Arbeitsteilung, Ware, Markt
Handel: Die globale Perspektive
Handel im Norden
Handel im Mittelmeerraum
Transport
Kapital (Vor dem Kapitalismus / Kapital gegen Lebendigkeit / Kapitalist)
Reichtum schafft Nachfrage
Das Problem mit der Religion (Gerald und die Gerechtigkeit)
Das Problem der Religion: Lebensfreude und Amüsierkonsum (Kleidung)
Das Problem mit dem antiken Erbe
Fortschritt (?)
Arbeitsteilung, Ware, Markt
Unsere Schwellenzeit liefert Rahmenbedingungen für die Entstehung von Kapitalismus. Monarchien bilden neue Reiche aus, unter denen sich eine Art Fürstenschicht als Regionalherrscher in
verschiedener Ausformung verfestigt, unter denen wiederum sich ein neuartiger Adel zu formieren beginnt. Die Produktion ist immer noch weitgehend in sich langsam verändernde Grundherrschaften
eingegliedert, Handel und Geldumlauf nehmen zu und mit ihnen frühe Kapitalbildung. Städte gewinnen langsam an Bedeutung.
Mit der Zunahme der Produktion, der Verschränkung von Stadt und Land im Zuge der Erweiterung von Tausch- und Geldwirtschaft, der Zersplitterung der Macht in geistliche und weltliche
(Burg)Herrschaften und vielem anderem schwindet die antike Welt nun zur Gänze.
Das Ergebnis all dieser Veränderungen benennt der Mönch Radulf Glaber Anfang des 11. Jahrhunderts so: Man hätte sagen können, dass die gesamte Welt in völliger Übereinstimmung die Fetzen
ihrer alten Vergangenheit abgeschüttelt habe. (so in: Bois, S.180). Man könnte auch sagen, dass die nachantike Welt nun an ihrem Ende angelangt ist.
Am Anfang steht geschlechtliche Arbeitsteilung. In größerem Umfang geschieht dann darüber hinaus Arbeitsteilung in der Jungsteinzeit mit der Abtrennung von zunehmend mehr Handwerk von der
Nahrungsproduktion: Diese kann mit Überschüssen handwerkliche Produkte aus Töpfereien, der Waffen- und Schmuckproduktion zum Beispiel eintauschen.
Es gibt neben der internen auch eine geographische Arbeitsteilung: Bernstein gibt es vor allem im Samland und überhaupt der südlichen Ostseeküste. Als Schmuck begehrt, wird es schon in der
Steinzeit bis in den Mittelmeerraum gehandelt. Feuerstein (zum Feuerentzünden) und Obsidian (unter anderem für Waffen) sind nicht überall vorhanden und werden deshalb gehandelt.
Arbeitsteilung bedeutet Spezialisierung und damit Verbesserung von Techniken und Produkten, Warenproduktion und Warentausch, also Handel und Markt. Dabei ist Markt (aus dem Lateinischen
entwickelt) zunächst einmal der Ort, an dem Waren (merces) getauscht werden, während er insbesondere im Soziologen-Deutsch des 19. Jahrhunderts überhaupt alle Handelsbeziehungen meint.
Die Ware wiederum entwickelt sich im Altenglischen zu dem Wort für einen Wert darstellende Gegenstände und vermutlich ebenso auf dem germanischen Kontinent. Unter Ware verstehen wir dann alle
Gegenstände, die gehandelt werden können, wozu auch Menschen gehören, die als Sklaven benutzt werden und solche, die ihre Arbeitskräft vermieten.
In der Auffassung fast aller Menschen bis heute besitzt der Planet Erde Warencharakter und wird auch so behandelt: Im Laufe der Geschichte der Zivilisationen wurden immer einmal wieder sogar
große Regionen gekauft und verkauft, und zwar mit den darauf lebenden Menschen, die dabei ihre Herren wechseln.
Auf jeden Fall gewinnt der Lebensraum Erde mit seinen Pflanzen und Tieren im Laufe der Zeit Warencharakter: Sie werden genutzt, ge- und verkauft wie leblose Waren, und das ebenfalls bis heute und
wohl auch weiter, soweit es dafür noch eine Zukunft gibt.
Ähnlich dem Warenkauf ist die Warenmiete: Menschen vermieten schon in frühen Zivilisationen auf einem Markt ihre Arbeitskraft und ihre Fähigkeiten. Insbesondere Frauen vermieten bzw. vermarkten
sexuelles Begehren anreizende Aspekte ihrer Körper, die dadurch ebenfalls Warencharakter bekommen.
Der Weg in den Kapitalismus wird geprägt durch die Verwandlung von allem und Jedem in eine Ware, alles wird käuflich und damit auch fast jeder Mensch, dem dabei nichts mehr schützenswert, also im
besten Sinne heilig ist. Am Ende erobert sich spätester Kapitalismus im 20. Jahrhundert nach vielen Vorläufen die Körper der Menschen zur Gänze mit der Vermarktung ihrer Geschlechtlichkeit als
Teil eines allgemeinen Konsumismus. In der Konsequenz wird derzeit von Politideologen, den genauso üblen Nachfolgern der Priesterschaft, eine Neudefinition des als Ware anerkannten und darum
ihrer Ideologie zugänglichen menschlichen Körpers auch in diesem Bereich propagiert.
Was in der Schwellenzeit überall in Kerngebieten des lateinischen Abendlandes stattfindet, ist eine Tendenz zu stärkerer Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land.
Dort, wo die Produktion ihrer familia abhängiger Produzenten nicht ausreicht, wird auf dem Markt Kleidung und Nahrung zugekauft. Dafür senden die Klöster weiter eigene Händler, manchmal
eigene Mönche, über Land zu wichtigen Marktplätzen. Andererseits versuchen Kirche und Klöster nach Möglichkeit besonders auch Wein über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren und so wie auch
gegebenenfalls Salz zu verkaufen. Das Kloster Fulda verlangt von Marschenbauern nicht einmal mehr Wolle, sondern fertige Tuche als Abgabe und von Bauern im hessischen Bergland Eisen.
Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts lösen sich erste grundherrschaftliche Weinbauern aus dem Hufenschema und werden zu Berufswinzern, die nun Getreide und Fleisch eher eintauschen oder dann auch
einkaufen müssen. Marktwirtschaft entfaltet sich nach und nach.
Das dem Lateinischen entnommene Wort Markt hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Es bezeichnet einmal den Ort, an dem ein Markt abgehalten wird und dann auch das dortige Marktgeschehen.
Zum anderen wird daraus viel später eine Art Synonym für Handel, also für Kauf und Verkauf von Waren im allgemeinen, wie es das Wort Marktwirtschaft beinhaltet.
Markt entsteht sowohl aus der Verbindung landwirtschaftlicher Überschüsse mit Arbeitsteilung wie aus Strukturen, in denen Mächtige Reichtümer aus der Arbeit von Produzenten anhäufen und mit ihnen
einkaufen können. Solche Märkte gibt es durch die Antike und Nachantike. Schon im 'Capitulare de villis' verlangt Karl ("der Große") von seinen iudices, die seine Güter bewirtschaften,
dass die familia gut arbeitet an ihren Aufgaben und keine Zeit auf den Märkten verschwendet. (in: Wickham(3), S. 537) Offenbar halten sich (zumindest einige) ländliche Produzenten
häufiger auf solchen Märkten auf, die dann im 10. Jahrhundert mehr werden.
Fahrende Händler scheinen dabei bereits seit langem selbst Nachfrage zu stimulieren, also für ihre Waren zu werben. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts beschreibt Notker ("Balbulus") bereits die
Missionierung im Frankenland durch zwei irische Mönche, die mit bretonischen Mönchen ankommen, in Metaphern des Handels:
Ohne irgendwelche Waren zum Verkauf vorzuzeigen, pflegten sie der zum Kauf herbeiströmenden Masse zuzurufen: Wer Weisheit begehrt, komme zu uns und empfange
sie; denn sie ist bei uns zu haben. Dass sie diese zu verkaufen hätten, sagten sie, um das Volk dazu zu bringen, dass es die Weisheit wie die übrigen Dinge kaufe, oder aber um es durch solche
Anpreisung zum Verwundern und Erstaunen zu veranlassen. (in: Ertl, S.200)
Man muss also nicht bis ins 13. Jahrhundert eines Bernhard von Clairvaux warten, um Analogien zwischen Verkaufen von Waren und von Religion zu finden. Dieser wird dann dazu aufrufen, wie ein
kluger Kaufmann zu rechnen und sich mit der Teilnahme am (zweiten) Kreuzzug die Rettung der Seele zu erkaufen.
Schließlich: Die ganze Religion wandelt sich bis in die ersten Anfänge eines entstehenden Kapitalismus in eine, die einem elementaren Marktmechanismus gehorcht, der das erweitert, was wohl in
Menschen ein Stück weit schon von Natur aus angelegt ist. Es handelt sich dabei um Leistung und Gegenleistung wie beim Warentausch.
Neben dem Anpreisen von Waren spielt auch das Feilschen um den Preis eine wichtige und oft als Spiel auch eher unterhaltsame Rolle und trägt zur allgemeinen Lärmentfaltung bei. Rudolf von Sint
Truiden (St.Trond) im Limburgischen beschreibt den Lärm von Pferden und das Geschrei (clamor) von Käufern und Verkäuferin auf dem Markt vor seinem Kloster.
Märkte sind eben mehr als nur Orte von wirtschaftlicher Bedeutung im engeren Sinne. Auf ihnen findet Informationsaustausch statt, Neuigkeiten und Neuerungen werden bekannt, und als Lokalmärkte
sind sie immerhin Orte der Geselligkeit und Unterhaltung, so wie auch die Kirchen mit ihren Festen. Das alles findet mündlich statt, denn inzwischen hat sich die Schriftlichkeit auf kleine Teile
des Klerus und die Klöster zurückgezogen.
Arbeitsteilung fördert zunächst Tauschwirtschaft, ebenso wie der Salzbedarf der ländlichen Bevölkerung. Zu vermuten ist, dass dieser Warentausch zuerst im Umfeld von Städten in Ansätze von
Geldwirtschaft übergeht, aber bis tief ins 10. Jahrhundert bleiben die Wirtschaftskreisläufe von Dorf und Stadt wesentlich auf sich selbst bezogen. Nur die jeweils wenigen Großgrundbesitzer
durchbrechen das mit Luxuskonsum, während sie ihre Basisversorgung aus den eigenen Gütern erhalten.
Dennoch wird mit zunehmendem Warentausch zunächst die ferne und sich wesentlich selbstversorgende Stadt ersetzt durch immer mehr kleinere Marktflecken, ländliche Märkte, die in die Erreichbarkeit
der bäuerlichen Bevölkerung rücken. Auf ihnen können Bauern und Handwerker Überschüsse neben der Selbstversorgung und den Leistungen an Herren anbieten und dafür selbst einkaufen. Auf solchen
Märkten kauft auch das Gesinde von Herren ein, die darüber hinaus durch Gebühren, Zölle und andere Abgaben davon profitieren, und darum solche Märkte auch fördern.
Seitdem Cluny zum Beispiel seine Umgebung immer mehr grundherrlich durchdringt, nimmt der Marktflecken bei der Abtei mit seiner Pfarrkirche an Bedeutung immer mehr zu, und nicht nur für die
Abtei, sondern auch für die Bauern des Umlandes. Die Einwohner werden wie in vergleichbaren Orten des lateinischen Europas bereits manchmal als Bürger (cives) bezeichnet.
Dependancen großer Grundherrschaften, wie die Tochtergründung Münstereifel des Klosters Prüm oder dessen Unterzentrum St. Goar an der Mittelmosel führen zu Märkten über die Ansammlung von
Geldzins-Abgaben dort und das Geld, welches Pilger hierhin mitbringen. Dort, wo sich Bauern aus der Hufenordnung lösen und als Winzer eingesetzt werden, wie an Mosel und Ahr, führt deren
Warentausch zu aus Grundherrschaften sich entwickelnden Märkten, ebenso an der Maas. Überall werden auch hier Marktprivilegien an Grundherren verliehen, die aber oft zu keiner Stadtbildung
führen.
Mit Markt und der Zunahme des Geldes verschärft sich der Gegensatz zwischen armen und reichen Bauern, die reicheren steigen bei steigender Produktion in die Marktwirtschaft auf, die ärmeren
rutschen dabei in Formen von Abhängigkeit, vom Kloster, aber auch von anderen Herren größeren Grundbesitzes. Es beginnt zudem der Drang (nicht nur) gescheiterter Bauern in die Marktflecken und
Städte, deren Bevölkerung zunimmt.
Eine Besonderheit ist die Entstehung eines Marktes an Grund und Boden auf dem Land, die zwar oft noch mit Tauschhandel verbunden ist, aber durch mehr Geld gefördert wird.
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In der (außermenschlichen) Natur findet eine "gnadenlose" Konkurrenz um Lebensraum und darin befindlichen Ernährungsmöglichkeiten statt und zudem um den optimalen Fortpflanzungserfolg. Sie
macht das aus, was in der Ökologie als Wissenschaft betrachtet wird. Soweit unterscheidet sich der Mensch bei aller Abartigkeit nicht von den übrigen Lebewesen. Im weitesten Sinne impliziert
solche Konkurrenz immer Gewalt, wobei deren eklatanteste Form spätestens seit den frühen Zivilisationen der Bronzezeit der Krieg ist, das Töten, Verletzen und Zerstören im herrschaftlichen
Machtkampf .
Konkurrenz bei Produzenten und Händlern setzt einen entfalteten Markt voraus und gewinnt erst dort an Bedeutung, wo beide jeweils mehr anbieten, als unmittelbar nachgefragt wird. In der
Nachantike und bis tief in unsere Schwellenzeit hinein wird an zumindest sehr vielen Produkten oft deutlich weniger angeboten, als Bedarf besteht, insbesondere bei Nahrungsmitteln und anderen
Elementaria. Das wird sich dann in den nächsten Jahrhunderten ändern. Aber Konkurrenz ist natürlich nicht nur die innerhalb einzelner Waren-Sparten, sondern überhaupt die um die gesamte Kaufkraft
auf einem Markt.
Diese Konkurrenz verbindet sich seit dem 10. Jahrhundert immer heftiger mit jener potentiell bzw. real gewalttätigen, mit der Herren via Waffen um Macht konkurrieren, wobei Produktion und Handel
Kampf und Krieg zu finanzieren beginnen. Dazu ist noch einmal darauf zurückzugehen, dass Herrschaft erst dort entsteht, wo potentielle Untertanen beginnen, genug zu produzieren, um Herren zu
ernähren bzw. zu finanzieren. Herrschaft ist die Aneignung von Produkten und Diensten derjenigen, die damit zu Untertanen werden und sie dient nach innen genau zu diesem Zweck, während sie
nach außen als eine Art Beute suchendes Raubtier agiert.
Auf einem Markt sind alle Beteiligten Konkurrenten. Insbesondere ist Kapital als Prozess Wachstum, wo es nicht wächst, verschwindet es. Kapitalkonzentration ist also seine Existenzgrundlage,
wobei größere Firmen kleinere vernichten, - sie haben gar keine andere Wahl. Auf der anderen Seite konkurrieren auch Konsumenten, und zwar, indem sie Waren nachfragen: Sie treiben allerdings
dabei die Preise hoch.
Geld
Ausdruck des Wachstums im 10. Jahrhundert ist das der Geldwirtschaft. Der Geldbedarf insbesondere der höheren Herren steigt dabei mit. Um 900 gilt für Geldwirtschaft noch die Rheingrenze, um 1000
ist sie bis an die Elbe vorgedrungen.
Marktwirtschaft bedarf für mehr Markt einer geordneten Münzproduktion.
Zu den hoheitlichen Rechten, die Klöstern verliehen werden, gehört manchmal auch das Münzrecht, wie für Prüm in der Eifel, Tournus und Sankt Martin in Tours oder auch Cluny, das Münzstätten in
Niort und Saint-Jean d'Angely im Auftrag der aquitanischen Herzöge betreibt.
Für die Menge des umlaufenden Geldes ist die Menge den Münzstätten zur Verfügung stehenden Edelmetalls wichtig. Die Verfügung über Silber wird so zu einem erheblichen Machtfaktor und mit dem
zunehmenden Geldbedarf steigt die Suche nach Silber in der Erde. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts spielen dann Silberbergwerke im Harz eine große Rolle und Goslar steigt zu einem
wichtigen Münzort auf. 984 wird man in den Vogesen fündig, und dann auch im Jura und im Schwarzwald.
Der Geldwert soll dem Wert des Edelmetalls der Münze entsprechen, weswegen Edelmetall in Barrenform grundsätzlich nach Gewicht auch gemünztes Geld ersetzen kann. Aber Geldentwertung gibt es schon
bei den Denaren: Zum einen werden sie immer leichter und zum anderen sinkt ihr Silbergehalt. Beteiligt daran sind die vor allem geistliche principes, an die die Könige das Münzrecht im
10. und 11. Jahrhundert vergeben, also Bischöfe, Äbte, aber auch Herzöge und einige Grafen.
Für die Grundherren bedient auch die Bewirtschaftung der Domäne, des Sallandes durch abhängige Bauern diese Monetarisierung, die sich in Nachfrage nach militärischem Bedarf und statusbetonendem
Luxuskonsum äußert. Mächtigere Bistümer, Klöster und höhere weltliche Herren beginnen, in langsam stärkerem Umfang Handwerker und Händler anzuziehen, um mehr Marktgeschehen zu initiieren, aus dem
dann erneute Monetarisierung hervorgeht.
Das an mächtigere Herren verliehende Münzrecht kann dabei helfen. Klösterliche Schatzbildung ist gelegentlich enorm und wird in Notzeiten auch zur Kreditgewährung eingesetzt.
Ohne dass das in einzelnen dokumentiert ist, muss die Produktivität der Landwirtschaft in der Nordhälfte Italiens zumindest gestiegen sein, denn die von größeren Herren abhängigen Pächter leisten
ihre Abgaben im 10. Jahrhundert zunehmend in Geld und brauchen nicht mehr Knechtsdienste auf Domänen zu leisten, die als solche verschwinden, da sie ebenfalls verpachtet sind. Damit nehmen die
Herren immer weniger Einfluss auf die Ausgestaltung bäuerlichen Wirtschaftens, da sie nur noch bare Münze als Endergebnis interessiert.
Die Bauern haben schon länger einen kleinen Überschuss ihrer Produkte gegen Werkzeuge, Töpferwaren oder Leder getauscht. Jetzt verkaufen sie offenbar zusehends Überschüsse auf dem Markt gegen
Geld, was die karolingische Münzreform mit etwas kleineren Münzen erleichtert hatte. Damit nehmen Zustände persönlicher Unfreiheit bereits ab, so wie in der Nordhälfte Italiens der
Geldumlauf zuzunehmen scheint
Der Geldbedarf größerer Herren wiederum resultiert aus dem zunehmenden Handel von Luxusgütern, die als Statussymbole eine sich immer mehr als (Krieger)Adel (milites) begreifende
Oberschicht markieren. Ein weiteres Statussymbol bietet die Stiftung einer "eigenen" Kirche und ihre Innenausstattung. Wer besonders um einen "Adels"status konkurrieren möchte, bleibt oder wird
stadtsässig, denn dort werden Reichtum (und Macht) sichtbarer.
Aber noch immer steht vor allem nördlich der Alpen neben der Zahlung in barer Münze oft reiner Tauschhandel. Noch im 10. Jahrhundert schreibt ein arabischer Reisender über Böhmen und auch über
Prag:
Auch verfertigt man im Lande Böhmen dünne lockergewebte Tüchelchen wie Netze, die man zu nichts anwenden kann. Ihr Preis ist bei ihnen wertbeständig, 10 Tücher
für einen Pfennig. Mit ihnen handeln sie und verrechnen sich untereinander. Davon besitzen sie ganze Truhen. Die sind ihr Vermögen und die kostbarsten Dinge kauft man dafür: Weizen, Sklaven,
Pferde, Gold, Silber und andere Dinge. (Ennen, S. 68)
Und noch nach 1129 wird es in den Bestimmungen des Bischofs von Straßburg heißen:
Ferner soll der Burggraf den Zoll für Öl, Nüsse und Äpfel erhalten (...), sofern sie für bares Geld verkauft werden. Wenn sie aber für Salz, Wein,
Getreide oder irgendeinen anderen Gegenstand verkauft werden, muss der Burggraf den Zoll mit dem Zoller teilen. (in Hergemöller, S.171)
Dennoch, im ganzen Frankenreich zum Beispiel sind im 10. Jahrhundert Münzen im Umlauf, und sie geraten wohl grundsätzlich auch überall in die Hände der von ihren Herren abhängigen Produzenten.
Detailliertere Informationen dazu fehlen allerdings.
Städtische Märkte
Zu schon vorhandenen kommen im 10. Jahrhundert immer neue Märkte als Ausdruck zunehmenden Handels. Dabei vergeben die Könige das von ihnen längst durchgesetzte Marktregal an die größten
Grundherren vor Ort, an Bischöfe und Äbte. Da sie zwecks Förderung des Handels als zuständig gesehen werden, werden damit oder danach an sie auch Münz- und Zollregal vergeben. Die Herren gründen
damit Märkte, errichten Münzstätten und erheben Zölle. An manchen Klöstern siedeln sich ebenfalls Märkte an, zuweilen mit Handwerk und Handel. Daraus können später ganze Städte entstehen.
Das erste Privileg eines herrschaftlich garantierten Marktes ist der dafür verordnete Friede, also eine verrechtlichte, in Raum und Zeit begrenzte Sphäre der Gewaltlosigkeit. Aus den
Gepflogenheiten des Handels entsteht eine Art Gewohnheitsrecht, welches nach und nach von den Herren anerkannt wird.
Am Ende gibt es in deutschen Landen rund 200-300 Märkte (Fuhrmann), an denen sich Menschen ansiedeln. Aus ihnen können neue Städte entstehen oder sich alte Stadtkerne neu entfalten. Mit dem
Bevölkerungswachstum steigt der Zuzug in die Stadt, der alleine Städte wachsen lässt. Das fördert die Spezialisierung im Handwerk dort, Arbeitsteilung also, und die wiederum belebt das
Marktgeschehen.
Was vor allem in den wachsenden Städten langsam zurückgeht ist Selbstversorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Wer kann, kauft zunehmend Bekleidungsstücke ein, für die die Nachfrage
offenbar rasch wächst, da es immer mehr Produktion von Textilien, Lederwaren, Schuhen usw. gibt. Dazu kommen irdene, hölzerne und metallene Haushaltsgegenstände und Gerätschaften. Da die
weltlichen Herren zugleich Krieger, milites sind und für Kirche und Kloster zusätzlich die Gewalttätigkeit ausüben, kommen Waffen und Rüstungen immer mehr auf den Markt.
Handel: Die globale Perspektive
Handel gibt es im 10. Jahrhundert über die drei Kontinente Europa, Afrika und Asien hinweg, die geographisch eng verbunden sind. Der Weg in Kapitalismus beginnt aber in einigen Kerngebieten des
lateinischen Abendlandes, die eine bestimmte Form institutionalisierter Machtstrukturen, also von Zivilisation erreicht haben. Die in manchem "überlegenen" islamischen Zivilisationen Ägyptens,
Spaniens und Siziliens sowie die von Byzanz fallen heraus, so wie auch die "unterlegenen" der Kelten, Skandinavier und Slawen, die erst nach und nach unter den Einfluss der Kernregionen gelangen
oder aber wie das spätere Russland (und Byzanz) weiter draußen bleiben werden.
Eine Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist notwendig auf das lateinische Abendland konzentriert. Aber sie muss Teile Afrikas und des Nahen Ostens sowie Asiens mit einbeziehen, denn die
leisten einen nicht unerheblichen Beitrag zum Aufbau von europäischem Handels- und Finanzkapital. Einzig der Doppelkontinent Amerika und Australien bleiben außen vor. Die wohl inzwischen
archäologisch belegten Fahrten der Wikinger nach Nordamerika bleiben ohne Folgen bis zum Abenteurer Kolumbus, und die chinesische und japanische Welt trauen sich nicht einmal bis nach Australien
vor.
Europa ist nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde und dort leben um das Jahr Tausend insgesamt vielleicht 40 Millionen Menschen, während es damals alleine in China rund 100 Millionen sind.
Was die Entwicklung großer Städte angeht, ist das lateinische Europa in den letzten 700 Jahren weit zurückgefallen und beginnt sich gerade erst ansatzweise von diesem Schrumpfungsprozess zu
erholen. Vielleicht hat Paris derzeit 10 000 Einwohner, Rom nicht viel mehr als 20 000, während Kaifeng und Hangzhou Millionenstädte sind, das islamisch kontrollierte Cordoba um die 450 000
Einwohner hat. (Die Zahlen hier alle nach Hansen).
Bis tief ins zehnte Jahrhundert spielen jüdische Händler eine wichtige Rolle beim interkontinentalen Warenverkehr. Sie bereisen beide Frankenreiche, Böhmen und Bulgarien. Ihre Schiffe fahren von
der Provence nach Ägypten und über das Rote Meer Richtung Indien. Sie bringen Karawanen von Antiochia nach Mesopotamien, und steigen dann auf Schiffe nach Indien und weiter in den Osten um. Von
ihren Stadtvierteln im fatimidischen Ägypten aus, die schon in der Römerzeit bedeutend waren, greifen sie im 10. Jahrhundert auch immer mehr in den Italien-Handel ein. Sie werden noch im 11.
Jahrhundert wichtig sein, sind aber dann auf arabische, italienische und byzantinische Schiffe angewiesen. (Morissey, S.108f)
Der Osten: Slawen und Rus
Die Leute der großen Sprachfamilie der Slawen sind zunächst in kleine Gruppen unter eher schwachen Häuptlingen aufgeteilt, ähnlich wie die Nordgermanen. Im Süden geraten sie unter die Hoheit der
Awaren und des Turkvolkes der Bulgaren.
Die Rus beginnen als skandinavische Besiedler von Handelsstationen, Staraya Ladoga und dann Nowgorod. Siedlungen entstehen in der dichten Waldlandschaft im wesentlichen entlang von Flüssen. Nicht
nur in Kiew beginnen Rus mit dem Aufbau eines Fürstentums, wobei Ziel die Unterwerfung von Völkerschaften soweit ist, dass man ihnen Tribute abzwingen kann. Fürst Igor versucht, in der ersten
Hälfte des 10. Jahrhunderts ein Großreich dieser Rus aufzubauen und scheitert. Seine Witwe Olga (Helga) übernimmt die Aufgabe und tritt zum byzantinischen Christentum über. Sohn Swjatoslaw
erweitert das Reich vom Ladogasee bis zum Schwarzen Meer. Die Hauptstadt Kiew hat um das Jahr 1000 mehrere tausend Einwohner, große Kirchenbauten, und kann sich mit gleichzeitigen deutschen
Städten messen.
Halbbruder Wladimir tötet Swjatoslaw und tritt um 988 nun auch zum Christentum oströmischer Machart über. Derweil ist die herrschende Schicht der benachbarten Chasaren jüdisch und etwa um
dieselbe Zeit tritt Seltschuk am Aralsee mit seinen Oghusen zum Islam über.
Weiter westlich schaffen morawische Fürsten ein großmährisches Reich, welches die Ungarn um 900 zerstören, während ein kroatisches Fürstentum länger überlebt. Ganz im Westen formiert sich im 10.
Jahrhundert unter Fürsten von Prag aus ein durch Gebirge abgegrenzten Machtraum, der dann versucht, sich in Richtung des entstehenden Polens und des geschwächten Mährens hin auszudehnen. Die um
Gnesen und Posen beheimateten Polen schaffen unter dem Piasten Mieszko eine rapide Expansion Richtung Ostsee, die ohne "natürliche Grenzen" bleibt. Aber ähnlich wie slawische Stämme gegen
deutsche Herrschaft, so stehen andere auch vorläufig gegen die polnische auf.
Byzanz
Viel mehr noch als die Rus trägt das Byzantinerreich an der Peripherie durch Handel zur Entwicklung von Kapitalismus im lateinischen Raum bei. Seine Hauptstadt kann sich an Größe und Reichtum mit
den islamischen Metropolen im ehemaligen Imperium Romanum messen. Aber die inneren Strukturen, Weiterentwicklungen aus der klassischen Antike, werden ebenfalls in keinen Kapitalismus führen,
sondern in seinen langsamen Abstieg. Zu inneren Wirren kommen zunehmende Angriffe von außen. Im Osten bleibt ihm nur noch Kleinasien. 941 greifen sogar die Rus unter Fürst Igor die Hauptstadt mit
einer Flotte an, wie Liutprand von Cremona berichtet. In den nächsten Jahrhunderten wird die Bedrohung dann unter anderem von den Seldschuken, den Normannen und den italienischen Seestädten
ausgehen.
Aber unter der makedonischen Dynastie (867-1056) kommt es erst einmal zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der verbunden ist mit einem steten Bevölkerungswachstum. Der Fernhandel wie der
regionale Handel florieren rund um das Zentrum Konstantinopel, dabei verlagert sich dort wie überhaupt im östlichen Mittelmeer der Seehandel nach und nach auf italienische Schiffe. 992 schließt
Basilius II. einen ersten Handelsvertrag mit Venedig.
1054 wird es wieder einmal zu einem Bruch zwischen Rom und Konstantinopel kommen. Beide "christlichen" Religionen haben sich wie alles andere auch auseinanderentwickelt, von der griechischen
Liturgie über barttragende "orthodoxe" Priester, bis zum mit Hefe gesäuerten Brot bei der Kommunion. In Ostrom gilt das Zölibat darüber hinaus nur für Bischöfe. Diese religiösen Unterschiede
helfen bei der Abschottung des Byzantinerreiches von westlichen Entwicklungen.
Afrika und der Nahe Osten
Während sich in Skandinavien eine Schwellenzeit mit einer gewissen Verspätung einstellen wird, werden die Reiche der Rus und der Romania/Ostrom dauerhaft draußen bleiben, und dasselbe gilt ganz
massiv auch für Afrika. Dabei hat dieses ganz massiv zwei Waren zu liefern, und zwar auf direktem Wege in die islamische Welt: Das sind Gold und Sklaven.
Zwei Dinge verschränken sich dabei in der Nordhälfte Afrikas ineinander, nämlich der Handel und die Islamisierung.
Schwarzafrikanische Sklavenjagd und entsprechender Sklavenhandel hat eine Tradition, die wohl bis in die Antike zurückgeht. Negroide Händler werden etwa ebenso viele schwarze Sklaven in die
islamische Welt verkaufen wie später an weiße Händler, die sie über den Atlantik verschiffen. Nach 650 bis um 1900 sollen so insgesamt weit mehr als 20 Millionen Schwarzafrikaner von ihren
negroiden Landsleuten eingefangen und verkauft worden sein.
Diese Sklaven dienen in der islamischen Welt als Haussklaven, und dabei insbesondere als Eunuchen als Aufseher im Harem. Zu diesem Zweck kastrieren die Sklavenhändler schon junge Sklaven.
Deutlich mehr Männer noch landen als Militärsklaven in den Heeren islamischer Herrscher. Als Ibn Tulun im 9. Jahrhundert Ägypten kontrolliert, stehen ihm unter anderem Zehntausende
schwarzafrikanische Militärsklaven zur Verfügung.
Schließlich dient ein Teil der weiblichen menschlichen Ware in der islamischen Welt auch als Sexsklavinnen. Dafür dienlich sind (bis heute) islamische Gesetze, die z.B. die Kurzzeitehen über Tage
oder auch nur Stunden erlauben. Ibn Butlan, auch Verfasser des 'Tacuinum sanitatis in medicina', lobt besonders die versklavten Bewohnerinnen einer Region in Ostafrika, wenn sie denn jung und
noch unberührt sind, weil sie in dieser Gegend die Beschneidung praktizieren. Mit einem Rasiermesser entfernen sie die komplette äußere Haut auf der Vulva bis auf den Knochen. (in: Hansen, S.159)
Ein Ratgeber für den Sklavenkauf aus dem 11. Jahrhundert besagt u.a. über die Frauen eines ostafrikanischen Volkes: Sie haben einen goldenen Teint, schöne Gesichter, grazile Glieder und eine
zarte Haut. Sie geben angenehme Bettgespielinnen ab, wenn man sie aus ihrem Land holt, solange sie noch jung sind. (in: Ertl, S.53)
Das islamische Recht erlaubt Sklavenbesitzern Geschlechtsverkehr mit ihrem Eigentum, verlangt allerdings die Legitimierung der Nachkommenschaft, was deren Freilassung nach sich zieht. Dadurch
bricht die Nachfrage nach Sklaven nie ab, während in der lateinischen Schwellenzeit der Nachwuchs von Sklaven weiter Eigentum des Herrn bleibt. Entsprechend ziehen in unserer Schwellenzeit
jährlich Kamelkarawanen von insgesamt über 5000 Sklaven alleine durch die Sahara nach Norden
Alt-Simbabwe steigt über Sklaven und Gold zu einer Stadt auf, die in ihrer besten Zeit vielleicht 10 000 Einwohner hat. Es soll pro Jahr etwa eine Tonne Gold gefördert und verkauft haben. Andere
Handelsstädte erreichen wenigstens ca. 5000 Einwohner. Daneben errichten Suaheli in Ostafrika mit unter anderen Mombasa und Mogadischu bedeutende Handelsstädte bis hin nach Sansibar und bedienen
das Rote Meer bis Ägypten und den Indischen Ozean mit Gold, Hölzern und Elfenbein, wobei letzteres bis ins lateinische Abendland gelangt und dort zu handwerklichen Kunststücken verarbeitet wird.
Ein zweites auf Gold (von den Ufern des Senegal) basierendes Reich ist das von Ghana mit Städten wie Djenné, das an Größe die deutschen Städte der Zeit übertrifft. Der Reichtum des Herrschers
beruht auf seiner Macht über das Gold, welches über almoravidische Händler Marokkos nach Spanien gelangt.
Zwischen dem 7. und frühen 8. Jahrhundert erobern islamische Araber mit dann verbündeten unterworfenen Völkern den Nahen Osten, Ägypten, Nordafrika und den größten Teil Spaniens, bilden aber
außerhalb Kernarabiens nur eine dünne Oberschicht. Von den Römern übernehmen sie anders bzw. stärker als beispielsweise die Franken Verwaltung, Steuern und stehendes Heer. Mit der Übernahme
einiger der reichsten römischen Provinzen und ihrer Verbindung mit dem Iran und Zentralasien entsteht ein prosperierender Handelsraum mit dem Dinar (vom Denar abgeleitet) als gemeinsamer Währung.
Bagdad wird im 9. Jahrhundert zur größten Stadt außerhalb Chinas.
Während das Christentum zunächst offiziell Besitzgier, Gewinnstreben und damit auch Kapitalbildung eher ablehnend gegenüber steht, hat der Islam damit weniger Probleme, war doch schon Mohammed
möglicherweise selbst Kaufmann gewesen.
Anders als Skandinavier, Rus und große Teile Schwarzafrikas ist neben Byzanz und dieses überflügelnd die islamische Welt zwischen Bagdad, Sizilien und Spanien im 10. Jahrhundert dem lateinischen
Abendland an städtischer Zivilisation, Schriftlichkeit, Handel und technischen Errungenschaften noch weit überlegen. Deren Abbassidenreich zerfällt schließlich in Teilreiche wie das der
schiitischen Fatimiden von Ägypten mit der Neugründung Kairo ("Die Siegreiche"), welches schnell auf eine halbe Million Einwohner anwächst, bald in das Reich der Seldschuken von Bagdad (1055) und
das der Almoraviden von Marokko und Spanien.
Überall sind die islamischen Handelsstädte an der südlichen Mittelmeerküste Transitorte für den Handel aus Schwarzafrika und ab Alexandria mit Asien. In unserer Schwellenzeit lassen sich zunächst
Händler aus Amalfi dort nieder und beginnen, den Warentransit ins lateinische Abendland muslimischen Händlern abzunehmen. Zu Sklaven und Gold vermittelt Kairo auch Elfenbein, Kupfer und Bronze
nach Europa.
Darüber hinaus übernehmen Gelehrte in islamischen Städten griechisches Gedankengut und anverwandeln es ins Arabische. Auf diesem Weg wird ein gewisser Teil griechischer Gelehrsamkeit nicht über
das antike Rom, sondern über die islamische Welt an das lateinische Abendland vermittelt werden. Seit sich im 10 Jahrhundert Medressen entwickeln, Schulen privater Stifter, steigt das
Bildungsniveau der dort unterrichteten kleinen Gruppe junger Männer beträchtlich.
Asien
Asien, weitab von den Regionen des lateinischen Abendlandes, in denen Kapitalismus entsteht, ist geteilt in nördliche Steppen- und Wüstenlandschaften vom Kaspischen Meer bis zur Mongolei, die als
Handelswege dienen, und in alte Zivilisationen von Persien über Indien bis China, die Rohstoffe und Fertigprodukte anbieten, die teilweise von herausragender technischer Perfektion sind. Geteilt
ist der Kontinent auch in drei Großreligionen: Den in unserer Zeit weit vordringenden Islam, den Buddhismus und den Hinduismus.
Im Raum des heutigen Usbekistan herrschen die Mitglieder der Saman-Familie, die sich schon im 9. Jahrhundert nur noch nominell den Abbassiden unterstellen. Als kriegerisches Volk machen sie
enorme Mengen an Kriegsgefangene, die sie in Bagdad, Kairo und anderswo verkaufen, wodurch sie erhebliche Reichtümer anhäufen. Um den Marktwert der Sklaven zu erhöhen, richten sie sogar eine
Schule für Militärsklaven ein (Hansen, S.194). Mit der Hauptstadt Buchara und mit Samarkand entwickeln sie zwei große und bedeutende Städte.
Um 914/943 rebellieren aus Turkvölkern bestehende Militärsklaven gegen den letzten Samanidenherrscher und ein Teil zieht ab nach Ghazna (Ghazni im heutigen Afghanistan). Sie zwingen den dortigen
Völkern den Islam auf und errichten unter Sultan Mahmud ein Riesenreich, welches bald über Persien, Afghanistan, das heutige Pakistan und Nordindien herrscht. Ghazna wird mit dem Gelehrten Al
Biruni und dem persischen Dichter Firdausi, die beide dorthin ziehen, zu einer Metropole belesener Schriftlichkeit.
In Xinjiang, welches riesige Gebiet nordöstlich an Afghanistan und Kaschmir anschließt, etabliert sich eine Karakhaniden-Dynastie, welche den Großraum islamisiert und westlich bis nach Buchara
ausdehnt. Wiederum östlich von ihnen etabliert sich ein Reich der Kitan, in dem neben Kitan, Chinesisch, Uigurisch und manche andere Sprache gesprochen und vorwiegend Buddhismus gepflegt wird.
Südlich vom Liao-Reich herrschen die südchinesischen Song-Kaiser, weiter östlich liegt Korea und noch etwas weiter nach Osten Japan, allesamt damals mehr oder weniger buddhistisch. Während die
Liao und die Song Handel bis nach Indonesien und Indien und sogar bis in den (von Europa aus gesehen) Nahen Osten betreiben, schließt sich Japan stärker ab, und lässt "internationalen" Handel nur
über den Hafen von Fukuoka auf Kyushu zu.
Lange vor Europäern benutzen Chinesen um das Millennium den magnetischen Bordkompass. Sie befahren mit dem Seeweg vom Persischen Golf nach Guangzhu (Kanton) eine fast doppelt so lange Strecke wie
Kolumbus fünfhundert Jahre später. China liefert per Schiff bis nach Afrika Keramik, Textilien und Waren aus Gold, Silber und Eisen. Insbesondere chinesische Töpferwaren genießen hohes Prestige,
und zwar sowohl kunstvolle Einzelstücke wie als Massenwaren in nie dagewesenem Umfang. Insgesamt erwirtschaftet China einen enormen Handelsüberschuss über handwerkliche und manufakturielle
Produktion.
In der Zeit der lateinischen Nachantike entwickelt sich China zum wichtigsten und am meisten globalisierten Handelsreich der Welt. Guangzhu und Quanzhu sind unter den Song-Kaisern wohl die
bedeutendsten der damals bekannten Hafenstädte, beides Millionenstädte wie die Hauptstadt Kaifeng.
Zwischen China und Afrika liegen mächtige Reiche wie das der Chola in Südindien, die den Hinduismus verbreiten, buddhistische Klöster plündern und zerstören und bis nach Ceylon vordringen. Ihr
Teil von Indien treibt Handel über die ganze Halbinsel hinaus mit Malaya und Persien.
Das Srivijaya-Reich von Sumatra liefert nicht nur den Chinesen Stoßzähne von Elephanten, Hörner des Rhinozeros und Aromastoffe. Um riesige Tempelanlagen wie das javanische Borobodur konzentriert
sich die mächtige Herrschaft der mit den Srivijaya liierte Sailendra-Dynastie mit voll ausgebildeter Marktwirtschaft und hochentwickeltem Handwerk. Reis und Pfeffer werden exportiert, letzterer
nach China, und Gewürznelken, Sandelholz und Muskat werden eingeführt. Es gibt zudem regional beschränkten Sklavenhandel.
Ein anderes Machtzentrum bildet sich in Kambodscha um die Angkor-Dynastie, die sowohl Buddhismus wie Hinduismus duldete. Solche Tempelanlagen wie Angkor Wat (über 200 Quadratkilometer und
wenigstens 800 000 Einwohner) mit ihren für damalige Verhältnisse riesengroßen Städten sind im lateinischen Europa noch lange undenkbar. Zwischen den Herrschaften von Angkor und China herrscht
beträchtlicher Handelsverkehr.
Handel nördlich der Alpen
Die dänischen Nordmänner fallen ab 830 entlang der Handelsrouten einerseits über Südengland und insbesondere das Frankenreich als Räuber (Wikinger) und dann auch bald als Eroberer her, und
Norweger suchen vornehmlich das übrige Britannien heim. Aber im hohen Norden plündern, rauben und zerstören Wikinger nicht nur, sondern sie treiben zumindest teilweise auch Handel.
Mitte des 9. Jahrhunderts gehen die Nordmänner in Irland von räuberischen Überfällen zu Ansiedlungen über und entwickeln mit Dublin, dann Waterford, Cork und Limerick erste Städte auf der Insel.
Dublin wird ein relativ bedeutendes Handelszentrum mit Produktion von Gegenständen aus Knochen, Leder, Holz und von Textilien.
Die Schweden orientieren sich in Richtung des viel späteren Russland. Von Birka westlich vom späteren Stockholm aus ziehen sie nach Staraja Ladoga und dann bald die Flüsse, insbesondere den
Dnjepr hinab nach Süden. Seine schlimmsten Stromschnellen hat dieser bei Kiew, welches zu einem Zentrum der Rus wird, wie sie bald heißen. An Flussläufen errichten sie befestigte Lager, aus denen
dann Städte mit im Norden skandinavisch-ugrisch-slawischer Mischbevölkerung werden. Im Laufe der Zeit vermischen sich die Rus auch im Süden mit den Slawen und nehmen am Ende deren Sprache an.
Die nach Skandinavien gelangenden Handelswaren lassen die dortigen Orte zu kleinen Handelsstädten aufblühen, die allerdings kaum mehr als 1000 Einwohner haben. Der andere Weg führt nach Süden ans
Schwarze Meer der Rum, wie die Muslime es nennen, also ins byzanzinische Reich nach dem befestigten Cherson (Sebastopol). Über das Schwarze Meer geht es dann in durchschnittlich sechs Tagen nach
Konstantinopel und manchmal auch bis Bagdad.
Hansen spricht "von dem enormen Transfer von Reichtum aus Konstantinopel und der islamischen Welt zu den Rus, mit dem die importierten Pelze und Sklaven bezahlt werden." (S.121) Dafür sprechen
die großen Münzfunde in Skandinavien und Osteuropa.
Die Einheimischen, die hauptsächlich von Fischfang und Fallenstellen leben, liefern ihnen Honig, Pelze und in hohem Maße Sklaven und werden teilweise auch gewaltsam unterdrückt und zu Tributen
gezwungen. Der schwunghafte Handel mit Sklaven nach Norden und Süden führt dazu, dass das griechische Wort für Slawe (sklabos) sich als allgemeine Benennung für Sklaven in Europa
einbürgern wird.
Solche Händler liefern sogar flämische Tuche, vor allem aber Sklaven nach Süden, die über das kaspische Meer ins Kalifat von Bagdad gelangen. Über das von solchen Rus errichtete Nowgorod gelangen
dann Pelze, Wachs und spezifische Orientwaren zurück.
Gegen Ende des 9. Jahrhunderts haben laut Kiewer Nestorchronik Slawen warägische (wikingische) Herrscher in Kiew und Nowgorod eingesetzt, die die Verhältnisse so
stabilisieren, dass dort in größerem Umfang Handel möglich wird.
„Konstantinos Porphyrogenetos erzählt, wie sich die Skandinavier, von den Slawen >Russen< genannt, während des 10. Jhs. jährlich nach der Schneeschmelze mit
ihren Schiffen in Kiew versammelten. Die Flotille fährt sodann langsam auf dem Dnjepr abwärts, wo häufige Katarakte Hindernisse bilden, die nur im Schleppzug längs des Ufers zu überwinden sind.
Das Meer einmal erreicht, segelt man längs der Küste nach Konstantinopel, dem Ziel der langen und beschwerlichen Reise. Dort besitzen die Russen ihr eigenes Quartier, und Verträge, deren ältester
ins 9. Jh. zurückreicht, regeln ihren Handel mit der großen Stadt. (…) Von dort her empfingen sie das Christentum (957-1015); von dort entlehnen sie ihre Kunst, ihre Schrift, den Gebrauch des
Geldes und einen guten Teil ihrer Staatsverwaltung.“ (Pirenne, S.26f)
Es zeigt sich, dass viele "Funde islamischer Silbermünzen entlang der russischen Flüsse sowie in Nord- und Osteuropa als Beleg für ein riesiges Handelsnetz im 10.
Jahrhundert gedeutet werden müssen und dass in diesem Handelssystem nicht Pelze oder Waldprodukte, sondern slawische Sklaven die wichtigsten Handelsgüter
waren. Mehrere zehn millionen Silbermünzen flossen in diesem Geschäft in den skandinavischen Raum." (Ertl, S.46)
Mit den Unruhen im Frankenreich nimmt im 9. Jahrhundert nach Norden arabischer Handel zu, wie man an Münzen dort erkennen kann, außerdem der vom Kaspischen und
Schwarzen Meer.
Dass auf dem Weg ins hohe Mittelalter Handel dann aber weiter zunehmen wird, liegt auch daran, dass in dieser Zeit Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Schon im 10. Jahrhundert beseitigen die
sächsischen Kaiser die Ungarngefahr (955 Lechfeld bei Augsburg). Derweil lässt auch die skandinavische Bedrohung bis auf die der britischen Inseln nach. Nord- und Ostseeraum werden zunehmend
sicherer. Die Stabilisierung neuer Reiche im 10./11. Jahrhundert schafft mehr Sicherheit, auch mehr Planungssicherheit.
Fernhandel im Norden bezeugen Händlersiedlungen wie das friesischen Tiel an der Waal, welches Dorestad ablöst. Von dort haben wir einen abschätzigen Bericht des Mönches Alpert von Metz über die Kaufleute:
pastos (Verfressenheit) autem et comessationes (Trinkgelage), quas divina auctoritas vetat, ubi et gravedines et indebite exactiones et turpes ac inanes
letitie, rixe (Raufereien,) sepe etiam, sicut experti sumus, usque ad homocidia et odia et dissensiones accidere solent, adeo penitus interdicimus, ut qui de cetero hoc agere presumpserit, si
presbyter fuerit vel quilibet clericus, gradu privetur; si laicus est aut femina, ab ecclesia usque at satisfactionem
separatur. (in: Jankuhn/Ebel, S.185)
Es bleibt auch Quentovic zwischen dem 7. und 11. Jahrhundert und das um 770 von Wikingern gegründete Haithabu (beim späteren Schleswig) zwischen dem 8. und frühen 11. Jahrhundert mit Radien bis
ins Frankenreich, nach England/Irland, Skandinavien und dem Baltikum, indirekt in die Tiefen des späteren Russland und darüber bis in den nahen Orient. Ein wichtiger Handelsort ist auch das
slawische Liubice, das spätere Lübeck.
Noch immer spielen Juden eine wichtige Rolle im Handel, wie folgendes Dokument bezeugt:
Die Kaufleute (mercatores) aber, das sind die Juden und andere Kaufleute, woher sie immer kommen (de ista patria vel de aliis patriis) sollen den gerechten Zoll
zahlen, sowohl von den Sklaven (mancipiis) als auch von den anderen Gütern, so wie es immer in früheren Zeiten gewesen ist. (§15) Ista patria meint vermutlich Bayern (Störmer in: Schwineköper, S.362)
Als wichtige Ware darf man eben auch durch das zehnte Jahrhundert nicht die allgegenwärtigen Sklaven vergessen, wobei Europa auch bereitwillig den großen islamisch-nordafrikanischen und
orientalischen Bedarf mit deckt.
Mitte des 10. Jahrhunderts ist der arabische Händler Ibrahim ibn Yakub aus Andalusien erstaunt darüber, dass es auf dem Markt der Stadt Mainz nicht nur orientalische Gewürze wie Pfeffer, Ingwer und Gewürznelken
gibt, sondern dass auch mit arabischen Silbermünzen aus Samarkand bezahlt wird. Zu erklären sind diese (indirekten) Handelsbeziehungen in ferne Kontinente des Mainzer Marktplatzes mit der Etablierung grenzüberschreitender Netzwerke des
Sklavenhandels. (Ertl, S.45)
Von einem weiteren großen Sklavenmarkt in Prag berichtet ein jüdischer Reisender, wohin offenbar tschechische und ungarische Händler zusammenkommen.
Bis ins hohe Mittelalter zieht der im Landhandel beschäftigte Kaufmann oder eher noch eine Gruppe von Kaufleuten mit seiner/ihrer Ware mit. Pirenne gibt ein hübsches Bild einer solchen im Norden
reisenden Schar:
„Ihre mit Bogen und Schwert bewaffneten Mitglieder umschwärmen die mit Säcken, Ballen, Kisten und Fässern beladenen Saumtiere und Karren. An der Spitze reitet der
Standartenträger (Schildrake). Der Hansgraf oder ein Dekan befehligte den Trupp. Dieser besteht aus >Brüdern<, die durch ein Treuegelöbnis miteinander verschworen sind. Ein Geist
enger Solidarität belebt die Schar. Die Ware wird augenscheinlich gemeinsam eingekauft und verkauft, wobei der Gewinn proportional zur Einlage jedes einzelnen zur Verteilung gelangt.“
(S.96)
Neben allen anderen Unbillen einer solchen Reise wird da vor allem die Sorge vor Überfällen, vor Raub und Mord deutlich. Vor allen anderen wird das Handelskapital so etwas wie Hoffnungen auf
Frühformen eines staatlichen Gewaltmonopols entwickeln. Bevor es dazu kommt, schließt man sich untereinander zusammen, und mit deutschen Raum heißt das dann oft Hanse. Vor Ort bilden solche
Fernhändler Gilden, die ihre Interessen in der Stadt vertreten.
Wichtig für die Entstehung von Kapitalismus wird schon in der (späteren?) Nachantike die Entstehung eines Gewohnheitsrechtes unter den Kaufleuten, welches sich
später in Marktrecht und Handelsrecht fixiert. Zum Handeln auf Treu und Glauben kommt das Prinzip der Vertragserfüllung.
Das alles darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der größte Teil des Handels im Frankenreich noch im 10. Jahrhundert lokaler und, seltener regionaler
Natur ist. "...rund 80 Prozent der Münzen sind im Umkreis von 100 Kilometern von ihrer Münzstätte gefunden worden." (Wickham(3), S.547) Und Fernhandel betrifft selten anderes als den Luxus-Konsum
der hohen Herren.
Der Handel im Mittelmeerraum
Die Forschung hat viele Gründe angeführt, warum der Handel zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert im Mittelmeerraum zurückgeht. Vieles spielt eine Rolle: Der Untergang des weströmischen Imperiums,
die Zerstörungen Ostroms im Krieg gegen die Ostgoten, der Langobardeneinfall, die islamische Übernahme des nahen Ostens, Nordafrikas, Siziliens und fast ganz Spaniens.
Der interkontinentale Handel zwischen Europa, Afrika, dem Orient und Asien war mit dem Ende des Imperium Romanum massiv zurückgegangen. Was durch die Zeit bleibt, aber ohnehin nur in kleinen
Mengen, ist der Gewürzhandel, der Arabien, Persien, Indien, die Mongolei und China einschließt.
Tatsächlich geben Texte und Ausgrabungen nur punktuelle und schlecht zu verallgemeinernde Aussagen her. Commercium, merces, negotiatio (Handel und Waren) spielen nur
sporadisch in den Quellen eine Rolle. Immerhin gibt es wohl seit der Karolingerzeit einzelne wohlhabende und grundbesitzende Kaufleute, die auf die Organisation des Handels und des
Marktgeschehens durch Bischöfe und Äbte angewiesen sind.
In den Honorantien von Pavia tauchen dort Händler aus Venedig und Kampanien auf, die wohl auch schon früher dort waren (§5,6). Ob Lombarden oder Fremde, es sind weiterhin freie und privilegierte
Beschaffer unter anderem von Seide und Gewürzen für den Palast. Der kleine produktive Sektor in den wieder aufsteigenden Städten führt zu wenig Nachfrage.
Pirenne hat die später wohl nicht ganz zu Recht in Ungnade gefallene These aufgestellt, der Einbruch des Islam in den Mittelmeerraum habe die abendländische Wirtschaft ein Stück weit
stranguliert. Allerdings bricht der Handel tatsächlich schon mit dem Ende des weströmischen Imperiums ein.
Andererseits wäre wohl kaum der Weg in den Kapitalismus so früh frei gewesen, wenn die orientalische Despotie nicht im 11. Jahrhundert von großen Teilen der nördlichen Mittelmeerküsten und dann
vom Meer selbst zunehmend wieder vertrieben worden wäre.
Die Seehoheit über das Mittelmeer haben zwar inzwischen muslimische Schiffe, aber diese beliefern auch christliche Häfen. Juden und "Araber" bilden im Mittelmeerraum und im Nahen Osten
Handelsgesellschaften. "Die Mudaraba genannte Gesellschaft, bei der ein Investor das Kapital einzahlt und ein Angestellter die Arbeit erbringt, ist bereits im 6. Jahrhundert nachweisbar." (Ertl,
S.150)
Der interkontinentale Handel mit Luxuswaren läuft weiter über Zwischenhändler aus Indien und direkter aus dem näheren Orient und Nordafrika, allerdings wesentlich schwächer als zur Zeit der
römischen Antike. Im Mittelmeerraum steht sehr lange an erster Stelle der Handel mit exotischen Gewürzen, deren Anzucht aus klimatischen Gründen in Europa nicht möglich ist: Pfeffer,
Gewürznelken, Zimt, Muskat, (Rohr)Zucker und vieles anderes. Karawanen liefern sie aus Afrika und dem arabischen Raum sowie Schiffe aus Asien (Indien und China). An den Mittelmmer-Küsten werden
sie seit dem 10. Jahrhundert von italienischen Schiffen aus Venedig und Genua vor allem übernommen, wobei die beiden andere Städte aus dem Geschäft verdrängen.
Erst im 11. Jahrhundert werden sich Fernhändler aus unserem Bereich stärker und dann bald mit Macht daran beteiligen. Andere Luxusgegenstände, oft den Status von Kloster, Bischofskirche und
Fürsten darstellend, kommt aus europäischer Produktion bei zum Teil außereuropäischen Rohstoffen (Edelsteine, Gold, Elfenbein usw.).
Im Kern existiert ein interkontinentales Ungleichgewicht. Es gibt zwei Großräume mit bedeutenden Städten, entwickelter Warenproduktion und einem ausgebauten Handel, nämlich das Reich von Byzanz
und die Reiche des Islam. Dann gibt es einen im Vergleich dazu unterentwickelten Raum des christlichen Teils Italiens, ein immer noch partiell urban geprägter Raum, und schließlich das große
nördliche Hinterland Europas, Natur- und Agrarlandschaft vor allem, welches für Handel und Wandel des Südens nur eine gewisse Rolle als Rohstofflieferant spielt.
Der ungleichgewichtige Warentausch von Rohstoffen und minderwertiger Massenware gegen relative Luxusprodukte muss von der lateinischen Welt entweder durch Masse ausgeglichen werden oder durch den
Abfluss von Edelmetallen. Die Entwicklung in kapitalistische Verhältnisse wird auch darin bestehen, dieses Ungleichgewicht aufzuheben, was vor allem verbesserte Warenproduktion bedeuten wird, und
sie wird nach einigen Jahrhunderten die ökonomischen Machtverhältnisse umkehren.
Dem Umschwung hin zur Dominanz des Mittelmeerhandels nach der Jahrtausendwende werden im 9. und 10. Jahrhundert einmal nominell noch unter byzantinischer
Herrschaft stehende Städte wie Venedig und Bari im Osten und Neapel, Gaeta und Amalfi im Westen leisten und dann gibt es noch Marseille und Barcelona außerhalb des italienischen Raums.
Ein erstes Anzeichen von Handelskapital ist in Venedig für 829 mit dem Testament des Dogen Justinian überliefert, der sich darin auf für ihn arbeitende
solidi bezieht, die er in Schiffe investiert, hat, deren Rückkehr bevorsteht. (Wickham(3), S.547). Im 10. Jahrhundert werden amalfitanische Kaufleute mit großen Kapitalien folgen. Zu solchen
Leuten gelangt zunehmendes Kapital, indem sie an wohlhabendere Grundherren verkaufen, deren Kaufkraft aus der Arbeit der von ihnen kontrollierten Bauern vor allem stammt.
Überhaupt kann man im 10. Jahrhundert venezianische, skandinavische und rheinländische Kaufleute in Konstantinopel entdecken, in einer Stadt, die an Reichtum
lateinische Städte damals bei weitem übertrifft. Der größte Reichtum aber bleibt vorläufig weiterhin in Ägypten und überhaupt in islamischen Metropolen bis nach Hispanien, wo insbesondere Cordoba
herausragt. Aber es ist nicht solcher Reichtum, der Kapitalismus hervorbringen wird; vielmehr wird Kapitalismus bald jenen Reichtum hervorbringen, der das islamische Mittelmeer à la longue wird
verarmen lassen.
Transport
Die Wege bzw. Straßen verfielen nach der Antike, und der Handel bekam zusätzliche Belastungen aufgeladen, zeitlicher Natur wegen der notwendigen Pausen, finanzieller wegen der dadurch bewirkten
Kostensteigerung, die die Waren verteuerte.
In unserer Schwellenzeit wird zumindest nördlich der Alpen wohl der Tiefpunkt des Zustandes von Straßen und Brücken erreicht. Reisenden fällt es schwer, in den dichten und riesigen Wäldern noch
ihren Weg zu finden. Die hölzernen Brücken sind brüchig und von Löchern durchsetzt. (Goetz)
Waren die antiken Straßen oft gepflastert gewesen, so wurden die nachantik-frühmittelalterlichen zunächst oft zu Erdwegen, die im Winter oder nach langen Regenfällen unpassierbar sind. Manche
sind nur mit Lastenträgern oder mit Lasttieren (Packtieren) karawanenartig begehbar, andere, eher seltener, nur mit einachsigen Karren. Für solche mit vier Rädern sind die Wege zunehmend
unpassierbar. Das Transportwesen über Land bis tief ins weitere Mittelalter bietet oft zunächst keine guten Voraussetzungen für die Entstehung von Kapitalismus.
Das ändert sich an einigen Stellen bereits im 10. Jahrhundert auch mit Reparatur und der Entstehung neuer Wege, mit Furten, zunehmendem Fährbetrieb und Brücken und dazu gehörigen
Handelsansiedlungen. Die römische Fähigkeit, Steinbrücken zu bauen, ist erst einmal mit diesen verloren. 813 lässt Karl ("der Große") bei Mainz auf den römischen Ruinen eine hölzerne Rheinbrücke
bauen, die allerdings im nächsten Jahr bereits abbrennt. Solche Holzbrücken wird es vielerorts bis ins 18. Jahrhundert geben wie zum Beispiel die Münchener Isarbrücke. Sie werden schnell morsch,
enthalten dann Löcher und werden des öfteren bei Hochwasser oder Eisgang zerstört.
Als der Mönch Richer von Saint-Rémi von Reims aus mit einem Knecht von Kloster zu
Kloster nach Chartres reisen will, bricht erst sein Packpferd zusammen, und dann gelangt er kurz vor Meaux an eine Brücke, diese war an vielen Stellen so schadhaft und zeigte so große Lücken,
dass die Einwohner kaum wegen ihrer notwendigsten Geschäfte hätten hinüberkommen können. Der ihn begleitende Bote aus Chartres weiß Abhilfe: Wo ein Loch war, da legte er hier seinen
Schild den Pferden unter die Füße, dort fügte er Bretter, welche da herumlagen, aneinander, und indem er sich bald niederbückte, bald erhob, bald vorausschritt und bald zurückeilte, kam er
glücklich mit mir und den Pferden hinüber. (Der Knecht muss erstmal beim Gepäck ausharren. In: Neiske, S.182)
Deshalb werden Flüsse auch weiterhin die wichtigsten Handelswege bieten, allerdings meist nicht im Winter. Der Zolltarif von Raffelstetten um 905 erwähnt für den Transport auf der Donau Salz,
Sklaven und zudem Rinder, es fehlt der Handel mit Luxusbedarf, wie er für das Rheintal typisch ist. In dem für die Zeit raren Dokument heißt es:
Schiffe, die vom Westen kommen, sollen nach dem Verlassen des Passauer Waldes bei Rosdorf oder an anderen Stellen, an denen sie anlanden wollen, einen
Halbpfennig Zoll bezahlen. Falls sie nach Linz weiterfahren: Für jedes Schiff sind drei Scheffel Salz zu bezahlen. Für Sklaven und andere Güter wird hier kein Zoll erhoben, und die Kaufleute
erhalten die Erlaubnis, bis zum Böhmerwald anzulanden und Handel zu treiben, wo immer sie wollen. Falls ein Bayer Salz zum Eigenbedarf nach Hause transportieren will: Nachdem der Schiffsführer
dies eidlich bestätigt hat, muss er nichts bezahlen und soll sicher reisen. (in: Ertl, S.45)
Kapital
Nicht aus Nahrungsmittelproduktion und Handwerk wird Kapitalismus entstehen, sondern aus Handel und Kreditwirtschaft vor allem, dort also, wo man Kapital braucht und einsetzen kann und muss.
Handel entsteht sowohl durch Nachfrage wie durch Angebot, die sich auch gegenseitig beeinflussen. In groben Zügen entsteht dabei ein Gewinn aus der Differenz zwischen Einkauf und Verkauf, wobei
aber die Transaktionskosten, die zwischendrin entstehen, abgezogen werden müssen. Dazu gehören vor allem Transportkosten, zu denen wiederum zum Beispiel die Zölle gehören. Des weiteren kommen
dazu die Abzüge durch Unbillen der Witterung, durch Räuber und vieles mehr.
Damit der Handel sich "kapitalistisch" und unternehmerisch verhalten kann, muss er sich aus der exklusiven Bindung an Herren lösen, von der fernhandelnde Friesen, Juden und Syrer früher schon
mehr oder weniger frei waren. Er muss also mehr dazu übergehen, nicht bloß Aufträge von Herren auszuführen, sondern auch spekulativ für einen Markt einzukaufen, von dem er sich Nachfrage erhofft.
Damit ist hier der Punkt erreicht, indem einmal grundsätzlich geklärt werden muss, was unter Kapital überhaupt zu verstehen ist.
Das Wort Kapitalismus gibt es noch keine zweihundert Jahre, obwohl es in dieser Untersuchung für etwas herhalten soll, was vor rund tausend Jahren entstand. Der zuvor fehlende Begriff verweist
darauf, dass es vorher entweder keinen Bedarf gab, so etwas begreifen zu wollen, oder aber und wahrscheinlicher, dass Menschen Vorgänge in Gang setzten, die sich zugleich quasi hinter ihrem
Rücken vollzogen.
Dabei ist das Wort Kapitalismus eine Notlösung, sind doch -Ismen wie Feudalismus, Sozialismus, Feminismus und Rassismus weithin verlogen-geschwätzige und eher
hilflose Ideologismen, und solche wie Impressionismus oder Kubismus dem Marketing von Modetorheiten auf der Basis von Stillosigkeit geschuldet. Aber in der hier zu gebenden klaren Definition muss
der Kapitalismus solange weiter herhalten, bis etwas besseres gefunden wird.
Selbst das Wort Kapital taucht erst auf, nachdem es solches schon lange gegeben hat, und fast überall erst Jahrhunderte, nachdem Kapitalismus bereits in großen Teilen Europas seinen Siegeszug
angetreten hat.
Aber immerhin schreibt schon der den Spiritualen nahestehende und hochgelehrte Franziskaner Petrus Johannis Olivi (1247-1296) über das Kapital:
In seinem Tractatus de contractibus (1293–1295) formuliert Olivi eine für die damaligen Verhältnisse moderne Theorie des Preises und des Kapitals, welches er vom
Geld unterscheidet. Er meint, dass das, was nach dem Entschluss des Eigentümers zu einem wahrscheinlichen Gewinn bestimmt ist, nicht nur die Kraft des bloßen Geldes oder einer bloßen Ware
hat, sondern darüber hinaus eine gewisse samenartige Bestimmtheit zur Gewinnerzeugung“ (quandam racionem seminalem lucri). Dabei macht er bereits im Unterschied zu modernem ökonomischem
Gerede auch deutlich, dass die Vermehrung des Kapitals in diesem nur beschlossen ist, wenn Bauern, Handwerker oder Kaufleute dafür arbeiten. Dem Kapitalgeber in einem Fernhandelsgeschäft ist
entsprechend nicht nur der einfache Wert zu erstatten, sondern auch noch ein Mehrwert (valor superadiunctus). Dadurch wird das derzeitige scholastische Zinsverbot bereits implizit in
Frage gestellt.
Lateinische Wurzel von Kapital ist das Wort caput, welches für den Kopf bzw. das Haupt steht. Daraus leitet sich capitalis ab, welches man unter anderem mit "hauptsächlich"
übersetzen kann. In spätmittelalterlichen norditalienischen Volkssprachen wird dies Wort wieder substantiviert, um von dort dann später in den Norden zu wandern, wo es im Deutschen zum Beispiel
als hauptgut Anfang des 16. Jahrhunderts auftaucht.
In italienischen Städten des späten Mittelalters mit ihrem blühenden Früh-Kapitalismus wird es beim Geschäft/Unternehmen die Hauptsache benennen. Diese aber ist eben das, was nicht die Nebensache
ausmacht, also das, was für den persönlichen Konsum abgezweigt und damit dem (eigenen) Geschäft verloren geht, sondern das, was eingesetzt wird, um es zu vermehren, ohne dabei allzu viel
physische (bzw. militärische) Gewalt einsetzen zu müssen.
Etwas ist soweit mit dem Begriff schon gewonnen: Es gibt Haupt- und Nebengüter. Das lässt sich allerdings im späten Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit etwas unterschiedlich verstehen. Es kann
zum Beispiel das Kapital als das Haben, den Besitz im Unterschied zu Verpflichtungen, Schulden meinen. Nun ist Kapital aber dabei nicht irgendein Besitz, sondern nur jenes Gut, welches
ausschließlich zu seiner Vermehrung eingesetzt wird. Im 16. Jahrhundert wird dabei im Italienischen zum Beispiel manchmal noch der Besitz von Vieh gemeint, dessen biologische Vermehrung durch
Nachwuchs als Zinsen aufgefasst wird.
Der oft riesige Grundbesitz eines mittelalterlichen Klosters ist nicht per se Kapital, sondern das wird er zum Beispiel dadurch, dass die in Geld umgesetzten Erträge zum Teil als Kredite
ausgegeben werden. Dann wird ein Teil des Geldes, welches abhängige Bauern für ihre frommen Herren erarbeiten, kapitalisiert.
Ökonomisch sinnvoll ist ein solcher Kapitalbegriff nur, wenn er sich in Zahlen rechnen lässt, also als Geld aufgefasst werden kann. Kapital tritt dabei nur auf einem Markt (im weitesten Wortsinn)
auf. Schließlich wird vom Hauptgut nicht die Qualität vermehrt, sondern die Quantität, der Kapitaleigner verkauft schließlich kein Getreide, um mehr Getreide zu bekommen, sondern einen geldwerten
Gewinn. Kapital ist eine quantitative, keine qualitative Größe.
Das Wort Kapital oder Hauptgut oder ähnliches verleitet allerdings dazu, sowohl Vorgänge wie Beziehungen unter Menschen darin zu verstecken: Man verdinglicht sie auf diese Weise. Dem werden auch
wir nicht ganz entkommen, wenn wir nicht eine völlig neue Begrifflichkeit erfinden wollen und damit unverständlich werden. Kapital wird also auch in diesem Text in zwei Bedeutungen vorkommen:
Einmal als jenes Hauptgut, dessen einziger Zweck seine in Geld rechenbare Vermehrung ist, zum anderen und vor allem aber als Vorgang, in dem Geld in Arbeit nur zu dem Zweck investiert wird, dass
es dabei vermehrt wird. Ich folge hier Karl Marx darin, dass es kein Kapital ohne Arbeit gibt, die es "verwertet". Ich folge ihm allerdings nicht darin, dass Kapital und Arbeit notwendig zwei
"Klassen" von Menschen ergeben, da diese Idee sich historisch nicht so klar verifizieren lässt, wie er hoffte, heute schon gar nicht mehr.
Kapital gibt es also zum Beispiel schon in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes , - aber eben noch keinen Kapitalismus. Es gibt Eigentum, Kapital, Arbeit, Arbeitsteilung, Geld, Waren,
einen Markt bzw. ganz viele Märkte, Landwirtschaft, Handwerk, Produktion, Handel und Konsum von Waren – aber eben keinen Kapitalismus. Die Masse der vor allem auf dem Lande erwirtschafteten
Gelder geht in den Konsum einer kleinen staatstragenden Oberschicht, also nicht in die Hauptsache, sondern die Nebensache eines privilegierten Luxus. Handwerk und Handel können sich bei der
Expansion des Reiches immer weniger entfalten, da sie für militärische Zwecke reglementiert und abgeschöpft werden. Kapital macht noch keinen Kapitalismus. Das liegt daran, dass einzelne
Kapitalisten zwar gewiss wichtig waren, aber atypisch und nicht normbildend, und sie wurden von denen, die die Macht in Stadt und Land hatten, zwar benutzt, aber eher verächtlich betrachtet. Und
außerdem - sie wurden nicht konstitutiv für die Reiche, die damals bestanden, sie waren ein Aspekt, der nicht ihr Wesen durchtränkte.
Das Ideal, dem die nachkamen, die sich das leisten konnten, war eher der Konsum als die Kapitalbildung. Das hieß, der ausgedehnte Handel, die Produktion von Massenwaren und Luxusgütern, alles das
zielte vor allem auf den Lebensgenuss einer Oberschicht ab, deren Basis landwirtschaftlich genutzter Großgrundbesitz war, also eine aristokratische Lebensweise. Es fehlt jenes städtische
Bürgertum, aus dessen Reihen die kommen, welche innovativ in größerem Umfang Kapitalverwertung zu einem Selbstläufer machen werden. Im übrigen wird das sogenannte Christentum zwar ein wichtiger
Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus, in dem, was dann entfalteter Kapitalismus wird, hätte es aber gar nicht mehr so entstehen können.
Das wird im Mittelalter des lateinischen Abendlandes anders werden. Die Entstehung des Kapitalismus lässt sich im Nachherein in Städten wie Venedig oder Amalfi erahnen, ohne dass er dort schon
eindeutig zu belegen ist. Er wird dort beginnen, wo zunächst die Herrenschicht, dann aber nach und nach im sogenannten hohen Mittelalter immer mehr Menschen von seinen sich etablierenden
Strukturen abhängig werden; vielleicht sollte man eher sagen, sich abhängig machen. Dazu müssen diese Herren den Kapitaleignern und dann auch den Warenproduzenten mehr Rechte und Freiheiten
einräumen. Aber das 10. Jahrhundert und noch das 11. Jahrhundert im Norden liefert vor allem Voraussetzungen dafür: Erste große Kapitaleigner tauchen auf und gewinnen wirtschaftliche Macht, die
sie auch außerhalb des wirtschaftlichen Rahmens einzusetzen beginnen.
Zu Bevölkerungsverdichtung, Nachfrage der Profiteure der Machtstrukturen, Karrierechancen jenseits von großem Grundbesitz kommt noch ein weiterer Aspekt: Damit nicht punktuell bloß Gut
kapitalisiert wird, um dem baldigen Konsum zu dienen, sondern Kapital, also seine Vermehrung, sinnvoll zu einem lebenslangen Geschäft gemacht wird, muss die Perspektive eines nahestehenden Erben
hinzukommen, der das alles übernimmt und auf den zugearbeitet wird:
"Blieb das Erbgut zunächst anscheinend im Besitz der Verwandtenfamilie und dann der Seitenverwandten (Brüder und Schwestern), so setzte sich zunehmend ein Erbrecht der Kinder durch, für die der
überlebende Elternteil als Sachwalter fungierte." (GoetzEuropa, S.177) Dies ist dann auch der Weg in die agnatische Kleinfamilie.
***Vor dem Kapitalismus***
Um all das zu verdeutlichen, sei auf einige andere Möglichkeiten, mit Einnahmen umzugehen, hingewiesen: Die eine ist, dass sie sofort verbraucht werden und so mehr oder weniger verschwinden. Die
andere ist die Schatzbildung, bei den germanisch dominierten Nachfolgereichen des weströmischen Imperiums üblich, und zwar bei Königen, Hochadel, Kirche und Kloster. Mustergültig als
Königsschatz, der zentralen Insignie solcher Herrscher, z.B. als Krone oder Szepter gearbeitet, wurde dieser in Kriegen zusammengerafft und geraubt, danach durch Tribute von Unterworfenen
vergrößert, und solche Vermehrung mehrte dann Glanz und Ruhm königlicher Macht. Schätze aus Münzen, Gold und Silber, Perlen, Edelsteinen, Elfenbein und Gefäßen dienten aber auch dem Ruhm Gottes
und seines Bischofs oder Abtes.
Schatzbildung kommt vor jeder Warenästhetik, wird aber in sie hineinwirken. Dazu gehören z.B. auch die heiligen Gebrauchsgegenstände einer Kirche, goldene und silberne Kelche, Monstranzen,
Tabernakel, Gefäße zur Aufbewahrung von Reliquien und kostbare Textilien. Bischöfe lassen sich Residenzen bauen, in denen sie Schätze ansammeln.
Schätze bilden zudem eine Reserve, die in Notzeiten auch zu Geld gemacht werden kann.
Schatzbildung war schon das, was Hunnen, Awaren und manchmal Wikinger betrieben. Was fing man nun mit solchen Schätzen an: Was von ihnen nicht gehortet wird, wird zielgerichtet verschenkt.
Bis ins „Christentum“ hinein machten viele solche Völker noch etwas, was jeden Kapitalismus unmöglich erscheinen lässt: Sie gaben zumindest Teile solcher Schätze ihren Reichen und Mächtigen mit
ins Grab, wo sie allerdings oft der Grabräuber harrten. Es gab schon damals Gier, aber die Leute machten daraus kein Wirtschaftssystem.
Wenn wir uns noch einmal die germanisch dominierten Folgereiche der Nachantike anschauen: Unter denen, die etwas hatten und darum Macht hatten, war (wie schon seit den bronzezeitlichen Despotien)
zunächst das Schenken, das Darbringen von Geschenken wichtiger als jeder Warenverkehr. Geschenke im wesentlichen von Luxuswaren stellten "Freundschaft" her, Wohlverhalten vor allem, und sie sind
oft auf Gegenseitigkeit aus, als eine Art nichtkommerzielles Tauschen.
Ein Sonderfall des Erreichens von Wohlverhalten der Untertanen ist das in riesigen Mengen stattfindende Verschiffen von vor allem Getreide nach Rom bzw. Konstantinopel zum Ruhigstellen
großstädtischer Massen, was es heute wieder als Alimentieren großer Teile der Bevölkerung durch den Staat gibt, samt dessen Förderung einer nie dagewesen gewaltigen Amüsierindustrie und Duldung
von Verblödung auch durch eine Vielfalt von Rauschdrogen.
Hier werden von Mächtigen Teile bäuerlicher Erträge abgeschöpft, um in den Ankauf von Waren umgesetzt zu werden, die dann beispielsweise auch von Päpsten im 6. Jahrhundert für den Ankauf nicht
nur von vor allem sizilischem Getreide, sondern auch von billigen Textilien als Geschenke für die städtischen Armen verwendet werden. (ClaudeHandel, S.24)
Manche davor liegende Stammeskulturen waren durch ein damit verwandtes Verhalten gekennzeichnet, welches bis ins frühe Mittelalter hineinreichen wird: Gewählte Häuptlinge mussten Talente haben,
die dazu führten, dass sie viel besaßen, denn sie mussten soviel haben, dass sie an ihre Leute verschenken konnten. Mit solchen Kulturen des Schenkens wird der Kapitalismus dann im Laufe der Zeit
ganz und gar aufräumen, denn das wird für ihn Verschleudern potentiellen Kapitals, also Verschwendung.
***Kapital gegen Lebendigkeit***
Kapitalverwertung als Vermehrung geschieht über Produktion, Vertrieb und Verkauf von Waren. Dabei muss ein Gewinn herausspringen, also ein lohnendes 'Mehr' - mehr als geldwertes Kapital
eingesetzt wurde. Was für einen Markt produziert wird, hängt an der Verkaufserwartung für das Produkt; wie es produziert wird, hängt daran, wie niedrig der Handel die Kosten drücken, also den
Kapitaleinsatz senken kann. Einen anderen Inhalt kennt Kapitalverwertung nicht.
Dabei schwindet jede Zielsetzung des Handelns, die sich nicht rechnen, in Zahlen wahrnehmen lässt, jeder Wert, der nicht auf einem Markt zu realisieren ist. Alles andere wird Privatsache, in
Fluchträume abgeschoben – die erst im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert dann vom Kapitalismus auch noch fast zur Gänze kommerzialisiert werden. Kapitalismus frisst sich durch die
Wirklichkeit der Menschen und ihre naturräumliche Umwelt, drückt allem seinen Präge-Stempel auf und plündert es aus.
Kapital hat dabei eine zweite wesentliche Seite: Menschen ernähren sich wie andere Tiere von Pflanzen und Tieren; sie leben, indem sie Leben zerstören und zum größten Teil dabei in Abfall
verwandeln, der ausgeschieden wird. Soweit sind sie ein Teil der (lebendigen) Natur. Kapital hingegen beutet lebendige Natur, nicht zuletzt die von Menschen, und darüber hinaus alle erreichbaren
Ressourcen der Erde nur dazu aus, um in möglichst großem Umfang tote Gegenstände zu vermarkten oder zu schaffen, Waren, deren einziger Zweck für das Kapital ein geldwerter Gewinn ist, der über
die Selbsterhaltung des Menschen weit hinausgeht. Damit ist Kapital nicht alleine: Schon die Despoten früher Zivilisationen betrieben zwecks Machtausübung Naturausbeutung und -zerstörung in
großem Umfang. Aber der Kapitalismus der letzten tausend Jahre wird sie darin zunehmend übertreffen und ist inzwischen dabei, den Lebensraum Erde zur Gänze zu zerstören.
Verschleiernd wird Kapital mit (dem biologischen Begriff) Wachstum gleichgesetzt, tatsächlich ist dieses in der Natur qualitativ, Kapital als schiere Vermehrung ist aber nur rein quantitativ zu
verstehen. Kapital zerstört das, was tatsächlich wächst, also lebendig ist - und damit die Grundlagen allen zumindest komplexeren Lebens. Kapital ersetzt lebendige Natur durch leblose Dinge.
***Kapitalist***
Kapitaleigner, Kapitalist werden ist zunächst einmal ein alternativer Karriereweg zu dem der Geistlichkeit und des Adels. Man hat keinen bedeutenden Kriegerstatus und kann also nicht mit
unverhohlener Gewalttätigkeit operieren, entweicht aber dem niedrigen Status der ländlichen und städtischen Produzenten und kommt so zu Geld, mit dem man am Ende Land kaufen und so seinen Status
verbessern kann. Kapital anzuhäufen, um es zu vermehren, wird so ein zweiter Karriereweg neben dem der militia und der ecclesia. Kapitalisten werden das im wesentlichen im
Einvernehmen mit der etablierten Herrenschicht tun.
Um Klarheit zu schaffen: Ein Handwerker, der Geräte, Rohstoffe und einen Lehrling hat, Waren produziert und verkauft, dabei aber nur auf seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie abzielt, ist
kein Kapitalist. Aber in ganz bescheidenem Umfang kann er manchmal, eher selten, ein Unternehmer sein, auch ein „Arbeitgeber“, nicht zuletzt ein Geschäftsmann. Was also macht ihn erst zum
Kapitalisten: Es ist die Einstellung und Möglichkeit, einen Teil dessen, was er hat, wesentlich dafür einzusetzen, es zu vermehren, und zwar nicht, weil ihm noch zwei Kinder geboren werden oder
seine verwitwete Schwester auch noch unterstützt werden muss, sondern weil dieses 'Mehr' Sinn der ganzen Unternehmung oder eines Teils von ihr wird. Kapital ist kein Ding, sondern ein Vorgang, in
dem es begriffen ist, und das ist der seiner Vermehrung. Es wächst oder es ist nicht...
Wichtig ist: Kapitalisten sind nicht sparsam beim Konsum, damit sie in der Not haben, sondern damit sie zu mehr Kapital gelangen, welches eben noch mehr werden soll. Kapital schwindet aber,
sobald es nicht mehr wird, genauer gesagt, es verschwindet dann ganz. Ein kapitalistischer Markt nun aber, wie noch näher zu erläutern sein wird, ist nicht nur einer der Konkurrenz, wie jeder,
sondern diese wird zum Schauplatz von Kämpfen um 'alles oder nichts'. Da Kapital per definitionem wächst, ist das Wachstum des einen eben irgendwann auch der Niedergang des anderen.
Man konkurriert schließlich nicht primär um Qualität, Nützlichkeit oder ähnliches, was Handwerker einer Branche zunächst nebeneinander und sogar in derselben Straße und auf demselben Marktplatz
bestehen lässt, sondern man konkurriert um den Markt selbst, jeden verfügbaren Markt. Es handelt sich um einen Machtkampf und nicht mehr um ein Wirtschaften im antiken Wortsinn, eine
Ökonomie, oikonomeia, sondern um die Unterwerfung unter ein Prinzip, und zwar unter das Prinzip: Wachsen oder weichen. Nur wächst dabei nichts Lebendiges, sondern dieses vielmehr wird
immer mehr aus der Welt verdrängt. So wie beim Essen und Trinken hauptsächlich Urin und Kot herauskommt, so beim Kapitalismus hauptsächlich Geld. Und so sieht denn unsere Welt heute auch aus. Man
muss es nur ertragen können, hinzuschauen.
Kapitalismus entsteht dort, wo Kapital elementar wichtig wird. Das aber heißt zunächst, dass diejenigen, die so viel besitzen, dass sie Kapital bilden können, von der Begierde getrieben werden,
dieses Gut auch ausnahmslos zu seiner Vermehrung einzusetzen. Damit man es soweit bringt, muss man erst einmal genug besitzen. Das gelingt in unserer Schwellen-Zeit in aller Regel nicht durch
produktive Arbeit, und schon gar nicht durch solche elementare, die der menschlichen Ernährung dient, aber auch nicht durch solche, die wir unter die Handwerke einordnen. Vielmehr sind es wohl
weithin Handel und Geldgeschäfte, die einige wenige so besitzend werden lassen, dass sie überhaupt die Entscheidung treffen können, einen Teil ihres Besitzes als Kapital abzuteilen. Oder aber sie
sind darüber so kreditwürdig geworden, dass sie sich Kapital quasi als Vorschuss auf einen Gewinn leihen können.
Leider wissen wir kaum etwas von dokumentierten Beispielen der Kapitalbildung in dieser Zeit, sondern nur von ihren Resultaten. Damit unterliegt auch die Frage danach, warum überhaupt Kapital
gebildet wird, Vermutungen bzw. dem Rückschluss aus späteren Zeiten.
Zweifellos handelt es sich dabei nicht um die Gier, die Pflanze und Tier entwickeln, sobald punktuell ein Übermaß an Nahrung offeriert wird, und zwar als Reaktion darauf, dass es auch Zeiten des
Mangels geben kann. Wenn hier bei Menschen (zumindest dem in Zivilisationen) von pervertierter Gier gesprochen wird, liegt dem zugrunde, dass sie sich Mittel geschaffen haben, ihr überhaupt erst
nachgehen zu können, was sich aber auch im Sinne von Freud als psychische Grundstörung beschreiben lässt, oder, einfacher gesagt, als Tendenz zu permanenter Unzufriedenheit.
Da Kapital via Waren auf einem Markt vermehrt wird, wird sich Kapitalismus auf der anderen Seite dort einstellen, wo die sich in der Kapitalvermehrung manifestierende pervertierte Gier auf die
von Kunden trifft, die angesichts eines entsprechenden Angebotes zunächst Luxusbedürfnisse an zu konsumierenden Waren entwickeln. Dabei messen sich Gier und Luxus hier nicht moralisch, sondern an
den Vorgaben einer außermenschlichen Natur und letztlich auch denen menschlicher Kultur(en) vor aller Zivilisierung.
Das sich in Kapital und Konsum verallgemeinerte Suchtverhalten des pervertierten Säugetieres Mensch ist in den letzten Jahrtausenden ansatzweise und von wenigen einzelnen thematisiert worden, in
sehr eigenartig religiös verbrämter Form vom evangelischen Jesus zum Beispiel, in gar nicht religiöser Form wohl durch den als Buddha in die Geschichte eingegangenen indischen Prinzen, ein wenig
auch durch einige der Griechen, die als Philosophen bekannt wurden. Es zeigt seinen krankhaften Charakter heute am deutlichsten darin, dass die inzwischen fast völlig kapitalistisch strukturierte
Menschheit wohl nur noch die Wahl hat, demnächst mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen unterzugehen oder aber unter Einsatz der (schon) vorhandenen oder noch zu entwickelnden
Massenvernichtungs-Waffen denselben Effekt zu erzielen.
Reichtum schafft Nachfrage
Wenn Kapital zunächst im wesentlichen für Handel vonnöten ist und zugleich durch ihn vermehrt wird und daneben auch über Kreditgeschäfte entsteht und sich vermehrt, dann ist eine Nachfrage nach
Waren dafür vonnöten. Bauern brauchen damals selten Gerätschaften oder andere Waren, auch da sie wenig bis gar kein Geld dafür übrig haben. Dennoch beleben sie die ländlichen Märkte etwas mit
ihrer Anwesenheit.
Das meiste große Eigentum, welches nach der Antike bis zur ersten Jahrtausendwende angehäuft wird, wird aber andererseits nicht direkt der Kapitalbildung dienen, also kapitalisiert werden,
sondern dient jener Nachfrage, die Kapital erst entstehen lässt und dieses dann vergrößert.
Wenn wir der Frage nachgehen, woher solches großes Eigentum kommt, dann besagte die vormarxsche Theorie, dass es vorwiegend auf Talent und Fähigkeiten beruhte. Inzwischen ist längst klar, dass es
(nicht nur mit Karl Marx) vor allem auf Gewalt beruht, und oft unmittelbar auf Kriegen und ihren Folgen im Inneren wie im Äußeren.
Großes weltliches wie geistliches Eigentum ging entweder aus der Antike in die Zwischenzeit einer Nachantike vor dem Mittelalter direkt über, oder es war Beute aus den Eroberungen und
Ansiedlungen germanischer Völkerschaften und zudem besonders bei Kirchen und Klöstern Ergebnis von Schenkungen.
Dieser Reichtum besteht im Frankenreich wie vorher in dem der Römer im wesentlichen aus Großgrundbesitz und daraus resultierender Schatzbildung. Er wird vor allem aus der Nahrungsmittelproduktion
abgeschöpft. Dazu kommt die ländliche Rohstoffproduktion für das Handwerk: Wolle, Hanf, Leder, Färbemittel für eine Textilproduktion, und auch wieder zunehmender Bergbau für den steigenden Bedarf
an Metallen.
Bei der Kirche ist dabei der Privatbesitz jener Bischöfe, die ohnehin meist aus schwerreichen Familien stammten, und der für die Kernzeit des Merowingerreiches für einen Bischof Bertram von Le
Mans auf 300 000 ha Land in Westgallien geschätzt wird (Brown2, S.127), mehr oder weniger vom Kirchenbesitz des Bistums zu trennen. Das ist natürlich nichts im Vergleich zu 85 000 Pfund
Gold im Jahre 810 im Kirchenschatz des oströmischen Patriarchen von Alexandria.
Zum Besitz gehören dann die aufgehäuften Schätze, deren Bedeutung sich am besten an ihren kostbarsten Einzelstücken erkennen lässt, den Reliquienbehältern, die aus sinnlich unscheinbaren und
schäbigen Knochen- und Holzstückchen oder Textilfetzen erst etwas sichtbar wertvolles machen: Reichtum und Heiligkeit fallen hier zusammen, so wie bei weltlichen Schätzen Reichtum und Status.
Menschen werden bis heute dazu neigen, sinnlich Wahrgenommenes magisch zu überhöhen, um sich an so gewonnener Bedeutung zu laben. Der Name dafür ist Ästhetik.
Daneben wollen und müssen höhere Herren ihren Status in Prächtigkeit ausdrücken, wozu zum Beispiel wertvolle Kleiderstoffe, Schmuck und die Ausschmückung ihrer Behausung dienen, aber auch teure
Gewürze aus der Ferne insbesondere für vornehme Gastmähler..
Der Status von Kirche und Kloster, ihrer Herren vor allem, muss ebenfalls nach außen dargestellt werden und dient offiziell dem Lobe Gottes, natürlich zugleich aber der prachtvollen
Selbstdarstellung ihrer Chefs und des Kollegiums, mit dem sie herrschen. Das hat auch mit den Identifizierungswünschen sich Unterwerfender zu tun; letztere werden durch die Ästhetisierung von
Macht und Gewalt erleichtert, die sie auch im Frieden sichtbar machen. Schon Konstantin baute den Christen riesige Basiliken, die mächtig wirkten, was die Bischöfe und ihre Christen begeistert an
ihn band.
Die wohl spanische Pilgerin Egeria, die um 385 ins "heilige Land" kam, beschrieb folgendermaßen die Golgathakirche:
Der Schmuck ist wahrlich zu wunderbar für Worte. Man sieht nur Gold und Edelsteine und Seide (...) Die Anzahl und das Gewicht der Kerzen, Lichter, Lampen und
was sie sonst beim Gottesdienst verwenden ist unvorstellbar (...) Sie sind unbeschreiblich so wie das großartige Gebäude selbst. Es wurde von Konstantin erbaut und (...)
geschmückt mit Gold, Mosaik und kostbarem Marmor, so reich wie es das Reich hergab. (so in Brown2, S.53)
Was heute typisches touristisches Staunen wäre, war damals fromme Ehrfurcht. In der Substanz ist beides dasselbe.
Die Merowinger-Könige versuchten mit den antiken Vorbildern soweit mitzuhalten, wie sie konnten, und auch Bischöfe tun es im Maß ihrer Möglichkeiten. Gregor von Tours schreibt in seinen
'Historiae' über die Kathedrale seiner Heimatstadt Clermont:
In ihr ist man der Furcht Gottes inne und einer großen Helligkeit, und die dort beten, bemerken oft, dass ein süßer Duft sie anweht. Ringsum hat das Heiligtum
Wände, die mit Mosaiken und vielerlei Marmor geschmückt sind. (II,16) Gesichts- und Geruchssinn verbinden sich zur imaginierten Wahrnehmbarkeit des tatsächlich nicht wahrnehmbaren
Gottes, was Ehrfurcht hervorruft.
Recht bekannt ist die Karriere des Goldschmiedes Eligius zum Hofhandwerker von Merowinger-Königen, dann zum Bischof und schließlich zum Heiligen. In seiner Vita heißt es von König Chlothar (II.):
Dieser König nämlich wollte sich einen besonders feinen Sattel aus Gold und Edelsteinen anfertigen lassen. Das Werk erregte die Bewunderung des Königs, und so
stellte er für den Gebrauch des Königs viele Gerätschaften aus Gold und Edelsteinen her, und viele Grabmäler von Heiligen aus Gold, Silber und Edelsteinen...(Nonn, S.77)
Peter Brown meint, dass Goldschmiede in den germanischen Nachfolgereichen der Antike höher geschätzt wurden als Maler, "denn die magische Kunst des Goldschmieds bestand darin, kostbares Material,
Edelsteine, Gold und Silber (…) zu Symbolen der Macht zu verbinden und zu verdichten." (Brown2, S. 341) Die späteren Tafelgemälde werden mit ihrem Goldgrund diesen Effekt fortzuführen versuchen.
In den Reliquienbehältern, durchs frühe bis ins hohe Mittelalter die ersten Objekte fränkischer Goldschmiedekunst, gelingt die noch magischere Kunst, den unsichtbaren Gott des armen Jesus
kurioserweise im Reichtum gestalteter Kostbarkeit aufscheinen zu lassen. Im Namen dieses evangelischen Rabbis, der womöglich nach seiner Taufe keine Münzen in die Hand genommen hätte, werden nun
Tempel und Kreuzeszeichen und ähnliche christliche Symbole auf Silbermünzen geprägt.
Nachdem Bonifatius um 730 die heilige Eiche in Geismar gefällt hat, möchte
er aus England besonders prächtige Bibel-Handschriften mit goldenen Lettern
geschickt bekommen, damit dem fleischlichen Sinn der Heiden Verehrung für die heilige Schrift eingeprägt werden möge. (in Brown2, S.17) In der Regel wurden solche Prachthandschriften
allerdings von Mönchen hergestellt, um schon zuvor den "fleischlichen Sinn" der Christen mit einem prächtigen Gott zu betören. Gemeinhin wurde dann gesagt, das mache man zur Ehre Gottes, als ob
dieser auch einen solchen fleischlichen Sinn für sehr irdische, sinnliche Werte besäße. Frühmittelalterliche Buchmalerei präsentiert sich zunächst aus warenästhetischen Zusammenhängen noch
herausgenommen, da sie zum guten Teil aus den Skriptorien von Klöstern kommt und weder aus Lohnarbeit stammt noch für einen Markt bestimmt ist. Die derart freien Räume betreffen zwar nicht die
Inhalte, die vorwiegend an die (religiösen) Texte gebunden sind, aber doch die Gestaltungskunst, die sich aus der Antike heraus entwickelt und langsam auch vom byzantinischen Einfluss löst.
Erhalten ist aus der Zeit Karls ("d.Gr.") um 810 das Urbar, also Gesamtverzeichnis eines augsburgisch-bischöflichen Hofes in Staffelsee mit der Michaelskirche. Die Kirche selbst ist eine Art
Schatzkammer:
wir fanden einen Altar, mit Gold und Silber geschmückt, fünf vergoldete Reliquienschreine, mit glänzenden Edelsteinen und Kristallen verziert, dazu ein
Kupfergefäß, teilweise vergoldet, ein kleines Reliquienkreuz aus vergoldetem Blattsilber mit einem Riegel, ein zweites kleines Reliquienkreuz aus Gold und Kristall, ein größeres Kreuz aus Gold
und Silber mit durchscheinenden Edelsteinen. Es hängt über dem Altar eine teilvergoldete silberne Krone, die 2 Pfund wert ist. Und in der Mitte dieser Krone hängt ein kleines kupfernes,
vergoldetes Kreuz und ein kristallener Apfel. Und in dieser Krone hängen kreisförmig 35 Reihen von Perlen in verschiedenen Farben. Es sind dort an angebrachtem Silber 3 Schillinge. Dort sind 4
goldene Ohrringe, 17 Pfennige wert. (usw.usf., in: Kuchenbuch, S.111)
Ekkehard von Sankt Gallen lobt um 900 einen Mönch Tuotilo als große Künstlerpersönlichkeit, der ein Kreuz der heiligen Maria … aus dem Gold und Geschmeide wunderbar herrichten ließ. Gold,
Silber, Elfenbein sind seine Materialien. (Nonn, S.165) Ein Evangeliar, schreibt derselbe Autor, ließ der Abt von St. Gallen von einem Mönch Sintram schreiben, um den mit seinen Tafeln
prunkenden Band mit Hattos Gold- und Edelsteinen zu schmücken. (s.o.S.171)
Einige Kirchen werden schließlich immer größer, schmuckvoller, und alle wetteifern um die Prächtigkeit des liturgischen Gerätes. Prächtigkeit gilt für die Adelskirche und das Adelskloster als
hohes Gut. Über die adelige Schwester des Bischofs Burchard von Worms heißt es vor 1025 in dessen Vita:
Diese Dame (domina) war nämlich sehr begabt für Frauenarbeiten (opera mulieribus) und höchst tüchtig,, und sie hatte für die verschiedensten Textilarbeiten
angelernte Frauen (feminas doctas) um sich; in der Herstellung prächtiger Kleidung übertraf sie aber viele Frauen. (Nonn, S.71)
Zu so viel aristokratischer Wertorientierung passt am Ende, dass sie Abtissin wird.
Vor aller späteren Warenästhetik fallen mehrere Dinge auf: Die ästhetischen Normen, die auf dem Weg zur sogenannten Renaissanve für einen neu zu entwickelnden Kunstbegriff auftauchen, scheinen
vorläufig kaum eine Rolle zu spielen, und das Niveau antiker Kunstfertigkeit scheint ein Stück weit verfallen zu sein. Ästhetik konzentriert sich auf den Warenwert der Materialien und ihre
zusätzliche Möglichkeit, zu glänzen und zu funkeln, wie das bislang für viele Formen der Schatzbildung galt. Bildliche Darstellungen wiederum kämpfen mit den technischen Möglichkeiten und
konzentrieren sich stark auf die korrekte Botschaft, die wiedergegeben werden soll.
Der langsam aufblühende Handel braucht Nachfrage, und die erste wird die der Reichen und Mächtigen nach Luxus. Kapitalismus wird dabei aber erst die zunehmende Nachfrage von immer mehr
Menschen nach Gebrauchsgütern hervorbringen. Dafür müssen mehr Leute insbesondere in den Städten mehr Geld in die Hand bekommen, was offenbar zuerst in Städten zwischen Venedig und Barccelona im
11./12. Jahrhundert geschehen wird und nördlich davon erst danach.
Das Problem mit der Religion
Das lateinisch-christliche Abendland der Nachantike und des frühen Mittelalters ist eine erheblich von Konflikten und Widersprüchen durchsetzte Welt, und das wird in eine Offenheit führen, die
Entfaltung von Kapitalismus ermöglichen wird. Als Widersprüche seien dabei gegensätzliche Vorstellungen und Tatbestände bezeichnet, die sich eigentlich ausschließen würden und darum nach einer
Lösung drängen, und in denen in unserem Raum Kapital als Movens, als das zentrale Bewegende möglich wird und nach und nach die Oberhand bekommt. Im Kern wird verallgemeinerte Kapitalbewegung und
Warenwelt diese Widersprüche auflösen, geschlossene und kapitalistisch harmonisierte Welten schaffen, um am Ende sich selbst zerstörend in den Grund-Widerspruch zwischen seinen Verheißungen und
seiner Lebensfeindlichkeit aufzulösen.
Ein wesentlicher ist zunächst der Widerspruch zwischen der evangelischen Botschaft und der Tatsache, dass ihre Grundforderungen von kaum jemandem befolgt und von den meisten alltäglich ignoriert
werden. Eine Religion aber, die statt klarer Normen und Sitten das alltägliche Verhalten immer wieder neu verhandelt, wie es die Kirche tut, wird nach und nach von der Allgewalt eines sich
entfaltenden Kapitalismus überrollt werden.
Die Kirche vertritt seit ihrer Entstehung die Gegensätze von arm und reich, mächtig und ohnmächtig als gottgewollt. Aber ihre Spitzen übernehmen aus der aristokratischen Grundhaltung der
römischen Oberschicht auch die Verachtung für Handel und Finanzgeschäfte.
Im Kern akzeptiert die kirchen-christliche Doktrin nur Subsistenzwirtschaft, wie sie die Bauern betreiben, deren Überfluss an die weltlichen und geistlichen Herren abgehen darf, weil die ihr
leibliches und seelisches Wohl beschützen. Stillschweigend geduldet wird auch, wenn Bauern in geringem Umfang schon mal Überschüsse auf einen lokalen Markt bringen.
Andererseits bedienen sich geistliche Herren und Klöster selbst auf dem Markt und kaufen und verkaufen dort, wobei es im 10. Jahrhundert auch um das geht, was für Bauern und Handwerker Luxus
wäre. Das wird aber in der Praxis ebenso stillschweigend geduldet.
Bemängelt wird so nicht der Handel, sondern wenigstens in der Theorie das enthaltene und nicht so benannte Kapital bzw. der daraus erzielte Gewinn. Dieser entspricht nicht dem Gebot der Caritas,
der Nächstenliebe. Weniger sündhaft wird er aber, wenn davon an Kirche und Kloster oder direkt an die Armen gespendet wird. Ansonsten operiert die Kirche mit der Vorstellung eines "gerechten
Preises" von Waren auf dem Markt, der nicht auf Angebot und Nachfrage gründet. Alles darüber hinaus ist Preiswucher. Zins auf Land oder andere Immobilien hingegen ist christlich, da der Zahlende
Nutzen gewinnt.
Kaufleute aber, die mehr als den pretium iustum verlangen, sind Wucherer, und wer Geld gegen Zinsen verleiht, ist ein ganz schlimmer Sünder, denn er nutzt die Not, den Bedarf anderer
aus. Dabei bleibt die Vorstellung ganz außen vor, dass Geld als Kapital (ausschließlich) investiert wird, um es zu vermehren, - ein Manko, welches auf der antiken Vorstellung von Geld gründet.
(Gilomen, S.8f)
Manchmal hält sich die Kirche selbst an solche Vorstellungen, aber des öfteren auch nicht. Mönch Notker ("Balbulus") von St. Gallen berichtet so von einem Bischof, der selbst als viele Hunger
litten, sein Getreide möglichst lange im Speicher ließ, um so einen höheren Preis zu erzielen. Von anderen wird dagegen auch erwähnt, dass sie in Notzeiten Massen von Armen speisen. Schon der
weltliche Herrscher Karl ("der Große") lässt verkünden:
Wer ein Lehen von uns innehat, soll eindringlich mit Gottes Hilfe dafür Sorge tragen, dass kein dem Lehen zugeordneter Knecht Hungers sterbe; was den
Eigenbedarf für seine Leute übersteigt, soll er wie geboten verkaufen. (in Fried, S.230)
Von einem gerechten Preis ist hier natürlich nicht die Rede.
***Gerald und die Gerechtigkeit***
Die letztlich antike Vorstellung vom gerechten Preis geht eindrucksvoll in die folgende Geschichte ein, die in einer um 925 von Abt Odo von Cluny geschriebenen Vita des heiligen Grafen Gerald von
Aurillac enthalten ist.
Ende des 9. Jahrhunderts unternimmt Gerard mehrere Pilger-Reisen zu den heiligen Stätten Roms. Bei einer der Reisen kauft er in der Stadt einige Mäntel (pallia), besser gesagt: Überwürfe,
einer davon von jener luxuriösen Sorte, wie sie in Konstantinopel/Byzantion für die feine Gesellschaft hergestellt werden. Auf dem Rückweg nach Querung der Apeninnen macht er mit seinem Tross
Station vor den Mauern des lombardischen Pavia. In der Nähe lagern venezianische Händler, die Waren aus dem Orient verkaufen, und die in den Franken aus Westfranzien Kunden wittern und ihn dazu
bringen (!), Tücher und Gewürze aus dem Orient einzukaufen. Offenbar hat er die nötigen Mittel. Einer von ihnen kommt zu Gerards Zelt und sieht einen der kostbaren Mäntel. Neugierig fragt er, was
der denn wohl gekostet hätte, und als Gerard ihm freimütig antwortet, erklärt der Venezianer, dass so ein kostbares Stück selbst in Konstantinopel (der Zwischenstation zwischen Orient und
Italien) viel teurer sei, und gratuliert ihm zu dem überaus günstigen Kauf. Man kann annehmen, der Kaufmann habe das gesagt, um dem Grafen für sein gutes Geschäft zu schmeicheln (Hythe, Society
and Politics, S.16), aber der hat nun den Eindruck, er habe den Verkäufer in Rom um seinen „gerechten Preis“ betrogen. Umgehend schickt er einen Dienstboten (servus) zurück, um dort die
Differenz zu bezahlen.
Bedeutsam ist an der Anekdote nicht, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, sondern dass sie damals für möglich gehalten wird, und wichtig für den Autor ist nur die moralische Aussage.
Interessant ist, wie sehr Heiligkeit mit der Idee des gerechten Preises verbunden ist, der ja übrigens auch ein allerdings moralisch qualifizierter Marktpreis sein soll, aber inzwischen in keinem
Widerspruch mehr zu Luxuskonsum steht, der im cluniaszensischen Kosmos durchaus seinen Platz hat. Wenn aber der gerechte Preis etwas ist, wodurch sich (nur) ein Heiliger auszeichnet, dann spricht
das Bände über die kirchliche Sicht auf eine christliche Welt, in der nichts seltener ist als Heiligkeit.
Es ist unübersehbar, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen, die damals noch völlig verschieden sind: Das immer dichter besiedelte und verstädternde Nord- und Mittelitalien mit seiner
Handelsmetropole Venedig und das noch fast ganz landwirtschaftlich geprägte gebirgige Cantal mit seinen christlich überformten Vorstellungen vom gerechten Warentausch, die sich allerdings kaum
quantifizieren lassen.
Wichtig ist aber, dass der Weg in die Heiligkeit seit einem halben Jahrtausend nicht mehr von jesuanischer Besitzlosigkeit geprägt sein muss, sondern sich mit einem prächtigen Lebensstil und
gehobenem Warenkonsum verträgt. Zudem, was in dieser Geschichte nicht extra erwähnt wird, er passt auch schon durch diese ganze Zeit mit Gewalttätigkeit zusammen, jener nämlich, ohne die ein Graf
nicht auskommt, so wenig wie ein Bischof, der damals manchmal längst selbst bewaffneter Krieger zu Pferde ist, wie auch der eine oder andere Abt.
Gerard oder Gerald entstammt dem höheren Adel und ist Graf von Aurillac, wo er ein Kloster gründet. Schon früh sucht er laut Odo nach Heiligkeit, was nichts anderes als ein christliches Leben in
Vollendung meint, und da er nach allgemeiner Ansicht darin erfolgreich ist, nennt man ihn nach seinem Tod einen „Heiligen“. Päpstliche Approbation ist dafür noch nicht erforderlich, aber schon
ein Bericht wie dieser hier, in dem solche Heiligkeit beschrieben und beschreibend begründet wird.
Durchaus nahmhafte Historiker behaupten bis heute, die Kirche habe Widerstand geleistet gegen jene Entwicklung in den Kapitalismus, von deren Wurzeln hier eine auftaucht, der Handel mit
Luxuswaren. Sie habe den Zins, den Kredit auf Zins und den Gewinn beim Warentausch verurteilt. Aber der in dieser Anekdote hier vertretene gerechte (iustus) Preis meint nichts anderes als
den fairen Marktpreis, meint also den Markt als Regulativ. Tatsächlich gibt es in den folgenden Jahrhunderten bis ins hohe Mittelalter kirchliche Schriften, die das Zinsnehmen von „Gläubigen“
ähnlich wie im Islam verbieten, aber zu den großen Kreditgebern des frühen Mittelalters gehören durchaus auch reiche Klöster, die selbst reicher sind als die meisten weltlichen Adelsfamilien, und
der Luxuskonsum, wie er sich an den gräflichen Gewändern zeigt, ist in den letzten 500 Jahren genauso Sache der meisten Bischöfe gewesen.
Der Profit stammt von dem lateinischen Verb proficere, welches unter anderem gewinnen oder nützlich sein meint, wobei das Wort Profit erst nach dem Mittelalter auftaucht. Der von Marx
definierte Unterschied zwischen Profit und Gewinn wird selbst von erklärten Marxologen oft übersehen, und wir können ihn durchaus für das allerfrüheste Mittelalter ignorieren, da beides damals –
noch vor allem Kapitalismus - gleichgesetzt wird. Die Kirche sagt derweil, dass der Christ nur eines gewinnen solle, nämlich das Himmelreich, aber wo möglich schmückt sie das Inventar ihrer
Kathedralen mit Gold und Silber und Edelsteinen, alles natürlich nur zum Lobe Gottes, und ebenso das Inventar der Bischofspaläste. Praktischerweise werden allerdings kostbare Geschenke nicht an
die Kirche oder den Bischof, sondern an den Patron der Kirche gemacht, man schenkt also ein kunstvoll graviertes Elfenbeintäfelchen oder ein edelsteingeschmücktes Trinkgefäß dem heiligen Johannes
oder der heiligen Radegunde.
In den nächsten über tausend Jahren wird der gerechte Preis und der gerechtfertigte Gewinn zu einem Dauerthema. Um 900 ist er nur in der lateinischen Version überliefert. In den bald sich
ansatzweise deutsch (teodisc) verstehenden Landen bedeutet „recht“ gerade und richtig (im Englischen später: right). Rechts ist die rechte Hand, mit der die meisten vor allem
arbeiten. Gerecht heißt dabei „richtig gemacht“. Jenseits allen meist noch wenig verankerten Christentums ist der gerechte Preis dabei allerdings einer, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt.
Das sieht auch Kaiser Karl ("der Große") so. In einem Kapitular von 806 heißt es:
Wer in der Zeit der Getreidereife oder der Ernte ohne Not Getreide oder Wein kauft - aber mit einem begehrlichen Hintergedanken - zum Beispiel um ein großes
Fass für zwei Denare zu kaufen und aufzubewahren, bis man es für vier oder sechs Denare oder noch vorteilhafter verkaufen kann, begeht das, was wir einen unehrenhaften Gewinn nennen. Wenn sie es
aber ganz im Gegenteil notwendig kaufen, um es für sich selbst aufzubewahren oder an andere zu verteilen, dann nennen wir das ein Geschäft (negotium). (in Audebert/Treffort, S.49)
Das Geschäft ist in der Sprache großer Grundherren nicht gerecht, sondern ehrenhaft. Wucher entsteht, wo man Mittel und Wege findet, den Preis darüber hinaus hoch
zu treiben. Ein wirklicher Markt trendiert aber, um zu funktionieren, immer zum höchstmöglichen Preis.
Um 900 und besonders danach bringen diejenigen Bauern in Mitteleuropa, die einen Teil ihrer Leistungen an ihren Grundherrn in Geld zu erbringen haben, diesen Teil ihrer Produkte auf den
Wochenmarkt, wo sie dafür Gebühren entrichten müssen, und manchmal, in Zukunft sogar immer öfter, werden sie dabei mit einem Höchstpreis konfrontiert, den der Stadtherr oder ein Beamter des
regionalen Herren festsetzt, um die Lebensmittelkosten besonders in Mangelzeiten niedrig zu halten. Damit wird die bäuerliche Schufterei mit Zugochsen und Hakenpflug abgewertet zugunsten
städtischer Interessen, was der Bauer gewiss nicht für gerecht hält, der Städter aber schon. Gerecht ist daran schon damals nur, dass das Interesse der Mächtigen (hier über die Stadt) das der
bäuerlichen Bevölkerung auf dem Lande überwiegt. Der Stadtherr möchte Unruhen in seinem Bereich vermeiden. Sobald zwischengeschalteter Handel auftritt, wird dieser versuchen, den Einkaufs- und
Verkaufspreis soweit als möglich zu beeinflussen.
Seitdem es in Zivilisationen einen Markt gibt, ist Gerechtigkeit eine Sache „politischer“ und wirtschaftlicher Macht. Klöster legten schon in der Nachantike Speicher an, um Getreide bei guten
Ernten zu horten und so den Marktpreis zu halten und es bei folgenden Missernten teurer auf den Markt zu bringen. Das heißt seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen Spekulation und es lässt sich
natürlich blendend rechtfertigen, schließlich ist es die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit überhaupt erst herstellt, sie ist zu propagierende Ansichtssache, die zur Übereinkunft
wird: Das Kloster sorgt für Notzeiten vor.
Nach 1200 wird vom heiligen Thomas von Aquin der Gewinn beim Handel durch den hohen Aufwand des Transportes und des geschäftlichen Risikos gerechtfertigt werden, und auch das ist plausibel und
darum „gerecht“. Nur beim Geldverleih hapert es zunächst mit den Begründungen: Es ist Christenpflicht, jemandem in Not zu geben, ohne daraus einen Gewinn zu ziehen. Deshalb werden die
christlichen Lombarden und die ebenso christlichen Kawerzen (aus Cahors) fast genauso verachtet wie die Juden: Diesen allen ist das Geldverleih-Geschäft schon früh erlaubt.
Das von oben verordnete Recht (ius) wird in den lateinischen Texten der Mächtigen als iustitia durchgesetzt, was praktizierte Gerechtigkeit meint. Für die Kirche ist es längst
gerecht, dass die einen (körperlich) arbeiten, die anderen beten und die dritten Krieg führen. Es ist auch gerecht, dass die, die körperlich und produktiv arbeiten, arm sind, denn solche Arbeit
macht eben naturgemäß nicht reich und ist dennoch für alle notwendig. Für Handel und Kaufmannschaft ist gerecht, dass sie möglichst unbehindert auf den Märkten einen Gewinn erzielen, ihre
Existenzgrundlage. Ihre iustitia aus Angebot und Nachfrage, aus Qualitätssicherung von Ware und Münzwert, aus Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit als Ideal entwickelt bald bürgerlichen
Gerechtigkeitssinn: Durch Handel wird man reich, durch produktive Arbeit bleibt man eher arm, und wer gar nichts hat, ist selber schuld, denn nur von nichts kommt nichts. Man bleibt darüber
hinaus bei denselben Argumenten wie die Kirche: Es ist so, wie es ist, und Gott hat es so gewollt. Im hohen Mittelalter kommt dann wieder der gottlose Satz auf, jeder sei seines Glückes Schmied,
und seitdem ist beides möglich: Gott/Natur/Schicksal bzw.fortuna und andererseits Eigen-Verantwortlichkeit, die sich diametral gegenüberstehen, können je nach Gusto und zur Not auch gleich
hintereinander oder gar gleichzeitig als Argument angebracht erscheinen.
Gleich sind an allen Versionen von „Gerechtigkeit“ nur die Maßeinheiten: Länge, Breite, Gewicht, Geldeinheit. Gerechtigkeit ist Angemessenheit, und diese ist unter den Bedingungen von Eigentum
und Arbeitsteilung immer eine Machtfrage, ob eine naturgegebene oder eine menschlich gesetzte. Und dazu kommt: Der Faule hätte gerne etwas vom Fleißigen ab, der Dumme selten vom Klugen und der
Aufrichtige manchmal vom Hinterhältigen, der den größeren Erfolg hat. Das aber führt hier zu weit vom Weg ab, nämlich am Ende direkt in moderne Politik.
Der Jesus der Evangelien hatte übrigens ohnehin eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die keine Kirche, kein Graf oder Kaufmann hätte ertragen können: In mehreren Gleichnissen des Lukasevangeliums
wie dem vom verlorenen Sohn oder den Arbeitern im Weinberg zum Beispiel macht er Belohnung bzw. deren Höhe nicht vom Verdienst, also der Leistung abhängig, sondern ganz im Gegenteil: Der
Weinbergsbesitzer zum Beispiel bezahlt am Ende des Tages den, der nur eine Stunde gearbeitet hat, mit demselben Silberstück wie den, der zwölf Stunden dabei war. Der (verlorene) Sohn kehrt wieder
zurück, nachdem er sein Erbteil verprasst und verhurt hat und wird von seinem Vater besser behandelt als der andere, der weiter brav bei ihm gearbeitet und ihn unterstützt hat. Damit lässt sich
kein Staat machen, nicht wirtschaften, ja kaum leben, aber Jesus war schließlich laut Evangelisten vom nahen Weltende überzeugt und der darauf folgenden Umwertung aller Werte.
Das Kirchenchristentum des aufkommenden Kapitalismus betrachtet solche Geschichten mit großem Interesse: Da Kapital Ausdruck eines sehr irdischen Vermehrungs-Begehrens ist, einer gewiss nicht
aufs Himmelreich (was immer das sein mag) gerichteten Begierde, kann der Klerus moralischen Druck auf die Kapitaleigner ausüben, sie am Gewinn der Investitionen zu beteiligen. Spenden an die
Kirche erhöhen dann die Chance, trotz unchristlichen Wirtschaftens nicht nur an der Hölle vorbeizukommen, sondern durch kirchliche Fürbitten nach dem Hinscheiden eine beschleunigte Reise in
paradiesische Gefilde anzutreten.
Seitdem gibt es in jeder Beziehung immer mindestens zwei Gerechtigkeiten, die derer, die etwas haben und die derer, die es gerne hätten zum Beispiel. Und es ist eine Faustregel geblieben:
Üblicherweise hält der Mensch das, was er meint, tut und besitzt für gerecht, es sei denn, er findet, er tue zu viel dafür, dass er zu wenig hat. Das macht Gerechtigkeit zu einer moralischen
Waffe, deren Besitz jede Menge Unheil rechtfertigen kann. Für den Biographen von Gerard von Aurillac ist das noch einfacher: Sein Kloster ist zwar reich, aber er selbst ist als Abt von Cluny rein
rechtlich gesehen besitzlos. Und als ziemlich mächtiger Adeliger ist Odo in einer guten Position, Gerechtigkeit zu definieren und Heiligkeit dazu...