Schwellenzeit 3: Markt, Handel, Kapital

 

Markt

Handel: Die globale Perspektive

Handel im Norden

Handel im Mittelmeerraum

Transport

 

Kapital (Vor dem Kapitalismus / Kapital gegen Lebendigkeit / Kapitalist)

Reichtum schafft Nachfrage

Das Problem mit der Religion (Gerald und die Gerechtigkeit)

Das Problem der Religion: Lebensfreude und Amüsierkonsum (Kleidung)

Das Problem mit dem antiken Erbe

 

 

Markt

 

Unsere Schwellenzeit liefert Rahmenbedingungen für die Entstehung von Kapitalismus. Monarchien bilden neue Reiche aus, unter denen sich eine Art Fürstenschicht als Regionalherrscher in verschiedener Ausformung verfestigt, wobei sich ein neuartiger Adel zu formieren beginnt. Die Produktion ist immer noch weitgehend in sich langsam verändernde Grundherrschaften eingegliedert, der Handel samt Geldumlauf nehmen zu und mit ihnen Kapitalbildung. Städte gewinnen an Bedeutung.

 

Mit der Zunahme der Produktion, der Verschränkung von Stadt und Land im Zuge der Erweiterung von Tausch- und Geldwirtschaft, der Zersplitterung der Macht in geistliche und weltliche Burgherrschaften und vielem anderem schwindet die antike Welt nun zur Gänze.

Das Ergebnis all dieser Veränderungen benennt der Mönch Radulf Glaber Anfang des 11. Jahrhunderts so: Man hätte sagen können, dass die gesamte Welt in völliger Übereinstimmung die Fetzen ihrer alten Vergangenheit abgeschüttelt habe. (so in: Bois, S.180). Man könnte auch sagen, dass die nachantike Welt nun an ihrem Ende angelangt ist.

 

 

Was in der Schwellenzeit überall in Kerngebieten des lateinischen Abendlandes stattfindet, ist eine Tendenz zu stärkerer Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land.

Dort, wo die Produktion ihrer familia abhängiger Produzenten nicht ausreicht, wird auf dem Markt Kleidung und Nahrung zugekauft. Dafür senden die Klöster weiter eigene Händler, manchmal eigene Mönche, über Land zu wichtigen Marktplätzen. Andererseits versuchen Klöster nach Möglichkeit besonders auch Wein über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren und so wie auch gegebenenfalls Salz zu verkaufen. Das Kloster Fulda verlangt von Marschenbauern nicht einmal mehr Wolle, sondern fertige Tuche als Abgabe und von Bauern im hessischen Bergland Eisen.

 

Seit dem Ende des 9. Jahrhunderts lösen sich erste grundherrschaftliche Weinbauern aus dem Hufenschema und werden zu Berufswinzern, die nun Getreide und Fleisch eher eintauschen oder dann auch einkaufen müssen. Marktwirtschaft entfaltet sich.

 

Das dem Lateinischen entnommene Wort Markt hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Es bezeichnet einmal den Ort, an dem ein Markt abgehalten wird  und dann auch das dortige Marktgeschehen. Zum anderen wird daraus viel später eine Art Synonym für Handel, also für Kauf und Verkauf von Waren im allgemeinen, wie es das Wort Marktwirtschaft beinhaltet.

 

Markt entsteht sowohl aus der Verbindung landwirtschaftlicher Überschüsse mit Arbeitsteilung wie aus Strukturen, in denen Mächtige Reichtümer aus der Arbeit von Produzenten anhäufen und mit ihnen einkaufen können. Solche Märkte gibt es durch die Antike und Nachantike. Schon im 'Capitulare de villis' verlangt Karl ("der Große") von seinen iudices, die seine Güter bewirtschaften, dass die familia gut arbeitet an ihren Aufgaben und keine Zeit auf den Märkten verschwendet. (in: Wickham(3), S. 537) Offenbar halten sich (zumindest einige) ländliche Produzenten häufiger auf solchen Märkten auf, die dann im 10. Jahrhundert mehr werden.

 

Fahrende Händler scheinen dabei bereits seit langem selbst Nachfrage zu stimulieren, also für ihre Waren zu werben. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts beschreibt Notker ("Balbulus") bereits die Missionierung im Frankenland durch zwei irische Mönche, die mit bretonischen Mönchen ankommen, in Metaphern des Handels:

Ohne irgendwelche Waren zum Verkauf vorzuzeigen, pflegten sie der zum Kauf herbeiströmenden Masse zuzurufen: Wer Weisheit begehrt, komme zu uns und empfange sie; denn sie ist bei uns zu haben. Dass sie diese zu verkaufen hätten, sagten sie, um das Volk dazu zu bringen, dass es die Weisheit wie die übrigen Dinge kaufe, oder aber um es durch solche Anpreisung zum Verwundern und Erstaunen zu veranlassen. (in: Ertl, S.200)

 

Man muss also nicht bis ins 13. Jahrhundert eines Bernhard von Clairvaux warten, um Analogien zwischen Verkaufen von Waren und von Religion zu finden. Dieser wird dazu aufrufen, wie ein kluger Kaufmann zu rechnen und sich mit der Teilnahme am (zweiten) Kreuzzug die Rettung der Seele zu erkaufen.

 

Schließlich: Die ganze Religion wandelt sich bis in die ersten Anfänge eines entstehenden Kapitalismus in eine, die einem elementaren Marktmechanismus gehorcht, der das erweitert, was wohl in Menschen ein Stück weit schon von Natur aus angelegt ist. Es handelt sich dabei um Leistung und Gegenleistung wie beim Warentausch.

 

Neben dem Anpreisen von Waren spielt auch das Feilschen um den Preis eine wichtige und oft als Spiel auch eher unterhaltsame Rolle und trägt zur allgemeinen Lärmentfaltung bei. Rudolf von Sint Truiden (St.Trond) im Limburgischen beschreibt den Lärm von Pferden und das Geschrei (clamor) von Käufern und Verkäuferin auf dem Markt vor seinem Kloster.

 

Märkte sind eben mehr als nur Orte von wirtschaftlicher Bedeutung im engeren Sinne. Auf ihnen findet Informationsaustausch statt, Neuigkeiten und Neuerungen werden bekannt, und als Lokalmärkte sind sie immerhin Orte der Geselligkeit und Unterhaltung, so wie auch die Kirchen mit ihren Festen. Das alles findet mündlich statt, denn inzwischen hat sich die Schriftlichkeit auf Teile des Klerus und der Klöster zurückgezogen.

 

Arbeitsteilung fördert zunächst Tauschwirtschaft, ebenso wie der Salzbedarf der ländlichen Bevölkerung. Zu vermuten ist, dass dieser Warentausch zuerst im Umfeld von Städten in Ansätze von Geldwirtschaft übergeht, aber bis tief ins 10. Jahrhundert bleiben die Wirtschaftskreisläufe von Dorf und Stadt wesentlich auf sich selbst bezogen. Nur die jeweils wenigen Großgrundbesitzer durchbrechen das mit Luxuskonsum, während sie ihre Basisversorgung aus den eigenen Gütern erhalten.

 

Dennoch wird mit zunehmendem Warentausch zunächst die ferne und sich wesentlich selbstversorgende Stadt ersetzt durch immer mehr kleinere Marktflecken, ländliche Märkte, die in die Erreichbarkeit der bäuerlichen Bevölkerung rücken. Auf ihnen können Bauern und Handwerker Überschüsse neben der Selbstversorgung und den Leistungen an Herren anbieten und dafür selbst einkaufen. Auf solchen Märkten kauft auch das Gesinde von Herren ein, die darüber hinaus durch Gebühren, Zölle und andere Abgaben davon profitieren, und darum solche Märkte auch fördern.

Seitdem Cluny zum Beispiel seine Umgebung immer mehr grundherrlich durchdringt, nimmt der Marktflecken bei der Abtei mit seiner Pfarrkirche an Bedeutung immer mehr zu, und nicht nur für die Abtei, sondern auch für die Bauern des Umlandes. Die Einwohner werden wie in vergleichbaren Orten des lateinischen Europas bereits manchmal als Bürger bezeichnet.

 

Dependancen großer Grundherrschaften, wie die Tochtergründung Münstereifel des Klosters Prüm oder dessen Unterzentrum St. Goar an der Mittelmosel führen zu Märkten über die Ansammlung von Geldzins-Abgaben dort und das Geld, welches Pilger hierhin mitbringen. Dort, wo sich Bauern aus der Hufenordnung lösen und als Winzer eingesetzt werden, wie an Mosel und Ahr, führt deren Warentausch zu aus Grundherrschaften sich entwickelnden Märkten, ebenso an der Maas. Überall werden auch hier Marktprivilegien an Grundherren verliehen, die aber oft zu keiner Stadtbildung führen.

 

Mit Markt und der Zunahme des Geldes verschärft sich der Gegensatz zwischen armen und reichen Bauern, die reicheren steigen bei steigender Produktion in die Marktwirtschaft auf, die ärmeren rutschen dabei in Formen von Abhängigkeit, vom Kloster, aber auch von anderen Herren größeren Grundbesitzes. Es beginnt zudem der Drang gescheiterter Bauern in die Marktflecken und Städte, deren Bevölkerung zunimmt.

 

Eine Besonderheit ist die Entstehung eines Marktes an Grund und Boden auf dem Land, die zwar oft noch mit Tauschhandel verbunden ist, aber durch mehr Geld gefördert wird.

 

Geld

Ausdruck des Wachstums im 10. Jahrhundert ist das der Geldwirtschaft. Der Geldbedarf insbesondere der höheren Herren steigt dabei mit. Um 900 gilt für Geldwirtschaft noch die Rheingrenze, um 1000 ist sie bis an die Elbe vorgedrungen.

 

Marktwirtschaft bedarf für mehr Markt einer geordneten Münzproduktion.

Zu den hoheitlichen Rechten, die Klöstern verliehen werden, gehört manchmal auch das Münzrecht, wie für Prüm in der Eifel, Tournus und Sankt Martin in Tours oder auch Cluny, das Münzstätten in Niort und Saint-Jean d'Angely im Auftrag der aquitanischen Herzöge betreibt.

 

Für die Menge des umlaufenden Geldes ist die Menge den Münzen zur Verfügung stehenden Edelmetalls wichtig. Die Verfügung über Silber wird so zu einem erheblichen Machtfaktor und mit dem zunehmenden Geldbedarf steigt die Suche nach Silber in der Erde. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts spielen dann Silberbergwerke im Harz eine große Rolle und Goslar steigt zu einem wichtigen Münzort auf. 984 wird man in den Vogesen fündig, und dann auch im Jura und im Schwarzwald.

 

Der Geldwert soll dem Wert des Edelmetalls der Münze entsprechen, weswegen Edelmetall in Barrenform grundsätzlich nach Gewicht auch gemünztes Geld ersetzen kann. Aber Geldentwertung gibt es schon bei den Denaren: Zum einen werden sie immer leichter und zum anderen sinkt ihr Silbergehalt. Beteiligt daran sind die vor allem geistlichen principes, an die die römischen Könige das Münzrecht im 10. und 11. Jahrhundert vergeben, also Bischöfe, Äbte, aber auch Herzöge und einige Grafen.

 

Für die Grundherren bedient auch die Bewirtschaftung der Domäne, des Sallandes durch abhängige Bauern diese Monetarisierung, die sich in Nachfrage nach militärischem Bedarf und statusbetonendem Luxuskonsum äußert. Mächtigere Bistümer, Klöster und höhere weltliche Herren beginnen, in langsam stärkerem Umfang Handwerker und Händler anzuziehen, um mehr Marktgeschehen zu initiieren, aus dem dann erneute Monetarisierung hervorgeht.

Das an mächtigere Herren verliehende Münzrecht kann dabei helfen. Klösterliche Schatzbildung ist gelegentlich enorm und wird in Notzeiten auch zur Kreditgewährung eingesetzt.

 

Ohne dass das in einzelnen dokumentiert ist, muss die Produktivität der Landwirtschaft in der Nordhälfte Italiens zumindest gestiegen sein, denn die von größeren Herren abhängigen Pächter leisten ihre Abgaben im 10. Jahrhundert zunehmend in Geld und brauchen nicht mehr Knechtsdienste auf Domänen zu leisten, die als solche verschwinden, da sie ebenfalls verpachtet sind. Damit nehmen die Herren immer weniger Einfluss auf die Ausgestaltung bäuerlichen Wirtschaftens, da sie nur noch bare Münze als Endergebnis interessiert.

Die Bauern haben schon länger einen kleinen Überschuss ihrer Produkte gegen Werkzeuge, Töpferwaren oder Leder getauscht. Jetzt verkaufen sie offenbar zusehends Überschüsse auf dem Markt gegen Geld, was die karolingische Münzreform mit etwas kleineren Münzen erleichtert hatte. Damit nehmen Zustände persönlicher Unfreiheit bereits ab, so wie in der Nordhälfte Italiens  der Geldumlauf zuzunehmen scheint

Der Geldbedarf größerer Herren wiederum resultiert aus dem zunehmenden Handel von Luxusgütern, die als Statussymbole eine sich immer mehr als (Krieger)Adel (milites) begreifende Oberschicht markieren. Ein weiteres Statussymbol bietet die Stiftung einer "eigenen" Kirche und ihre Innenausstattung. Wer besonders um einen "Adels"status konkurrieren möchte, bleibt oder wird stadtsässig, denn dort werden Reichtum (und Macht) sichtbarer.

 

 

Aber noch immer steht vor allem nördlich der Alpen neben der Zahlung in barer Münze oft reiner Tauschhandel. Noch im 10. Jahrhundert schreibt ein arabischer Reisender über Böhmen und auch über Prag:

Auch verfertigt man im Lande Böhmen dünne lockergewebte Tüchelchen wie Netze, die man zu nichts anwenden kann. Ihr Preis ist bei ihnen wertbeständig, 10 Tücher für einen Pfennig. Mit ihnen handeln sie und verrechnen sich untereinander. Davon besitzen sie ganze Truhen. Die sind ihr Vermögen und die kostbarsten Dinge kauft man dafür: Weizen, Sklaven, Pferde, Gold, Silber und andere Dinge. (Ennen, S. 68)

Und noch nach 1129 wird es in den Bestimmungen des Bischofs von Straßburg heißen:

Ferner soll der Burggraf den Zoll für Öl, Nüsse und Äpfel erhalten (...), sofern sie für bares Geld verkauft werden. Wenn sie aber für Salz, Wein, Getreide oder irgendeinen anderen Gegenstand verkauft werden, muss der Burggraf den Zoll mit dem Zoller teilen. (in Hergemöller, S.171)

Dennoch, im ganzen Frankenreich zum Beispiel sind im 10. Jahrhundert Münzen im Umlauf, und sie geraten wohl grundsätzlich auch überall in die Hände der von ihren Herren abhängigen Produzenten. Detailliertere Informationen dazu fehlen allerdings.

 

Städtische Märkte

Zu schon vorhandenen kommen im 10. Jahrhundert immer neue Märkte als Ausdruck zunehmenden Handels. Dabei vergeben die Könige das von ihnen längst durchgesetzte Marktregal an die größten Grundherren vor Ort, an Bischöfe und Äbte. Da sie zwecks Förderung des Handels als zuständig gesehen werden, werden damit oder danach an sie auch Münz- und Zollregal vergeben. Die Herren gründen damit Märkte, errichten Münzstätten und erheben Zölle. An manchen Klöstern siedeln sich ebenfalls Märkte an, zuweilen mit Handwerk und Handel. Daraus können später ganze Städte entstehen.

 

Das erste Privileg eines herrschaftlich garantierten Marktes ist der dafür verordnete Friede, also eine verrechtlichte, in Raum und Zeit begrenzte Sphäre der Gewaltlosigkeit. Aus den Gepflogenheiten des Handels entsteht eine Art Gewohnheitsrecht, welches nach und nach von den Herren anerkannt wird.

 

Am Ende gibt es in deutschen Landen rund 200-300 Märkte (Fuhrmann), an denen sich Menschen ansiedeln. Aus ihnen können neue Städte entstehen oder sich alte Stadtkerne neu entfalten. Mit dem Bevölkerungswachstum steigt der Zuzug in die Stadt, der alleine Städte wachsen lässt. Das fördert die Spezialisierung im Handwerk dort, Arbeitsteilung also, und die wiederum belebt das Marktgeschehen.

Was vor allem in den wachsenden Städten langsam zurückgeht ist Selbstversorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern. Wer kann, kauft zunehmend Bekleidungsstücke ein, für die die Nachfrage offenbar rasch wächst, da es immer mehr Produktion von Textilien, Lederwaren, Schuhen usw. gibt. Dazu kommen irdene, hölzerne und metallene Haushaltsgegenstände und Gerätschaften. Da die weltlichen Herren zugleich Krieger, milites sind und für Kirche und Kloster zusätzlich die Gewalttätigkeit ausüben, kommen Waffen und Rüstungen immer mehr auf den Markt.

 

 

Handel: Die globale Perspektive

 

Handel gibt es im 10. Jahrhundert über die drei Kontinente Europa, Afrika und Asien hinweg, die geographisch eng verbunden sind. Der Weg in Kapitalismus beginnt aber in einigen Kerngebieten des lateinischen Abendlandes, die eine bestimmte Form institutionalisierter Machtstrukturen, also von Zivilisation erreicht haben. Die in manchem "überlegenen" islamischen Zivilisationen Ägyptens, Spaniens und Siziliens sowie die von Byzanz fallen heraus, so wie auch die "unterlegenen" der Kelten, Skandinavier und Slawen, die erst nach und nach unter den Einfluss der Kernregionen gelangen oder aber wie das spätere Russland (und Byzanz) weiter draußen bleiben werden.

 

Eine Entstehungsgeschichte des Kapitalismus ist notwendig auf das lateinische Abendland konzentriert. Aber sie muss Teile Afrikas und des Nahen Ostens sowie Asiens mit einbeziehen, denn die leisten einen nicht unerheblichen Beitrag zum Aufbau von europäischem Handels- und Finanzkapital. Einzig der Doppelkontinent Amerika und Australien bleiben außen vor. Die wohl inzwischen archäologisch belegten Fahrten der Wikinger nach Nordamerika bleiben ohne Folgen bis zum Abenteurer Kolumbus, und die chinesische und japanische Welt trauen sich nicht bis nach Australien vor.

 

Europa ist nur ein kleiner Teil der Landmasse der Erde und dort leben um das Jahr Tausend insgesamt vielleicht 40 Millionen Menschen, während es damals alleine in China rund 100 Millionen sind. Was die Entwicklung großer Städte angeht, ist das lateinische Europa in den letzten 700 Jahren weit zurückgefallen und beginnt sich gerade erst ansatzweise von diesem Schrumpfungsprozess zu erholen. Vielleicht hat Paris derzeit 10 000 Einwohner, Rom nicht viel mehr als 20 000, während Kaifeng und Hangzhou Millionenstädte sind, das islamisch kontrollierte Cordoba um die 450 000 Einwohner hat. (Die Zahlen hier alle nach Hansen).

 

Bis tief ins zehnte Jahrhundert spielen jüdische Händler eine wichtige Rolle beim interkontinentalen Warenverkehr. Sie bereisen beide Frankenreiche, Böhmen und Bulgarien. Ihre Schiffe fahren von der Provence nach Ägypten und über das Rote Meer Richtung Indien. Sie bringen Karawanen von Antiochia nach Mesopotamien, und steigen dann auf Schiffe nach Indien und weiter in den Osten um. Von ihren Stadtvierteln im fatimidischen Ägypten aus, die schon in der Römerzeit bedeutend waren, greifen sie im 10. Jahrhundert auch immer mehr in den Italien-Handel ein. Sie werden noch im 11. Jahrhundert für den Handel wichtig sein, sind aber dann auf arabische, italienische und byzantinische Schiffe angewiesen. (Morissey, S.108f)

 

Der Osten: Slawen und Rus

Die Leute der großen Sprachfamilie der Slawen sind zunächst in kleine Gruppen unter eher schwachen Häuptlingen aufgeteilt, ähnlich wie die Nordgermanen. Im Süden geraten sie unter die Hoheit der Awaren und des Turkvolkes der Bulgaren.

 

Die Rus beginnen als skandinavische Besiedler von Handelsstationen, Staraya Ladoga und dann Nowgorod. Siedlungen entstehen in der dichten Waldlandschaft im wesentlichen entlang von Flüssen. Nicht nur in Kiew beginnen Rus mit dem Aufbau eines Fürstentums, wobei Ziel die Unterwerfung von Völkerschaften soweit ist, dass man ihnen Tribute abzwingen kann. Fürst Igor versucht, in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ein Großreich dieser Rus aufzubauen und scheitert. Seine Witwe Olga (Helga) übernimmt die Aufgabe und tritt zum byzantinischen Christentum über. Sohn Swjatoslaw erweitert das Reich vom Ladogasee bis zum Schwarzen Meer. Die Hauptstadt Kiew hat um das Jahr 1000 mehrere tausend Einwohner, große Kirchenbauten, und kann sich mit gleichzeitigen deutschen Städten messen.

 

Halbbruder Wladimir tötet Swjatoslaw und tritt um 988 nun auch zum Christentum oströmischer Machart über. Derweil ist die herrschende Schicht der benachbarten Chasaren jüdisch und etwa um dieselbe Zeit tritt Selschuk am Aralsee mit seinen Oghusen zum Islam über.

 

Weiter westlich schaffen morawische Fürsten ein großmährisches Reich, welches die Ungarn um 900 zerstören, während ein kroatisches Fürstentum länger überlebt. Ganz im Westen formiert sich im 10. Jahrhundert unter Fürsten von Prag aus ein durch Gebirge abgegrenzten Machtraum, der dann versucht, sich in Richtung des entstehenden Polens und des geschwächten Mährens hin auszudehnen. Die um Gnesen und Posen beheimateten Polen schaffen unter dem Piasten Mieszko eine rapide Expansion Richtung Ostsee, die ohne "natürliche Grenzen" bleibt. Aber ähnlich wie slawische Stämme gegen deutsche Herrschaft, so stehen andere auch vorläufig gegen die polnische auf.

 

Byzanz

Viel mehr noch als die Rus trägt das Byzantinerreich an der Peripherie durch Handel zur Entwicklung von Kapitalismus im lateinischen Raum bei. Seine Hauptstadt kann sich an Größe und Reichtum mit den islamischen Metropolen im ehemaligen Imperium Romanum messen. Aber die inneren Strukturen, Weiterentwicklungen aus der klassischen Antike, werden ebenfalls in keinen Kapitalismus führen, sondern in seinen langsamen Abstieg. Zu inneren Wirren kommen zunehmende Angriffe von außen. Im Osten bleibt ihm nur noch Kleinasien. 941 greifen sogar die Rus unter Fürst Igor die Hauptstadt mit einer Flotte an, wie Liutprand von Cremona berichtet. In den nächsten Jahrhunderten wird die Bedrohung dann unter anderem von den Seldschuken, den Normannen und den italienischen Seestädten ausgehen.

 

Aber unter der makedonischen Dynastie (867-1056) kommt es erst einmal zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der verbunden ist mit einem steten Bevölkerungswachstum. Der Fernhandel wie der regionale Handel florieren rund um das Zentrum Konstantinopel, dabei verlagert sich dort wie überhaupt im östlichen Mittelmeer der Seehandel nach und nach auf italienische Schiffe. 992 schließt Basilius II. einen ersten Handelsvertrag mit Venedig.

 

1054 wird es wieder einmal zu einem Bruch zwischen Rom und Konstantinopel kommen. Beide "christlichen" Religionen haben sich wie alles andere auch auseinanderentwickelt, von der griechischen Liturgie über barttragende "orthodoxe" Priester, bis zum mit Hefe gesäuerten Brot bei der Kommunion. In Ostrom gilt das Zölibat darüber hinaus nur für Bischöfe. Diese religiösen Unterschiede helfen bei der Abschottung des Byzantinerreiches von westlichen Entwicklungen.

 

 

Afrika und der Nahe Osten

Während sich in Skandinavien eine Schwellenzeit mit einer gewissen Verspätung einstellen wird, werden die Reiche der Rus und der Romania/Ostrom dauerhaft draußen bleiben, und dasselbe gilt ganz massiv auch für Afrika. Dabei hat dieses ganz massiv zwei Waren zu liefern, und zwar auf direktem Wege in die islamische Welt: Das sind Gold und Sklaven.

Zwei Dinge verschränken sich dabei in der Nordhälfte Afrikas ineinander, nämlich der Handel und die Islamisierung.

 

Schwarzafrikanische Sklavenjagd und entsprechender Sklavenhandel hat eine Tradition, die wohl bis in die Antike zurückgeht. Negroide Händler werden etwa ebenso viele schwarze Sklaven in die islamische Welt verkaufen wie später an weiße Händler, die sie über den Atlantik verschiffen. Nach 650 bis um 1900 sollen so insgesamt weit mehr als 20 Millionen Schwarzafrikaner von ihren negroiden Landsleuten eingefangen und verkauft worden sein.

 

Diese Sklaven dienen in der islamischen Welt als Haussklaven, und dabei insbesondere als Eunuchen als Aufseher im Harem. Zu diesem Zweck kastrieren die Sklavenhändler schon junge Sklaven. Deutlich mehr Männer noch landen als Militärsklaven in den Heeren islamischer Herrscher. Als Ibn Tulun im 9. Jahrhundert Ägypten kontrolliert, stehen ihm unter anderem Zehntausende schwarzafrikanische Militärsklaven zur Verfügung.

 

Schließlich dient ein Teil der weiblichen menschlichen Ware in der islamischen Welt auch als Sexsklavinnen. Dafür dienlich sind (bis heute) islamische Gesetze, die z.B. die Kurzzeitehen über Tage oder auch nur Stunden erlauben. Ibn Butlan, auch Verfasser des 'Tacuinum sanitatis in medicina', lobt besonders die versklavten Bewohnerinnen einer Region in Ostafrika, wenn sie denn jung und noch unberührt sind, weil sie in dieser Gegend die Beschneidung praktizieren. Mit einem Rasiermesser entfernen sie die komplette äußere Haut auf der Vulva bis auf den Knochen. (in: Hansen, S.159) Ein Ratgeber für den Sklavenkauf aus dem 11. Jahrhundert besagt u.a. über die Frauen eines ostafrikanischen Volkes: Sie haben einen goldenen Teint, schöne Gesichter, grazile Glieder und eine zarte Haut. Sie geben angenehme Bettgespielinnen ab, wenn man sie aus ihrem Land holt, solange sie noch jung sind. (in: Ertl, S.53)

 

Das islamische Recht erlaubt Sklavenbesitzern Geschlechtsverkehr mit ihrem Eigentum, verlangt allerdings die Legitimierung der Nachkommenschaft, was deren Freilassung nach sich zieht. Dadurch bricht die Nachfrage nach Sklaven nie ab, während in der lateinischen Schwellenzeit der Nachwuchs von Sklaven weiter Eigentum des Herrn bleibt. Entsprechend ziehen in unserer Schwellenzeit jährlich Kamelkarawanen von insgesamt über 5000 Sklaven alleine durch die Sahara nach Norden

 

Alt-Simbabwe steigt über Sklaven und Gold zu einer Stadt auf, die in ihrer besten Zeit vielleicht 10 000 Einwohner hat. Es soll pro Jahr etwa eine Tonne Gold gefördert und verkauft haben. Andere Handelsstädte erreichen wenigstens ca. 5000 Einwohner. Daneben errichten "Suaheli" in Ostafrika mit unter anderen Mombasa und Mogadischu bedeutende Handelsstädte bis hin nach Sansibar und bedienen das Rote Meer bis Ägypten und den Indischen Ozean mit Gold, Hölzern und Elfenbein, wobei letzteres bis ins lateinische Abendland gelangt und dort zu handwerklichen Kunststücken verarbeitet wird.

 

Ein zweites auf Gold (von den Ufern des Senegal) basierendes Reich ist das von Ghana mit Städten wie Djenné, das an Größe die deutschen Städte der Zeit übertrifft. Der Reichtum des Herrschers beruht auf seiner Macht über das Gold, welches über almoravidische Händler Marokkos nach Spanien gelangt.

 

Zwischen dem 7. und frühen 8. Jahrhundert erobern islamische Araber mit dann verbündeten unterworfenen Völkern den Nahen Osten, Ägypten, Nordafrika und den größten Teil Spaniens, bilden aber außerhalb Kernarabiens nur eine dünne Oberschicht. Von den Römern übernehmen sie anders bzw. stärker als beispielsweise die Franken Verwaltung, Steuern und stehendes Heer. Mit der Übernahme einiger der reichsten römischen Provinzen und ihrer Verbindung mit dem Iran und Zentralasien entsteht ein prosperierender Handelsraum mit dem Dinar (vom Denar abgeleitet) als gemeinsamer Währung. Bagdad wird im 9. Jahrhundert zur größten Stadt außerhalb Chinas.

 

Während das Christentum zunächst offiziell Besitzgier, Gewinnstreben und damit auch Kapitalbildung eher ablehnend gegenüber steht, hat der Islam damit weniger Probleme, war doch schon Mohammed möglicherweise selbst Kaufmann gewesen.

Anders als Skandinavier, Rus und große Teile Schwarzafrikas ist neben Byzanz und dieses überflügelnd die islamische Welt zwischen Bagdad, Sizilien und Spanien im 10. Jahrhundert dem lateinischen Abendland an städtischer Zivilisation, Schriftlichkeit, Handel und technischen Errungenschaften noch weit überlegen. Deren Abbassidenreich zerfällt schließlich in Teilreiche wie das der schiitischen Fatimiden von Ägypten mit der Neugründung Kairo ("Die Siegreiche"), welches schnell auf eine halbe Million Einwohner anwächst, bald in das Reich der Seldschuken von Bagdad (1055) und das der Almoraviden von Marokko und Spanien.

 

Überall sind die islamischen Handelsstädte an der südlichen Mittelmeerküste Transitorte für den Handel aus Schwarzafrika und ab Alexandria für den mit Asien. In unserer Schwellenzeit lassen sich zunächst Händler aus Amalfi dort nieder und beginnen, den Warentransit ins lateinische Abendland muslimischen Händlern abzunehmen. Zu Sklaven und Gold vermittelt Kairo auch Elfenbein, Kupfer und Bronze nach Europa.

 

Darüber hinaus übernehmen Gelehrte in islamischen Städten griechisches Gelehrtengut und anverwandeln es ins Arabische. Auf diesem Weg wird ein gewisser Teil griechischer Gelehrsamkeit nicht über das antike Rom, sondern über die islamische Welt an das lateinische Abendland vermittelt werden. Seit sich im 10 Jahrhundert Medressen entwickeln, Schulen privater Stifter, steigt das Bildungsniveau der dort unterrichteten kleinen Gruppe junger Männer beträchtlich.

 

Asien

Asien, weitab von den Regionen des lateinischen Abendlandes, in denen Kapitalismus entsteht, ist geteilt in nördliche Steppen- und Wüstenlandschaften vom Kaspischen Meer bis zur Mongolei, die als Handelswege dienen, und in alte Zivilisationen von Persien über Indien bis China, die Rohstoffe und Fertigprodukte anbieten, die teilweise von herausragender technischer Perfektion sind. Geteilt ist der Kontinent auch in drei Großreligionen: Den in unserer Zeit weit vordringenden Islam, den Buddhismus und den Hinduismus.

 

Im Raum des heutigen Usbekistan herrschen die Mitglieder der Saman-Familie, die sich schon im 9. Jahrhundert nur noch nominell den Abbassiden unterstellen. Als kriegerisches Volk machen sie enorme Mengen an Kriegsgefangene, die sie in Bagdad, Kairo und anderswo verkaufen, wodurch sie erhebliche Reichtümer anhäufen. Um den Marktwert der Sklaven zu erhöhen, richten sie sogar eine Schule für Militärsklaven ein (Hansen, S.194). Mit der Hauptstadt Buchara und mit Samarkand entwickeln sie zwei große und bedeutende Städte.

 

Um 914/943 rebellieren aus Turkvölkern bestehende Militärsklaven gegen den letzten Samanidenherrscher und ein Teil zieht ab nach Ghazna (Ghazni im heutigen Afghanistan). Sie zwingen den dortigen Völkern den Islam auf und errichten unter Sultan Mahmud ein Riesenreich, welches bald über Persien, Afghanistan, das heutige Pakistan und Nordindien herrscht. Ghazna wird mit dem Gelehrten Al Biruni und dem persischen Dichter Firdausi, die beide dorthin ziehen, zu einer Metropole belesener Schriftlichkeit.

 

In Xinjiang, welches riesige Gebiet nordöstlich an Afghanistan und Kaschmir anschließt, etabliert sich eine Karakhaniden-Dynastie, welche den Großraum islamisiert und westlich bis nach Buchara ausdehnt. Wiederum östlich von ihnen etabliert sich ein Reich der Kitan, in dem neben Kitan, Chinesisch, Uigurisch und manche andere Sprache gesprochen und vorwiegend Buddhismus gepflegt wird.

 

Südlich vom Liao-Reich herrschen die südchinesischen Song-Kaiser, weiter östlich liegt Korea und noch etwas weiter nach Osten Japan, allesamt damals mehr oder weniger buddhistisch. Während die Liao und die Song Handel bis nach Indonesien und Indien und sogar bis in den (von Europa aus gesehen) Nahen Osten betreiben, schließt sich Japan stärker ab, und lässt "internationalen" Handel nur über den Hafen von Fukuoka auf Kyushu zu.

 

Lange vor Europäern benutzen Chinesen um das Millennium den magnetischen Bordkompass. Sie befahren mit dem Seeweg vom Persischen Golf nach Guangzhu (Kanton) eine fast doppelt so lange Strecke wie Kolumbus fünfhundert Jahre später. China liefert per Schiff bis nach Afrika Keramik, Textilien und Waren aus Gold, Silber und Eisen. Insbesondere chinesische Töpferwaren genießen hohes Prestige, und zwar sowohl kunstvolle Einzelstücke wie als Massenwaren in nie dagewesenem Umfang. Insgesamt erwirtschaftet China einen enormen Handelsüberschuss über handwerkliche und manufakturielle Produktion.

 

In der Zeit der lateinischen Nachantike entwickelt sich China zum wichtigsten und am meisten globalisierten Handelsreich der Welt. Guangzhu und Quanzhu sind unter den Song-Kaisern wohl die bedeutendsten der damals bekannten Hafenstädte, beides Millionenstädte wie die Hauptstadt Kaifeng.

 

Zwischen China und Afrika liegen mächtige Reiche wie das der Chola in Südindien, die den Hinduismus verbreiten, buddhistische Klöster plündern und zerstören und bis nach Ceylon vordringen. Ihr Indien treibt Handel über die ganze Halbinsel hinaus mit Malaya und Persien.

 

Das Srivijaya-Reich von Sumatra liefert nicht nur den Chinesen Stoßzähne von Elephanten, Hörner des Rhinozeros und Aromastoffe. Um riesige Tempelanlagen wie das javanische Borobodur konzentriert sich die mächtige Herrschaft der mit den Srivijaya liierte Sailendra-Dynastie mit voll ausgebildeter Marktwirtschaft und hochentwickeltem Handwerk. Reis und Pfeffer werden exportiert, letzterer nach China, und Gewürznelken, Sandelholz und Muskat werden eingeführt. Es gibt zudem regional beschränkten Sklavenhandel.

 

Ein anderes Machtzentrum bildet sich in Kambodscha um die Angkor-Dynastie, die sowohl Buddhismus wie Hinduismus duldete. Solche Tempelanlagen wie Angkor Wat (über 200 Quadratkilometer und wenigstens 800 000 Einwohner) mit ihren für damalige Verhältnisse riesengroßen Städten sind im lateinischen Europa noch lange undenkbar. Zwischen den Herrschaften von Angkor und China herrscht beträchtlicher Handelsverkehr.

 

 

Handel nördlich der Alpen

 

Die dänischen Nordmänner fallen ab 830 entlang der Handelsrouten einerseits über Südengland und insbesondere das Frankenreich als Räuber (Wikinger) und dann auch bald als Eroberer her, und Norweger suchen vornehmlich das übrige Britannien heim. Aber im hohen Norden plündern, rauben und zerstören Wikinger nicht nur, sondern sie treiben zumindest teilweise auch Handel.

 

Mitte des 9. Jahrhunderts gehen die Nordmänner in Irland von räuberischen Überfällen zu Ansiedlungen über und entwickeln mit Dublin, dann Waterford, Cork und Limerick erste Städte auf der Insel. Dublin wird ein relativ bedeutendes Handelszentrum mit Produktion von Gegenständen aus Knochen, Leder, Holz und von Textilien.

 

Die Schweden orientieren sich in Richtung des viel späteren Russland. Von Birka westlich vom späteren Stockholm aus ziehen sie nach Staraja Ladoga und dann bald die Flüsse, insbesondere den Dnjepr hinab nach Süden. Seine schlimmsten Stromschnellen hat dieser bei Kiew, welches zu einem Zentrum der Rus wird, wie sie bald heißen. An Flussläufen errichten sie befestigte Lager, aus denen dann Städte mit im Norden skandinavisch-ugrisch-slawischer Mischbevölkerung werden. Im Laufe der Zeit vermischen sie sich auch im Süden mit den Slawen und nehmen am Ende deren Sprache an.

 

Die nach Skandinavien gelangenden Handelswaren lassen die dortigen Orte zu kleinen Handelsstädten aufblühen, die allerdings kaum mehr als 1000 Einwohner haben. Der andere Weg führt nach Süden ans Schwarze Meer der Rum, wie die Muslime es nennen, also ins byzanzinische Reich nach dem befestigten Cherson (Sebastopol). Über das Schwarze Meer geht es dann in durchschnittlich sechs Tagen nach Konstantinopel und manchmal auch bis Bagdad.

Hansen spricht "von dem enormen Transfer von Reichtum aus Konstantinopel und der islamischen Welt zu den Rus, mit dem die importierten Pelze und Sklaven bezahlt werden." (S.121) Dafür sprechen die großen Münzfunde in Skandinavien und Osteuropa.

 

Die Einheimischen, die hauptsächlich von Fischfang und Fallenstellen leben, liefern ihnen Honig, Pelze und in hohem Maße Sklaven und werden teilweise auch gewaltsam unterdrückt und zu Tributen gezwungen. Der schwunghafte Handel mit Sklaven nach Norden und Süden führt dazu, dass das griechische Wort für Slawe (sklabos) sich als allgemeine Benennung für Sklaven in Europa einbürgern wird.

Solche Händler liefern sogar flämische Tuche, vor allem aber Sklaven nach Süden, die über das kaspische Meer ins Kalifat von Bagdad gelangen. Über das von solchen Rus errichtete Nowgorod gelangen dann Pelze, Wachs und spezifische Orientwaren zurück.

Im Nordosten haben gegen Ende des 9. Jahrhunderts laut Kiewer Nestorchronik Slawen warägische (wikingische) Herrscher in Kiew und Nowgorod eingesetzt, die die Verhältnisse so stabilisieren, dass dort in größerem Umfang Handel möglich wird.

 

„Konstantinos Porphyrogenetos erzählt, wie sich die Skandinavier, von den Slawen >Russen< genannt, während des 10. Jhs. jährlich nach der Schneeschmelze mit ihren Schiffen in Kiew versammelten. Die Flotille fährt sodann langsam auf dem Dnjepr abwärts, wo häufige Katarakte Hindernisse bilden, die nur im Schleppzug längs des Ufers zu überwinden sind. Das Meer einmal erreicht, segelt man längs der Küste nach Konstantinopel, dem Ziel der langen und beschwerlichen Reise. Dort besitzen die Russen ihr eigenes Quartier, und Verträge, deren ältester ins 9. Jh. zurückreicht, regeln ihren Handel mit der großen Stadt. (…) Von dort her empfingen sie das Christentum (957-1015); von dort entlehnen sie ihre Kunst, ihre Schrift, den Gebrauch des Geldes und einen guten Teil ihrer Staatsverwaltung.“ (Pirenne, S.26f)

 

Es zeigt sich, dass viele "Funde islamischer Silbermünzen entlang der russischen Flüsse sowie in Nord- und Osteuropa als Beleg für ein riesiges Handelsnetz im 10. Jahrhundert gedeutet werden müssen und dass in diesem Handelssystem nicht Pelze oder Waldprodukte, sondern slawische Sklaven die wichtigsten Handelsgüter waren. Mehrere zehn millionen Silbermünzen flossen in diesem Geschäft in den skandinavischen Raum." (Ertl, S.46)

 

Mit den Unruhen im Frankenreich nimmt im 9. Jahrhundert nach Norden arabischer Handel zu, wie man an Münzen dort erkennen kann, außerdem der vom Kaspischen und Schwarzen Meer.

Dass auf dem Weg ins hohe Mittelalter Handel dann aber weiter zunehmen wird, liegt auch daran, dass in dieser Zeit Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Schon im 10. Jahrhundert beseitigen die sächsischen Kaiser die Ungarngefahr (955 Lechfeld bei Augsburg). Derweil lässt auch die skandinavische Bedrohung bis auf die der britischen Inseln nach. Nord- und Ostseeraum werden zunehmend sicherer. Die Stabilisierung neuer Reiche im 10./11. Jahrhundert schafft mehr Sicherheit, auch mehr Planungssicherheit.

 

Fernhandel im Norden bezeugen Händlersiedlungen wie das friesischen Tiel an der Waal, welches Dorestad ablöst. Von dort haben wir einen abschätzigen Bericht des Mönches Alpert von Metz über die Kaufleute:

pastos (Verfressenheit) autem et comessationes (Trinkgelage), quas divina auctoritas vetat, ubi et gravedines et indebite exactiones et turpes ac inanes letitie, rixe (Raufereien,) sepe etiam, sicut experti sumus, usque ad homocidia et odia et dissensiones accidere solent, adeo penitus interdicimus, ut qui de cetero hoc agere presumpserit, si presbyter fuerit vel quilibet clericus, gradu privetur; si laicus est aut femina, ab ecclesia usque at satisfactionem separatur. (in: Jankuhn/Ebel, S.185)

 

Es bleibt auch Quentovic zwischen dem 7. und 11. Jahrhundert und das um 770 von Wikingern gegründete Haithabu (beim späteren Schleswig) zwischen dem 8. und frühen 11. Jahrhundert mit Radien bis ins Frankenreich, nach England/Irland, Skandinavien und dem Baltikum, indirekt in die Tiefen des späteren Russland und darüber bis in den nahen Orient. Ein wichtiger Handelsort ist auch das slawische Liubice, das spätere Lübeck.

 

 

Noch immer spielen Juden eine wichtige Rolle im Handel, wie folgendes Dokument bezeugt:

Die Kaufleute (mercatores) aber, das sind die Juden und andere Kaufleute, woher sie immer kommen (de ista patria vel de aliis patriis) sollen den gerechten Zoll zahlen, sowohl von den Sklaven (mancipiis) als auch von den anderen Gütern, so wie es immer in früheren Zeiten gewesen ist. (§15) ista patria meint vermutlich Bayern  (Störmer in: Schwineköper, S.362)

 

Als wichtige Ware darf man eben auch durch das zehnte Jahrhundert nicht die allgegenwärtigen Sklaven vergessen, wobei Europa auch bereitwillig den großen islamisch-nordafrikanischen und orientalischen Bedarf mit deckt.

Mitte des 10. Jahrhunderts ist der arabische Händler Ibrahim ibn Yakub aus Andalusien erstaunt darüber, dass es auf dem Markt der Stadt Mainz nicht nur orientalische Gewürze wie Pfeffer, Ingwer und Gewürznelken gibt, sondern dass auch mit arabischen Silbermünzen aus Samarkand bezahlt wird. Zu erklären sind diese (indirekten)  Handelsbeziehungen in ferne Kontinente des Mainzer Marktplatzes mit der Etablierung grenzüberschreitender Netzwerke des Sklavenhandels. (Ertl, S.45)

Von einem weiteren großen Sklavenmarkt in Prag berichtet ein jüdischer Reisender, wohin offenbar tschechische und ungarische Händler zusammenkommen.

 

 

Bis ins hohe Mittelalter zieht der im Landhandel beschäftigte Kaufmann oder eher noch eine Gruppe von Kaufleuten mit seiner/ihrer Ware mit. Pirenne gibt ein hübsches Bild einer solchen im Norden reisenden Schar:

„Ihre mit Bogen und Schwert bewaffneten Mitglieder umschwärmen die mit Säcken, Ballen, Kisten und Fässern beladenen Saumtiere und Karren. An der Spitze reitet der Standartenträger (Schildrake). Der Hansgraf oder ein Dekan befehligte den Trupp. Dieser besteht aus >Brüdern<, die durch ein Treuegelöbnis miteinander verschworen sind. Ein Geist enger Solidarität belebt die Schar. Die Ware wird augenscheinlich gemeinsam eingekauft und verkauft, wobei der Gewinn proportional zur Einlage jedes einzelnen zur Verteilung gelangt.“ (S.96)

 

Neben allen anderen Unbillen einer solchen Reise wird da vor allem die Sorge vor Überfällen, vor Raub und Mord deutlich. Vor allen anderen wird das Handelskapital so etwas wie Hoffnungen auf Frühformen eines staatlichen Gewaltmonopols entwickeln. Bevor es dazu kommt, schließt man sich untereinander zusammen, und mit deutschen Raum heißt das dann oft Hanse. Vor Ort bilden solche Fernhändler Gilden, die ihre Interessen in der Stadt vertreten.

 

Wichtig für die Entstehung von Kapitalismus wird schon in der (späteren?) Nachantike die Entstehung eines Gewohnheitsrechtes unter den Kaufleuten, welches sich später in Marktrecht und Handelsrecht fixiert. Zum Handeln auf Treu und Glauben kommt das Prinzip der Vertragserfüllung.

 

Das alles darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der größte Teil des Handels im Frankenreich noch im 10. Jahrhundert lokaler und, seltener regionaler Natur ist. "...rund 80 Prozent der Münzen sind im Umkreis von 100 Kilometern von ihrer Münzstätte gefunden worden." (Wickham(3), S.547) Und Fernhandel betrifft selten anderes als den Luxus-Konsum der hohen Herren.

 

 

Der Handel im Mittelmeerraum

 

Die Forschung hat viele Gründe angeführt, warum der Handel zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert im Mittelmeerraum zurückgeht. Vieles spielt eine Rolle: Der Untergang des weströmischen Imperiums, die Zerstörungen Ostroms im Krieg gegen die Ostgoten, der Langobardeneinfall, die islamische Übernahme des nahen Ostens, Nordafrikas und fast ganz Spaniens.

Der interkontinentale Handel zwischen Europa, Afrika, dem Orient und Asien war mit dem Ende des Imperium Romanum massiv zurückgegangen; was durch die Zeit bleibt, aber ohnehin nur in kleinen Mengen, ist der Gewürzhandel, der Arabien, Persien, Indien, die Mongolei und China einschließt.

 

Tatsächlich geben Texte und Ausgrabungen nur punktuelle und schlecht zu verallgemeinernde Aussagen her. Commercium, merces, negotiatio (Handel und Waren) spielen nur sporadisch in den Quellen eine Rolle. Immerhin gibt es wohl seit der Karolingerzeit einzelne wohlhabende und grundbesitzende Kaufleute, die auf die Organisation des Handels und des Marktgeschehens durch Bischöfe und Äbte angewiesen sind.

In den Honorantien von Pavia tauchen dort Händler aus Venedig und Kampanien auf, die wohl auch schon früher dort waren (§5,6). Ob Lombarden oder Fremde, es sind weiterhin freie und privilegierte Beschaffer unter anderem von Seide und Gewürzen für den Palast. Der kleine produktive Sektor in den wieder aufsteigenden Städten bietet noch kaum Nachfrage.

 

Pirenne hat die später wohl nicht ganz zu Recht in Ungnade gefallene These aufgestellt, der Einbruch des Islam in den Mittelmeerraum habe die abendländische Wirtschaft ein Stück weit stranguliert. Allerdings bricht der Handel tatsächlich schon mit dem Ende des weströmischen Imperiums ein.

Andererseits wäre wohl kaum der Weg in den Kapitalismus so früh frei gewesen, wenn die orientalische Despotie nicht im 11. Jahrhundert von großen Teilen der nördlichen Mittelmeerküsten und dann vom Meer selbst zunehmend wieder vertrieben worden wäre.

 

Die Seehoheit über das Mittelmeer haben zwar inzwischen muslimische Schiffe, aber diese beliefern auch christliche Häfen.  Juden und "Araber" bilden im Mittelmeerraum und im Nahen Osten Handelsgesellschaften. "Die Mudaraba genannte Gesellschaft, bei der ein Investor das Kapital einzahlt und ein Angestellter die Arbeit erbringt, ist bereits im 6. Jahrhundert nachweisbar." (Ertl, S.150)

 

Der interkontinentale Handel mit Luxuswaren läuft weiter über Zwischenhändler aus Indien und direkter aus dem näheren Orient und Nordafrika, allerdings wesentlich schwächer als zur Zeit der römischen Antike. Im Mittelmeerraum steht sehr lange an erster Stelle der Handel mit exotischen Gewürzen, deren Anzucht aus klimatischen Gründen in Europa nicht möglich ist: Pfeffer, Gewürznelken, Zimt, Muskat, (Rohr)Zucker und vieles anderes. Karawanen liefern sie aus Afrika und dem arabischen Raum sowie Schiffe aus Asien (Indien und China). An den Küsten werden sie seit dem 10. Jahrhundert von italienischen Schiffen aus Venedig und Genua vor allem übernommen, wobei die beiden andere Städte aus dem Geschäft verdrängen.

 

Erst im 11. Jahrhundert werden sich Fernhändler aus unserem Bereich stärker und dann bald mit Macht daran beteiligen. Andere Luxusgegenstände, oft den Status von Kloster, Bischofskirche und Fürsten darstellend, kommt aus europäischer Produktion bei zum Teil außereuropäischen Rohstoffen (Edelsteine, Gold, Elfenbein usw.).

 

Im Kern existiert ein interkontinentales Ungleichgewicht. Es gibt zwei Großräume mit bedeutenden Städten, entwickelter Warenproduktion und einem ausgebauten Handel, nämlich das Reich von Byzanz und die Reiche des Islam. Dann gibt es einen im Vergleich dazu unterentwickelten Raum des christlichen Teils Italiens, ein immer noch partiell urban geprägter Raum, und schließlich das große nördliche Hinterland Europas, Natur- und Agrarlandschaft vor allem, welches für Handel und Wandel nur eine gewisse Rolle als Rohstofflieferant spielt.

 

Der ungleichgewichtige Warentausch von Rohstoffen und minderwertiger Massenware gegen relative Luxusprodukte muss von der lateinischen Welt entweder durch Masse ausgeglichen werden oder durch den Abfluss von Edelmetallen. Die Entwicklung in kapitalistische Verhältnisse wird auch darin bestehen, dieses Ungleichgewicht aufzuheben, was vor allem verbesserte Warenproduktion bedeuten wird, und sie wird nach einigen Jahrhunderten die ökonomischen Machtverhältnisse umkehren.

 

Dem Umschwung hin zur Dominanz des Mittelmeerhandels nach der Jahrtausendwende werden im 9. und 10. Jahrhundert einmal nominell noch unter byzantinischer Herrschaft stehende Städte wie Venedig und Bari im Osten und Neapel, Gaeta und Amalfi im Westen leisten und dann gibt es noch Marseille und Barcelona außerhalb des italienischen Raums.

Ein erstes Anzeichen von Handelskapital ist in Venedig für 829 mit dem Testament des Dogen Justinian überliefert, der sich darin auf für ihn arbeitende solidi bezieht, die er in Schiffe investiert, hat, deren Rückkehr bevorsteht. (Wickham(3), S.547). Im 10. Jahrhundert werden amalfitanische Kaufleute mit großen Kapitalien folgen. Zu solchen Leuten gelangt zunehmendes Kapital, indem sie an wohlhabendere Grundherren verkaufen, deren Kaufkraft aus der Arbeit der von ihnen kontrollierten Bauern vor allem stammt.

 

Überhaupt kann man im 10. Jahrhundert venezianische, skandinavische und rheinländische Kaufleute in Konstantinopel entdecken, in einer Stadt, die an Reichtum lateinische Städte damals bei weitem übertrifft. Der größte Reichtum aber bleibt vorläufig weiterhin in Ägypten und überhaupt in islamischen Metropolen bis nach Hispanien, wo insbesondere Cordoba herausragt. Aber es ist nicht solcher Reichtum, der Kapitalismus hervorbringen wird; vielmehr wird Kapitalismus bald jenen Reichtum hervorbringen, der das islamische Mittelmeer à la longue wird verarmen lassen.

 

 

Transport

 

Die Wege bzw. Straßen verfielen nach der Antike, und der Handel bekam zusätzliche Belastungen aufgeladen, zeitlicher Natur wegen der notwendigen Pausen, finanzieller wegen der dadurch bewirkten Kostensteigerung, die die Waren verteuerte.

In unserer Schwellenzeit wird zumindest nördlich der Alpen wohl der Tiefpunkt des Zustandes von Straßen und Brücken erreicht. Reisenden fällt es schwer, in den dichten und riesigen Wäldern noch ihren Weg zu finden. Die hölzernen Brücken sind brüchig und von Löchern durchsetzt. (Goetz)

 

Waren die antiken Straßen oft gepflastert gewesen, so wurden die nachantik-frühmittelalterlichen zunächst oft zu Erdwegen, die im Winter oder nach langen Regenfällen unpassierbar sind. Manche sind nur mit Lastenträgern oder mit Lasttieren (Packtieren) karawanenartig begehbar, andere, eher seltener, nur mit einachsigen Karren. Für solche mit vier Rädern sind die Wege zunehmend unpassierbar. Das Transportwesen über Land bis tief ins weitere Mittelalter bietet oft zunächst keine guten Voraussetzungen für die Entstehung von Kapitalismus.

 

Das ändert sich an einigen Stellen bereits im 10. Jahrhundert auch mit Reparatur und der Entstehung neuer Wege, mit Furten, zunehmendem Fährbetrieb und Brücken und dazu gehörigen Handelsansiedlungen. Die römische Fähigkeit, Steinbrücken zu bauen, ist erst einmal mit diesen verloren. 813 lässt Karl ("der Große") bei Mainz auf den römischen Ruinen eine hölzerne Rheinbrücke bauen, die allerdings im nächsten Jahr bereits abbrennt. Solche Holzbrücken wird es vielerorts bis ins 18. Jahrhundert geben wie zum Beispiel die Münchener Isarbrücke. Sie werden schnell morsch, enthalten dann Löcher und werden des öfteren bei Hochwasser oder Eisgang zerstört.

Als der Mönch Richer von Saint-Rémi von Reims aus mit einem Knecht von Kloster zu Kloster nach Chartres reisen will, bricht erst sein Packpferd zusammen, und dann gelangt er kurz vor Meaux an eine Brücke, diese war an vielen Stellen so schadhaft und zeigte so große Lücken, dass die Einwohner kaum wegen ihrer notwendigsten Geschäfte hätten hinüberkommen können. Der ihn begleitende Bote aus Chartres weiß Abhilfe: Wo ein Loch war, da legte er hier seinen Schild den Pferden unter die Füße, dort fügte er Bretter, welche da herumlagen, aneinander, und indem er sich bald niederbückte, bald erhob, bald vorausschritt und bald zurückeilte, kam er glücklich mit mir und den Pferden hinüber. (Der Knecht muss erstmal beim Gepäck ausharren. In: Neiske, S.182)

 

Deshalb werden Flüsse auch weiterhin die wichtigsten Handelswege bieten, allerdings meist nicht im Winter. Der Zolltarif von Raffelstetten um 905 erwähnt für den Transport auf der Donau Salz, Sklaven und zudem Rinder, es fehlt der Handel mit Luxusbedarf, wie er für das Rheintal typisch ist. In dem für die Zeit raren Dokument heißt es:

Schiffe, die vom Westen kommen, sollen nach dem Verlassen des Passauer Waldes bei Rosdorf oder an anderen Stellen, an denen sie anlanden wollen, einen Halbpfennig Zoll bezahlen. Falls sie nach Linz weiterfahren: Für jedes Schiff sind drei Scheffel Salz zu bezahlen. Für Sklaven und andere Güter wird hier kein Zoll erhoben, und die Kaufleute erhalten die Erlaubnis, bis zum Böhmerwald anzulanden und Handel zu treiben, wo immer sie wollen. Falls ein Bayer Salz zum Eigenbedarf nach Hause transportieren will: Nachdem der Schiffsführer dies eidlich bestätigt hat, muss er nichts bezahlen und soll sicher reisen. (in: Ertl, S.45)

 

 

Kapital

 

Nicht aus Nahrungsmittelproduktion und Handwerk wird Kapitalismus entstehen, sondern aus Handel und Kreditwirtschaft vor allem, dort also, wo man Kapital braucht und einsetzen kann und muss. Handel entsteht sowohl durch Nachfrage wie durch Angebot, die sich auch gegenseitig beeinflussen. In groben Zügen entsteht dabei ein Gewinn aus der Differenz zwischen Einkauf und Verkauf, wobei aber die Transaktionskosten, die zwischendrin entstehen, abgezogen werden müssen. Dazu gehören vor allem Transportkosten, zu denen wiederum zum Beispiel die Zölle gehören. Des weiteren kommen dazu die Abzüge durch Unbillen der Witterung, durch Räuber und vieles mehr.

 

Damit der Handel sich "kapitalistisch" und unternehmerisch verhalten kann, muss er sich aus der exklusiven Bindung an Herren lösen, von der fernhandelnde Friesen, Juden und Syrer früher schon mehr oder weniger frei waren. Er muss also mehr dazu übergehen, nicht bloß Aufträge von Herren auszuführen, sondern auch spekulativ für einen Markt einzukaufen, von dem er sich Nachfrage erhofft.

Damit ist hier der Punkt erreicht, indem einmal grundsätzlich geklärt werden muss, was unter Kapital überhaupt zu verstehen ist.

 

Das Wort Kapitalismus gibt es noch keine zweihundert Jahre, obwohl es in dieser Untersuchung für etwas herhalten soll, was vor rund tausend Jahren entstand. Der zuvor fehlende Begriff verweist darauf, dass es vorher entweder keinen Bedarf gab, so etwas begreifen zu wollen, oder aber und wahrscheinlicher, dass Menschen Vorgänge in Gang setzten, die sich zugleich quasi hinter ihrem Rücken vollzogen.

 

Dabei ist das Wort Kapitalismus eine Notlösung, sind doch -Ismen wie Feudalismus, Sozialismus, Feminismus und Rassismus weithin verlogen-geschwätzige und eher hilflose Ideologismen, und solche wie Impressionismus oder Kubismus dem Marketing von Modetorheiten auf der Basis von Stillosigkeit geschuldet. Aber in der hier zu gebenden klaren Definition muss der Kapitalismus solange weiter herhalten, bis etwas besseres gefunden wird.

 

Selbst das Wort Kapital taucht erst auf, nachdem es solches schon lange gegeben hat, und fast überall erst Jahrhunderte, nachdem Kapitalismus bereits in großen Teilen Europas seinen Siegeszug angetreten hat. Seine lateinische Wurzel ist das Wort caput, welches für den Kopf bzw. das Haupt steht. Daraus leitet sich capitalis ab, welches man unter anderem mit "hauptsächlich" übersetzen kann. In spätmittelalterlichen norditalienischen Volkssprachen wird dies Wort substantiviert, um von dort dann später in den Norden zu wandern, wo es im Deutschen zum Beispiel als hauptgut auftaucht.

 

In italienischen Städten des späten Mittelalters mit ihrem blühenden Kapitalismus wird es beim Geschäft/Unternehmen die Hauptsache benennen. Diese aber ist eben das, was nicht die Nebensache ausmacht, nämlich das, was für den persönlichen Konsum abgezweigt und damit dem (eigenen) Geschäft verloren geht, sondern das, was eingesetzt wird, um es zu vermehren, ohne dabei allzu viel physische (bzw. militärische) Gewalt einsetzen zu müssen.

 

Etwas ist soweit mit dem Begriff schon gewonnen: Es gibt Haupt- und Nebengüter. Das lässt sich allerdings im späten Mittelalter bzw. in der frühen Neuzeit etwas unterschiedlich verstehen. Es kann zum Beispiel das Kapital als das Haben, den Besitz im Unterschied zu Verpflichtungen, Schulden meinen. Nun ist Kapital aber dabei nicht irgendein Besitz, sondern nur jenes Gut, welches ausschließlich zu seiner Vermehrung eingesetzt wird. Im 16. Jahrhundert wird dabei im Italienischen zum Beispiel manchmal noch der Besitz von Vieh gemeint, dessen biologische Vermehrung durch Nachwuchs als Zinsen aufgefasst wird.

 

Der oft riesige Grundbesitz eines mittelalterlichen Klosters ist nicht per se Kapital, sondern das wird er zum Beispiel dadurch, dass die in Geld umgesetzten Erträge zum Teil als Kredite ausgegeben werden. Dann wird ein Teil des Geldes, welches abhängige Bauern für ihre frommen Herren erarbeiten, kapitalisiert.

 

Ökonomisch sinnvoll ist ein solcher Kapitalbegriff nur, wenn er sich in Zahlen rechnen lässt, also als Geld aufgefasst werden kann. Kapital tritt dabei nur auf einem Markt (im weitesten Wortsinn) auf. Schließlich wird vom Hauptgut nicht die Qualität vermehrt, sondern die Quantität, der Kapitaleigner verkauft schließlich kein Getreide, um mehr Getreide zu bekommen, sondern einen geldwerten Gewinn. Kapital ist eine quantitative, keine qualitative Größe.

 

Das Wort Kapital oder Hauptgut oder ähnliches verleitet allerdings dazu, sowohl Vorgänge wie Beziehungen unter Menschen darin zu verstecken: Man verdinglicht sie auf diese Weise. Dem werden auch wir nicht ganz entkommen, wenn wir nicht eine völlig neue Begrifflichkeit erfinden wollen und damit unverständlich werden. Kapital wird also auch in diesem Text in zwei Bedeutungen vorkommen: Einmal als jenes Hauptgut, dessen einziger Zweck seine in Geld rechenbare Vermehrung ist, zum anderen als Vorgang, in dem Geld in Arbeit nur zu dem Zweck investiert wird, dass es dabei vermehrt wird. Ich folge hier Karl Marx darin, dass es kein Kapital ohne Arbeit gibt, die es "verwertet". Ich folge ihm allerdings nicht darin, dass Kapital und Arbeit notwendig zwei "Klassen" von Menschen ergeben, da diese Idee sich historisch nicht so klar verifizieren lässt, wie er hoffte, heute schon gar nicht mehr.

 

Kapital gibt es also zum Beispiel schon in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes , - aber eben noch keinen Kapitalismus. Es gibt Eigentum, Kapital, Arbeit, Arbeitsteilung, Geld, Waren, einen Markt bzw. ganz viele Märkte, Landwirtschaft, Handwerk, Produktion, Handel und Konsum von Waren – aber keinen Kapitalismus. Die Masse der vor allem auf dem Lande erwirtschafteten Gelder geht in den Konsum einer kleinen staatstragenden Oberschicht, also nicht in die Hauptsache, sondern die Nebensache eines privilegierten Luxus. Handwerk und Handel können sich bei der Expansion des Reiches immer weniger entfalten, da sie für militärische Zwecke reglementiert und abgeschöpft werden. Kapital macht noch keinen Kapitalismus, nicht einmal viel Kapital. Das liegt daran, dass einzelne Kapitalisten zwar gewiss wichtig waren, aber atypisch und nicht normbildend, und sie wurden von denen, die die Macht in Stadt und Land hatten, zwar benutzt, aber eher verächtlich betrachtet. Und außerdem - sie wurden nicht konstitutiv für die Reiche, die damals bestanden, sie waren ein Aspekt, der nicht ihr Wesen durchtränkte.

 

Das Ideal, dem die nachkamen, die sich das leisten konnten, war eher der Konsum als die Kapitalbildung. Das hieß, der ausgedehnte Handel, die Produktion von Massenwaren und Luxusgütern, alles das zielte vor allem auf den Lebensgenuss einer Oberschicht ab, deren Basis landwirtschaftlich genutzter Großgrundbesitz war, also eine aristokratische Lebensweise. Es fehlt jenes städtische Bürgertum, aus dessen Reihen die kommen, welche innovativ in größerem Umfang Kapitalverwertung zu einem Selbstläufer machen werden. Im übrigen wird das sogenannte Christentum zwar ein wichtiger Faktor bei der Entstehung des Kapitalismus, in dem, was dann entfalteter Kapitalismus wird, hätte es aber gar nicht mehr so entstehen können.

 

Das wird im Mittelalter des lateinischen Abendlandes anders werden. Die Entstehung des Kapitalismus lässt sich im Nachherein in Städten wie Venedig oder Amalfi erahnen, ohne dass er dort schon eindeutig zu belegen ist. Er wird dort beginnen, wo zunächst die Herrenschicht, dann aber nach und nach im sogenannten hohen Mittelalter immer mehr Menschen von seinen sich etablierenden Strukturen abhängig werden; vielleicht sollte man eher sagen, sich abhängig machen. Dazu müssen diese Herren den Kapitaleignern und dann auch den Warenproduzenten mehr Rechte und Freiheiten einräumen. Aber das 10. Jahrhundert und noch das 11. Jahrhundert im Norden liefert vor allem Voraussetzungen dafür: Erste große Kapitaleigner tauchen auf und gewinnen wirtschaftliche Macht, die sie auch außerhalb des wirtschaftlichen Rahmens einzusetzen beginnen.

 

***Vor dem Kapitalismus***

 

Um das zu verdeutlichen, sei auf einige andere Möglichkeiten, mit Einnahmen umzugehen, hingewiesen: Die eine ist, dass sie sofort verbraucht werden und so mehr oder weniger verschwinden. Die andere ist die Schatzbildung, bei den germanisch dominierten Nachfolgereichen des weströmischen Imperiums üblich, und zwar bei Königen, Hochadel, Kirche und Kloster. Mustergültig als Königsschatz, der zentralen Insignie solcher Herrscher, wichtig als Krone oder Szepter, wurde dieser in Kriegen zusammengerafft und geraubt, danach durch Tribute von Unterworfenen vergrößert, und solche Vermehrung mehrte dann Glanz und Ruhm königlicher Macht. Schätze aus Münzen, Gold und Silber, Perlen, Edelsteinen, Elfenbein und Gefäßen dienten aber auch dem Ruhm Gottes und seines Bischofs oder Abtes.

Schatzbildung kommt vor jeder Warenästhetik, wird aber in sie hineinwirken. Zunächst sind da die heiligen Gebrauchsgegenstände einer Kirche, goldene und silberne Kelche, Monstranzen, Tabernakel, Gefäße zur Aufbewahrung von Reliquien und kostbare Textilien. Bischöfe bauen sich auch Residenzen, in denen sie Schätze ansammeln.

Schätze bilden zudem eine Reserve, die in Notzeiten auch zu Geld gemacht werden kann.

 

 

Schatzbildung war schon das, was Hunnen, Awaren und manchmal Wikinger betrieben. Was fing man nun mit solchen Schätzen an: Was von ihnen nicht gehortet wird, wird zielgerichtet verschenkt.

Bis ins „Christentum“ hinein machten viele solche Völker noch etwas, was jeden Kapitalismus unmöglich erscheinen lässt: Sie gaben zumindest Teile solcher Schätze ihren Reichen und Mächtigen mit ins Grab, wo sie allerdings oft der Grabräuber harrten. Es gab schon damals Gier, aber die Leute machten daraus kein Wirtschaftssystem, sondern sie entfachte schiere Gewalttätigkeit.

 

Wenn wir uns noch einmal die germanisch dominierten Folgereiche der Nachantike anschauen: Unter denen, die etwas hatten und darum Macht hatten, war (wie schon seit den bronzezeitlichen Despotien) zunächst das Schenken, das Darbringen von Geschenken wichtiger als jeder Warenverkehr. Geschenke im wesentlichen von Luxuswaren stellen "Freundschaft" her, Wohlverhalten vor allem, und sie sind oft auf Gegenseitigkeit aus, als eine Art nichtkommerzielles Tauschgeschäft.

Ein Sonderfall des Erreichens von Wohlverhalten ist das in riesigen Mengen stattfindende Verschiffen von vor allem Getreide nach Rom bzw. Konstantinopel zum Ruhigstellen großstädtischer Massen, was es heute wieder als Alimentieren großer Teile der Bevölkerung durch den Staat gibt, samt dessen Förderung einer nie dagewesen gewaltigen Amüsierindustrie und Duldung ihrer Verblödung auch durch eine Vielfalt von Rauschdrogen.

Hier werden von Mächtigen Teile bäuerlicher Erträge abgeschöpft, um dann in den Ankauf von Waren umgesetzt zu werden, die dann beispielsweise auch von Päpsten im 6. Jahrhundert für den Ankauf nicht nur von vor allem sizilischem Getreide, sondern auch von billigen Textilien als Geschenke für die städtischen Armen verwendet werden. (ClaudeHandel, S.24)

 

Manche davor liegende Stammeskulturen waren durch ein damit verwandtes Verhalten gekennzeichnet, welches bis ins frühe Mittelalter hineinreichen wird: Gewählte Häuptlinge mussten Talente haben, die dazu führten, dass sie viel besaßen, denn sie mussten soviel haben, dass sie an ihre Leute verschenken konnten. Mit solchen Kulturen des Schenkens wird der Kapitalismus dann im Laufe der Zeit ganz und gar aufräumen, denn das wird für ihn Verschleudern potentiellen Kapitals, also Verschwendung.

 

***Kapital gegen Lebendigkeit***

 

Kapitalverwertung als Vermehrung geschieht über Produktion, Vertrieb und Verkauf von Waren. Dabei muss ein Gewinn herausspringen, also ein lohnendes 'Mehr' - mehr als geldwertes Kapital eingesetzt wurde. Was für einen Markt produziert wird, hängt an der Verkaufserwartung für das Produkt; wie es produziert wird, hängt daran, wie niedrig der Handel die Kosten drücken, also den Kapitaleinsatz senken kann. Einen anderen Inhalt kennt Kapitalverwertung nicht.

 

Dabei schwindet jede Zielsetzung des Handelns, die sich nicht rechnen, in Zahlen wahrnehmen lässt, jeder Wert, der nicht auf einem Markt zu realisieren ist. Alles andere wird Privatsache, in Fluchträume abgeschoben – die erst im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert dann vom Kapitalismus auch noch fast zur Gänze kommerzialisiert werden. Kapitalismus frisst sich durch die Wirklichkeit der Menschen und ihre naturräumliche Umwelt, drückt allem seinen Präge-Stempel auf und plündert es aus.

 

Kapital hat dabei eine zweite wesentliche Seite: Menschen ernähren sich wie andere Tiere von Pflanzen und Tieren; sie leben, indem sie Leben zerstören und zum größten Teil dabei in Abfall verwandeln, der ausgeschieden wird. Soweit sind sie ein Teil der (lebendigen) Natur. Kapital hingegen beutet lebendige Natur, nicht zuletzt die von Menschen, und darüber hinaus alle erreichbaren Ressourcen der Erde nur dazu aus, um in möglichst großem Umfang tote Gegenstände zu vermarkten oder zu schaffen, Waren, deren einziger Zweck für das Kapital ein geldwerter Gewinn ist, der über die Selbsterhaltung des Menschen weit hinausgeht. Damit ist Kapital nicht alleine: Schon die Despoten früher Zivilisationen betrieben zwecks Machtausübung Naturausbeutung und -zerstörung in großem Umfang. Aber der Kapitalismus der letzten tausend Jahre wird sie darin zunehmend übertreffen und ist inzwischen dabei, den Lebensraum Erde zur Gänze zu zerstören.

 

Verschleiernd wird Kapital mit (dem biologischen Begriff) Wachstum gleichgesetzt, tatsächlich ist dieses in der Natur qualitativ, Kapital als schiere Vermehrung ist aber rein quantitativ zu verstehen. Vielmehr zerstört Kapital das, was wächst, also lebendig ist - und damit die Grundlagen allen Lebens. Kapital ersetzt lebendige Natur, wie noch zu zeigen sein wird.

 

***Kapitalist***

 

Kapitalist werden ist zunächst einmal ein alternativer Karriereweg zu dem der Geistlichkeit und des Adels. Man hat keinen Kriegerstatus und kann also nicht mit unverhohlener Gewalttätigkeit operieren, man entweicht aber dem niedrigen Status der ländlichen und städtischen Produzenten und kommt so im besten Fall zu Geld und zu Bedeutung bei denjenigen, die Waren nachfragen. Kapital sowohl anzuhäufen wie zugleich zu vermehren wird so ein zweiter Karriereweg neben dem der militia und der ecclesia. Kapitalisten werden das im wesentlichen im Einvernehmen mit der Herrenschicht tun.

 

Um Klarheit zu schaffen: Ein Handwerker, der Geräte, Rohstoffe und einen Lehrling hat, Waren produziert und verkauft, dabei aber nur auf seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie abzielt, ist kein Kapitalist. Aber in ganz bescheidenem Umfang kann er manchmal, eher selten, ein Unternehmer sein, auch ein „Arbeitgeber“, nicht zuletzt ein Geschäftsmann. Was also macht ihn erst zum Kapitalisten: Es ist die Einstellung und Möglichkeit, einen Teil dessen, was er hat, wesentlich dafür einzusetzen, es zu vermehren, und zwar nicht, weil ihm noch zwei Kinder geboren werden oder seine verwitwete Schwester auch noch unterstützt werden muss, sondern weil dieses 'Mehr' Sinn der ganzen Unternehmung oder eines Teils von ihr wird. Kapital ist kein Ding, sondern ein Vorgang, in dem es begriffen ist, und das ist der seiner Vermehrung. Es wächst oder es ist nicht...

 

Wichtig ist: Kapitalisten sind nicht sparsam beim Konsum, damit sie in der Not haben, sondern damit sie zu mehr Kapital gelangen, welches eben noch mehr werden soll. Kapital schwindet aber, sobald es nicht mehr wird, genauer gesagt, es verschwindet dann ganz. Ein kapitalistischer Markt nun aber, wie noch näher zu erläutern sein wird, ist nicht nur einer der Konkurrenz, wie jeder, sondern diese wird zum Schauplatz von Kämpfen um 'alles oder nichts'. Da Kapital per definitionem wächst, ist das Wachstum des einen eben irgendwann auch der Niedergang des anderen.

 

Man konkurriert schließlich nicht primär um Qualität, Nützlichkeit oder ähnliches, was Handwerker einer Branche zunächst nebeneinander und sogar in derselben Straße und auf demselben Marktplatz bestehen lässt, sondern man konkurriert um den Markt selbst, jeden verfügbaren Markt. Es handelt sich um einen Machtkampf und  nicht mehr um ein Wirtschaften im antiken Wortsinn, eine Ökonomie, oikonomeia, sondern um die Unterwerfung unter ein Prinzip, und zwar unter das Prinzip: Wachsen oder weichen. Nur wächst dabei nichts Lebendiges, sondern dieses vielmehr wird immer mehr aus der Welt verdrängt, bis am Ende das jetzt bald wohl auch den Menschen blühen wird. So wie beim Essen und Trinken hauptsächlich Urin und Kot herauskommt, so beim Kapitalismus hauptsächlich Geld. Und so sieht denn unsere Welt heute auch aus. Man muss es nur ertragen können, hinzuschauen.

 

 

Reichtum schafft Nachfrage

 

Wenn Kapital zunächst im wesentlichen für Handel vonnöten ist und zugleich durch ihn vermehrt wird, und daneben auch über Kreditgeschäfte entsteht und sich vermehrt, dann ist eine Nachfrage nach Waren dafür vonnöten. Bauern brauchen damals selten Gerätschaften oder andere Waren, auch da sie wenig bis gar kein Geld dafür übrig haben. Dennoch beleben sie die ländlichen Märkte etwas mit ihrer Anwesenheit.

 

Das meiste große Eigentum, welches nach der Antike bis zur ersten Jahrtausendwende angehäuft wird, wird aber nicht direkt der Kapitalbildung dienen, also kapitalisiert werden, sondern dient jener Nachfrage, die Kapital erst entstehen lässt und dieses dann vergrößert.

Wenn wir der Frage nachgehen, woher solches großes Eigentum kommt, dann besagte die vormarxsche Theorie, dass es vorwiegend auf Talent und Fähigkeiten beruhte. Inzwischen ist längst klar, dass es (mit Marx) vor allem auf Gewalt beruht, und oft unmittelbar auf Kriegen und ihren Folgen im Inneren wie im Äußeren.

Großes weltliches wie geistliches Eigentum ging entweder aus der Antike in die Zwischenzeit einer Nachantike vor dem Mittelalter direkt über, oder es war Beute aus den Eroberungen und Ansiedlungen germanischer Völkerschaften und besonders bei Klöstern Ergebnis von Schenkungen.

 

Dieser Reichtum besteht im Frankenreich wie vorher in dem der Römer im wesentlichen aus Großgrundbesitz und daraus resultierender Schatzbildung. Er wird vor allem aus der Nahrungsmittelproduktion abgeschöpft. Dazu kommt die ländliche Rohstoffproduktion für das Handwerk: Wolle, Hanf, Leder, Färbemittel für eine Textilproduktion, und auch wieder zunehmender Bergbau für den steigenden Bedarf an Metallen.

Bei der Kirche ist dabei der Privatbesitz jener Bischöfe, die ohnehin meist aus schwerreichen Familien stammten, und der für die Kernzeit des Merowingerreiches für einen Bischof Bertram von Le Mans auf 300 000 ha Land in Westgallien geschätzt wird (Brown2, S.127), mehr oder weniger vom Kirchenbesitz des Bistums zu trennen. Das ist natürlich nichts im Vergleich zu  85 000 Pfund Gold im Jahre 810 im Kirchenschatz des oströmischen Patriarchen von Alexandria.

 

Zum Besitz gehören dann die aufgehäuften Schätze, deren Bedeutung sich am besten an ihren kostbarsten Einzelstücken erkennen lässt, den Reliquienbehältern, die aus sinnlich unscheinbaren und schäbigen Knochen- und Holzstückchen oder Textilfetzen erst etwas hoch wertvolles machen: Reichtum und Heiligkeit fallen hier zusammen, so wie bei weltlichen Schätzen Reichtum und Status. Menschen werden bis heute dazu neigen, sinnlich Wahrgenommenes magisch zu überhöhen, um sich an so gewonnener Bedeutung zu laben.

 

Daneben wollen und müssen höhere Herren ihren Status in Prächtigkeit ausdrücken, wozu zum Beispiel wertvolle Kleiderstoffe, Schmuck und die Ausschmückung ihrer Behausung dienen, aber auch teure Gewürze aus der Ferne insbesondere für vornehme Gastmähler..

Der Status von Kirche und Kloster, ihrer Herren vor allem, muss ebenfalls nach außen dargestellt werden und dient offiziell dem Lobe Gottes, natürlich zugleich aber der prachtvollen Selbstdarstellung ihrer Chefs und des Kollegiums, mit dem sie herrschen. Das hat auch mit den Identifizierungswünschen sich Unterwerfender zu tun; letztere werden durch die Ästhetisierung von Macht und Gewalt erleichtert, die sie auch im Frieden sichtbar machen. Schon Konstantin baute den Christen riesige Basiliken, die mächtig wirkten, was die Bischöfe und ihre Christen auch an ihn band.

 

Die wohl spanische Pilgerin Egeria, die um 385 ins "heilige Land" kam, beschrieb folgendermaßen die Golgathakirche:

Der Schmuck ist wahrlich zu wunderbar für Worte. Man sieht nur Gold und Edelsteine und Seide (...) Die Anzahl und das Gewicht der Kerzen, Lichter, Lampen und was sie sonst beim Gottesdienst verwenden ist unvorstellbar (...) Sie sind unbeschreiblich so wie das großartige Gebäude selbst. Es wurde von Konstantin erbaut und (...) geschmückt mit Gold, Mosaik und kostbarem Marmor, so reich wie es das Reich hergab. (so in Brown2, S.53)

Was heute typisches touristisches Staunen wäre, war damals fromme Ehrfurcht.

 

Die Merowinger-Könige versuchten mit den antiken Vorbildern soweit mitzuhalten, wie sie konnten, und auch Bischöfe tun es Konstantin im Maß ihrer Möglichkeiten nach. Gregor von Tours schreibt in seinen 'Historiae' über die Kathedrale seiner Heimatstadt Clermont:

In ihr ist man der Furcht Gottes inne und einer großen Helligkeit, und die dort beten, bemerken oft, dass ein süßer Duft sie anweht. Ringsum hat das Heiligtum Wände, die mit Mosaiken und vielerlei Marmor geschmückt sind. (II,16) Gesichts- und Geruchssinn verbinden sich zur imaginierten Wahrnehmbarkeit des eigentlich nicht wahrnehmbaren Gottes, was Ehrfurcht hervorruft.

 

Recht bekannt ist die Karriere des Goldschmiedes Eligius zum Hofhandwerker von Merowinger-Königen, dann zum Bischof und schließlich zum Heiligen. In seiner Vita heißt es von König Chlothar (II.):

Dieser König nämlich wollte sich einen besonders feinen Sattel aus Gold und Edelsteinen anfertigen lassen. Das Werk erregte die Bewunderung des Königs, und so stellte er für den Gebrauch des Königs viele Gerätschaften aus Gold und Edelsteinen her, und viele Grabmäler von Heiligen aus Gold, Silber und Edelsteinen...(Nonn, S.77)

 

Peter Brown meint, dass Goldschmiede in den germanischen Nachfolgereichen der Antike höher geschätzt wurden als Maler, "denn die magische Kunst des Goldschmieds bestand darin, kostbares Material, Edelsteine, Gold und Silber (…) zu Symbolen der Macht zu verbinden und zu verdichten." (Brown2, S. 341) Die späteren Tafelgemälde werden mit ihrem Goldgrund diesen Effekt fortzuführen versuchen.

 

In den Reliquienbehältern, durchs frühe bis ins hohe Mittelalter die ersten Objekte fränkischer Goldschmiedekunst, gelingt die noch magischere Kunst, den unsichtbaren Gott des armen Jesus kurioserweise im Reichtum gestalteter Kostbarkeit aufscheinen zu lassen. Im Namen dieses evangelischen Rabbis, der vermutlich nach seiner Taufe keine Münzen in die Hand genommen hätte, werden nun Tempel und Kreuzeszeichen und ähnliche christliche Symbole auf Silbermünzen geprägt.

 

Nachdem Bonifatius um 730 die heilige Eiche in Geismar gefällt hat, möchte

er aus England besonders prächtige Bibel-Handschriften mit goldenen Lettern

geschickt bekommen, damit dem fleischlichen Sinn der Heiden Verehrung für die heilige Schrift eingeprägt werden möge. (in Brown2, S.17) In der Regel wurden solche Prachthandschriften allerdings von Mönchen hergestellt, um schon zuvor den "fleischlichen Sinn" der Christen mit einem prächtigen Gott zu betören. Gemeinhin wurde dann gesagt, das mache man zur Ehre Gottes, als ob dieser auch einen solchen fleischlichen Sinn für sehr irdische, sinnliche Werte besäße. Frühmittelalterliche Buchmalerei präsentiert sich zunächst aus warenästhetischen Zusammenhängen noch herausgenommen, da sie zum guten Teil aus den Skriptorien von Klöstern kommt und weder aus Lohnarbeit stammt noch für einen Markt bestimmt ist. Die derart freien Räume betreffen zwar nicht die Inhalte, die vorwiegend an die (religiösen) Texte gebunden sind, aber doch die Gestaltungskunst, die sich aus der Antike heraus entwickelt und langsam auch vom byzantinischen Einfluss löst.

 

Erhalten ist aus der Zeit Karls ("d.Gr.") um 810 das Urbar, also Gesamtverzeichnis eines augsburgisch-bischöflichen Hofes in Staffelsee mit der Michaelskirche. Die Kirche selbst ist eine Art Schatzkammer:

wir fanden einen Altar, mit Gold und Silber geschmückt, fünf vergoldete Reliquienschreine, mit glänzenden Edelsteinen und Kristallen verziert, dazu ein Kupfergefäß, teilweise vergoldet, ein kleines Reliquienkreuz aus vergoldetem Blattsilber mit einem Riegel, ein zweites kleines Reliquienkreuz aus Gold und Kristall, ein größeres Kreuz aus Gold und Silber mit durchscheinenden Edelsteinen. Es hängt über dem Altar eine teilvergoldete silberne Krone, die 2 Pfund wert ist. Und in der Mitte dieser Krone hängt ein kleines kupfernes, vergoldetes Kreuz und ein kristallener Apfel. Und in dieser Krone hängen kreisförmig 35 Reihen von Perlen in verschiedenen Farben. Es sind dort an angebrachtem Silber 3 Schillinge. Dort sind 4 goldene Ohrringe, 17 Pfennige wert. (usw.usf., in: Kuchenbuch, S.111)

 

Ekkehard von Sankt Gallen lobt um 900 einen Mönch Tuotilo als große Künstlerpersönlichkeit, der ein Kreuz der heiligen Maria … aus dem Gold und Geschmeide wunderbar herrichten ließ. Gold, Silber, Elfenbein sind seine Materialien. (Nonn, S.165) Ein Evangeliar, schreibt derselbe Autor, ließ der Abt von St. Gallen von einem Mönch Sintram schreiben, um den mit seinen Tafeln prunkenden Band mit Hattos Gold- und Edelsteinen zu schmücken. (s.o.S.171)

 

Einige Kirchen werden schließlich immer größer, schmuckvoller, und alle wetteifern um die Prächtigkeit des liturgischen Gerätes. Prächtigkeit gilt für die Adelskirche und das Adelskloster als hohes Gut. Über die adelige Schwester des Bischofs Burchard von Worms heißt es vor 1025 in dessen Vita:

Diese Dame (domina) war nämlich sehr begabt für Frauenarbeiten (opera mulieribus) und höchst tüchtig,, und sie hatte für die verschiedensten Textilarbeiten angelernte Frauen (feminas doctas) um sich; in der Herstellung prächtiger Kleidung übertraf sie aber viele Frauen. (Nonn, S.71)

Zu so viel aristokratischer Wertorientierung passt am Ende, dass sie Abtissin wird.

 

Vor aller späteren Warenästhetik fallen mehrere Dinge auf: Die ästhetischen Normen, die mit der sogenannten Renaissanve für einen neu zu entwickelnden Kunstbegriff auftauchen, scheinen vorläufig kaum eine Rolle zu spielen, und das Niveau antiker Kunstfertigkeit scheint ein Stück weit verfallen zu sein. Ästhetik konzentriert sich auf den Warenwert der Materialien und ihre zusätzliche Möglichkeit, zu glänzen und zu funkeln, wie das bislang für viele Formen der Schatzbildung galt. Bildliche Darstellungen wiederum kämpfen mit den technischen Möglichkeiten und konzentrieren sich stark auf die korrekte Botschaft, die wiedergegeben werden soll.

 

 

Das Problem mit der Religion

 

Das lateinisch-christliche Abendland der Nachantike und des frühen Mittelalters ist eine erheblich von Konflikten und Widersprüchen durchsetzte Welt, und das wird in eine Offenheit führen, die Entfaltung von Kapitalismus ermöglichen wird. Als Widersprüche seien dabei gegensätzliche Vorstellungen und Tatbestände bezeichnet, die sich eigentlich ausschließen würden und darum nach einer Lösung drängen, und in denen in unserem Raum Kapital als Movens, als das zentrale Bewegende möglich wird und nach und nach die Oberhand bekommt. Im Kern wird verallgemeinerte Kapitalbewegung und Warenwelt diese Widersprüche auflösen, geschlossene und kapitalistisch harmonisierte Welten schaffen, um am Ende sich selbst zerstörend in den Widerspruch zwischen seinen Verheißungen und seiner Lebensfeindlichkeit aufzulösen.

 

Ein wesentlicher ist der Widerspruch zwischen der evangelischen Botschaft und der Tatsache, dass ihre Grundforderungen von kaum jemandem befolgt und von den meisten alltäglich ignoriert werden. Eine Religion aber, die statt klarer Normen das alltägliche Verhalten immer wieder neu verhandelt, wie es die Kirche tut, wird nach und nach von der Allgewalt eines sich entfaltenden Kapitalismus überrollt werden.

 

 

Die Kirche vertritt seit ihrer Entstehung die Gegensätze von arm und reich, mächtig und ohnmächtig als gottgewollt. Aber ihre Spitzen übernehmen aus der aristokratischen Grundhaltung der römischen Oberschicht auch die Verachtung für Handel und Finanzgeschäfte.

Im Kern akzeptiert die kirchen-christliche Doktrin nur Subsistenzwirtschaft, wie sie die Bauern betreiben, deren Überfluss an die weltlichen und geistlichen Herren abgehen darf, weil die ihr leibliches und seelisches Wohl beschützen. Stillschweigend geduldet wird auch, wenn Bauern in geringem Umfang schon mal Überschüsse auf einen lokalen Markt bringen.

Andererseits bedienen sich geistliche Herren und Klöster selbst auf dem Markt und kaufen und verkaufen dort auch, wobei es im 10. Jahrhundert auch um das geht, was für Bauern Luxus wäre. Das wird aber in der Praxis ebenso stillschweigend geduldet.

 

Bemängelt wird so nicht der Handel, sondern wenigstens in der Theorie das enthaltene und nicht so benannte Kapital bzw. der daraus erzielte Gewinn. Dieser entspricht nicht dem Gebot der Caritas, der Nächstenliebe. Weniger sündhaft wird er aber, wenn davon an Kirche und Kloster oder direkt an die Armen gespendet wird. Ansonsten operiert die Kirche mit der Vorstellung eines "gerechten Preises", von Waren auf dem Markt, der nicht auf Angebot und Nachfrage gründet. Alles darüber hinaus ist Preiswucher. Zins auf Land oder andere Immobilien hingegen ist christlich, da der Zahlende Nutzen gewinnt.

Kaufleute aber, die mehr als den pretium iustum verlangen, sind Wucherer, und wer Geld gegen Zinsen verleiht, ist ein ganz schlimmer Sünder, denn er nutzt die Not, den Bedarf anderer aus. Dabei bleibt die Vorstellung ganz außen vor, dass Geld als Kapital (ausschließlich) investiert wird, um es zu vermehren, - ein Manko, welches auf der antiken Vorstellung von Geld gründet. (Gilomen, S.8f)

 

Manchmal hält sich die Kirche selbst an solche Vorstellungen, aber des öfteren auch nicht. Mönch Notker ("Balbulus") von St. Gallen berichtet so von einem Bischof, der selbst als viele Hunger litten, sein Getreide möglichst lange im Speicher ließ, um so einen höheren Preis zu erzielen. Von anderen wird dagegen auch erwähnt, dass sie in Notzeiten Massen von Armen speisen. Schon der weltliche Herrscher Karl ("der Große") lässt verkünden:

Wer ein Lehen von uns innehat, soll eindringlich mit Gottes Hilfe dafür Sorge tragen, dass kein dem Lehen zugeordneter Knecht Hungers sterbe; was den Eigenbedarf für seine Leute übersteigt, soll er wie geboten verkaufen. (in Fried, S.230)

Von einem gerechten Preis ist natürlich nicht die Rede.

 

***Gerald und die Gerechtigkeit***

 

Die letztlich antike Vorstellung vom gerechten Preis geht eindrucksvoll in die folgende Geschichte ein, die in einer um 925 von Abt Odo von Cluny geschriebenen Vita des heiligen Grafen Gerald von Aurillac enthalten ist.

 

Ende des 9. Jahrhunderts unternimmt Gerard mehrere Pilger-Reisen zu den heiligen Stätten Roms. Bei einer der Reisen kauft er in der Stadt einige Mäntel (pallia), besser gesagt: Überwürfe, einer davon von jener luxuriösen Sorte, wie sie in Konstantinopel/Byzantion für die feine Gesellschaft hergestellt wurden. Auf dem Rückweg nach Querung der Apeninnen macht er mit seinem Tross Station vor den Mauern des lombardischen Pavia. In der Nähe lagern venezianische Händler, die Waren aus dem Orient verkaufen, und die in den Franken aus Westfranzien Kunden wittern und ihn dazu bringen (!), Tücher und Gewürze aus dem Orient einzukaufen. Offenbar hat er die nötigen Mittel. Einer von ihnen kommt zu Gerards Zelt und sieht einen der kostbaren Mantel. Neugierig fragt er, was der denn wohl gekostet hätte, und als Gerard ihm freimütig antwortet, erklärt der Venezianer, dass so ein kostbares Stück selbst in Konstantinopel (der Zwischenstation zwischen Orient und Italien) viel teurer sei, und gratuliert ihm zu dem überaus günstigen Kauf. Man kann annehmen, der Kaufmann habe das gesagt, um dem Grafen für sein gutes Geschäft zu schmeicheln (Hythe, Society and Politics, S.16), aber der hat nun den Eindruck, er habe den Verkäufer in Rom um seinen „gerechten Preis“ betrogen. Umgehend schickt er einen Dienstboten (servus) zurück, um dort die Differenz zu bezahlen.

 

Bedeutsam ist an der Anekdote nicht, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, sondern dass sie damals für möglich gehalten wird, und wichtig für den Autor ist nur die moralische Aussage. Interessant ist, wie sehr Heiligkeit mit der Idee des gerechten Preises verbunden ist, der ja übrigens nichts anderes mehr als ein Marktpreis ist, aber inzwischen in keinem Widerspruch mehr zu Luxuskonsum steht, der im cluniaszensischen Kosmos durchaus seinen Platz hat. Wenn aber der gerechte Preis etwas ist, wodurch sich (nur) ein Heiliger auszeichnet, dann spricht das Bände über die kirchliche Sicht auf eine christliche Welt, in der nichts seltener ist als Heiligkeit.

 

Es ist unübersehbar, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen, die damals noch völlig verschieden sind: Das immer dichter besiedelte und verstädternde Nord- und Mittelitalien mit seiner Handelsmetropole Venedig und das noch fast ganz landwirtschaftlich geprägte gebirgige Cantal mit seinen christlich überformten Vorstellungen vom gerechten Warentausch.

 

Wichtig ist aber, dass der Weg in die Heiligkeit seit einem halben Jahrtausend nicht mehr von jesuanischer Besitzlosigkeit geprägt sein muss, sondern sich mit einem prächtigen Lebensstil und gehobenem Warenkonsum verträgt. Zudem, was in dieser Geschichte nicht extra erwähnt wird, er passt auch schon durch diese ganze Zeit mit Gewalttätigkeit zusammen, jener nämlich, ohne die ein Graf nicht auskommt, so wenig wie ein Bischof, der damals manchmal längst selbst bewaffneter Krieger zu Pferde ist, wie auch der eine oder andere Abt.

 

Gerard oder Gerald entstammt dem höheren Adel und ist Graf von Aurillac, wo er ein Kloster gründet. Schon früh sucht er laut Odo nach Heiligkeit, was damals nichts anderes als ein christliches Leben in Vollendung meint, und da er nach allgemeiner Ansicht darin erfolgreich ist, nennt man ihn nach seinem Tod einen „Heiligen“. Päpstliche Approbation ist dafür noch nicht erforderlich, aber ein Bericht wie dieser hier, in dem solche Heiligkeit beschrieben und beschreibend begründet wird.

 

 

Durchaus nahmhafte Historiker behaupten bis heute, die Kirche habe Widerstand geleistet gegen jene Entwicklung in den Kapitalismus, von deren Wurzeln hier eine auftaucht, der Handel mit Luxuswaren. Sie habe den Zins, den Kredit auf Zins und den Gewinn beim Warentausch verurteilt. Aber der in dieser Anekdote hier vertretene gerechte (iustus) Preis meint nichts anderes als den fairen Marktpreis, meint also den Markt als Regulativ. Tatsächlich gibt es in den folgenden Jahrhunderten bis ins hohe Mittelalter kirchliche Schriften, die das Zinsnehmen von „Gläubigen“ ähnlich wie im Islam verbieten, aber zu den großen Kreditgebern des frühen Mittelalters gehören durchaus auch reiche Klöster, die selbst reicher sind als die meisten weltlichen Adelsfamilien, und der Luxuskonsum, wie er sich an den gräflichen Gewändern zeigt, ist in den letzten 500 Jahren genauso Sache der meisten Bischöfe gewesen.

 

Der Profit stammt von einem lateinischen Verb, proficere welches unter anderem gewinnen oder nützlich sein meint, wobei das Wort erst nach dem Mittelalter auftaucht. Der von Marx definierte Unterschied zwischen Profit und Gewinn wird selbst von erklärten Marxologen oft übersehen, und wir können ihn durchaus für das allerfrüheste Mittelalter ignorieren, da beides damals – noch vor allem Kapitalismus - gleichgesetzt wird. Die Kirche sagt derweil, dass der Christ nur eines gewinnen solle, nämlich das Himmelreich, aber wo möglich schmückt sie das Inventar ihrer Kathedralen mit Gold und Silber und Edelsteinen, alles natürlich nur zum Lobe Gottes, und ebenso das Inventar der Bischofspaläste. Praktischerweise werden allerdings kostbare Geschenke nicht an die Kirche oder den Bischof, sondern an den Patron der Kirche gemacht, man schenkt also ein kunstvoll graviertes Elfenbeintäfelchen oder ein edelsteingeschmücktes Trinkgefäß dem heiligen Johannes oder der heiligen Radegunde.

 

In den nächsten über tausend Jahren wird der gerechte Preis und der gerechtfertigte Gewinn zu einem Dauerthema. Um 900 ist er nur in der lateinischen Version überliefert. In den bald sich ansatzweise deutsch (teodisc) verstehenden Landen bedeutet „recht“ gerade und richtig (im Englischen später: right). Rechts ist die rechte Hand, mit der die meisten vor allem arbeiten. Gerecht heißt damit „richtig gemacht“. Jenseits allen meist noch wenig verankerten Christentums ist der gerechte Preis dabei allerdings einer, der sich aus Angebot und Nachfrage ergibt.

Das sieht auch Kaiser Karl ("der Große") so. In einem Kapitular von 806 heißt es:

Wer in der Zeit der Getreidereife oder der Ernte ohne Not Getreide oder Wein kauft - aber mit einem begehrlichen Hintergedanken - zum Beispiel um ein großes Fass für zwei Denare zu kaufen und aufzubewahren, bis man es für vier oder sechs Denare oder noch vorteilhafter verkaufen kann, begeht das, was wir einen unehrenhaften Gewinn nennen. Wenn sie es aber ganz im Gegenteil notwendig kaufen, um es für sich selbst aufzubewahren oder an andere zu verteilen, dann nennen wir das ein Geschäft (negotium). (in Audebert/Treffort, S.49)

Das Geschäft ist in der Sprache großer Grundherren nicht gerecht, sondern ehrenhaft. Wucher entsteht, wo man Mittel und Wege findet, den Preis darüber hinaus hoch zu treiben. Der Umgang mit zugleich notwendigem Handel bleibt schwierig.

 

 

Um 900 und besonders danach bringen diejenigen Bauern in Mitteleuropa, die einen Teil ihrer Leistungen an ihren Grundherrn in Geld zu erbringen haben, diesen Teil ihrer Produkte auf den Wochenmarkt, wo sie dafür Gebühren entrichten müssen, und manchmal, in Zukunft sogar immer öfter, werden sie mit einem Höchstpreis konfrontiert, den der Stadtherr oder ein Beamter des regionalen Herren festsetzt, um die Lebensmittelkosten besonders in Mangelzeiten niedrig zu halten. Damit wird die bäuerliche Schufterei mit Zugochsen und Hakenpflug abgewertet zugunsten städtischer Interessen, was der Bauer gewiss nicht für gerecht hält, der Städter aber schon. Gerecht ist daran schon damals nur, dass das Interesse der Mächtigen (hier über die Stadt) das der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Lande überwiegt. Der Stadtherr möchte Unruhen in seinem Bereich vermeiden.

 

Seitdem es in Zivilisationen einen Markt gibt, ist Gerechtigkeit eine Sache „politischer“ und wirtschaftlicher Macht. Klöster legten schon in der Nachantike Speicher an, um Getreide bei guten Ernten zu horten und so den Marktpreis zu halten und es bei folgenden Missernten teurer auf den Markt zu bringen. Das heißt seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen Spekulation und es lässt sich natürlich blendend rechtfertigen, schließlich ist es die Rechtfertigung, die Gerechtigkeit überhaupt erst herstellt, sie ist zu propagierende Ansichtssache, die zur Übereinkunft wird: Das Kloster sorgt für Notzeiten vor.

Nach 1200 wird vom heiligen Thomas von Aquin der Gewinn beim Handel durch den hohen Aufwand des Transportes und des geschäftlichen Risikos gerechtfertigt werden, und auch das ist plausibel und darum „gerecht“. Nur beim Geldverleih hapert es zunächst mit den Begründungen: Es ist Christenpflicht, jemandem in Not zu geben, ohne daraus einen Gewinn zu ziehen. Deshalb werden die christlichen Lombarden und die ebenso christlichen Kawerzen (aus Cahors) fast genauso verachtet wie die Juden: Diesen allen ist das Geldverleih-Geschäft schon früh erlaubt.

 

Das von oben verordnete Recht (ius) wird in den lateinischen Texten der Mächtigen als iustitia durchgesetzt, was praktizierte Gerechtigkeit meint. Für die Kirche ist es inzwischen gerecht, dass die einen (körperlich) arbeiten, die anderen beten und die dritten Krieg führen. Es ist auch gerecht, dass die, die körperlich und produktiv arbeiten, arm sind, denn solche Arbeit macht eben naturgemäß nicht reich und ist dennoch für alle notwendig. Für Handel und Kaufmannschaft ist gerecht, dass sie möglichst unbehindert auf den Märkten einen Gewinn erzielen, ihre Existenzgrundlage. Ihre iustitia aus Angebot und Nachfrage, aus Qualitätssicherung von Ware und Münzwert, aus Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit als Ideal entwickelt bald bürgerlichen Gerechtigkeitssinn: Durch Handel wird man reich, durch produktive Arbeit bleibt man eher arm, und wer gar nichts hat, ist selber schuld, denn nur von nichts kommt nichts. Man bleibt darüber hinaus bei denselben Argumenten wie die Kirche: Es ist so, wie es ist, und Gott hat es so gewollt. Im hohen Mittelalter kommt dann wieder der gottlose Satz auf, jeder sei seines Glückes Schmied, und seitdem ist beides möglich. Gott/Natur/Schicksal bzw.fortuna und andererseits Eigenverantwortlichkeit, die sich diametral gegenüberstehen, können je nach Gusto und zur Not auch gleich hintereinander oder gar gleichzeitig als Argument angebracht erscheinen.

 

Gleich sind an allen Versionen von „Gerechtigkeit“ nur die Maßeinheiten: Länge, Breite, Gewicht, Geldeinheit. Gerechtigkeit ist Angemessenheit, und diese ist unter den Bedingungen von Eigentum und Arbeitsteilung immer eine Machtfrage, ob eine naturgegebene oder eine menschlich gesetzte. Und dazu kommt: Der Faule hätte gerne etwas vom Fleißigen ab, der Dumme selten vom Klugen und der Aufrichtige manchmal vom Hinterhältigen, der den größeren Erfolg hat. Das aber führt hier zu weit vom Weg ab, nämlich am Ende direkt in moderne Politik.

 

 

Der Jesus der Evangelien hatte übrigens ohnehin eine Vorstellung von Gerechtigkeit, die keine Kirche, kein Graf oder Kaufmann hätte ertragen können: In mehreren Gleichnissen des Lukasevangeliums wie dem vom verlorenen Sohn oder den Arbeitern im Weinberg zum Beispiel macht er Belohnung bzw. deren Höhe nicht vom Verdienst, also der Leistung abhängig, sondern ganz im Gegenteil: Der Weinbergsbesitzer zum Beispiel bezahlt am Ende des Tages den, der nur eine Stunde gearbeitet hat, mit demselben Silberstück wie den, der zwölf Stunden dabei war. Der (verlorene) Sohn kehrt wieder zurück, nachdem er sein Erbteil verprasst und verhurt hat und wird von seinem Vater besser behandelt als der andere, der weiter brav bei ihm gearbeitet und ihn unterstützt hat. Damit lässt sich kein Staat machen, nicht wirtschaften, ja kaum leben, aber Jesus war schließlich laut Evangelisten vom nahen Weltende überzeugt und der darauf folgenden Umwertung aller Werte.

 

Das Kirchenchristentum des aufkommenden Kapitalismus betrachtet solche Geschichten mit großem Interesse: Da Kapital Ausdruck eines sehr irdischen Vermehrungs-Begehrens ist, einer gewiss nicht aufs Himmelreich (was immer das sein mag) gerichteten Begierde, kann der Klerus moralischen Druck auf die Kapitaleigner ausüben, sie am Gewinn der Investitionen zu beteiligen. Spenden an die Kirche erhöhen dann die Chance, trotz unchristlichen Wirtschaftens nicht nur an der Hölle vorbeizukommen, sondern durch kirchliche Fürbitten nach dem Hinscheiden eine beschleunigte Reise in paradiesische Gefilde anzutreten.

 

Seitdem gibt es in jeder Beziehung immer mindestens zwei Gerechtigkeiten, die derer, die etwas haben und die derer, die es gerne hätten zum Beispiel. Und es ist eine Faustregel geblieben: Üblicherweise hält der Mensch das, was er meint, tut und besitzt für gerecht, es sei denn, er findet, er tue zu viel dafür, dass er zu wenig hat. Das macht Gerechtigkeit zu einer moralischen Waffe, deren Besitz jede Menge Unheil rechtfertigen kann. Für den Biographen von Gerard von Aurillac ist das noch einfacher: Sein Kloster ist zwar reich, aber er selbst ist als Abt von Cluny rein rechtlich gesehen besitzlos. Und als ziemlich mächtiger Adeliger ist Odo in einer guten Position, Gerechtigkeit zu definieren und Heiligkeit dazu...

 

 

Das Problem der Religion: Lebensfreude und Amüsierkonsum

 

Das nachantike und mittelalterliche Christentum grenzt nicht religiös vermittelte Lebensfreude und Amüsiergewerbe aus. Sogar die unmittelbaren und sublimeren Äußerungen des Geschlechtstriebes gelten als Sünde. Der offensichtlichste und wohl gravierendste Widerspruch in Nachantike und frühem Mittelalter ist aber wohl der zwischen kirchlicher Botschaft und der Wirklichkeit eines offenbar weit verbreiteten Amüsiergewerbes.

 

Die antik-römische Zivilisation hatte Kultur in staatliche und private Inszenierungen einerseits und daneben und weiter unten angesiedelte Folklore andererseits verwandelt, und beide dann am Ende in ein oft erzwungenes Christentum überführt. Daneben gab es in den Städten eine von den Mächtigen subventionierte Amüsierwelt, in der Verrohung und Verblödung der urbanen Massen in halbwegs geordnete Bahnen gelenkt wurden. Diese weite Welt des Amüsements schwindet im Wesen etwas unter den Attacken der mit ihr konkurrierenden Kirche und vor allem wegen schließlich fehlender Geldmittel im Westen.

 

Seitdem konkurrieren zwei Angebote von Erlösung miteinander: Das von der Kirche mit Hilfe der weltlichen Herren verordnete Angebot eines paradiesischen Himmelreiches irgendwann nach dem Tod, welches nicht zuletzt durch die Abwendung von irdischen Vergnügungen erreicht wird, und zum anderen all das, was rein irdisches Vergnügen bereitet und darum für die Masse der mühselig produktiv arbeitenden Bevölkerung Entlastung und Entspannung bietet und für die Herrenmenschen statusgemäßes Amüsement.

 

Es gibt an christliche Feiertage gebundene Feste, in denen sich in Stadt und Land vorchristliche und christliche Elemente mischen. Dazu kommen Feste zu Geburt, Taufe, Heirat und Begräbnis. Es gibt Musik, Tanz, Spaßmacher aller Arten und mündliches Erzählen, wobei diese bei ländlicher und städtischer Bevölkerung und den Herren über sie wohl etwas verschieden sind.

 

Zu unterscheiden ist in die Vergnügen, die man sich selbst bereitet und die zum Teil der Kirche verborgen bleiben, und jene, die professionalisierte Unterhalter und Spaßmacher benötigen. Von Tertullian über Salvian und Augustinus bis zu fränkischen Kirchenversammlungen zieht sich die Liste der Verbote wenigstens für Geistliche, aber in der Antike auch für Weltliche, sich nicht an weltlicher (professioneller) Musik, Tanz und Possenspiel zu erfreuen.

 

554 erklärt der Merowinger-König Childebert nur noch:

In den Nächten vor den Feiertagen sind Trunkenheit, Narrenauftritte und weltliche Lieder ebenso wie an den Feiertagen selbst, an Ostern, zur Geburt des Herrn sowie an den übrigen Feiertagen verboten. Auch dürfen sich am Samstag keine Tänzerinnen auf den Höfen herumtreiben. Wir erlauben dies nicht, weil Gott dadurch beleidigt wird. (in: Hartung, S.173)

 

Der "heilige" Bonifatius soll 743 durchgesetzt haben, dass zukünftig in Kirchen keine weltlichen Reigentänze mehr aufgeführt werden sollen und keine Festmähler mehr stattzufinden haben. Solche Verbote weltlicher Musik in Kirchen, von Tanzveranstaltungen usw. setzen sich durch das ganze Mittelalter bis zu den Reformationen fort.

 

In der Karolingerzeit häufen sich solche Verbote, die offenbar weiter notwendig sind. Das Konzil von Aachen 816 fordert, dass Priester bei Festmählern und Hochzeiten Schauspielen nicht beiwohnen, sondern vor dem Auftritt der Spielleute, der thymelici, sich erheben und das Weite suchen sollen. (in: Hartung, S.126)

 

Zuvor schon formuliert Alkuin:

Das alles verbieten die heiligen Schriften und, wie ich gelesen habe, Augustinus in besonderem Maße: >Weiß denn der Mensch, der den Spielleuten Eingang in sein Haus gewährt, nicht, welche sündigen geistigen Wirrungen hinter ihnen hereindringen?< Aber gerade dies soll er vermeiden, damit der Teufel im christlichen Hause keine Macht finde. (ep. 175)

 

Nur so erfahren wir überhaupt von den Unterhaltungs-Experten dieser Zeit, die offenbar auch Mönche und Priestergemeinschaften erfreuen, weshalb Alkuin an den Bischof von Lindisfarne schreibt:

Sie sollen vielmehr in ihren geistlichen Gemeinschaften das Wort Gottes lesen. Es gehört sich, dem Lektoren zu lauschen und nicht dem Musikanten (citharista), den Worten der Kirchenväter und nicht den heidnischen Gesängen. Es ist nämlich besser, die Armen an seinem Tische zu speisen, als Spielleute und sonstige lasterhafte Personen. (ep.124)

Und schließlich: Gott zu gefallen und für die Armen zu sorgen ist ein höheres Bestreben als um die Gunst der Spielleute zu buhlen und diese auszuhalten. (ep.281)

 

Zweihundert Jahre nach dem Ereignis berichtet Ekkehard von St.Gallen vom Weihnachtsfest Konrads I. in seinem Kloster im zweiten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts: Gaukler tanzten und sprangen; Musikanten spielten und sangen (...), - sehr zum Ungemach der Mönche, wie er schreibt. Falls es nicht so gewesen sein sollte, gilt es jedenfalls als durchaus möglich.

 

Zeitgenössischer ist die in Gerhards Leben des bald heiligen Bischofs Ulrich von Augsburg enthaltene Beschreibung der Aufhebung der Fastenzeit durch den Bischof am Ostersonntag. Darin heißt es:

Zur angegebenen Zeit erschienen so viele Spielleute, dass sie fast die ganze Empore des Saales füllten, wo sie gemäß ihrem Rang standen; sie führten drei Singspiele auf. (...) Gegen Abend ließ der Bischof sich und denen, die an seinem Tisch saßen, frohgestimmt die Becher reichen und bat alle, gemeinsam den dritten >Minneschluck< einander zuzutrinken. (in Goetz, S.194)

 

Unter Bezeichnungen wie histriones und joculatores tauchen im 9./10 Jahrhundert immer wieder in solchen Texten Spielleute auf, Gaukler, Jongleure und anderes Unterhaltungspersonal, umherziehend, am Rande der bodenständigeren Bevölkerung, ehrlos und darum relativ rechtlos. Einerseits handelt es sich dabei um Leute, die ein Repertoire von Geschichten von antiken und nachantiken Helden vorsingen können, andererseits um Zauberkünstler, Bärenführer, Seiltänzer, Tänzerinnen, Kontorsionistinnen und andere Akrobaten, Feuerschlucker und ähnliche, eine Mischung aus Variété und Zirkus. Ansätze, beides voneinander zu trennen, finden erst im 12. Jahrhundert deutlicher statt.

 

Wie erfolglos solche Ermahnungen selbst bei der hohen Geistlichkeit bleiben, erfahren wir in der Lebensbeschreibung des königsnahen Erzbischofs Bardo von Mainz (1031-51) durch Vulkuld:

Er war überaus gütig zu den Spielleuten (joculatores). (...) Er war dazu keineswegs vom Possenreißen angeleitet; es ging ihm lediglich darum, auf die Armut der Bedürftigen bedacht zu sein. (in: Hartung, S.129) Da Bardo schnell für heilig anerkannt wird, dient der Nachsatz dazu, diese Heiligkeit nicht durch sündiges Verhalten zu bekritteln.

 

Gegen Ende des 11. Jahrhunderts erwähnt Adam von Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte zu Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen:

Selten ließ er Spielleute kommen, aber zur Ablenkung von Sorgen und Nöten brauchte er sie zuweilen. Gaukler jedoch, wie sie das Volk gewöhnlich mit unflätigen Gebärden vergnügen, verwies er ganz aus seiner Gegenwart. (in: Hartung, S. 178)

 

Dass sich in Wirklichkeit nichts ändert, belegt auch folgende Passage aus einer von Abaelards Theologien, von einem, der selbst in jüngeren Jahren erotisches Liedgut verfasste:

Warum rufen die Mächtigen und die Kirchenlehrer zu den höchsten Feiertagen, die eigentlich dem Lobe Gottes geweiht sein sollen, Spielleute, Tänzer, Taschenspieler und obszöne Sänger an ihre Tafel und veranstalten mit diesen tagaus, tagein teuflische Feste und belohnen diese auch noch anschließend mit Geschenken, welche sie aus dem Kirchenbesitz und aus den Spenden für die Armen unterschlagen haben und opfern somit auf dem Altar des Dämons. (Theologia summi boni, in: Hartung, S. 131)

 

Romanische Kirchen in Westfranzien und Nordspanien sind bald voll von abschreckend gemeinten Kleinplastiken von Gauklern, Meistern artistischer Verrenkungen und sich obszön verrenkender Tänzerinnen. Sehr oft wird offenbar dem professionellen Amüsiergewerbe, und sicher bis heute oft zu Recht, das Aufreizen des Geschlechtstriebes vorgeworfen, etwas, was auch die Tänze der christlichen Welt betrifft wie etwa den Reigen. Besonders gilt dies aber wohl für die professionellen Tänzerinnen der Nachantike und des frühen Mittelalters, von deren Gegnern auf die biblische Salome verwiesen wird, die mit einem massiv aufreizenden Tanz das Haupt des Johannes einfordert. Solche Tänzerinnen verrenken sich zwecks sexuellen Aufreizens, haben einen nackten Oberkörper und werden als Huren betrachtet.

 

Schließlich sei noch kurz auf den Alkohol verwiesen, der schon damals zum Amüsement dazu gehört und in dem man Kummer und Sorgen ertränken oder aber zuvor Frohsinn ertrinken kann. Schon bei germanischen Völkern gab es wohl rituellen Alkoholkonsum, und in der Nachantike gehörte neben dem gemeinsamen Essen auch das gemeinsame Trinken von Alkohol zu Verbrüderung bzw. Verschwörung. Alpert von Metz berichtet aus frommer Sicht empört über die rituellen Trinkgelage der Kaufleute von Tiel, und die Gilde von St-Omer, widmet ihnen etwa die Hälfte ihrer Statuten.

Auch der hohe weltliche wie geistliche Adel nutzt Gelage mit Essen und reichlich Alkohol für Zwecke der Machtausübung. Solche "Gelage" können dabei zwei, drei Tage andauern.

 

Wer immer vom christlichen Mittelalter redet, darf nicht vergessen, dass er damit sowohl Anspruch wie Wirklichkeit benennt. Und in der enormen und weltweit damals beispiellosen Spanne dazwischen ist viel Raum für die Entstehung des Kapitalismus von seiner Nachfrage- und Konsumseite her.

 

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Zur Lebensfreude der edlen Krieger gehören selbstverständlich Jagd und Krieg, in denen Aggressionen ausgetobt werden können. Das Vergnügen an edler Gewalttätigkeit, vor allem gegen Ende des Jahrhunderts von der Kirche als Opfer beklagt, artet weiterhin des öfteren in enorme Grausamkeit aus, welche (bis heute) Zuschauer fasziniert und die Akteure emotional entfesselt.

 

Wenn Althoff, Keller und andere darauf abheben, dass die ottonischen Herrscher (notgedrungen) mehr als der große Karl auf Verhandlung und Konsensbildung als Herrschaftsinstrument abheben, so geben die Quellen doch – auf einer Ebene darunter – eher her, dass das Moment der Grausamkeit bleibt oder sogar Zuwachs erfährt. Die Lust an der selbstverübten und der als faszinierter Zuschauer begleiteten Grausamkeit scheint für nicht wenige ein Lebenselixir zu bleiben.

 

Bekannt sind die Vorgänge in Rom im 10. Jahrhundert. Als den gegen den Kaiser aufständischen Römern unter Johannes XII. 964 der Kardinaldiakon Johannes in die Hände fällt, den der Papst zur Einladung Ottos geschickt hatte, schneiden sie ihm die Zunge, die Nase und zwei Finger der rechten Hand ab. (Holtzmann, S.204) Kurz darauf übergibt Otto I. Papst Johannes XIII. den von Papst und Kaiser abgefallenen römischen Stadtpräfekten Petrus, der ihm den Bart abschneiden lässt und am Kopfhaar an der Reiterstatue des Marc Aurel öffentlich aufhängt. Dann wird er nackt und verkehrt herum auf einen Esel gesetzt, der eine Glocke am Hals hat, und durch die Stadt geführt wird. Der derart Bestrafte muss das Gesicht zum Schwanz des Esels wenden, die Hände unter denselben halten (!) wobei er am Kopf und an beiden Hüften einen „gefiederten Schlauch“ hat, und er erhält dabei Geißelhiebe. (Holtzmann, S.212)

 

Wie Kaiser Otto III. 998 in Rom mit Gegenpapst und dessen oberstem Parteigänger verfahren lässt, sieht in den Worten von Althoff so aus: „Sie blendeten ihn (Johannes XVI) und verstümmelten seine Nase und Zunge, ehe er nach Rom zu Kaiser und Papst Gregor V. gebracht wurde. Letzterer ließ den Verstümmelten von einer Synode noch förmlich devestieren, indem man ihn der päpstlichen Kleider beraubte und ihn dann, rückwärts auf einem Esel reitend und dessen Schwanz als Zügel benutzend, durch Rom trieb. Noch brutaler verfuhr Otto III. selbst mit Crescentius, als man diesen unter ungeklärten Umständen bei der Belagerung der Engelsburg gefangen nehmen konnte. Er wurde zunächst enthauptet, dann von den Zinnen der Engelsburg herabgestürzt und schließlich mit zwölf Gefährten auf dem Monte Mario an den Beinen aufgehängt und so öffentlich zur Schau gestellt.“ (S.181f)

 

***Tracht und Kleidung, Macht und Geschlechtlichkeit***

 

Durch das Mittelalter und oft noch darüber hinaus ist es Sache einer kleinen Oberschicht, sich fertige Bekleidung zu kaufen oder von abhängigen Arbeiterinnen selbst herstellen zu lassen. Dort, wo sich das nachvollziehen lässt, nämlich in der Oberschicht, schmücken sich die Menschen zwar noch nicht mit dem Schnitt, aber mit der Qualität der Bekleidung, also der der Stoffe. Dazu kommen Spangen, die das Kleid zusammenhalten und eben zu diesem Zweck kunstvoll gearbeitete Gürtel. Und es gibt, insbesondere für Frauen, zusätzliche Schmuckstücke.

 

In den meisten Haushalten werden Stoffe aus Wolle und Leinen und dann Bekleidungsstücke selbst hergestellt. Das ist Sache der Frauen, die damals noch nicht einen Beruf, sondern viele Fertigkeiten haben und die Bekleidung im Haus herstellen können, während der Mann draußen bei den Schafen für die Wolle und auf den Feldern für das Leinen beim Flachsanbau zuständig ist. Später werden Rohstoffe auch eingekauft und von den Frauen über viele Arbeitsgänge in Tuche verwandelt.

 

Das mittelalterliche Wort im deutschen Sprachraum ist „Tracht“, das, was man trägt, erst gegen Ende des Mittelalters wird es in der Stadt und in vornehmeren Kreisen durch das Wort „Kleidung“ abgelöst. Kleid meinte zuvor „Tuch“, und die „Kleidung“ löst sich von der „Tracht“ in dem Maße, in dem sie von schnelleren Moden abgelöst wird.

Tracht gibt es auf dem Dorf noch bis in die Industrialisierung der Landwirtschaft hinein, bis das Dorf also nur noch eine Größeneinheit von Siedlung ist. Heute ist Tracht kommerzialisierte Folklore, noch eine weitere Mode-Narretei, nostalgisches oder touristisches Feierabendvergnügen.

 

Nach diesen Vorbemerkungen, die den Blick etwas schärfen sollen, nun zu dem, worum es vor allem gehen soll: das Verhältnis von Körperlichkeit zu Bekleidung, die in der Nachantike bereits zu einem Spiel mit (noch geringer) partieller Entblößung wird, zu einem vor allem weiblichen Machtspiel. Ich bleibe dabei in unserer Gegend, in Mitteleuropa.

Bei heidnischen Germanen und dann ins christliche Mittelalter hinein bedeckt, "bekleidet" das Tuch den ganzen Körper und in der Regel auch Arme und Beine. Zudem ist bei Frauen Kopfbedeckung üblich, Mädchen tragen das Haar offen, (verheiratete) Frauen zumeist geflochten und hochgesteckt.

 

Männer und Frauen bedecken Hintern und Scham, die Bereiche von Fortpflanzung und Ausscheidung so, dass sie nicht prominent hervortreten, also mit fallendem Tuch, was immer sie darunter tragen. Man kann und will sich Kleidung noch gar nicht so auf den Leib schneidern, wie das im sogenannten hohen Mittelalter möglich und üblich wird. Indem Germanen dann die römische Mode übernehmen, den Gürtel nicht mehr unter einem überhängenden Stück Stoff zu verbergen, beginnt eine erste Form der Körpermodellierung, die zunächst die Taille zeigt. Frauen in einigen Gegenden beginnen dann relativ früh, den Gürtel unter der Brust zu tragen, wodurch sich die weibliche Oberweite besser abzeichnet.

 

Das, was dann passiert, ist ein Spezifikum des christlichen Abendlandes und ein Korrelat der christlichen Versuche, den Geschlechtstrieb einzudämmen. Das kirchliche Gebot der Keuschheit produziert nämlich eine entsprechende Gegenreaktion. Frauen der Oberschicht beginnen mit der Entblößung des Areals unter dem Hals (frz: col, woraus das décolleté entstehen wird), um den männlichen Blick wie den der weiblichen Konkurrenz in Richtung ihrer Brüste zu lenken. Das betrifft zunächst vor allem Frauen, die von körperlicher Arbeit befreit sind – bis auf die nicht unerhebliche des Kinderkriegens und die auch nicht unerhebliche, den Männern bei der Befriedigung ihres Geschlechtstriebes gefällig zu sein.

 

Diese bescheidenen Ansätze zur Modellierung und Zurschaustellung des Körpers werden ihren entscheidenden Schub durch das Erlernen des Schnitts im Hochmittelalter bekommen, also des Zurechtschneidens und Vernähens des Stoffes so, dass er nicht ungefähr die Umfänge abbildet, sondern genau die Körperlinien.

 

Damit beginnt in großem Maße das erotische Machtspiel der gekonnten Erregung des Begehrens, des triumphalen Auftritts des machtvollen Körpers und einer Intensivierung weiblicher Konkurrenz.

 

Noch einmal zurück: Mann und Frau gehen im Frankenreich unter romanischem Einfluss zur Tunika über, beim Krieger kürzer und bei der möglichst Schönen länger. Römisch ist auch das sichtbare Tragen des Gürtels, der bei den Franken zunächst unter einer Gewandfalte versteckt ist. Unrömisch sind die (männlichen) Hosen und und die Hosenbänder, mit denen sie bis zum Knie geschnürt werden. Die Schuhe sind aus einem Stück Leder, das oben zusammengebunden wird – zum Bundschuh. (Die Unterwäsche besteht wohl aus ebenso langer Unterhose und ähnlich geformtem Unterhemd, soweit man das noch rekonstruieren kann).

 

Fränkische Frauen hatten, bevor sie zur römischen Mode übergehen, ein Kleidungsstück aus einem Stück gewebten Stoff, welches zusammengehalten werden muss, oben zuerst an der Schulter. Zu diesem Zweck gibt es eine Art Sicherheitsnadeln, die unter einer runden, tierförmigen oder bügelartigen Fibel versteckt werden. Solche Fibeln werden mit der römischen Mode überflüssig zum Zusammenhalten des Textils, werden aber sehr lange weitergetragen, und zwar einmal als Schmuckstücke, aus denen sich dann später die Broschen entwickeln, und zum anderen als Applikationen am Gürtel oder in der Nähe des Gürtels. Männer und Frauen tragen keine Handtaschen, sondern haben die Taschen an einem „Gehänge“ befestigt, welches meist aus mehreren Schnüren besteht. Außer Taschen werden bei Frauen daran auch Amulette befestigt, Behälter für Heilkräuter und diverser Schmuck.

 

Jede Frau, die "etwas auf sich hält", trägt zwei solche Gehänge, woran man noch schmucke Fibeln befestigen kann, um sie zu halten. Das zweite sitzt in der Mitte auf dem Bauch und baumelt so zwischen den Beinen. Ordentliche Römer, und das sind bald nur noch die Oströmer, finden das alles skurril und lächerlich, wie zu lesen ist.

 

Dazu leisten sich Frauen auch noch einen Überwurf als Mantelart über der Tunika, und dieser Überwurf wird ebenfalls mit einer Fibel befestigt, in der Spätzeit der Franken ist das bei Wohlhabenden eine große runde Fibel, ein Prachtstück sozusagen.

 

Eine Frau trägt also (vielleicht nicht bei der Arbeit und nur, wenn sie wohlhabend ist) zwei Bügelfibeln und zwei Rundfibeln, möglichst versilbert oder vergoldet und mit Halbedelsteinen besetzt. Darüber hinaus gibt es Schmuck am sogenannten „Gehänge“, dazu Ketten aus bunten Glasperlen, wenn sie nicht ganz so reich ist.

 

Es ist neben der Eitelkeit der Status, der in Kleidung und Schmuck ausgedrückt wird. Laut Einhards Vita trägt Karl ("der Große") an Festtagen ein golddurchwebtes Gewand, Schuhe mit edlen Steinen und einen Mantel mit goldener Spange (cap.23). Im 10. Jahrhundert wird das zum Auftritt aller Vornehmen, die sich das leisten können, ergänzt noch durch goldene Schnürbänder an den Beinen. Dazu kommen mit Gold und Silber (zum Beispiel am Hals) geschmückte Rassepferde, die laut Rather von Verona bei bischöflichen Pferden noch mit vergoldeten Zügeln und silberner Trense ausgestattet sind.

 

Schon bevor Kleider ästhetische Qualitäten erhielten, schmückten sich Menschen, wie wir das heute formulieren würden. Als erstes deformierten sie dabei - und schon in Steinzeitkulturen - gelegentlich den Kopf, die Lippen des Mundes, den Hals, später manchmal die Füße von Frauen. Sie bemalten Gesicht und Körper, tätowierten sich und behängten sich mit Ketten. Die erste Etappe der Globalisierung begann auch mit dem Handel mit Bernsteinen, Edelsteinen und anderem Glitzerkram.

In frühen Zivilisationen kommen besondere Bekleidungen für bestimmte Ämter und Ränge, besondere Frisuren und anderer Kopfschmuck dazu.

 

Die Ästhetisierung von Körpern mithilfe von Produkten menschlicher Arbeit beginnt ganz früh dort, wo Menschen sie sich leisten können. Das Wort schön bezeichnet ursprünglich im Germanischen und Althochdeutschen das, was man als rein, sauber, glänzend ansehen konnte, wozu auch gehörte, dass es „glatt“ war und so schimmern konnte. Das Wort „Schmuck“ fehlt in dieser Zeit noch, ebenso wie das Wort „Pracht“ in seiner neuhochdeutschen Bedeutung. Aber gerade diese beiden heutigen Wörter benennen etwas, was vor allem Kapitalismus ästhetisch wichtig ist. Dafür gab es als Wort die „Zier“, aus dem Adjektiv „zier“ abgeleitet, welches wiederum laut Herkunftsduden „glänzend, prächtig, herrlich“ im heutigen Wortsinn bedeutete.

 

 

Auf die Dauer, noch unter den Karolingern, wird es zwei parallele Gründe geben, solche enormen Werte an Schmuck nicht mehr in der Erde zu vergraben: Offiziell heißt es, dass Christen ohnehin nichts ins Himmelreich oder die Hölle mitnehmen können. Tatsächlich dauert es lange, bis die Leute das glauben. Sie produzieren also nun wertlosere Kopien ihrer Tracht samt Schmuck und Waffen und nehmen die dann doch unter die Erde mit.

 

Damit geht das Begehren nach Macht und die Eitelkeit natürlich weiter, aber nun gilt es als Verschwendung, die Marktwerte zu vergraben. Stattdessen spendet man an Kirchen und Klöster, um sich so das Himmelreich ein wenig zu erkaufen. Damit verlagert sich immer mehr Hortbildung dorthin.

 

 

Das Problem mit dem antiken Erbe: Eros und Sexus

 

Zunächst einmal ist festzustellen, dass das eine deutsche Wort "Liebe" in drei lateinische aufgeteilt war: Die caritas, die zur christlichen Nächstenliebe wird, die dilectio, die persönliche Zuneigung mit einem Unterton erotischer Sinnlichkeit, und amor, jene Liebe, die die ersten zwei Bedeutungsbereiche mitumfassen kann, aber auch die leibliche sexuelle Praxis enthält.

 

Das christlich-lateinische Mittelalter tut sich dabei semantisch so schwer wie jede darauf folgende Neuzeit in ihren Volkssprachen. In dem erst kürzlich aufgefundenen Briefwechsel zweier Liebender aus dem Hochmittelalter wirbeln alle drei Begriffe durcheinander und werden dann sicherheitshalber in einer Satzperiode auch schon einmal alle drei aufgeführt. (Ex epistulis duorum amantium, zweisprachig bei Manesse, Zürich, 2005)

Dabei findet allerdings immer noch nicht jene Sprachverwahrlosung statt, die im aktuellen Denglisch zu solchen Abartigkeiten wie dem Ausdruck "Liebe machen" oder "Sex" für den Koitus oder verwandte Formen der Triebabfuhr führt.

 

Mit den Völkerwanderungen trifft germanische Kunstfertigkeit auf die antik-römische und nicht zuletzt auf heidnisch-römische. Auch wenn die Beispiele hier unten Künstlern des frühen Mittelalters wohl nicht als Vorbilder zwecks Umarbeitung zur Verfügung standen, zeigen sie doch etwas von der breiten Palette antiker erotischer Kunst, die ihnen wohl kaum völlig unbekannt war.

 

So etwas wird es im lateinisch-christlichen Abendland nicht geben, obwohl bald in Kleinplastiken mancher romanischer Kirchen offen sexualisierte Themen auftauchen, die vor genau dem warnen, was in der Antike entweder propagiert oder zumindest humoristisch betrachtet wurde.

 

***Das Lied der Lieder***

 

Im Grunde lassen sich die beleseneren Vorstellungen von Liebe im Mittelalter, soweit verschriftlicht, vor allem auf einige wenige Texte/Autoren zurückführen. Da ist zum ersten das hebräische 'Lied der Lieder', lateinisch der 'cantus canticorum', ein aus dem sonstigen jüdischen Textgut herausfallender und auf jeden Fall gar nicht christlicher Text, der aber im Hochmittelalter allegorisch ins Christliche umdeklariert wird. Da sind die Versdichtungen des Ovid zum Thema Liebe (Liebeskunst, Amores und Remedia amores, aber auch die Heroides), die das Mittelalter hindurch Klöster beflügeln, wiewohl sie nach christlichen Vorstellungen eigentlich wenigstens zum Teil als frivol gelten mussten (insbesondere die ersten beiden), die aber im späteren Mittelalter auch einer klerikalen Umdeutung unterzogen werden. Da ist schließlich das ganze dreizehnte Kapitel des ersten Briefes des Paulus an die christliche Gemeinde in Korinth als Beispiel vollständiger Sublimierung des Eros und der ganz andere schöne Cicero-Text 'De amicita', - Von der Freundschaft.

 

Das Lied der Lieder, das gewiss wenig mit einem König Salomo zu tun hat ("Hohelied Salomonis" ist ein Fehl-Titel), wirkt bei genauerem Lesen (in meinem Fall in lateinischen Übersetzungen) wie eine Liedsammlung mit Liedern, die von unterschiedlichen Personen gesungen werden. Es gibt keinerlei wahrnehmbaren religiösen Kontext, weswegen es wohl ein Glücksfall ist, dass dieser pagane ("heidnische") Text in die heiligen Schriften der Juden und Christen geraten ist.

Es handelt sich um den Lobpreis sinnlicher Liebe zwischen einem Mann und einem Mädchen (Sulamith) und einen sehr sinnlichen Lobpreis von Geliebtem und Geliebter. Das ganze wird in eine Kulturlandschaft des vorderen Orient eingebettet, deren sinnliche Schönheit, Fruchtbarkeit genauso gepriesen werden wie ihre Eignung zum Stelldichein des Liebespaares:

 

Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein. An Duft gar köstlich sind deine Salben, ausgegossenes Salböl ist dein Name. Darum lieben dich die Mädchen...

Ein Myrthenbeutelchen ist mir mein Geliebter, das zwischen meinen Brüsten ruht. Eine Blütentraube vom Hennastrauch ist mir mein Geliebter ...

Siehe, du bist schön, deine Augen blicken wie Tauben

Siehe, auch du bist schön, mein Geliebter, und hold, und unser Lager ist frisches Grün. ...

Seine Linke liegt unter meinem Kopf und seine Rechte umfasst mich...

Siehe, schön bist du, meine Freundin. Siehe, du bist schön! Deine Augen leuchten wie Tauben hinter deinem Schleier hervor. ... Wie eine karmesinrote Schnur sind deine Lippen, und dein Mund ist lieblich. Wie eine Granatapfelscheibe schimmert deine Schläfe hinter deinem Schleier hervor...

Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut. Du hast mir mein Herz geraubt mit einem einzigen Blick aus deinen Augen...

Esst Freunde, trinkt und berauscht euch an der Liebe...

Die Biegungen deiner Hüften sind wie Halsgeschmeide, ein Werk von Künstlerhand. Dein Schoß ist eine runde Schale. ... deine Brüste sind wie zwei Kitze, Zwillinge der Gazelle...

 

Komm, mein Geliebter, lass uns aufs Feld hinausgehen! Wir wollen unter Hennasträuchern die Nacht verbringen. Wir wollen uns früh aufmachen zu den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock treibt, die Weinblüte ausgegangen ist, ob die Granatapfelbäume blühen. Dort will ich dir meine Liebe schenken... (etc.)

 

Für die mittelalterliche Liebeslyrik sind solche Zeilen ergiebig, weil sie helfen, eine Erniedrigung der Frau in der erotischen Begegnung zu vermeiden, sie ist genauso aktiv Liebende (Verliebte?) wie der Mann. Zum anderen helfen diese Zeilen auch, der Abwertung des Eros durch Kirche und Kloster entgegenzutreten, sinnliche Lust tritt hier ohne jede Form der Abwertung, sozusagen unbefangen auf.

 

***Ovid***

 

Fast zeitgleich mit den Briefen des Paulus schreibt Ovid seine 'Amores', seine 'Liebeskunst' und seine 'Heilmittel' gegen die Liebe' und vermutlich werden sie dazu beitragen, dass er von Kaiser Augustus ans Schwarze Meer verbannt wird.

 

In dieser von eleganter, sich von Zeile zu Zeile schwingender Poesie beflügelten Dichtung propagiert ein lyrisches Ich einen uneingeschränkten erotischen Hedonismus. Dass dieser dann im Mittelalter so enormen Einfluss ausüben wird, zeigt zum einen, wie wenig - später - dieses Mittelalter überhaupt noch verstanden wird, bekannt ist, erklärt sich aber andererseits aus der Parallelität von unbeschränkter Gottesliebe und schrankenlosem Eros. In beiden Fällen geht es um die Haltung eines bedingungslosen Absolutismus.

 

In den Briefen zwischen der Äbtissin Heloissa und dem Mönch und Priester Peter Abaelard ebenso wie in seiner in Briefform gehaltenen Autobiographie wird es um 1100 nur so von Ovidzitaten wimmeln. Abaelard war wegen seines Verhältnisses und seines Verhaltens gegenüber Heloissa nächtens überfallen und kastriert worden. In ihren Briefen geht es mehr als alles andere um die Frage nach Wegen der Sublimierung des erotischen Strebens – von der wilden Begierde hin zur Süße eines friedlichen Liebens.

 

Zunächst zu Ovid. In der Prosaübersetzung von Michael von Albrecht aus dem ersten Buch der 'Amores' das fünfte Gedicht:

Es war heiß, und der Tag war schon über die Mittagsstunde vorgerückt; ich streckte meine Glieder mitten auf dem Bett aus, um mich auszuruhen. Ein Fensterladen war etwas geöffnet, der andere geschlossen, ein Licht, wie wir es vom Walde kennen, zart wie die Dämmerung, wenn die Sonne entflieht oder wenn die Nacht vergangen, der Tag aber noch nicht angebrochen ist. Auf solches Licht haben scheue Mädchen Anspruch; dort kann schüchterne Zurückhaltung (timidus pudor) hoffen, ein Versteck zu finden. Sieh, da kommt Corinna, gehüllt in eine Tunika ohne Gürtel; das gescheitelte Haar fällt ihr offen über den schneeweißen Hals: So soll die schöne Semiramis in ihr Brautgemach gegangen sein oder Lais, die vielgeliebte. Ich entriss ihr das Kleid, das freilich zu dünn war, um sonderlich zu stören. Sie aber kämpfte darum, sich damit zu bedecken. Doch da sie kämpfte wie eine, die nicht siegen will, fiel sie mühelos durch eigenen Verrat. Als sie mir hüllenlos vor Augen stand, war an ihrem ganzen Körper nirgends ein Makel zu finden: Welche Schultern, welche Arme habe ich gesehen und berührt! Wie bot sich die Form ihrer Brüste dem Fingerdruck dar! Wie schlank war der Leib unter dem straffen Busen ( planus sub pectore venter)! Wie edel die Wölbung der Hüfte, wie jugendlich der Schenkel! Wozu Einzelnes aufzählen? Alles, was ich sah, war vollkommen. Nackt, wie sie war, drückte ich sie immer wieder an mich. Wer kennt das Weitere nicht? Ermattet ruhten wir beide. Mögen mir solche Mittage oft zuteil werden! (Reclam-Heftchen UB Nr.1361)

 

Der erotische Hedonismus des Ovid vermittelt in seinen frühen Gedichten im Unterschied zum philosophischen des Epikur ein Gefühl spielerischer Leichtigkeit, was neben dem Inhalt auch die Sprachform im lateinischen Original hergibt. Diese Idealisierung des sinnlichen Eros gelingt nur als poetische Verzauberung, und die ist ein Spiel. Dessen eines Element ist das spielerische Verschränken von Keuschheit und Begehren; in anderen Gedichten kommt das zweite Element dazu, die Liebe schlägt Wunden, die nach Heilung drängen (der Pfeil des Amor).

 

Ovids 'Ars amatoria', Liebeskunst, unterrichtet in der Erfüllung erotischen Begehrens und in der Schmerzvermeidung. Die 'Remedia', die Abhilfen, konzentrieren sich auf letzteres. Am kunstvollsten sind am Ende die 'Heroides', die Liebesbriefe verlassener Frauen, in denen nur noch der Schmerz und die Erinnerung bleibt.

 

Auf der Suche nach den Gründen des enormen Einflusses Ovids im lateinischen Mittelalter bis in den kirchlichen und klösterlichen Bereich hinein ist sicher zunächst auf die große Kunstfertigkeit zu verweisen. Des weiteren ist das Verabsolutieren der Liebe etwas, was eine gewisse Analogie zur Liebesbotschaft des Neuen Testamentes aufweist: Wer sich ihm ganz hingibt, findet im christlichen Gott DEN Gott der Liebe, nur ist angestrebt, dieses Lieben ganz von irdischem Begehren zu lösen.

 

In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bereits wird dieser Ovid Unterrichtstext in Schulen des Klerus, und verbreitet sich unter ihm derart, dass er nun lateinische Liebesgedichte unter seinem Einfluss dichtet und verbreitet. Das ist nicht verwunderlich, denn ein großer Teil dieses Klerus hat durchaus ein eigenes Sexualleben mit Frauen.