur gesammelt, sondern auch vereinheitlicht, indem er es harmonisiert. Damit ist das kanonische Recht von der Theologie und vom weltlichen Recht geschieden, welches sich wiederum aus dem Raum der Philosophie entfernt hat.

 

Im zwölften Jahrhundert nimmt im weltlichen Bereich so etwas wie Gesetzgebung zu und es gibt immer mehr Verfügungen der Päpste. Das Recht als Instrumentarium der Macht bringt einen ganzen Berufsstand hervor. Der hat andererseits seit dem späten 11. Jahrhundert und dann zunehmend im 12. zunächst in Norditalien auch mit ganz anderen Rechtsvorstellungen zu tun, denen, die aus der sich entfaltenden Feudalisierung der Machtstrukturen ergeben und wie sie von Feudisten dann zunehmend in ein normatives Gewand gebracht werden. Die vielfältigen Verbindungen von römischen und feudalen Strukturelementen werden dann den Weg in neuartige Staatlichkeit begleiten.

 

Das Studium des Rechts (ius) gehörte nicht zu den klassischen artes liberales. Am ehesten war es noch mit der Rhetorik in Verbindung zu bringen. Andererseits durchliefen die Leute, die sich in Bologna mit dem römischen Recht auseinanderzusetzen beginnen, zunächst zumindest das klassische trivium als erste Voraussetzung. Dann aber wenden sie sich einer anderen Wahrheit als der der Philosophen zu, der nämlich der verschriftlichten Macht als Rahmenbedingung für institutionalisierte Macht. Und es ist kein Zufall, dass der Regulierungsbedarf des immer kapitalistischer dominierten Marktes mit dem neuer Staatlichkeit (und Kirchlichkeit) und den Offerten der Schulen zusammenfallen. Aber Gerechtigkeit und Recht fallen nun formal auseinander. Im weltlichen Rechtsstreit spielt auch das Gewissen keine Rolle mehr, selbst wo es propagandistisch herangezogen wird. 

 

Zwischen Alexander III. (1159-81) und Innozenz III. (1198-1216) sind dann fast alle Päpste Experten in Kirchenrecht.

1179 lässt der selbst juristisch gebildete Papst Alexander III. von einem Konzil in Erweiterung einer Bestimmung von Gregor VII. beschließen, dass jede Kathedrale einen Lehrer bezahlen soll, der armen Schülern Gratis-Unterricht erteilt. Das Studium zum Juristen wird dabei immer länger, Jurist oder Theologe wird man nun manchmal erst mit über zwanzig Jahren. Die Kirche wird zu einer zunehmend verrechtlichten, parastaatlichen Einrichtung, was parallel dazu von den Fürsten und einer Oberschicht in den Städten übernommen wird. Und mit der Verrechtlichung beginnt zunehmende Verschriftlichung kirchlicher wie weltlicher Verwaltung, die in die Hand von ausgebildeten Juristen gerät. 

 

Scholastik und Ius gehören von Anfang an zusammen, auch wenn sie sich konsequent auseinander entwickeln. Eine neue Sprache des Rechts (C.H.F.Meyer) vermittelt eine neue Art zu denken. Das Bezugnehmen auf ewige Wahrheiten gehört nicht mehr der Papstkirche alleine, sondern verbreitet sich im weltlichen Raum mit jener mit Gewalt durchzusetzenden Dogmatik, mit der schon die christlich-römischen Kaiser ihre umfassende Macht begründet hatten. Während die städtischen Politiker" sich nun nach und nach auf das vorkaiserliche Rom beziehen und so zu ihrem "Humanismus" finden werden, wenden sich Könige/Kaiser und Territorialfürsten erneut der Begründung von Staatlichkeit zwischen Konstantin und Justinian zu. 

 

Juristen sind zunächst einmal Schreibkundige und dabei möglichst versiert im jeweils aktuellen Mittellatein. Sie treten als Notare auf, die rechtsverbindliche Texte "notieren", und als Advokaten, als rechtliche Vertreter anderer.

Während es den Philosophen und Wissenschaftlern nur dort gelingen wird, eine Art Berufsstand zu entwickeln, wo sie in das Regelwerk von Universitäten eingebunden werden, identifizieren sich die Juristen mit der Macht und ihrem Reichtum, versuchen selber reich zu werden und umgeben sich mit berufsständischer Prächtigkeit. Man heiratet untereinander oder in die städtische Oberschicht hinein und übernimmt deren Lebensformen.

 

Mit dem Aufstieg der Juristen zu einem Berufsstand und der neuartigen Verrechtlichung des Alltags, was eine neue Form der Unterordnung und Unterwerfung der meisten Menschen bedeutet, wächst auch der Widerstand. Es werden sich Phantasien einer Rückkehr zu einfacheren Formen des Zusammenlebens entwickeln, die nicht juristischer Expertokratie bedürfen. Der common sense, nunmehr auf private Räume abgeschoben, die im Laufe der Zeit immer engere Grenzen bekommen, wird nun der Verachtung einer juristischen Elite ausgesetzt, die sich mit den Machteliten identifiziert, von denen das geschriebene Recht abgeleitet ist.

 

Wandlungen des Naturbegriffs

 

Der römische Naturbegriff kommt von dem lateinischen Verb her, welches gebären und geboren werden meint (nasci), und beschreibt alles, was nicht spezifisch vom Menschen hervorgebracht wird, sondern was er von der „Allesgebärerin“ vorgesetzt bekommt. Er ist nicht verstandlich ohne den Gegenbegriff „Kultur“, der vom lateinischen Verb für „den Boden bearbeiten“, „Ackerbau“ treiben“ und überhaupt „pfleglich mit Leib und Seele/Geist umgehen“ abgeleitet ist (colere).

Die Erfindung dieser Vorstellung einer derart bipolaren „Welt“ ist eine römische Errungenschaft, die so noch den alten Griechen fremd war. Was Kultur meinte, lässt sich auch an dem auf uns überkommenen Wort „Kolonie“ erkennen. Der colonus war der römische "Bauer", eine colonia war ein mit Gebäude(n) ausgestatteter Ort römisch-zivilisierter Prägung und zugleich ein Ort des Ackerbaus. Zugleich lässt es sich an dem vom selben Verb herkommenden und untrennbar mit der „colonia“ verbundenen cultus erkennen, der die Verwandlung des natürlichen in den kultivierten Menschen bezeichnete, deren höchste Form der Götterkult war.

 

Mit den Veränderungen in der Zeit der Völkerwanderungen wird diese Vorstellungswelt fast nur noch im kirchlichen und monastischen (mönchischen) Raum tradiert, und zwar massiv verwandelt, christlich und zum Teil germanisch „anverwandelt“.

Die Idealisierung von „Natur“ wird ein Projekt der römischen Oberschicht, die tatsächliche Landbearbeitung als Verwandlung von Natur ist spätestens in der Kaiserzeit vorwiegend Sklaven und oft immer weniger freien Bauern überlassen. Die Sklaverei und die bäuerliche Abhängigkeit werden bruchlos ins frühe, christliche Mittelalter übernommen, war erste doch schon bei den Germanen, wenn auch mit geringerer Bedeutung, vorhanden gewesen.

 

Neben die Sklaven treten freie Bauern, wobei das „Freiheit“ von persönlicher Abhängigkeit von einem Herrn meint. Indem diese Freien sich in den bald bitter nötigen Schutz eines Herrn begeben, geraten sie in persönliche Abhängigkeit, parallel dazu drängen die „Herren“, die bewaffnete Krieger sind, andere auch hin und wieder in diese Abhängigkeit. Einige Zeit vor der ersten Jahrtausendwende ist sie allgemein und zugleich eine rechtliche Selbstverständlichkeit geworden.

 

Dabei verschwindet zugleich die Sklaverei auf dem Lande immer mehr, indem der Weg in die Abhängigkeit der einen zugleich die Sklaven aus der engen Form der Sklaverei in die geringfügig weitere dieser Abhängigkeit aufsteigen lässt. Ihr Rechtsstatus verliert dabei zunächst viel, gemessen an der Römerzeit, als auch das Sklavendasein allgemeinen Rechtsnormen unterlag, die mit ihnen besser als das frühe Mittelalter umgingen. Römische Sklaven wurden vermutlich in der Regel besser behandelt als die frühmittelalterlichen Untergebenen eines Herrn (dominus). Der Kapitalismus wird aus solchen neuen Formen der Abhängigkeit hervorgehen, aus denen freiere Lohnarbeit sich entwickeln kann, die für Kapitaleigner für tausend Jahre profitabler wird als Sklavenarbeit, die am Ende des frühen Mittelalter bereits langsam unrentabel wird.

 

Das wichtige für uns hier ist, dass unter solchen Bedingungen Arbeit etwas besonders Widerwärtiges wird. Sie dient viel zu wenig dem eigenen Wohlstand und zu sehr dem aufkommenden Luxus der neuen Herren. Es ist davon auszugehen, dass bis ins Hochmittelalter die Existenz der das Land bearbeitenden Bevölkerung überwiegend elend, notdürftig und immer wieder auch demütigend ist.

 

Unter solchen Bedingungen ist die „Natur“ der Feind des Menschen: Angefangen bei dem Mühsal der Arbeitsvorgänge bis zu den Produktionsverhältnissen, den Verhältnissen von „Herrn und Knecht“ zueinander, zu der Bedrohung durch wilde Tiere und zu den Härten des Urbarmachens, des Rodens, Trockenlegens von Sümpfen usw.

 

Nun ist Mühe und das sich Bemühen nichts von vorneherein unangenehmes, wie jeder Hobbyist, Sportler oder Erlerner eines Musikinstrumentes weiß. Mühe kann auch Freude machen, aber die Bedingungen der Mühen der Landarbeit waren weithin miserabel. Tatsächlich wissen wir kaum etwas davon, nicht einmal von den Holz- und Lehmhäusern sind mehr als die Überbleibsel von Pfosten im Boden zurückgeblieben.

 

Da nun kommt das deutsche Wort Arbeit herein, eine Tätigkeit benennend, die ohne große Not niemals in Angriff genommen würde. Die Wortwurzel meinte mit großer Wahrscheinlichkeit das „Verwaisen“ eines Kindes, welches sich darum, ohne Ansprüche stellen zu können, verdingen musste. Arbeit war damit also die unerfreulichste Form von Tätigkeit. Erst ganz langsam wird sich in den Städten ein positiver konnotierter Arbeitsbegriff entwickeln, dem die Zisterzienser und später Calvin und Luther den geistlichen Goldglanz aufsetzen werden.

 

Derselbe Kern von Qual und Pein steckt auch im lateinischen labor, und der wird in der christlichen Parallelentwicklung immer positiver besetzt (ora et labora). Schon bei Benedikt von Nursia wurde er als Gottesdienst im mönchischen Leben aufgefasst. Als das Wort über das Französische ins Englische gelangt, wird es gleich wieder abgewertet. Im Französischen ist labourer zunächst ein etwas neutraleres Wort insbesondere für die Feldarbeit. Die französische Entsprechung für „arbeiten“ wird travailler, es heißt quälen und sich quälen und leitet sich von einem römischen Folterinstrument ab, dem tripalium. Einen positiveren Beigeschmack bekommt dies Wort noch langsamer als die deutsche „Arbeit“.

Arbeit als leidiges Abringen des Existenzminimums von der „Natur“ unter Machtstrukturen, die das nicht erleichtern, macht die „Natur“ zum Feind und die Fest-„Kultur“ zum rettenden Ufer in einem unerquicklichen Meer von Notbewältigung. Wir wissen kaum etwas von Volksbräuchen vor dem Hochmittelalter, überhaupt wenig von den kleinen Leuten auf dem Lande, und leider auch sehr wenig über das, was mit einem modernen Wort "Freizeitverhalten" heißt.

 

****

 

Soviel zu einem Naturbegriff, wie er die meisten Menschen berührt. Das Wesen der Intellektualität, wie sie sich im 12. Jahrhundert etablierte, ist, dass sie ihr Interesse und ihre Vorstellungswelt massiv von der Erfahrungswelt der meisten löste und in extremo leistet das die Philosophie.

 

Ein anderer Aspekt ist die Rolle des Christentums: Sie entheiligt die Natur, die Bäume, die Quellen, alles, was bislang mit einem heiligen Schauern betrachtet werden konnte, denn die irdische Wirklichkeit ist des Teufels bzw. der vielen Teufel, und es gilt, zwecks Spiritualisierung Distanz zu ihr aufzubauen und durchzuhalten. Das wird allerdings eher zur Sache von Städtern, die ohnehin die aus der Natur herausgehobene Stadt als zivilisierte Insel in einer Welt größerer Barbarei anzusehen beginnen, und Natur als Rohstoff für gewerbliche Produktion.

Aber das Ganze ist für die Beleseneren und Nachdenklichen schwierig: Da Pflanzen und Tiere von Gott geschaffen sind, wie der Mythos sagt, und nicht an der ererbten Schuldhaftigkeit der Menschen teilhaben, und noch schwieriger und sich etwas mit ersterer Aussage beißend: Die Natur ist eine natura operans, das heißt, sie bringt sich selbst hervor, wie es im 12. Jahrhundert heißt.

 

Wenn unser Text Natur als den lebendigen Teil von Welt, den Raum des Lebendigen versteht, um so dem ursprünglichen Wortsinn zu genügen, dann ist das eine Entscheidung zugunsten klarerer Erkenntnis im Vergleich zu einem Naturbegriff, wie er sich stärker unter dem Einfluss sich verallgemeinernder Kapitalverwertung aus der griechischen physis entwickelt. Indem er eine vom Menschen geschaffene Welt, der inneren Logik des Kapitalismus entsprechend, von einer von Gott geschaffenen bzw. dann später sich aus sich selbst schaffenden Welt als Natur unterscheidet, wird die Unterscheidung zwischen Lebewesen und unbelebten Dingen zu einem untergeordneten Aspekt, werden doch beide gleichermaßen und gleich rücksichtslos benutzt und in Waren verwandelt. 

Der organische Metabolismus der Ernährung und der anorganische der Warenproduktion werden also gleichgesetzt. Dieser Vorgang wird durch den Gleichmacher Geld und seine Verbreitung, durch zunehmende Produktion für einen Markt, also durch Kommerzialisierung ungemein befördert, und so dient die Mathematik als Rechnen nicht nur dem technischen Fortschritt, sondern schon vorher der Berechenbarkeit im Kommerz.

 

Die produktive Revolution des Neolithikums veränderte die Kenntnisse von der Natur, indem sie das Interesse neu ausrichtete. Der Charakter des neuartigen sich Mühens in der Produktion veränderte das Verhältnis zu ihr wie zudem auch die Formen institutionalisierter Machtausübung über die Produzenten, die hier Zivilisation genannt werden. Mit dem nun einsetzenden Ausrotten von Nahrungskonkurrenten in der Tierwelt und von jenen großen Raubtieren, die des Menschen Feind sein konnten, begann ein flächendeckender Krieg gegen alles Leben, welches nicht durch Zähmung und Veränderung nutzbar war.  

 

Einer der Ausgangspunkte christlicher Problematik ist wohl der Widerspruch zwischen einer altorientalischen Welt als Gottes Schöpfung und einer "Welt" als Reich des Bösen. 1022 jedenfalls kommt es in Orléans zu einem Häretikerprozess gegen Lehrer, deren Einsatz des Wortes Natur verdächtig geworden ist. Andererseits ist die zur selben Zeit in Teilen Europas einsetzende Häresie, die später unter dem Namen Katharer zusammengefasst wird, in ihrem radikalen Vergeistigungsbestreben als Leibfeindlichkeit die genaue Gegenbewegung, für das Kompromiss-Christentum der Kirche sogar gefährlicher, weil es hier nicht nur um wenige Gelehrte geht.

 

Gerade die freien und die sich jeder Kontrolle entziehenden herumwandernden Magister beginnen Misstrauen bei den Institutionen zu erregen. Wenn sich die Aufmerksamkeit auf Grammatik, Rhetorik und Dialektik in Sprachreflektion verselbständigt, kann "Natur" sich aus dem Kontext der heiligen Schriften lösen.

 

In der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts lehrt in Paris der deutsche Grafensohn Hugo von St.Victor. Er möchte zwar die Religion der Theologie überlassen, da Philosophie sie nur zersetzen würde, aber mit ihm beginnt die Aufwertung der Naturwissenschaften, die bis dahin eher spekulativ als auch nur ansatzweise wissenschaftlich gewesen sind. Indem er die Gleichwertigkeit von artes liberales (trivium und quadrivium) mit den artes mechanicae propagiert, beginnt an ersten Orten und in ersten Ansätzen Naturforschung. Zumindest ist mit diesem ansonsten sehr frommen Mann nun der Weg eingeschlagen, auf dem sich Naturbetrachtung um ihrer selbst willen aus den Fesseln sowohl von Philosophie wie von Theologie lösen wird und daneben Bestand haben kann.

 

In Chartres taucht ein Theoderich auf, der der Erforschung der Natur einen Eigenwert zuerkennt. "Nicht mehr Erkenntnis des Schöpfers anhand seiner Werke war das Ziel, sondern Aufschluss über die Eigengesetzlichkeit der Natur." (EhlersOtto, S.79)

Wenn Natur im Umfeld von Chartres und anderswo unter dem Einfluss von Platos 'Timaios' als die Schöpfung eines vernünftigen Gottes über die Kräfte menschlicher Vernunft zum Gegenstand forschenden Nachdenkens wird, erklärt Wilhelm von Conches, der 1154 stirbt, im Umkehrschluss, dass man Gottes Größe eben durch die Erforschung der Naturgesetze auch näherkommen könne. Dabei bedient er sich Platons Timaios, den er in das christliche Weltbild zu integrieren sucht. In seiner 'Philosophia Mundi' taucht der Versuch auf, die Genesis als Naturgeschichte zu interpretieren, der man forschend auf den Leib rücken könne, indem man die vires naturae, die Kräfte der Natur untersuche. Das wird jene auf den Plan rufen, die auch den anders interessierten Abaelard verfolgen.

 

Ähnlich drückt sich Adelard von Bath aus: Ich nehme Gott nichts weg. Alles nämlich, was ist, ist von ihm und durch ihn (ad ipso et per ipsum est). Aber es ist nicht verworren, und es ist nicht ohne Ordnung, und wir müssen vernehmen, wie weit das menschliche Wissen diese Ordnung erschließt. (…) Nur wenn dieses Wissen vollständig versagt, sollte man auf Gott zurückgehen. (in Rexroth, S.287) Die Emanzipation der Naturerforschung kann also nun mit dem christlichen Gott begründet werden.

 

****Medizin**** (in Arbeit)

 

Schon das antike Griechenland begann in seinem Philosophieren mit einer von Sprache nahegelegten begrifflichen Zergliederung der Welt als Natur in nicht mehr zerlegbare Teile, die Atome. Daneben wurde sie in vier Elemente aufgeschlüsselt, Erde, Feuer, Wasser und Luft. Ähnlich wie die Körpersäfte der Humoraltheorie des menschlichen Körpers tauchen solche Vorstellungen im 11. Jahrhundert wieder als Grundlagen des Denkens auf. Und nicht nur in der Medizin, sondern auch in der philosophierenden Betrachtung des Menschen spielen sie im 12. Jahrhundert dann eine zunehmende Rolle.

Religiös hieß das, zwischen dem unwandelbaren und einfachen und eben darum dem Denken attraktiven Gott und der sich ständig wandelnden Welt zu unterscheiden. Ihre Unstetigkeit wird nun mit den im Widerstreit stehenden Elementen erklärt, bei Otto von Freising kann es das Auf und Ab von Herrschern und Reichen erklären, eine eben am Ende immer dem Leiden verfallene Welt. In der Humorallehre werden Krankheiten durch die Unausgeglichenheit der Körpersäfte beschrieben, die allerdings im Unterschied zur Welt als Ganzer medizinisch behandelt werden kann, während eine konfliktdurchzogene (Menschen)Welt nur durch die Wiederkehr Gottes und ihr Ende geheilt werden kann.

 

Überhaupt spielt die Medizin dort, wo sie überhaupt noch auf antiken Wurzeln beruht wie in Salerno eine Sonderrolle. Wo Verletzungen, Schmerzen und Krankheiten auftauchen, darf sie Freiräume einnehmen, die Religion und insbesondere Theologie in den Hintergrund drängen. Von Theologen, Philosophen und Juristen weiter (mit Ausnahme des Wilhelm von Conches) als Wissenschaft nicht ernstgenommen bzw. ausgegrenzt, übt sie eher durch die Hintertür doch zunehmend mit ihrem spezifischen Bild von der Funktion der Bestandteile des menschlichen Körpers Einfluss aus.

 

Schon im 9. Jahrhundert scheint Salerno samt amalfitanischen Ärzten ein Zentrum medizinischer Forschung und Praxis gewesen zu sein. Wer es sich leisten kann, scheint im 10. Jahrhundert dorthin gereist zu sein, um sich heilen zu lassen. Sogar Operationen an der Harnblase sind offenbar vorgenommen worden.

Im 11. Jahrhundert gewinnt die Medizin durch Übersetzungen aus dem Griechischen und auch über den Umweg des Arabischen wieder stärkeren Anschluss an ihre antiken Wurzeln (Hippokrates und Galen vor allem).

 

Der um 1015 in Ifriquiya als Muslim geborene Constantin Africanus, ein Kräuter- und Gewürzhändler, der den ganzen Mittelmeerraum und Teile Asiens bereist, kommt mit sechzig Jahren nach Kampanien,  wo er sich erst in Salerno niederlässt, wird Christ und tritt am Ende ins Kloster Montecassino ein. Er wird vom Bischof von Salerno wie vom Abt Desiderius von Montecassino gefördert und scheint sich dabei alsAutor eigener Werke und als Übersetzer von Texten ebenso hervorgetan zu haben wie Leute in Al-Andalus.

 

Im Verlauf des 11. Jahrhunderts scheint sich in Salerno ein regelrechter medizinischer Schulbetrieb ausgebildet zu haben, wobei auch Wert auf Ernährung und Hygiene (im heutigen Wortsinn) geachtet wird. Von einer Trota/Trocta ist (wohl) aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Text über Frauenheilkunde überliefert, der belegt, dass auch Frauen in diesem Zusammenhang auftreten.

 

****Die Natur der Eigentlichkeit****

 

Neben die Natur als physis und jene als natura tritt eine dritte, jene, die in die Philosophie die Vorstellung der Eigentlichkeit einführt. Danach ist nicht erst seit Lukrez das Eigene als das Eigentliche jeden Gegenstandes seine "Natur". Dieser Autor bringt mit 'De rerum natura' epikuräische Gedanken in Umlauf. Welt ist Natur, die auf sich selbst beruht, woraus man schließen kann, dass sich eine Natur der Dinge erkennen lässt, sobald man alle tröstlichen Vorstellungen der Spekulation abstreift. Sein Text ist allerdings dem Mittelalter völlig unbekannt. Aber die Vorstellung, dass alle Gegenstände "eine Natur haben", was dann im Deutschen zu ihrem Wesen wird, dem eigentlichen Sein, dass etwas also eine Natur habe, überlebt. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist für den Naturphilosophen und Vermittler zwischen Okzident und Orient Adelard von Bath natura die essentia, also das Wesen einer Sache. Wir sind dabei weit weg von der Vorstellung einer lebendigen Natur.

 

Diese Natur der Dinge bringt Burgundio von Pisa dazu, einen Text 'Über die Natur des Menschen' zu übersetzen, den er unter anderem mit folgendem Satz Kaiser Friedrich I. widmet: Weil ich in Gesprächen mit Euch, durchlauchtester Kaiser, gemerkt habe, dass Eure Majestät die Natur der Dinge und deren Ursachen kennen lernen möchte, habe ich beschlossen, dies Buch in Eurem Namen zu übersetzen. (in Rexroth, S.247)

Dieser mit Byzanz und Süditalien vertraute iudex Burgundio von Pisa begegnet Kaiser Friedrich mit dem Versprechen, ihm Übersetzungen über den materiellen Bestand des Himmels, seine Gestalt und seine Bewegungen, über alles, was unterhalb des Himmels ist (…) über Blitz und Donner, über den Regenbogen, über den Regen, Hagel und Tau, warum das Meer salzig ist usw. zu liefern. (in Staufer und Italien, S.263) Zur Natur der Dinge gehört eben auch die Erklärung, warum sie sich wie verhalten.

 

Natur wird ein in sich immer unklarerer Begriff gerade weil vernünftiges Denken Hochkonjunktur bekommt und seine Wurzeln eben auch im über das Lateinische vermittelten Griechisch hat und physis zu natura wird, deren Eigentliches als Ureigenstes Denkgegenstand wird. War Jesus auf Erden von menschlicher Natur, wie Rupert von Deutz und Gerhoch von Reichersperg erklären, also zugleich ganz körperlich Mensch und zugleich ganz immateriell Gott, können also in einem zwei Naturen zugleich sein, oder ist das ein inakzeptabler Widerspruch, wie Gilbert von Poitiers und in Vorreiterfunktion wohl auch Berengar von Tours meinten ? 

Das lässt sich auf den Menschen von heute übertragen, der die damals konservative Position de facto akzeptiert: Er ist körperlich ganz Mensch, zugleich aber kollektiver Schöpfergott einer zweiten Natur, die sich über die verallgemeinerten Vorgänge des Kapitals einstellt. Ist sein Menschenbild nicht in Wahrheit noch dichotomischer, wenn er in sich Gott und Teufel zugleich hineinnimmt, indem er die Ergebnisse von Kapitalverwertung zugleich bejubelt und beklagt und dabei ignoriert, dass es sich dabei um dieselben Vorgänge handelt?

 

Das Wesen, das Eigentliche, die Natur von etwas oder jemand, - bis heute ein Propagandainstrument gegen nachdenkliches Verstehen. Bei Thomas von Aquin, der sich im Denken wohl von allen Menschen des Mittelalters am konsequentesten aus der Wirklichkeit löst, ist das Wesen eines Geschöpfes seine quidditas vel natura seu forma sua. Er schreibt das in einem Text 'Über das Sein und das Wesen', zwei Gedankenkonstrukte, die nur für Philosophen nützlich sind.

 

 

In die fiktive Welt der Eigentlichkeit gehört auch das "Naturrecht".  Abt Suger von St.Denis meint in seiner Vita des Ludwig bezüglich des Begräbnisses König Philipps I., sepultura patrum suorum regum, que in ecclesia Beati Dionisii quasi jure naturali habetur. Sozusagen nach Naturrecht hätte er in St.Denis begraben werden müssen. Dass Natur und Recht per se nichts miteinander zu tun haben, wird so in einer Welt der Eigentlichkeit ignoriert.

In der lex naturalis des Thomas von Aquin finden vernünftige (göttliche) Weltordnung und menschliche Vernunft zusammen. Wenn in der Einleitung eines Privilegs von Erzbischof Dietrich von Hengebach von 1211 von ius tam naturale quam scriptum die Rede ist, ist das aber kein Vorgriff darauf, sondern die  bereits sehr alte Vorstellung, es gebe "von Natur aus" ein Recht, und soweit es die ratio ermöglicht, sei es in geschriebenes verwandelt (in: Groten2, S.48). Mit einem solchen ius naturae wird auch Rudolf von Habsburg operieren, um Österreich an seinen Sohn zu übertragen: Die Liebe des Vaters zum Kind ist natürlich, weil göttlich inspiriert.

Eine nicht erfahrene, sondern fiktive Natur wird so zum Feld für Argumentationen, die bis heute ihr Unheil anrichten werden.

 

Im Reich abstrakter Eigentlichkeit verharren Algebra und Geometrie, die der Handel und diverse technische Probleme hervorgebracht hatten. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts übersetzt Adelard von Bath die 'Elemente' des Euklid aus dem Arabischen vollständig ins Lateinische. Hundert Jahre später studiert Leo von Pisa ("Fibonacci") auf seinen Handelsreisen im Mittelmeerraum Mathematik und schreibt mit seinem 'Liber abaci' ein Standardwerk. Sein Ruhm reicht dann so weit, dass er am Hofe Kaiser Friedrichs II. für dessen Lieblingsgelehrten Michael Scotus arbeitet.

 

**** Idylle und Wissenschaft****

 

Hatten in antiken Zivilisationen die Nutznießer von Großgrundbesitz Phantasien von Parklandschaften literarisch (bukolisch, idyllisch usw.) und als Anhang ihrer Villen und Paläste entwickelt, so kommt mit der Vernutzung von Forsten als aristokratisch-fürstliche Jagdreviere, also für "Sport", die Nutzung größerer Räume für rekreative Freizeiträume hinzu. Diese Idee von "Natur" als eines in neue Nützlichkeit verformten Erholungs- und Vergnügungsparkes wird durch den Aufstieg des Kapitalismus bis heute immer breiteren Schichten der Bevölkerung zugänglich gemacht.

 

In solche Zusammenhänge gehört nach der Verwandlung von Hunden auch die von Greifvögeln (Raubtieren also wie der Mensch eines ist) in eine Art domestiziertes Sportgerät. Bekannt ist durch die Überlieferung seines Falkenbuches, wie bei Kaiser Friedrich II. der hochprivilegierte Freizeitsport der Jagd mit Greifvögeln mit dem neuen naturwissenschaftlich-technischen Interesse zusammenkommt. Die Erforschung des "Funktionierens" von Natur als eines technisch konstruierten Ensembles ist und bleibt mit ihrer Nutzbarkeit und anschließenden Vernutzung verbunden.

Stürner fasst meines Erachtens den Kern des Neuen beim kaiserlichen Text zutreffend zusammen: Solche Vögel "zu fangen und zum willigen Helfer des Falkners bei der Jagd heranzuziehen, bedeutete nach Friedrichs Auffassung  deshalb, ihre natürliche Eigenart wenigstens zum Teil umzuformen. Dazu taugten freilich nicht Zwang und Gewalt, dazu war vielmehr allein der menschliche Verstand befähigt. Allein er vermochte die Natur der Vögel beziehungsweise  das Wirken der Natur in ihnen zu untersuchen und zutreffend darzulegen, um dann verändernd darauf einzuwirken." (S. 442)    

 

Die Analogie der Vernutzung tierischer und menschlicher Natur bei Friedrich ist schon länger Historikern aufgefallen, wobei es aber wichtig ist, die Problematik der Anwendung des Naturbegriffs auf den Menschen nach seinem Durchgang erst durch Kultur und dann Zivilisation nicht außer Acht zu lassen. Doch wenn Friedrich in 'De arte venandi' sich als vir inquisitor et sapientiae amator bezeichnet, also als zugleich forschenden Menschen und Liebhaber jenes längst etwas verunklarten Begriffes Weisheit/Wahrheit/Wissen bzw. Kenntnis, dann darf man nicht vergessen, dass solches "Forschen" und "Wissen" zwar nicht immer in einer Person mit dessen Vernutzung einhergeht, aber meist in einer Haltung.

Tatsächlich wird ja dann die Vernutzung von Erkenntnis zu ihrem Prüfstein und schließlich als Technik zu ihrem Antrieb. Ist aber dabei Technik das Experiment im Nachhinein, dann wird das Experiment selbst zur Voraussetzung. In seinem Buch über die Beizjagd beschreibt der Kaiser Experimente, die er selbst angestellt hat. In der Zusammenfassung von Stürner sieht eines darunter so aus: "In wiederholten Tests vergewisserte er sich außerdem beispielsweise darüber, dass Geier das Aas allein mit dem Auge, nicht mit dem Geruchssinn wahrnehmen. Dazu ließ er Geiern eigens die Augenlider zusammennähen; legte man ihnen dann Fleisch vor, beachteten sie dieses nach seinen Feststellungen niemals, obwohl ihr Geruchssinn nicht behindert war. Ebenfalls mit Hilfe einer bewusst und gezielt gestalteten Versuchsanordnung überprüfte er, ob Geier unter allen Umständen nur Aas verzehrten: Er warf völlig ausgehungerten Vögeln lebende Küken vor und konstatierte, dass sie dieses Angebot trotz ihres Hungers in der Tat stets ablehnten." (Stürner, S.448)

 

Tierquälerei zum Nutzen von Forschung (und hier dann des Jagdvergnügens) wird dann bekanntlich immer häufiger werden. Friedrich II. lässt wie andere Fürsten Greifvögeln zeitweilig die Augen zunähen, um auch so ihre "Zähmung" zu betreiben. Tatsächlich sind ganze Bereiche der Wissenschaften wie zum Beispiel auch von Branchen der chemischen Industrie der heutigen Zeit davon abhängig. Erkenntnis ist im Sinne von Nietzsche dort furchtbar, wo sie zu Wahrheiten führt. Dort, wo sie Technik vorantreibt und von ihr bestimmt wird, beginnt die Furchtbarkeit gelegentlich nicht erst beim Ergebnis, sondern bereits bei ihrem Ausgangspunkt, dem Experiment.

 

Andererseits wirkte der neue Forschergeist auch befreiend, wenn auch nicht immer unbedingt auf die Objekte. Die Beobachtung von (lebendiger) Natur an der Stelle von Behauptungen und Hörensagen konnte den Blick von der Verblendung durch die "geoffenbarten" Schriftreligionen lösen, und ihn so schärfen für die ihr innewohnenden Antriebe, die sich als intrinsische Gesetzlichkeiten bzw. Willensäußerungen beschreiben ließen. Zum zweiten Kaiser Friedrich kann Stürner so schreiben: Er nahm "gerade mit seiner Konzentration auf das konkret vor Augen stehende, auf die Beobachtung der einzelnen Lebewesen und ihrer typischen Verhaltensformen, sowie mit seiner Neigung, dieses Verhalten immanent, aus deren eigener Natur zu begründen und zu verstehen, ganz offenkundig einen charakteristischen und bedeutsamen Grundsatz des künftigen naturwissenschaftlichen Denkens schon vorweg. " (Stürner, S.456)

 

Die Dinge, die sind, darzustellen, so wie sie sind, verlangt Friedrich in seinem Falkenbuch. Deshalb verlangt jeder Text nach Überprüfung durch die Erfahrung. Auch einem Aristoteles kann er nur insoweit folgen, als der sich nicht auf Hörensagen beruft: Oft fügt er dem, worüber er in seinem Tierbuch berichtet, hinzu, dass man es so gesagt hätte; aber das, was irgendwer behauptet hat, sah vielleicht weder er selbst noch wer es sagte; denn Gewissheit erlangt man nicht durch das Ohr. (in Eickels/Brüsch, S.248)

Das wird sich auf das Verhältnis zur Religion auswirken, denn deren Aussagen sind durch nichts überprüfbar. Allerdings wird sich diese Maßgabe der Wissenschaftlichkeit bis heute nur sehr selten und kaum im Alltag durchsetzen, sondern in den Elfenbeintürmen von den Mächtigen kontrollierter Fachwissenschaften eingesperrt bleiben.

 

 

In einem Text Kaiser Friedrichs II. zum Tod seines von ihm inhaftierten Sohnes Heinrich heißt es: Aber eines jeden Fürsten Sinn, sei er noch so starr, ist der Herrschaft der allmächtigen Natur unterworfen. Sie, die ihre Macht über jeden ausübt, kennt weder Könige noch Kaiser. (so in: Houben2, S.122) Es ist unübersehbar, dass hier das Abstraktum Natur an die Stelle der Fiktion Gott tritt und deren "Allmacht" übernimmt. Gemeinhin ist dem Mittelalter auch der Topos vertraut, dass der Tod weder Mächtige noch Machtlose kennt. Der aus dem Jüdischen tradierte mittelalterliche Gott der Christen steht außerhalb jener Welt, die damals auch "Natur" bei lateinisch gebildeten Menschen genannt wird. Überhaupt kommt in diesen Vater-Sohn-Passagen über weite Strecken kein wie auch immer verstandener Gott vor.

In anderen Texten taucht für Natur auch Gott auf, allmächtig meist wie ein neuartiger Fürst im Bereich seiner Herrschaft werden möchte, formelhaft, wie überhaupt im hohen Mittelalter längst üblich, man darf wohl auch vermuten, gedankenlos. Gott ist öffentlich dabei jene Instanz, mit der man bei der mächtigen Kirche eher Verbündete findet, als mit der "Natur". Dass die Begriffe im allgemeinen Bereich nach und nach austauschbar werden, geschieht wohl meist gedankenlos, ohne unmittelbar gedankliche Folgen zu bedenken.  

 

Der Sohn der Amme von Richard Löwenherz wird schon etwas früher in 'De natura rerum' über dessen Hof schreiben: Welche Feinde könnten einem Königreich widerstehen, das fähig ist, über die Wissenschaft zu triumphieren? Welche bösartigen Gegner würden sich nicht der subtilen Intelligenz derer ergeben, die der Wahrheit nachgejagt haben, die im Herzen der Natur selbst versteckt ist? (in Löwenherz, S.119) Der Wahrheit nähert man sich ganz ungeniert nicht mehr mit den Mitteln der Theologie, sondern der "Wissenschaft", die sie in der "Natur" aufspürt. Natur ist dabei nichts anderes mehr als ein Synonym für Welt, das Diesseits, eine dem Philosophieren entnommene, recht sinnentleerte Denkfigur.

 

Geschichte

 

Mit Johannes von Salisbury spätestens wird die Nutzanwendung der neuen Wissenschaftlichkeit für die praktische Ausübung von Herrschaft angemahnt. Bildung taucht als Wort in der neuen Bedeutung erst im 18. Jahrhundert in deutschen Landen auf, nachdem es als Wortschöpfung Meister Eckharts schon in frommer Bedeutung erscheint und dann wieder in der neuzeitlichen Pädagogik. Aber in der Sache entwickelt er sich im 12. Jahrhundert als Summe aus Belesenheit, Kenntnissen und Persönlichkeitsbildung vor jedem später so aufgefassten Humanismus bzw. der sogenannten Renaissance. Neben die Scholastik tritt so eine kleine "gebildete" Welt, die der Scholastik entwächst und sich mit der praktischen Nutzanwendung des Erlernten beschäftigt. Gelegentlich werden solche Leute, die im Dienst der Mächtigen dann "mitten im Leben stehen" und sich vor allem in Briefen über die Anwendung von Erkanntem äußern, heute als Humanisten bezeichnet (z.B. Rexroth, S.268ff). An die Stelle der reinen Anhäufung von Erkenntnis-Technik und Wissen treten Aspekte des Ethischen und Ästhetischen (ars dictaminis).

 

Zugleich beginnt mit der Professionalisierung des Magisteriums die Spezialisierung mit ihrem Spezialwissen, die Fachterminologien entwickelt und sich so einem breiteren Verständnis entzieht. Spezialisierung führt so vor allem die Theologie in die klerikale Isolation. Wenn dann der Trend zu immer neuen Reformationen einsetzt, die am Ende nicht mehr alle militärisch vernichtet werden können, wird es nötig, die Inhalte massiv zu banalisieren, um noch eine größere Anzahl von Menschen zu erreichen.

 

Ein wesentlicher Bereich des "humanistischen" Zuges der Zeit wird die Geschichtsschreibung, überhaupt die Bedeutung von Geschichte. Hugo von St.Victor macht (zum Beispiel für Otto von Freising) deutlich, das Geschichte als Heilsgeschichte zu einer neuen Form der Geschichtsschreibung führen kann, wenn in ihr vernunftgemäße Strukturen und Abfolgen aufgespürt werden.

Otto selbst versucht in zwei großen Werken, einmal einer Menschheitsgeschichte, und dann im Tatenbericht Kaiser Friedrichs I., eine gelehrte mit einer christlichen Weltsicht zusammen zu bringen. Dabei führt er die noch immer für ihn und andere aktuelle Vorstellung davon, sich in der Endzeit der Menschheitsgeschichte vor der Wiederkunft des Erlösers zu befinden, zusammen mit der eher philosophischen von der Unbeständigkeit alles Irdischen im Gegensatz zur Ewigkeit Gottes.  

Anders als bei Widukind von Corvey oder noch bei Thietmar von Merseburg wird die Vergangenheit auf ihre Sinnhaftigkeit hin untersucht. Sie wird stärker auf eine Zukunft hin zielgerichtet, die Erlösung der Welt von sich selbst, was im entfalteteren Kapitalismus dann zu einem säkularen Fortschrittsgedanken führen wird. Gegen konservative Kleriker taucht der Gedanke auf, dass es der Menschheit möglich sei, immer mehr Wissen zu erlangen. Und bei Anselm von Havelberg kommt daneben die Vorstellung auf, dass der Heilige Geist die Menschheit immer größerer Vollendung entgegenführen könne. 

 

In Otto von Freisings Historia der zwei civitates entfaltet sich das Elend der Menschen in ihren Konflikten. Der zentrale Gegensatz ist der zwischen den in Gottes Gnade Aufgenommenen und den ewig Verdammten. Aber es gibt auch weniger religiöses Konfliktpotential: Müssen wir doch mit ansehen, wie die Kleinen von den Großen, die Schwachen von den Starken verschlungen werden und wie diese sich schließlich, wenn sie keine andere Beute mehr finden, gegenseitig zerfleischen, heißt es im Prolog der Historia. Es ist seine Absicht, die leidvollen Nöte alles Vergänglichen darzustellen (…) um an den Kriegen und den mannigfachen Wechselfällen das Elend alles Vergänglichen zu zeigen. (2,32) 

 

In dieser Weltchronik wird Sinnhaftigkeit von Geschichte andererseits in der deutschen Version von der Vorstellung einer translatio imperii deutlich: Herrschaft geht vom (christlichen) Rom auf Byzanz über, dann mit Chlodwig auf die Franken, die mit Karl ("dem Großen") dann auch den Kaisertitel erringen, womit er 69. Herrscher seit Augustus wird. Parallel dazu werden Franzosen ihre Version entwickeln, die dann spätestens um 1200 beginnt, immer erfolgreicher verwirklicht zu werden.

 

Ius, Natur, Medizin, Geschichte waren keine formalen Teile der artes-Schulung gewesen, und für die neuen Philosophen sind sie höchstens als Randphänomene in ihr Philosophieren ein- und untergeordnet. Indem sich aus den Themen bei mehr Menschen scientia entwickelt, also vernunftgemäß verstehendes Wissen, werden Kenntnisse in diesen Bereichen wichtiger, was zur Spezialisierung führt. Daraus entsteht in der Neuzeit auch in der deutschen Sprache ein Begriff von "Wissenschaft", der mehr als bloße Anhäufung von Kenntnis bedeutet.