Körper 3: KÖRPERLICHKEIT, SEXUS, EROS UND NATUR (12.Jh. bis 1250)

 

Noch einmal das Obszöne

Das Lied der Lieder

Reinigung

Ermengard und Bertrada

Philippa und Wilhelm

Wilhelm der Troubadour

Bernart de Ventadorn

Eva und die hohe Minne

Lust, Leid und Schmerz

Glaubenslust

Hövescheit: Herrschaft und Selbstbeherrschung (Unhöfische Triebabfuhr / Alkohol)

Höfe: Ehe, Familie und Verwandtschaft

Kleidermode

Geschlechtlichkeit in Ritterromanen um 1200

Der Kommentar des Andreas Capellanus

Lyrische Natur

Die arbeitenden Menschen (Amüsement unterhalb der höfischen Sphäre)

 

 

In diesem Großkapitel wird es im wesentlichen um jenen höheren Adel gehen, der anfängt, sogenannte höfische Lebensformen zu etablieren. (Großkapitel...). Diese beginnen in Text und Bild aufzutauchen, wobei es aber wohl mehr um deren Propagierung als um bereits reale Praxis geht. Es ist aber zunächst auch immer noch die Zeit jener romanischen Kleinplastiken, in denen das Verwerfliche bis hin zum Obszönen breiten Raum einnimmt (Großkapitel ...). Aber mit dem Auftauchen der sogenannten Gotik werden sie zunächst verniedlicht und dann verschwinden.

 

Wir befinden uns in der Zeit der Entfaltung von Kapitalismus, wobei die Handelsstädte des Mittelmeerraumes noch ihren Vorsprung behalten. Aber zunehmend verallgemeinert sich jener Vorgang, in dem einmal eine Herrenschicht Teile der Produktion von Landwirtschaft und Handwerk abschöpft, damit auf dem Markt Waren kauft und dem Handel so Kapitalbildung ermöglicht.

Inzwischen wächst zudem mit den Städten deren Gewerbe, es bildet sich eine unteradelige Oberschicht, die in die Führung der Städte einbezogen wird und selbst auf dem Markt Waren nachfragt. Neben den immer festgelegteren Regeln feudaler Strukturen gewinnen die des Marktes und des Kapitals eine Bedeutung, die wirtschaftlich die auf Großgrundbesitz basierenden zu überwuchern anfangen, ohne aber im Norden und Westen deren politische Machtposition mindern zu können.

 

Es sind ritterlich-höfische und daneben und sich wo möglich an ihnen orientierend bürgerliche Körper-Vorstellungen, die entwickelt werden. In ihnen wird das, was vom Christentum integrierbar ist, in einen explizit weltlichen Raum hineintransformiert und der Rest in einen kirchlichen Raum förmlicher abgeschieden. In diesem Vorgang, der sehr stark auch einer der Erotisierung des Sexus ist und der Verfeinerung des Gefühlshaushaltes, wird die Lust und überhaupt irdisches Vergnügen stärker einem Anspruch zivilisierter Ordentlichkeit unterzogen, eine Bemühung, die das, was wir bislang anachronistisch als das Obszöne im weitesten Sinne betrachtet haben, nun tatsächlich soweit als solches sieht, dass es aus der Öffentlichkeit nach und nach verschwindet und sich in die dunkleren Sphären unterhalb des Bewussten senkt. 

 

Damit ist ein tatsächlich zur Gänze nicht mehr antikes Zeitalter angebrochen, mit wesentlich komplizierter strukturierten Persönlichkeiten, die einen möglichst stabilen Zuckerguß über das komplexer werdende Innere legen und dieses nach Kräften zu verleugnen versuchen. Am offensichtlichsten wird das noch bei der interessantesten überlieferten Persönlichkeit der Übergangszeit, jenem Herzog Wilhelm von Aquitanien, der als der erste Troubadour gilt.

 

Was aus der Korrektheit der Öffentlichkeit und dann aus dem Bewusstsein in jenen dunklen Bereich darunter verlegt wird, ist unmittelbarer Auseinandersetzung und Bearbeitung entzogen, aber dadurch weder weg noch weniger virulent. Ganz im Gegenteil bricht es sich dort explosiv Bahn, wo es in Übereinstimmung mit der Macht dazu Rechtfertigung findet. Dazu mag das folgende Beispiel dienen.

 

 

Noch einmal das Obszöne

 

Das hohe Mittelalter spricht zwar vom sexuellen Begehren und der Liebe, aber es dauert lange, bis es zu erotischen bildlichen Darstellungen kommt. Stattdessen wird in Bildern das offen Sexuelle zunächst weiterhin vornehmlich aggressiv-obszön, es ist dabei das, wovon die Kirche meint, dass es genau das unbezähmt ohnehin sei.

 

Das Relief aus dem Mailänder Castello-Museum stammt vielleicht aus der Zeit der Italienzüge Kaiser Friedrichs I. Barbarossa und bezeugte dann den wiederaufflackernden Stolz der Mailänder nach der Zerstörung ihrer Stadt durch den Kaiser und ihrem Wiederaufbau. An einem Stadttor angebracht, zeigt es vielleicht die Gemahlin des Kaisers, Kaiserin Beatrix (von Burgund), wie sie in obszöner Pose ihr Gewand vorne hebt, so dass die Scham entblößt ist, und wie sie wie eine Hure (?) mit dem Rasiermesser sich die Schamhaare abrasiert. Bei der Gelegenheit zeigt sie hier ihre unbehaarten Schamlippen. Sie ist dadurch offen für den aggressiven Spott der Abgehärteten und die Abscheu der Frommen.

Die Anstrengungen der weiteren Zivilisierungen werden von nun an am Rand des jeweils gerade Korrekten Energien aus dem unterbewussten Raum in den bewusster Aktivität zerren. Die Wirklichkeit zerteilt sich in eine erlaubte und eine verbotene und zugleich mindestens unter der Hand anerkannte, Sublimierung und Moralisierung der Geschlechterbeziehungen gehen zusammen mit der zunehmenden Etablierung und Legalisierung von Prostitution, das immer allgemeinere Propagieren von Frieden mit dem weiter perfektionierten massenhaften Töten und Zerstören, wenn es nur einem guten Zweck dient.

 

Wenn die obige Deutung stimmt, dann ist sie ein gutes Beispiel dafür, wie der offiziell ins Dunkel versenkte Sexus sich Bahn bricht in aggressiver politischer Propaganda. Das beginnt schon mit der massiven Kritik am Geschlechtsleben Kaiser Heinrichs IV.  und wird dann seine Blüte bei den letzten Staufern finden.

Der Dominikaner Iacopo d'Acqui schreibt so kurz vor 1300 über den König beider Sizilien: König Manfred hatte wie ein zweiter Salomo schönste Frauen und Mädchen ohne Zahl zu seinem Willen. Und wenn er lange Zeit gelebt hätte, hätte er ganz Italien in den Brunnen der Lüste versenkt, und die Kirche wäre völlig heruntergekommen. (in Staufer und Italien, S.269)

 

Der bei obiger öffentlicher und eher ungewöhnlicher Darstellung direkt auf Scham und Scheide gerichtete männliche Blick wird alltäglich erst dann dorthin gezogen, wenn im späten 17. Jahrhundert die ersten hochadeligen Damen Hosen zum Ausreiten anziehen. Bis dahin lenken ihn lange und meist nach unten weiter werdende Röcke davon ab und auf Taille und Brüste hin. Entsprechend sitzen Frauen zu Pferde im Damensattel. Im übrigen wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Schenkel öffentlich einigermaßen zusammenhalten und sich nicht durch Öffnung derselben den Männern zum Koitus offerieren. Wenn in der um 1225 geschriebenen Biographie des Guillaume de Maréchal dessen Vater der fliehenden "Kaiserin" Mathilda empfiehlt, nicht wie eine Frau auf dem Pferd zu sitzen, sondern zwecks schnelleren Reitens wie ein Mann mit auseinandergenommenen Beinen zu reiten, impliziert das das nicht nur das Raffen des Gewandes bis zu den Hüften, also massive Entblößung, sondern auch mit dem Spreizen der Schenkel die öbszönste weibliche Haltung. Man kann sich vorstellen, wie männliche Leser damals darauf reagieren.

Das wird aber alles erst verständlich, wenn man die weiblichen Machtstrategien des öffentlichen Entblößens im 20. Jahrhundert und die damit verbundene Prüderie des korrekten Nichtwahrnehmens hinter sich lässt und statt der verleugnenden Strategien "politischer Korrektheit" sich der Wirklichkeit weiblicher Körper widmet.

 

Aber natürlich gibt es auch im sogenannten hohen Mittelalter Elemente öffentlicher Verleugnung und persönlicher Erotisierung bis hin zur Pornographisierung weiblicher Körper, nur tut sich noch nicht der extreme Graben heutiger Verleugnung auf. Der Graben zwischen höfischem Ideal und dem weithin widersprechender Wirklichkeit ist noch nicht generalisiert, sondern situativ, auf die jeweilige Situation beschränkt.

 

 

Ganz nahe beim Geschlechtstrieb ist die Ausscheidung angesiedelt, die allerdings stärker mit Ekel und weniger mit Aggression besetzt ist. Als tägliche Routine fast ganz jenseits eigener Entscheidung kann sie stärker verlacht werden, abgesehen davon, dass sie sich wie der Sexus für wüsteste Beschimpfungen eignet. Bei ihren Studien über die Lombardei entdeckten Menant und Wickham für das zwölfte Jahrhundert massenweise Zunamen in Mailand wie Pestoscheiße (Cagapisto), wie die Konsuln und Iudices der Familie Cacainarca (Scheiße in der/die Truhe), den Konsul Cagainosa (Scheiße in der/die Hose), die Langsamscheißer (Cagalenti), die Scheißer in der Kirche (Cacainbasilica), die Cacarana (Scheißfrosch) usw. (alle in: Wickham(1), S.51)

Unübersehbar ist das Ausscheiden stinkender Fäkalien hier noch nicht so tabuisiert wie später, aber der animalische Akt irritiert in dieser Art von Zivilisation hinreichend, um sich mehr darauf zu fixieren, als er wohl verdient und ihm in früheren Kulturen zukam.

 

Das darf aber nicht täuschen: Heftige Fäkalinjurien sind bereits im 11. Jahrhundert auch schriftlich gang und gebe, Verlachen und böswillige Aggression sind immer nahe beieinander, wenn selbst geistliche Gegner den Kirchenreformer Hildebrand/Gregor VII. als Merdibrand (Scheißbrand) bezeichnen.

 

 

Das Lied der Lieder

 

Die Sublimierung eines zunehmend aus dem öffentlichen Blick verdrängten Sexus in Erotik wird nirgendwo deutlicher als in der religiösen Verdichtung des Erotischen im Cantus Canticorum.

Das auf den ersten Blick Erstaunliche ist, dass das Lied der Lieder vor allem seit den Klosterreformen, die mit das Hochmittelalter einleiten, zu einer Sache der Mönche wird. Niemand hat mehr als Bernhard, Abt von Clairvaux, zudem guter Kenner von Ovid, diese poetisch-erotischen Zeilen transformiert in solche einer gefühlsintensiven Liebe zum christlichen Gott. Daraus entsteht eine (fast?) mystische (Fast)Vermählung des gläubigen Mönchs und der gläubigen Nonne mit seiner Maria und ihrem „Bräutigam Jesus“ dank intensiver Vorstellungskraft. Bernhard wird seine Mönche schon einmal in einer seiner Predigten fragen, ob sie nach intensiver Meditation nicht den „Kuss des Bräutigams auf dem Mund“ verspürt hätten.

 

In rund achtzig Predigten über das Lied der Lieder versucht Bernhard um 1100, die sinnliche Erotik dieser Poesie in eine umzuformen, die sich nur noch rein in der Vorstellung abspielt, wobei sich dem unfrommen Betrachter immer wieder die Frage aufdrängt, was das mit Mönch und Nonne macht. Aber diese im Hochmittelalter noch introvertierte, noch nicht barock ekstatische Intensivierung der Gefühle wird sich auf das ganze Abendland auswirken, mehr in den katholisch gebliebenen als in den reformierten Regionen mit ihrer vorgeblichen vernünftigen Nüchternheit.

 

Rupert von Deutz schildert, wie bei seiner Andacht vor dem Kreuz der Gekreuzigte seine Augen auf ihn richtet. Doch das war mir nicht genug. Ich wollte ihn mit Händen berühren, umarmen, küssen ...Ich spürte, dass er es wollte ... Ich hielt ihn, umarmte ihn, küsste ihn lange. Ich spürte, wie er zögernd diese Liebkosungen zuließ - da öffnete er selbst seinen Mund, damit ich tiefer küssen könne.

Mechthild von Magdeburg wird sich in einer Vision sehr erotisch vor ihrem himmlischen Bräutigam entkleiden.

 

Diese von ihren Quellen her altorientalische Erotik, neben den Psalmen wohl das Poetischste, was wir aus dem damaligen hebräischen Sprachraum kennen, ist noch nicht berührt von Religionen, die Frauen abwerten und erotisch poetisierte Sexualität in die angstbesetzte Sünden-Ecke stellen. Solche orientalische Poesie, die im muslimischen Mittelalter in etwas anderer Gestalt wieder auftaucht, wird die abendländische Sprache um ein Kolorit und eine Prächtigkeit bereichern, die zum Beispiel die erotischeren Briseis-Passagen in Homers Ilias oder die erotische Poesie eines Ovid weit übertrifft. Die rund 30 Kommentare des 12. Jahrhunderts machen das deutlich.

 

In Teilen der abendländisch-mittelalterlichen Liebeslyrik wie -Prosa wird sich das enorm bereichernd auswirken. Hier ein Beispiel aus den späteren „Briefen zweier Liebender“ in der Übersetzung der Manesse-Ausgabe - ein Brief der Frau:

 

Ihrem Zedernhaus wünscht die elfenbeinere Statue, auf die sich das ganze Haus stützt: das Schneeweiß, den Mondenglanz, die Sonnenglut, den Sternenstrahl, den Rosenduft, die Lilienpracht, die Balsamsüße, die Erdfruchtbarkeit, die Himmelsheiterkeit - und all das, was darin an Süße enthalten ist.

Die Zither mit der Pauke soll dir beim Singen lieblich beistehen! Wenn auf meinen Wunsch, mein Geliebtester, auch eine Tat folgte, dann würde ich dir das, was ich jetzt schreibe, leibhaftig überbringen...

 

Die Entzifferung der erotischen Metaphorik fällt natürlich dem schwer, der zum Beispiel die entsprechenden biblischen Textstellen nicht kennt. Aber ich vermute, ganz verhagelt wurde der Zugang zu erotischer Metaphorik erst durch die Pornographisierung des Alltags, die kommerzielle Ausbeutung menschlicher Sexualität, jene Kälte aus Prüderie und Gier, wie sie uns inzwischen täglich aus so vielen Werbebotschaften Sinnlichkeit zerstört.

 

Zwischen dem 'Lied der Lieder' und diesem wohl eher dem 13. als dem 12. Jahrhundert entstammenden Liebesbrief klafft eine breite Zäsur. Der christlichen Abwertung der Geschlechtlichkeit ist es zwar nicht gelungen, hier eine Abwertung ihres sinnlich-physischen Aspektes durchzusetzen, aber der Conditionalis des letzten Satzes zeigt, dass es eine Öffentlichkeit gibt, die diese beiden Liebenden behindert.

 

Aber ganz langsam merken die ersten Frommen dann doch, dass es sich hier um wenig Frommes handelt. In Klöstern des 12. Jahrhunderts führt das "Hohelied" zur Interpretation der Zeugung Jesu als Ergebnis eines heiligen Geschlechtsverkehrs zwischen Gott und Maria, und wir werden dann sehen, wie sich die kirchliche Doktrin langsam der für sie nicht mehr zu bewältigenden Thematik verschließt.

 

Reinigung

 

Mit der Sakralisierung eines christlichen Kriegertums in der neuen Vorstellung von Ritterlichkeit, wie sie über die kirchliche Friedensbewegung, die Reconquista und die Kreuzzüge in den Orient entwickelt wird, wird veredelte kriegerische Gewalttätigkeit zu einem Abwaschen von Sünden für das neue Rittertum erklärt.

 

In der Mitte des 12. Jahrhunderts ruft der Trobador Marcabru in seinem 'Vers del lavador' nach dem gescheiterten zweiten Kreuzzug, der Niederlage der Kreuzfahrer von Damaskus und der Nachricht von dem Ehekrach zwischen dem frommen König Louis und seiner Eleonore (von Aquitanien) zum Heiligen Krieg der Reconquista auf, die gerade dabei ist oder aber Tortosa schon von den "Heiden" erobert hatte (Ich übernehme die Version von Linda Paterson und ihre historische Einordnung in J.Phillips/ M.Hoch (Hrsg), The Second Crusade: Scope and Consequences. Manchester UP, 2001), S.133ff)

 

Pax in nomine Domini!

Marcabru machte die Worte und die Töne (so).

Hört, was er sagt:

Wie uns gemacht in seiner Güte (dousor)

der himmlische Herr (seignorius),

in unserer Nähe einen Waschplatz (lavador)

den es außer in Übersee (outramar) nicht gegeben hat

in der Nähe von Josaphat;

und meine Aufforderung betrifft den bei uns.

Wir müssen Tag und Nacht waschen

so wie es recht ist,

so versichere ich euch.

Jeder hat die Gelegenheit sich zu waschen

Solange ein jeder dazu noch imstande ist:

soll er zum Waschplatz gehen,

denn es ist eine wahrhafte Medizin (medicinaus),

gehen wir nämlich vorher in den Tod

haben wir statt eines hohen Hauses eine niedere Herberge (alberc).

Aber Habgier und Unglaube (no-fes)

trennen den jugendlichen Mann von seinem Gefährten (conpaignon).

Ai, was für ein Schmerz (cals dols es)

dass all die vielen zu dem Ort fliegen

dessen Dank ist!

Wenn wir nicht zum Waschplatz eilen

bevor wir den Mund und die Augen geschlossen haben,

dann ist da nicht einer nicht fett von Stolz (orgoill)

der nicht im Sterben einen starken Gegner findet.

Denn der Herr, der alles weiß was ist

und alles, was war und sein wird

hat uns versprochen

die Krone und den Namen des Imperators;

und ihre Schönheit wird geistig (sabencaus) sein

die sie am Waschplatz scheinen wird

mehr als der Morgenstern,

falls wir die Schmach Gottes rächen

die sie ihm hier wie dort in Damaskus angetan haben.

(........)

Aber wer wollüstig ins Horn stößt (corna-vi)

nach Essen und Trinken giert,

am Kaminfeuer hockt,

dieser Plünderer bleibt zurück.

Und Gott möchte die Tapferen (arditz) und Klugen (saus)

an seinem Waschplatz erproben,

und die anderen bewachen die Häuser (ostaus)

und vergraben ihren coutre (?) im Garten,

weswegen ich sie in ihre Schande jage (?).

(...... etc.)

 

Natürlich haben die höfischen Reinheitsvorschriften eine legitimatorische Funktion für die höheren Stände. Aber sie haben auch etwas mit Körperlichkeit zu tun und etwas mit Christianisierung, die ohnehin anders verlief, als es sich die hochmittelalterliche Reformkirche vorgestellt hatte. Die reine Seele des guten Gewissens und die körperliche Reinlichkeit neuen Stils entwickeln sich in der Laienwelt der Oberschichten gleichzeitig.

 

Irmengard und Bertrada

 

Auf Abbildungen aus der Manessischen Liederhandschrift erhört die geliebte Frau den Minnesänger. Nach dem Ende der Zeit des Minnesangs sind solche putzig-fröhlichen Männerphantasien offenbar möglich. In der Zeit, die in diese „kulturelle“ Wende hineinführt, werden einige der privilegierten unter den Frauen lyrisch, allerdings meist, ohne Lieder zu schreiben, und auch ohne Heiterkeit. Stattdessen flüchten sie vor der Männerwelt ins Kloster, und das in dieser Zeit des öfteren.

 

1060 vermacht der kinderlose Gottfried Martell die Touraine seinem Neffen Gottfried le Barbu, und dessen Bruder Fulko 'Le Réchin' die Saintonge und Vihiers. Martell hatte es geschafft, sich und sein Reich gegen den Francier (Frans) zu behaupten.

 

1061 schafft es Wilhelm von Aquitanien, sich die Saintonge unter den Nagel zu reißen, was Quellen auf den fehlenden Einsatz von Gottfried zurückführen. 1067 lässt Fulko IV. Gottfried überfallen und einsperren und ab 1068 dann für 28 Jahre lang im Kerker seiner Burg von Chinon verschmachten. Dann versucht Fulko, mit den Anhängern seines Bruders fertig zu werden, was nicht dauerhaft gelingt. Zu seinen Getreuen gehört der Vater von Hersendis de Champagne.

 

Der Réchin (der Zänker, wie Fulko IV. genannt wurde), pernimium libidinosus, wie er in den Chroniken des Anjou bezeichnet wird (gulositati, ebrietati, libidini, inertiae et pigritiae subiacuit), ist am Ende nach vier anderen Ehefrauen mit Bertrada von Montfort verheiratet, einer wohl ausnehmend schönen Frau, die ihm den fünften Fulko als Sohn schenkt. Sie war von ihrer Tante Elvisa/Heloisa von Evreux aufgezogen worden. Ordericus Vitalis berichtet in seiner Kirchengeschichte, sie sei geradezu vom Herrn von Evreux gegen erhebliche Ländereien verhökert worden. (III, 8)

 

Ermengard(e) ist eine Tochter dieses Grafen von Anjou. Am Hof von Angers wächst sie in einem Milieu auf, in dem Dichtung und Gelehrsamkeit zu Hause sind. Andererseits ist ihr Vater ein Haudegen wie ihr wohl erster Ehemann, der neunte Wilhelm von Aquitanien. Aufgrund zu enger Verwandtschaft bietet sich dem Herzog die Möglichkeit, sie kurz nach der Hochzeit wieder zu verstoßen. Dies gerät ihr aber nicht zum Glück, denn kurz darauf, um 1092, wird sie in die – wie manche meinen - kulturelle Einöde des Grafen Alan von der Bretagne verheiratet. Dort beschert sie ihm drei Kinder.

 

Um 1106 taucht sie im Kloster von Fontevrault bei Robert d'Arbrissel auf, wo sie sich einige Zeit aufhält, um dort dann wieder zu verschwinden. Der gestrenge Gottfried, Bischof von Vendôme wirft ihr das dann auch in einem Brief an sie vor: Adulantiam lingue, also ihr schäbig schmeichelnde Stimmen, iterum sociassent mundo, hätten sie also wieder mit der „Welt“ zusammengebracht, wo sie als Geschöpf ihrem Schöpfer zwischenzeitlich doch so nah gekommen sei.

 

Sie taucht dort in den Quellen als jahrzehntelange verantwortungsvolle Herrscherin auf, aber nach wenigen Jahren Ehe scheint sie sich doch an Robert d'Arbrissel gewandt zu haben. Offenbar wollte sie in sein Kloster flüchten. Du tatest, was du konntest, du flohst. Die Kirche brachte dich zurück, schreibt er ihr als Antwort auf einen Brief von ihr an ihn, der nicht erhalten ist.

 

Die hohen Herrren waren zum großen Teil nicht nur edle Rabauken zu Pferd und mit dem Schwert in der Hand, sondern sie waren gelegentlich auch Rabauken gegenüber den Frauen. Und bevor dem einen oder anderen das „Ich“ lyrisch wird, kämpfen Frauen gegen deren Rabauken-Ich, und sie tun das auch, indem sie manchmal die Flucht ergreifen. Robert d'Arbrissel und Fontevrault werden ein Fluchtpunkt, so wie Clara später und schon vor einer Verehelichung zu Francesco Bernadone, dem heiligen Franzsikus, entkommt.

 

Ermengarde wollte sich wohl scheiden lassen, wiewohl die Quellen nichts nachteiliges über ihren Gemahl vermelden, was aber nicht viel heißen muss. Leider war der Scheidungsgrund – zu enge Verwandtschaft – offenbar nicht nachweisbar. Tochter Hedwig war blutjung an Balduin von Flandern verheiratet worden, wohl vom Vater, und dieser Balduin war berüchtigt ob seiner Grausamkeit. Robert d'Arbrissel schreibt tröstend:

Wegen der Sünde an deiner Tochter, die du dem Tod übergeben hast, bist du sehr besorgt. Bete demütig und kniefällig zu Gott, damit er dich befreit und du nicht verdirbst. Versuche auf irgendeine Weise die Trennung deiner Tochter zu erreichen.

 

Als Experte für die Lust des Leidens im richtigen Handeln schreibt Robert ihr als Einstieg in seinen Brief, den man als Manuskript in der Stadtbibliothek von Vendôme einsehen kann, oder aber im Internet, dass vorgetäuschte Tugenden schlimmer als ausgelebte Laster seien. Und: Virtus enim medium vitiorum est. Die Tugend liegt nämlich im richtigen Maß der Mitte zwischen den Lastern.

Wahrhaftig: So wie er erforscht, dass es die Nähe zur (attraktiven) Frau ist, in der sich die Tugend erprobt, so soll sie „in der Welt“ bleiben, um den Lustschmerz jener Heiligkeit zu erfahren, die das Ausgesetztsein gegenüber den Schrecken der Welt erst ermöglicht:

 

Du bist verheiratet, du kannst nicht durch das Gesetz entheiratet werden. (Conjuncta es; non potes disjungi lege.) Du hast keine Zeugen, die für dich Zeugnis ablegen (dass die Ehe illegitim sei). Es gibt keinen anderen Weg, durch kirchliches Urteil getrennt zu werden. Dein Wunsch war es, die Welt zu verlassen und dich selbst zu verleugnen und nackt dem nackten Christus am Kreuz zu folgen. (ut mundum relinqueres, et te ipsam abnegares, et nuda nudum Christum in cruce sequereris). Aber bete zu Gott deinem Herrn, dass er nicht deinen Wille tue, sondern seinen mit dir. Wir lesen im Evangelium, dass der Sohn Gottes, dabei, sich für uns zu opfern, als er zum Vater vor der Passion betete, sagte: Vater, wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht, wie ich es will, sondern wie du willst.

 

Robert wurde immer wieder vorgeworfen, dass er Frauen in seine Gemeinschaft aufnahm, die aus ihren Ehen flüchteten. Aber offensichtlich lud er sie nicht dazu ein. Vielmehr rief er sie auf, dort zu bleiben, wo der irdische Schrecken herrscht, den er sehr deutlich beschreibt:

 

Kümmere dich nicht zu sehr um die Änderung von Ort und Gewohnheit. Habe Gott in deinem Herzen, ob du in der Stadt oder am Hof lebst, in einem elfenbeinernen Bett oder in wertvollen Kleidern, beim Heer, vor Gericht oder auf einem Bankett. Liebe, und Gott wird bei dir sein. Du wirst unter barbarischen und ungebildeten Männern leben und es wird dir scheinen, du könntest dort nichts gutes tun. Die Doktoren (gemeint sind wörtlich: Gelehrte), Bischöfe, Äbte und Priester sind Simonisten (Geldgierige), die Fürsten ungerecht und Plünderer, ehebrecherisch und blutschänderisch, das Volk in Unkenntnis des Gesetzes Gottes (gemeint ist die Nächstenliebe vor allem).

Niemand tut Gutes, keiner sagt Gutes, jedermann wendet sich gegen die Wahrheit. Es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Gnade, es ist keine Bildung (als Erkenntnis Gottes) mehr im Land. Lügen, Ehebruch, Mord überschwemmen es und Blut berührt Blut. Die Erde ist mit Blut infiziert und vergiftet durch ihre Werke, und sie betreiben Unzucht in ihrem Erfindungsgeist. Und Gott ist mit Zorn über seine Leute beladen und verabscheut sein Erbe und liefert sie den Händen der Ungläubigen aus, den unreinen Geistern und sie werden beherrscht von denen, von denen sie gehasst werden. Aber fürchte nicht solche Feinde Christi.

(Nullus agit bonum, nullus dicit bonum, omnes contradicunt veritati. Non est veritas, non est misericordia, non est scientia in terra illa. Mendacium et adulterium et homicidium inundaverunt, et sanguis sanguinem tetigit. Et interfecta est terra in sanguine, et contaminata est in operibus eorum, et fornicati sunt in adinventionibus suis. Et iratus est furore Dominus in populo suo, et abominatus est hereditatem suam et tradidit eos in manus gentium, id est immundorum spirituum, et dominati sunt eorum qui oderunt eos.)

 

Das ist das ausgehende frühe Mittelalter, von unten und von einem moralischen (christlichen) Anspruch her gesehen; mittendrin zitiert werden die Donnerworte des Propheten Hosea an sein Volk Israel (Non est veritas ... sanguinem tetigit) - ein Verweis, dass das hier auch ein uralter Topos ist, die alte Klage um die Verworfenheit der Menschen, biblisches Erbe.

 

Das ist die sehr prosaische Grundlage, auf der sich das neue lyrische Ich erheben wird, und es wird sich auch in Franz von Assisi erheben, neben dem Lanzelot des Chrétien de Toyes, neben dem 'Parzival' von Wolfram von Eschenbach, neben dem 'Tristan' von Gottfried von Straßburg und neben das Nibelungenlied des anonymen Passauer Mönches. Tochter Hedwig wird übrigens um 1111 von Papst Paschalis II. geschieden werden.

 

Etwa gleichweit entfernt von den Städten Tours, Poitiers und Angers, war Fontevrault (heute: Fontevraud) nicht außerhalb der unmittelbaren Reichweite von Wilhelm von Aquitanien, der zugleich Graf von Poitiers war. Und er war nicht außerhalb der Reichweite der Sichtweise dessen, was seine vermutlich erste Frau innerlich antrieb. Das war für ihn offenbar sehr lange Quell enormen Grolls. Um das zu ermessen, seien einige frühe Zeilen des ersten Trobadors zitiert:

 

Auf einem weichen Pfühle / kenne ich alle Spiele; / da weiß ich, wie man's macht - / bei Tag und bei Nacht. / Bin ein begehrter Mann / Nie mich vergessen kann / jedes Weib, zu dem ich kam, / das in die Arme mich nahm. / Muss deshalb niemals fürchten Not, / Könnt ja durch Liebe verdienen mein Brot. (übersetzt in Delarun, S.101) Oder noch protziger:

Für meinen Sattel habe ich zwei Stuten ... Doch kann ich die eine nicht zusammen mit der anderen haben. Die Pferde wollen sich nicht leiden.

Das soll ein Gedicht über seine beiden Geliebten Agnes und Arsène sein.

 

Ehefrauen solcher Männer begeben sich nun auf die Suche nach einer nicht mehr allein von Vater und Gatten diktierten weiblichen Identität, nach einem nicht mehr nur vorgegebenen Selbstverständnis.

In dieser Spannbreite entwickelt sich die Spannung, die das neue lyrische Ich zu (er)finden sich anschickt. 1112 zieht sich der bretonische Graf ins Kloster zurück und Ermengard kann endlich nach Fontevrault, wo sie bleibt, bis Robert d'Arbrissel stirbt.

 

Vom Vater Ermengards, dem vierten Fulko von Anjou, sind fünf mehr oder weniger legitime Ehefrauen bekannt, die letzte, Bertrada von Montfort, wird Stiefmutter der Ermengard, was sie nicht sehr belastet haben dürfte. Sie schenkt dem vierten einen fünften Fulko, der wiederum Vater von Gottfried Plantagenet wird, dem Urheber des angevinischen Königshauses, das über England und den ganzen Westen des heutigen Frankreichs herrschen wird, spätestens in der Verbindung mit Eleonore von Aquitanien, der „Königin der Troubadoure“, einer Enkelin unseres neunten Wilhelms. Sie ist die verehrte Dame von Bernart de Ventadorn, der ihr Hauslyriker werden wird.

1092 verlässt Bertrada ihren Gemahl und wird die Geliebte des französischen Königs Philipp.

 

1109 tritt nach dem Tod seines Vaters Fulko V. die Herrschaft im Anjou an. Beeinflusst wird er von seiner Mutter, die nach dem Tod Philipps wieder ins Anjou zurückkehrt. Über ihn schreiben die Chroniken von Anjou:

Er verließ die Wege seines Vaters und seiner Mutter, führte ein ehrbares Leben und regierte klug sein Land. Als anständiger Mann, wacker im Kampf, als frommer Katholik und wohlwollend gegenüber der Kirche, übernahm er die zwei Grafschaften (duobus consulatibus) des Anjou und der Touraine und fügte dem mit der Ehefrau noch Maine (Cenomannicum) hinzu. Die Freunde lobten ihn sehr, dieb öswilligen und seine Gegner unterdrückte er und bald war er allen an Ruhm und gutem Ruf überlegen. (das lateinische Original in Robl, Herkunft, S.141)

 

Andererseits war sein Halbbruder Gottfried Martell, Bertradas Stiefsohn aus ihrer Ehe mit dem vierten Fulko, wohl an Gift gestorben, und man nahm an, die Stiefmutter stünde dahinter. In der Chronik von Anjou kommt Bertrada jedenfalls schlecht weg:

Diese Frau fürchtete ihren erwachsenen Stiefsohn und ihr Geist war ganz besessen und konnte weder durch Ruhe noch Schlaf besänftigt werden; ständig dachte sie daran, wie sie Martell schaden könnte. Ihre Gesichtsfarbe war stets blutleer, ihr Gang mal schnell, mal langsam, in Gesicht und Mienenspiel war der Wahnwitz, und denen, die sie auf viele Arten zu sich gelockt hatte, brachte sie schlimme Schandtaten bei.

Das klingt natürlich ziemlich nach platter Diffamierung, aber was wissen wir heute davon...

 

Der fünfte Fulko wird ein großer Förderer von Fontevrault und beschenkt das Kloster reichhaltig, bevor er sich 1120 ins „heilige Land“ aufmacht und dort 1131 zum König von Jerusalem gekrönt wird. Im Konflikt mit Wilhelm von Aquitanien, der ihn übrigens auch kurz einmal gefangensetzt, ist Fontevrault ein Stützpunkt nach Süden hin. An seinen Schenkungen ist offenbar auch Mutter Bertrada beteiligt. Sie wiederum ist offenbar mit Hersendis von Champagne persönlich bekannt.

Nach dem Tod von Abtissin Petronilla wird Fulkos Tochter Mathilde ihre Nachfolgerin, die nach dem Untergang der Blanche Nef ihren propektiven Gatten, Thronfolger Wilhelm Plantagenêt verloren hatte, und um 1128 dort Nonne wurde.

 

Mit ihr wird Fontevrault dann Hauskloster der Plantagenêt und verliert völlig seinen ursprünglichen Reformcharakter. Henry II., Eleonore von Aquitanien, Richard Löwenherz und die Gattin von John Lackland werden hier begraben werden.

 

Mit Bertrada wird die Liebe zu einer tatsächlich ausgetragenen Aventüre, zum Abenteuer par excellence. Sie soll nach Darstellung der Zeitzeugen eine außergewöhnliche Schönheit gewesen sein, während Bertha von Holland, die Gemahlin König Philipps I. von Westfranzien als dick und unattraktiv beschrieben wird. Immerhin schenkt diese dem König zwei Kinder, die der aber verstoßen wird.

 

Im Mai 1082 geschieht es wohl, dass Philipp in Tours Bertrada begegnet. Er verliebt sich unsterblich in sie, was ihr zu gefallen scheint, und „entführt“ sie bzw. lässt sie von seinen Leuten entführen, wohl mit ihrer Einwilligung. Der Bischof von Senlis und dessen Vorgesetzter, der Erzbischof von Reims, erklären sich bereit, die beiden (kirchlich) zu verheiraten und damit einen doppelten Ehebruch zu sanktionieren. Es geschieht gleich Pfingsten 1082 in Tours. Dass sie das tun, ist nicht ganz verwunderlich, denn beide unterstehen dem „französischen“ König, und die Kirchenreform ist erst seit kurzem dabei, ihre Vorstellungen von einer christlichen Ehe durchzusetzen.

 

Die Macht regiert das Recht, aber die Macht ist geteilt. Papst Urban II. ist mitten im Investiturstreit mit Heinrich IV., Kaiser und König des Ostfrankenreiches, der aus dem Streit über die Investitur einen Grundsatzstreit gemacht hatte. Heinrich unterstützt einen Gegenpapst, und Urban weicht nach Nordwesten aus, letztlich fast unter die Fittiche des Königs Philipp, der, was die Bischofsernennungen angeht, längst dabei ist, sich elegant aus der Affaire zu ziehen, indem er nach Kompromiss-Möglichkeiten sucht.

 

Im Oktober 1094 spricht der päpstliche Legat Hugo von Dié mit 32 Bischöfen in Autun den Kirchenbann über den Ehebrecher und seine neue „Gattin“ aus, wiewohl Bertha gerade gestorben ist. In Clermont kommt es 1095 zu der großen Synode, in der Urban die Kirchenreform vorantreibt und zum (ersten) Kreuzzug aufruft. Zudem wiederholt er hier, was er schon vorher getan hatte, er exkommuniziert Philipp wegen Ehebruchs und stellt mit ihm ganz „Frankreich“ unter den Kirchenbann. Damit ist ihm die Teilnahme am religiösen Leben untersagt, was vor allem Bertrada bedrückt.

 

Deren de-jure-Gatte Fulko hatte mit all dem offenbar keine Probleme, denn schöne Frauen gab es genug. Als der Papst extra nach Angers kommt, engagiert dieser Robert d'Arbrissel für die Predigt, die Fulko in den gerechten Zorn gegen den Ehebruch hineinpredigen soll, den der dann auch kurz pflichtschuldigst empfindet.

 

1097 wird das Paar auf einem Konzil in Nîmes erneut verurteilt.Im Jahr darauf, als viele seiner Untertanen (im Kirchenbann) zum ersten Kreuzzug aufbrechen, hält Philipp es für nötig, ein wenig Reue zu zeigen und die Exkommunikation wird aufgehoben. In aller Ruhe behält er aber seine Bertrada bei sich, die Liebe ist zu groß. Als das unübersehbar wird, wird er 1100 in Poitiers erneut exkommuniziert. Also wird mit öffentlichem Theater Bertrada auf dem Konzil von Beaugency unter Beisein von Robert d'Arbrissel „fortgeschickt“, was den neuen Papst Paschalis II. dazu bewegt, den König am 2. Dezember 1104 in Paris wieder in den Schoß der Kirche aufzunehmen, nachdem das sündige Paar in Notre Dame barfuß und im Büßergewand auftaucht: Der Papst braucht den Verbündeten gegen den Kaiser, auch wenn dessen Sohn sich derweil dazu aufmacht, diesen abzusetzen und einzusperren und seine Nachfolge als fünfter Heinrich anzutreten.

 

Aber für 1096 ist schon wieder dokumentiert, dass der de-jure-Ehemann (der Graf), der de-facto-Ehemann (der König) und die schöne Bertrada in friedlicher Gemeinschaft zusammen speisen – sie wohl immer noch die Liebste des Königs.

 

Diese Liebe im Affront gegen Gott und Kirche und jedes Recht wird eine europäische Sensation. Bertrada lebt weiter und ganz offen mit dem König zusammen. Der Papst kommt ungeachtet soviel irdischer Liebe 1107 wieder dorthin, um die abschließende Regelung für die Bischofsinvestitur zu beschließen und die liederliche Ehe zu ignorieren. La France ist seitdem der Kirche liebste Tochter, jedenfalls bis 1789.

 

Der König, der Liebe ganz neumodisch für etwas privates hält, hält die Thronfolge allerdings für eine öffentliche Angelegenheit und setzt mit Ludwig VI. einen Sohn aus erster (und damit einzig legaler) Ehe ein. Für Bertrada, die ebenfalls mit Philipp einen Sohn hat, ist das nicht hinnehmbar. Zweimal intrigiert sie gegen Ludwig und soll sogar versucht haben, ihn zu vergiften. Ihrer Ehe mit dem Vater tut das aber offenbar keinen Abbruch. Das Mittelalter kann gelegentlich Dinge trennen und Widersprüche stehen lassen.

 

Nachdem Philipp 1108 gestorben ist, eilt Bertrada, die große Liebende gegen Recht und Gesetz, nach Fontevrault, wo sie Robert d'Arbrissel besucht. In den nächsten sechs Jahren wird sie immer wiederkommen und jedesmal große Geschenke mitbringen. Zwischendrin weilt sie bei ihrem Sohn Fulko V. im Anjou.

Am Ende wird sie 1112 ganz in das von ihr gegründete Tochterkloster von Fontevrault, Hautebruyére einziehen. 1115 macht Robert sie dort zur Äbtissin.

 

Robert ist kein Moralist im heutigen Wortsinn, wie man hieran ersehen kann. Offenbar nimmt er die Menschen, wie sie sind, und bringt ihnen dabei das entgegen, was er zu geben hat. Das alles muss unser erster Trobador ertragen, vor dessen Augen das geschieht.

 

 

Philippa und Wilhelm

 

All dies sind Vorgänge einer kulturellen Wende, und es sind unruhige Zeiten. Wilhelm gilt damals als einer der größten Rabauken unter der Hocharistokratie. Einer der Weggefährten von Robert d'Arbrissel war Bernhard von Thiron, und einer von dessen Weggefährten, Gaufredus Grossus oder Geoffroy (Gottfried) le Gros, überliefert in seiner Vita beati Bernardi, folgendes Vorkommnis vom Konzil von Poitiers von 1100 :

 

In jener Zeit beriefen zwei Kardinäle, ... , Legaten des apostolischen Stuhls, ein Konzil nach Poitiers ein. Hundertvierzig Väter der Kirche folgten dem Ruf. Sie sprachen den Kirchenbann über Philipp, König der Franzosen, aus, da dieser mit der Frau Fulkos, des Grafen von Anjou, im Ehebruch lebte. Bei der Verkündigung der Exkommunikation trat plötzlich Wilhelm, der Herzog von Aquitanien (eine Art Hausherr im Poitou) vor die Versammlung. Er selbst, Verächter jeder Scham und jeder Heiligkeit, fürchtete, dass über ihn die gleiche Strafe für ähnliche Vergehen verhängt würde. Hocherzürnt gab er den Befehl (er war natürlich mit Gefolge da!), allen anwesenden kirchlichen Würdenträgern die Kleider vom Leib zu reißen, sie auszupeitschen und zu töten. Als Wilhelms Leute sich anschickten, diesen Befehl auszuführen, stoben die erschreckten Priester und Äbte in alle Richtungen asueinander, um ihr irdisches Leben zu retten, bemüht, einen sicheren Unterschlupf zu finden. Nur Bernhard von Thiron und Robert d'Arbrissel, die ebenfalls dort zugegen waren, bleiben als außerordentlich mutige Verteidiger des Rechts und als Streiter gegen jegliche Ungerechtigkeit am Ort der Versammlung zurück. Mit großer Standhaftigkeit traten sie trotz der Gefahr, in der sie sich befanden, weiter für die Exkommunikation Philipps ein, während sie es sich zur Ehre anrechneten, unter Umständen um Christi willen Kränkungen zu erfahren oder gar den Tod erleiden zu müssen. (In der Patrologia Latina von Migne nachzulesen).

 

Bernhard und Robert waren, so wird vermutet (beide hatten ihre Klöster noch nicht gegründet), anwesend, weil auch gegen sie verhandelt werden sollte, waren sie doch radikale Außenseiter in den Augen der Amtskirche. Am Ende zog Wilhelm von Aquitanien, von dem mehrfach berichtet wird, er habe Geistliche verprügelt, die geschickt wurden, ihn zu ermahnen, von dannen, und das Verdikt wurde über den König ausgesprochen.

 

Einen besonderen Dauerstreit führt Wilhelm mit dem Bischof von Poitiers. Schließlich setzt er ihn so unter Druck, das der gute Mann ins Exil nach Chavigny muss, wo er 1115 stirbt. Wir erinnern uns, dieser Bischof war mit Robert d'Arbrissel befreundet, einem frommen Gegner des aquitanischen Herzogs.

Die Konfrontationen des ersten Trobadors mit Robert d'Arbrissel begleiten einen guten Teil seines Lebens.

Unser neunter Wilhelm heiratet nach Ermengarde Philippa von Mahaut-Toulouse, was ihn lebenslang immer mal wieder ermutigen wird, zu versuchen, sich der Grafschaft Toulouse kriegerisch zu bemächtigen. Er etabliert schließlich die von ihm „entführte“ Grafin Dangerosa (sic!) von Châtellerault, Ehefrau eines Vasallen von ihm, in einem seiner Paläste, Tour Maubergeon, worauf er zum zweiten Mal exkommuniziert wird. Dangerosa (Dangereuse auf Französisch) de l'Îsle Bouchard hatte von ihrem Ehemann schon fünf Kinder, die sie samt Mann für Wilhelm verlässt.

 

Ihres Mannes, seiner Untreue, seiner Ruppigkeit und seiner Dauergeliebten „La Maubergeonne“ überdrüssig, flieht Philippa darauf 1116 nach Fontevrault, wo sie Gelegenheit hat, sich mit Ermengarde anzufreunden. Zuvor hatte sie dem wilden Trobador fünf Kinder geschenkt. Philippa stirbt 1118 im Kloster.

Unser aquitanischer Ritter und Sänger, noch nicht recht bei der hohen Minne angekommen, dichtet voller Wut:

 

Herrin, du begehst eine große Sünde, / wenn du anstelle des rechtschaffenen Ritters / den Mönch oder den Kleriker liebst. / Du tust nicht recht daran, / und ich werde die Ungetreue / auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

 

Die neue Frömmigkeit konkurriert also mit dem älteren Kriegertum und es wird noch viele Jahrzehnte dauern, bis Poeten wie Chrétien de Troyes Versöhnungsversuche starten werden.

 

Nach Philippas Tod beschließt Ermengarde, ihr posthum Genugtuung zu verschaffen. Im Oktober 1119 erscheint sie vor Papst Calixt II. und verlangt, dass er Wilhelm noch einmal (!) exkommuniziere und die Maubergeonne aus dem herzoglichen Schloß verweise (zurück zu Mann und Kindern). Der Papst sieht bereits ein großes Heer von Kaiser Heinrich V. herannahen und hütet sich, französische (westfränkische) Große anzugreifen, die er als Bündnispartner brauchte. Ermengarde wird aber auch weiter keine Ruhe geben, was das betrifft.

 

Aber zurück zu den ersten überlieferten Dokumenten des neuen lyrischen Ichs, und zum Personal dieser Welt. Unsere Ermengarde, lange nachdem sie Fontevrault wieder verlassen hat, ungefähr sechzig Jahre alt, lange auch nach den Versen ihres Ex-Ehemannes Wilhelm von Aquitanien, nimmt 1130 den Schleier der Nonne aus der Hand von Bernhard von Clairvaux, dem großen Reformer des Zisterzienserordens. Die Begegnung muss beide beeindruckt haben, denn es entspinnt sich ein Briefwechsel, in dem Bernhard zum Beispiel an Ermengarde schreibt:

 

Oh, wenn du in meinem Herzen von jener Liebe zu dir lesen könntest, die Gott hat entstehen lassen, würdest du erkennen, dass keine Sprache und keine Feder hinreichend wiederzugeben vermögen, was mir der Geist Gottes ins tiefste Innere hineingeschrieben hat. Ich bin jetzt bei dir in meinen Gedanken, wie fern ich dir auch immer sein mag mit meinem Körper. Dabei hängst es weder von dir ab noch von mir, ob ich zu dir kommen kann. Dennoch hast du die Möglichkeit festzustellen, ob ich die Wahrheit sage, wenn du ihrer nicht bereits sicher bist. Kehre also in dich und prüfe auf diese Weise mein Herz und gestehe mir zu, ebensoviel Liebe für dich zu empfinden, wie du sie für mich fühlst. Und wenn du glaubst, du würdest mehr lieben und ich weniger, dann halte dich dennoch für überlegen, indem du annimmst, mich in Nächstenliebe übertroffen zu haben. (im Deutschen von Delarun, s.o. S.125)

 

Die sublime Gefühlsintensität dieses Briefes und seiner Liebeserklärung übertrifft an Tiefe manches, was Minnelyrik hervorgebracht hat. Dennoch ist sie keine, die auf den Körper des Gegenübers abzielt, wiewohl sie die größte Nähe zu dem erreicht, was Bernart de Ventadorn, ein Tannhäuser oder ein Frauenlob zustandebringen. Fast nirgendwo wie hier treffen christliche Mystik und weltliche Liebeslyrik so nahe aufeinander.

 

Wilhelm von Aquitanien

 

Wilhelm, neunter Herzog von Aquitanien und siebter Graf vom Poitou, lebte von 1071 bis 1127, war also ein Zeitgenosse von Abaelard und Robert d'Arbrissel. Als Abkömmling französischer Könige und direkter Vorfahre der Eleonore von Aquitanien, der Marie de Champagne und von Richard Löwenherz ist er Teil sehr erlauchter Kreise.

 

Die Ausbildung des neunten Wilhelm lässt sich erschließen: Reiten, Jagen, Waffengebrauch, Erlernen von Verhalten, aus Stolz und Mut zusammengesetzt, und in seinem Fall auch Lesen und Schreiben. Dazu Kenntnis einer mythisch und sagenhaft aufgefassten Familiengeschichte, die begründet, warum er ein so bedeutender Fürst sein wird. Schließlich religiöse Erziehung im Geiste der Familientradition. Mit fünfzehn war er ein junger Mann und durchaus imstande, ein Fürstentum zu regieren.

 

Vom lateinischen advenire abgeleitet, ist das Abenteuer das, was einem zustößt, nicht das, was man vorgesehen hat. Dabei ist zumindest in der Literatur beabsichtigt, dass einem etwas zustößt. Im Abenteuer erfüllt sich die ritterliche Kriegeridentität, so wie sie literarisch festgehalten ist. Wilhelm wird ein Paragon dieser Ritterlichkeit, aber ohne deren Christianisierung, die zu seiner Zeit ohnehin noch recht oberflächlich bleibt.

 

Das Reformpapsttum hatte unter Urban II., der vor Kaiser Heinrich IV. ins westfränkische Gebiet ausgewichen war, das Abdrängen dieser anarchischen Kriegergewalt, die immer auch Kirchen und Klöster bedrohte, in den „heiligen Krieg“ veranlasst. Auf einer Kirchenversammlung von Clermont ruft der Papst 1095 zum „Kreuzzug“ ins „heilige Land“, also zur Befreiung des ersten Wallfahrtsortes der Christenheit, Jerusalems, vom „muslimischen Joch“ auf. Für unseren Wilhelm ist es allerdings erst 1101 opportun, eine solche „bewaffnete Wallfahrt“ anzutreten, so wie auch der deutschen Hochadel sich erst später dazu berufen fühlt. Ein Welf IV. wird sich ebenfalls erst dann zu einem heiligen Kriegszug aufmachen, hatte er doch vorher zu Hause noch viel zu erledigen.

Der provenzalische Biograph von Wilhelm, der deutlich später über ihn schreibt, charakterisiert ihn so:

 

Der Graf von Poitou war einer der höfischsten Menschen der Welt (uns dels majors cortes del mon) und einer der größten Verführer (Betrüger – trichadors) der Frauen (dompnas) und ein guter Ritter in Waffentaten und großzügig in der Frauenverehrung (dompnejar) und er wusste gut zu dichten (trobar) und singen. Und er ist viel durch die Welt gereist, um die Frauen zu gewinnen. (in: L.T.Topsfield, Troubadours and Love. S.11)

 

Der zeitgenössische Wilhelm von Malmesbury beschreibt ihn aus mönchischer Sicht so:

Er war ein lächerlicher Spaßmacher, und ein Mann, der so zum Bösen neigte, dass er allen Arten von Lastern nachging, bevor er von Jerusalem zurückkehrte; und er sah nicht die Hand der Vorsehung in dem Unglück, dass er erlebte, da er glaubte , dass Zufall und Umstände für alles verantwortlich seien... Nichts nahm er ernst, alles verwandelte er in einen Witz und ließ seine Zuhörer hemmungslos lachen.

 

Ein moderner Mensch also, mag der eine oder andere denken – aber ganz im Gegenteil, er war ein früher hochmittelalterlicher Mensch, ein intellektueller Skeptiker, sein Lachen mag an Beckett oder Joyce erinnern, aber ihm fehlte die entsprechende Galle.

Gut ausgesehen soll er haben, mutig soll er gewesen sein, geschickt im Kampf, mitleidvoll gegenüber den Schwachen, und gelehrt im Sinne von belesen war er gewiss.

 

Einen Herrn über sich akzeptierte er nicht, was man als aristokratische Freiheitsliebe bezeichnen könnte. Im weltlichen Raum kannte er auch keinen solchen, aber mit der Reformkirche erlebte er seit dem 11. Jahrhundert eine zunehmende Einengung seiner nicht von Moral angekränkelten Spielräume.

Ich zitiere dazu einen Abschnitt aus Topsfields 'Troubardours and Love' in meiner Übersetzung. Wilhelm von Malmesbury beschreibt die Szene seiner ersten Exkommunikation 1114:

Peter von Poitiers war gerade dabei, das Urteil in der Kathedrale zu verkünden, als Wilhelm, außer sich vor Ärger, ihn bei den Haaren packt und sein Schwert schwingend ausrief: „Nun wirst du sterben, wenn du mir nicht die Absolution erteilst.“ Darauf wurde der Bischof, der vorgab, veränstigt zu sein, der aber nur eine Gelegenheit suchte, zu reden, losgelassen und sprach die Absolutionsformel. Nachdem er dies vollzogen hatte, neigte er ihm seinen Hals entgegen, weil er nun das Martyrium erwartete, und lud Wilhelm ein, das Schwert niedersausen zu lassen. Darauf erwiderte Wilhelm: „Ich hasse dich zu sehr, um dich meines Hasses für würdig zu erachten, und du wirst niemals durch meine Hände in den Himmel kommen.“ Als Wilhelm von den Wundern hörte, die der Bischof nach seinem Tod (sic!) 1115 vollbrachte, bedauerte er, ihn nicht früher dorthin gesandt zu haben, „denn er war ganz offensichtlich im Himmel so glücklich.“ (S.12)

 

Ich vermute, dass diese skeptische Heiterkeit kein neuzeitlicher Zynismus gegenüber Religion à la Voltaire ist. So etwas hatte er noch nicht nötig. Vielmehr mag man annehmen, dass Wilhelm unterscheiden konnte zwischen (seinen) religiösen Vorstellungen und den - in seinen Augen - Anmaßungen klerikaler Amtsträger.

 

In zwei Heiraten mit Ermengarde (Irmgard) von Anjou, eine Eheschließung ist allerdings nicht belegt, und danach mit Philippa von Toulouse erhielt er prospektive Anwartschaften auf großen Zuwachs an Herrschafts-Regionen. Seine Liebesgeschichten sind ihm aber wohl wichtiger als eheliche Mindest-Verbindlichkeiten. Von der ersten Frau erlangt er die Scheidung (vermutlich, man weiß nichts genaues selbst über eine Eheschließung mit ihr) und mit der zweiten gibt es spätestens am Ende Krach. Stattdessen ist unser Wilhelm lieber stolzer Krieger, er braucht den „ritterlichen“ Kampf und geht ihm nach, wo sich eine Gelegenheit bietet. In der bald aufkommenden Ritterepik wird diese Kampfeslust als Abenteuerlust beschrieben. Sie führt dem Krieger im übrigen auch edle Frauen zu, belegt sie doch seine Männlichkeit.

 

Philippa war die junge Witwe des Königs von Aragon und einziges Kind von Wilhelm IV. (Guilhem) von Toulouse, war also Erbin. Als Raimund (Raimon) von Saint-Gilles, der neue Herr des Toulousain, zum ersten Kreuzzug aufbricht, vergisst unser Wilhelm die Verpflichtung zum Gottesfrieden für die zurückgelassenen Herrschaftsgebiete der Kreuzfahrer und fällt über das Fürstentum her.

 

Aber das Herrschen gefällt Wilhelm weniger als das Erobern, und so überlässt er Philippa die Aufsicht über Toulouse und Umgebung und zieht an der Seite von Wilhelm Rufus in der Normandie in neue Kämpfe. Der war Sohn Wilhelms des Eroberers und wollte die Abtrennung der Normandie von seinem englischen Königreich nicht hinnehmen. Zudem war er wie Wilhelm von Aquitanien ein ausgesprochen „höfischer“ Mensch und ein begeisterter ritterlicher Krieger.

 

Als unser Wilhelm von der Eroberung Jerusalems 1099 hört, packt ihn dann doch die ganz große Reiselust, er verzichtet zugunsten Bertrans von Saint-Gilles auf Toulouse, nimmt das Kreuz und zieht "mit 30 000 Rittern" los (eine wohl heftig übertriebene Zahl), erleidet auf dem Landweg ungeheure Verluste und reitet am Ende mit wenigen Überlebenden in Jerusalem ein.

 

Den öffentlichen Klatsch der Höfe erfreut er besonders mit seiner Entführung der schönen Maubergeonne, der Vikomtess von Châtellerault, Ehefrau eines seiner Vasallen, die er als Maitresse auf einer seiner Burgen etabliert. Sie bringt ihm die zweite Exkommunikation durch einen päpstlichen Legaten ein, die er - so wird berichtet - ebenfalls mit Verachtung bedenkt.

 

1120 im Alter von fast fünfzig Jahren sucht Wilhelm das Abenteuer dann auch noch auf der iberischen Halbinsel im Bündnis mit Aragon gegen die „Heiden“. Die Mauren werden vernichtend bei Cutanda geschlagen, aber unser Graf wird bald darauf schwer verletzt. Topsfield reiht folgendes Gedicht dort ein, in welchem ritterliches Reckentum sich wacker niederschlägt:

 

Mein Leben weihte ich dem Heldenmut und dem Vergnügen (proeza e joi), aber nun heißt es, von ihnen Abschied zu nehmen, und ich entferne mich zu Ihm, bei dem alle Sünder Frieden finden (troban fi). Ich war sehr fröhlich und ganz voller Freude, aber unser Herr wünscht das nicht länger ... Ich bitte alle meine Freunde, dass sie an mein Totenbett kommen und mir große Ehre erweisen (e m'onren fort); denn ich erfuhr Freuden und Wonnen (joi e deport) nah und fern und auch in meinem Heim. (Zum Teil im Original in Topsfield, Troubadours and Love, S.40)

 

Am Ende wird Wilhelm von Aquitanien den Weg zu dem ersten Lied schaffen, in dem er vom rabiaten und poetisch ungebrochenen zum lyrischen Ich gelangt:

 

Euer Leib ist weißer als Elfenbein, / deshalb verehre ich keine andere Frau als euch. / Wird mir nicht bald geholfen, / liebt mich meine edle Dame nicht bald, / küsst sie mich nicht in ihrem Zimmer / oder unter dem Laubdach, / werde ich sterben, beim Haupt des heiligen Gregor. // Unserer Liebe geht es / wie dem Zweig des Weißdorns: / Er hängt an seinem Strauch, / in der Nacht, bei Regen und Frost, zitternd. / Doch am nächsten Morgen glänzt die Sonne wieder / festlich auf den grünen Blättern des Zweiges. (deutsch in Delarun, s.o. S. 102)

 

Dies ist eines der ersten auf Pergament erhaltenen europäischen Minnelieder und vielleicht das erste des neunten Wilhelm von Aquitanien. Es ist unübersehbar, dass es schon einer nicht bis heute schwarz auf weiß aufgehobenen lyrischen Tradition entspringt, denn das Spiel mit der Pose im ersten Teil ist bereits souverän, und der zweite Teil ist ein Kommentar, der ein perfektes Bild enthält, das der Brechung des ersten Teils dient.

 

Der alte Rabauke und antiklerikale Weiberheld kann es dabei nicht lassen: Der weiße Leib, eine offenbar schon stehende Wendung, ist alles, was er „verehrt“, und dass er (ausgerechnet) beim Haupt des heiligen Gregor sterben wird, ist Schabernack und freche Persiflage, denn seine Liebe ist bereits unsere Liebe, mit der es auf und ab geht, und die immer wieder neu ergrünt, das gemeinsame Lager nämlich.

Wie sehr seine späten Gedichte bereits Kommentare neuer Poesie sind, wird in 'Ich werde einen Vers machen aus reinem Nichts' (Farai un vers de dreyt nien) deutlich.

 

Meines Erachtens ist Wilhelm in erster Linie ein früher mittelalterlicher Intellektueller in Kombination mit enormer sprachlicher Ausdruckskraft. Er ist ein Skeptiker, und skeptisch steht er allen Weltanschauungen und Glaubenssätzen gegenüber. Seine Lieder/Gedichte handeln alle von der "Liebe", widersetzen sich dabei aber der uns heute so vertrauten Verschnulzung des Themas und behandeln es mit derselben Skepsis wie alles andere. Die intellektuellen Brechungen des Themas machen ebenso ihre Schönheit aus wie die Sprache, die allerdings in der Übersetzung nicht wiedergebbar ist.

 

Das schönste und ungewöhnlichste der 11 erhaltenen Lieder hat einen Anfang, in dem der Kenner des Lateinischen, Norditalienischen, Französischen, Katalanischen oder des Castellano die Worte wiedererkennen kann, was sonst bei ihm nicht so leicht der Fall ist:

 

Farai un vers de dryt nien: / Non er de mi ni d'autra gen, / Non er d'amor ni de joven, / Ni de ren au, / Qu'enans fo trobatz en durmen / Sobre chevau.

 

Ich werde ein Gedicht von rein gar nichts machen: / Es handelt nicht von mir noch von anderen Leuten, / Es handelt nicht von der Liebe noch von der Lebensfreude im besten Alter, / Noch von anderen Dingen, / Es wurde erfunden beim Schlafen / auf einem Pferd.

 

(Man kann das französische faire entdecken, rien, autres gens, amour, etc). Das trobar als (er)finden führt zur Bezeichnung Trobador für alle nach ihm und nach diesem Gedicht. Hierbei geht es um den Einfall, der aus Worten besteht, die als bloße Worte nichts sind, und die situativ „einfallen“, und es handelt von nichts, denn es ist nur ein Gedicht. Zu Pferd gelangt man vor allem zu Taten, und falls das Pferd auf einer Bedeutungsebene auch für eine Frau steht, verbinden sich hier Poesie, Intellekt und Rabaukentum.

 

Das Gedicht gehört zur Liedgattung der devinalhs, der rätselhaften, verrätselten Gedichte, vom lateinischen divinare, erraten. Bei Wilhelm entspricht die Verrätselung im Gedicht der Rätselhaftigkeit, Unverständlichkeit der Welt. Ihm als Skeptiker ist sie ein Wirrwarr unauflöslicher Widersprüche, die man nicht anders als aushalten kann.

 

Das Gedicht, welches von der Vorstellung und der ganz anderen Wirklichkeit menschlicher Liebe handelt, bringt ständig zwei Pole der Trobador-Lyrik zusammen: Den manchmal albern gesehenen Unfug, Spaß (foudatz) und den Sinn samt verfeinerter Sinnlichkeit (sen, den lateinischen sensus). Wilhelm pendelt nämlich zwischen der inakzeptablen Wirklichkeit und der unwirklichen Welt wunschgetränkter Vorstellungen, denn sein Herz ist von tiefempfundenem Schmerz zerspalten, vom dol corau, der französischen douleur du coeur, das, was im mittelhochdeutschen Minnesang herzeleyde heißt.

Er sucht einen Arzt, der seinen Schmerz heilen könnte, denn seine Liebste (amigua) hat ihn schnöde verlassen. „Der wird ein guter Doktor sein, der mich heilen kann, obwohl ich nicht krank bin (ia non sia mau).“

 

Im Kern ist das die Vorstellung Ovids, dass die Liebe Wunden schlägt, die durch die Erfüllung des Begehrens geheilt werden: Love hurts, sang Elvis Costello und mit ihm Emmylou Harris. Die Verbindung von Liebe und Schmerz ist wenigstens Jahrtausende alt.

 

Der rätselhafte Widerspruch im Gedicht ist also der zwischen wahrnehmbarer Wirklichkeit und menschlicher Vorstellung. Dieser Widerspruch wird immer wieder in den Text hineingenommen, damit ja nicht der Eindruck entsteht, ein Text könne auf zu rechtfertigende Weise eine eindeutige Welt hervorzaubern.

Wilhelm/Guilhem weiß natürlich als Meister der Sprachreflektion, dass jeder Text das dennoch für den naiven Leser tut, und wer hat schon die Stärke, Texte nicht naiv zu lesen oder zu hören...

 

Ich habe eine Liebste, ich weiß nicht, wer sie ist, / Denn ich habe sie nie gesehen, bei meinem Glauben; / Noch tat sie jemals etwas, was mich erfreut oder geärgert hätte, / Noch kümmert mich das, / Denn nie war ein Normanne oder Franzose bei mir zuhause.

 

Normannen und Franzosen sind für den Aquitanier von höfischer Kultur, von „Höflichkeit“, barbarische, rohe Banausen. Die Liebste seiner Vorstellung macht ihn aber zugleich zu einem Opfer seiner höfischen Kultiviertheit. Um mit Sigmund Freud zu sprechen, sensible Kunstfertigkeit als Sublimation roher Triebhaftigkeit erfreut nicht nur die Vorstellungskraft, sondern sie ist zugleich ein Joch, das leiden lässt.

 

Sein Zuhause (ostau, kastellanisch hostal oder französisch hôtel) ist seine Vorstellungskraft, in der sein Herz mit seinem Verstand arbeitet. Dort gibt es die domna oder dompna seines Herzens (die italienische donna):

Ich sah sie nie und liebe sie sehr, / Ich habe mich nie ihr gegenüber behaupten müssen; / Wenn ich sie nicht sehe, ist das reinstes Vergnügen...

 

Das reine Vergnügen ist deport, was im Französischen desportes wird und dann sich im Englischen später zu sport(s) entwickelt. Und da unser ritterlicher Liedermacher die Differenz in der Welt nicht mag, wird er nun wieder grantig:

Mir ist das völlig wurscht, / Denn ich kenne eine Dame, die ist noch anmutiger (gensor) und schöner und noch viel mehr wert.

 

Der grantige Trotz ist ein kurzer, kunstvoll eingestreuter Affekt, den er dann wieder zurücknimmt. An anderen Stellen wird er das, was Engländer seit der Reformation mit dem Wort „bawdy“ benennen, und dem eine deutsche Entsprechung fehlt, also in etwa: unzüchtig, unmanierlich, unanständig. Damit knüpft er an das Pferd an, auf dem ihm schlafend das Gedicht eingegeben wurde. Die Dame, die noch schöner und besser ist, ist eben die, die ihn verlassen hat. Sie ist wohl nur deshalb noch schöner und besser, weil sie aus Fleisch und Blut ist.

 

Zu des Dichters Zeit beginnt sich bereits eine höfische Kultur in Südgallien zu entwickeln, im Poitou, in Aquitanien, in der Provence (die deutschen Lande werden in germanischer „Barbarei“ erst viel später folgen.) Ihre hövescheit oder „Höflichkeit“ (französisch courteoisie) wird von ihm geschätzt, und zugleich kritisiert er sie unentwegt: Die Last ihrer Disziplin nimmt ihm etwas von dem, was ein Kernwort okzitanischer Kultur ist: joy, Lebensfreude, das sinnliche sich Austoben, das Glücksgefühl im Spüren aller (männlichen) Muskeln, der anschwellende Rausch erotischer Lust. Alles wird durch die zunehmenden Schranken einer neuen Höflichkeit mitsamt einer neuen Frömmigkeit vernagelt, wiewohl Wilhelm weiß, dass die Formen, in denen er joy ausdrücken kann, jene für mich immer seltener in Italien anzutreffende gioia, die französische joie de vivre, eben Lebenslust, sich auch und zugleich (welch ein fataler Widerspruch!) aus diesen kulturellen Innovationen nährt.

 

Joy suchen die Trobadors (und die wenigen Trobaditz) und joven, die Lebenslust der besten Jahre (abgeleitet vom lateinischen iuvenis), und amor in all ihren Facetten. Aber am Ende des Gedichtes muss Wilhelm in Gedanken zu der wirklichen Domna zurückkehren, die ihn verlassen hatte:

 

Ich kenn nicht den Ort, wo sie ist / Ob sie auf Bergen wohnt oder im Tal, / Ich wage nicht zu beschreiben, was sie mir angetan hat, / Besser darüber schweigen. / Und es betrübt mich, dass ich hierbleiben muss, / Aber das ist mein Los.

 

Dies „hier“ ist die erfahrbare Wirklichkeit jenseits aller schönen Texte, all des schönen „trobar“ von Liedern und des courteoisen Zaubers. Im „Finden“ des Textes ist alles nichts, tot es niens, denn aus Nichts wird am Ende nichts. Das bleibt sein zweiter Schlüssel-Ausspruch: no sai qui s'es, ich weiß nicht, was das alles ist.

 

Und hier trifft sich unser Dichter mit der neuen Welle von Frömmigkeit, die gerade durch das romanische Gallien zieht, und die bald den neuen Stil der Gotik hervorbringen wird: Die sinnlich erfahrbare Welt ist nichtig, bloß – bei Wilhelm gibt es wie bei manchem anderen noch nicht recht christianisierten Ritter keine andere, über die er sich hienieden auslassen könnte, und die bessere menschlicher Vorstellung bleibt ein Traum. Die Vernunft erobert sich in der frühscholastischen Dialektik eine neue Welt, die auf vernünftige Konsistenz dringt, während unser Guilhem die Widersprüche lebt.

 

Bernart de Ventadorn

 

Wer durchs Limousin reist, kann noch heute die Ruinen der Burg von Ventadour (Ventadorn) besichtigen. Das war der Ort, an dem einer der bedeutendsten trobadors im 12. Jahrhundert groß wurde und wo er das „Singen“ lernte, also die Kunst lyrischer Ausdrucksweise. Das war der Bernhard, der sich in der eigenen Sprache Bernartz nannte, und den wir heute nach dem Ort seiner Kindheit und Jugend Bernart de Ventadorn nennen (französisch: Bernard de Ventadour)

 

Um eine Vorstellung sowohl von der Sprache als auch den Inhalten dieses neuen „lyrischen Ichs“ nach der Antike zu bekommen, hier ein Anfang eines Liedes von Bernart sowohl im okzitanischen Original wie in meiner Übersetzung:

 

Non es meravelha s'eu chan

melhs de nul autre chantador,

que plus me tra.l cors vas amor

el melhs sui faihz a so coman.

Cor e cors e saber e sen

e fors' e poder i ai mes.

Si.m tira vas amor lo fres

que vas autra part no.m aten.

 

Es ist kein Wunder, wenn ich / besser singe als jeder andere Sänger, / denn mich zieht das Herz mehr zur Liebe hin / und mehr ergebe ich mich ihren Befehlen. / Herz und Leib, Verstand und Sinn, / Kraft und Macht habe ich verwandt. / Die Zügel ziehen mich so sehr zur Liebe hin, / dass nichts anderes meine Aufmerksamkeit mehr erregt. (Im Original in Topsfield, Toubadours, S. 114)

 

Wer romanische Sprachen kennt, entdeckt einen begrifflichen Kanon, der bis in die Schnulzen der Gegenwart hineinreicht: Wunder, Singen, Herz, Liebe, Unterwerfung, und dann als Gegenpol (der in der Schnulze fehlt): Wissen und Sinn (sensus, bei einem englischen Übersetzer als Instinkt verstanden), Kraft und Macht. Was in der späteren spanischen (nicht katalanischen) Lyrik dazukommen wird, ist eine sehr mystisch-katholisch-kastilische Auffassung von Seele (alma), die mit der Säkularisierung mit einer etwas vagen Vorstellung von Gefühl verschwimmt. Ein solcher Seelenbegriff fehlt aber bei den Troubadouren noch.

 

Zunächst etwas zum Verständnis der von mir übersetzten ersten Zeilen dieses Liedes, dessen Text wie die Musik vom Sänger stammt. Bertrant, den manche damals wie heute für den wichtigsten okzitanischen Minnesänger seiner Zeit halten, ist nicht voller Arroganz, wenn er sagt, er sei besser als (melhs de) irgendein anderer Sänger. Er ist es eben nicht, weil er ein großes künstlerisches Genie ist, eine solche Vorstellung gab es damals noch nicht. Er ist besser, weil er sich mehr als alle anderen der Liebe (amor) widmet und ergibt. Das ist natürlich eine ernsthafte literarische Pose.

 

Die Liebe, der sich der Trobador Bertrant unterwirft, ist, wie leicht ersichtlich, zunächst einmal eine Personifikation. Das ist eine antike Tradition, die daher vertraut ist, dass indogermanische Götter Personifikationen waren. In ihnen stellte sich „etwas Lebendiges“ als „jemand“ dar. Das kaum Greifbare wird anschaulich, greifbar gemacht. Derart kann es in beiderlei Wortsinn „begriffen“ werden. Und so gibt es die Dame Liebe, in der verarbeitete Triebhaftigkeit zum Gegenstand werden kann, und jenen Herrn, der der Teufel ist, die Verkörperung des „Bösen“. Auf diese Weise konnten auch die Laster, das Ausagieren des Bösen in seiner vielfachen Gestalt sogar in Statuen zur Anschauung gebracht werden.

 

Zunächst einmal ist „die Liebe“ die Nominalisierung einer Tätigkeit oder zumindest Aktivität, des Liebens. Das Lieben gibt es erfahrbar, die Liebe natürlich nicht. Deshalb ist Nominalisieren und Personifizieren derselbe Vorgang, etwas nicht unmittelbar Greifbares wird scheinbar zum Begriff, indem ihm die Betätigung und das Geschehen als Aspekte entzogen werden. Um das etwas zu verdeutlichen: Das „Schöne“ „gibt es“ auch nicht, es ist die Nominalisierung einer Eigenschaft, also eines Urteils, welches einem Gegenstand der Wahrnehmung angehängt wird. Nun ist natürlich die Benennung von Tätigkeit leichter zur Sprache zu bringen als die von Eigenschaften, besonders von solchen Aktivitäten, die nicht bloß gedanklich ausgetragen werden.

 

Mit dem Lieben wird es da schon schwierig, weil es als Begehren zunächst überhaupt nur vom Begehrenden wahrnehmbar ist, wenn mit dem Wort nicht nur das Ausagieren des Geschlechtstriebes gemeint ist, während es sich als gebende Liebe überhaupt in der Tätigkeit erst erweist.

 

In den Liedern der Trobadors spielt das christlich definierte Seelenheil auf den ersten Blick oft keine Rolle, und doch sind sie zutiefst christlich geprägt. Das wird aus dem Anfang dieses Liedes nur zur Hälfte deutlich: Die hier benannte begehrende Liebe ist kein integraler Teil des Menschen, sie ist vielmehr eine Kraft, der man sich entgegensetzen kann; der Sänger ist dabei gescheitert, sie hat ihn hinweggezogen. Das alles ist natürlich eine Pose.

 

Schon in den ersten vier Zeilen ist der Sänger also so großartig, weil er so erheblich gescheitert ist. Damit ist er in einen Widerspruch eingetreten, den er nun lyrisch reflektiert – aber er gibt auch nicht dem Begehren nach, sondern der Liebe (amor, nicht libido, luxuria, cupiditas oder voluptas). Er kann den Widerspruch aushalten, weil sich das Begehren ohnehin dorthin richtet, wo es keine gewisse Befriedigung gibt. Die Liebe ist nämlich tatsächlich eine Dame, kein leichtes, leicht zu habendes Mädchen, sie ist als poetische Vorstellung eine womöglich unerreichbare Frau.

 

Der erste Widerspruch löst sich im zweiten auf: Das Begehren richtet sich auf etwas Unerreichbares.

Wenn ich nun sehr keck wäre, würde ich einen großen Bogen zur Entstehung des Kapitalismus im noch christlichen Abendland schlagen, aber das wäre ein allzu großer Bogen; es fehlen unzählige Zwischenschritte, die unter anderem auch das personifizierte Begehren auf den Boden alltäglicher Wirklichkeit herunterholen müssten: Auf die Ebene der Produzenten, die die kleine kunstinteressierte Oberschicht versorgen und anfangen, Waren für einen Markt zu produzieren, auf den Boden der Machtverhältnisse und der gesellschaftlichen Verbindlichkeiten. Dann wäre von der Umleitung des Begehrens auf tote Dinge zu berichten, auf den Warencharakter dieser Dinge usw.

 

Zurück zu seinen Liedern. In einer Strophe heißt es:

 

Wenn ich sie sehe, sieht man es / in meinen Augen, meinem Gesicht (vis), meiner Farbe / denn so zittere ich vor Furcht / denn ich bin verrückt / hab weniger Verstand als ein Kind / so sehr bin ich von der Liebe eingenommen (entrepres); / und um einen so besiegten Mann / sollte die Dame (domna) sich Sorgen machen.

 

Ganz geschauspielert war so etwas nicht, es war auch nicht einfach nur „literarische“ Pose. Ein guter Schauspieler spielt zudem Gefühle so, dass er sie im Spiel in sich wahrnimmt.

 

Bernart hatte übrigens wie alle damals zwar einen Namen, aber keinen Nachnamen, Familiennamen, und das de Ventadorn ist kein Name, sondern wird nur von anderen verwendet, um ihn durch die Herkunft von anderen Bernarts zu unterscheiden. Es ist darüber hinaus schon gar kein „de“ als Adelsprädikat, so etwas gab es damals noch gar nicht. Den germanischen Ursprung seines Namens (Bernhard) erkannte er wohl auch nicht mehr, im Süden des ehemaligen Galliens war man Aquitanier, Provenzale oder was auch immer, die Erinnerung an die gotische und fränkische Herrschaft war geschwunden, die französische steht erst bevor, und die Sprache war ein etwas heruntergekommenes Regionallatein.

 

Unser Bernart war wohl das Kind von Dienstboten oder Handwerkern auf der Burg von Ventadorn. Bei Peire d'Alvernhe heißt es: Als Vater hatte er einen Dienstmann (sirven), der geübt war im Schießen mit dem Langbogen aus Goldregen (alborn), und seine Mutter beheizte den Ofen (forn) und sammelte dafür Zweige. (Topsfield, Troubadours..., S.112)

 

Die gräfliche Herrschaft dort war mit den frühen Trobadors in Kontakt gekommen und die Gräfin Alaiz hatte sich besonders darum bemüht, solche Sänger in ihre Burg zu bekommen. Deren neue Kunst hatte der Knabe aus kleinen Verhältnissen dann in sich aufgesogen, und er war darin offensichtlich von den Herrschaften gefördert worden.

 

Vielleicht auch deshalb, und wegen der räumlichen Nähe zu den feudalen Strukturen im französischen und anglonormannischen Gallien, analogisiert er den Frauendienst, Minnedienst mit dem Dienst des feudalen Vasallen, der zuallererst Waffendienst im kriegerischen Gefolge ist, und dessen materielle Gegenleistung in Land, einer Burg, einem Haus bestehen kann. Die handfeste Gegenleistung der "Herrin" wäre bzw. ist, dass sie ihn "erhört".

 

Irgendwann hatte er sich vielleicht seine Gräfin Alaiz zur Dame seines Herzens und seiner Gedichte auserkoren und ist dann in seinen Liedern so deutlich geworden, wie in dem obigen. Jedenfalls legt ihm der Herr von Ventadorn die Abreise nahe, und dessen Wille war für den Sänger dann selbstverständlich Befehl.

 

In ihrem heimischen Poitiers war gerade mal wieder Eleonore von Aquitanien eingetroffen, ehedem Gemahlin des Königs von Frankreich, eines damals noch ziemlich kleinen Königreiches, und inzwischen nach Scheidung „Königin der Normannen“, also Gemahlin des aus der angevinischen (vom Anjou abgeleiteten) Familie der Plantagenet stammenden „anglonormannischen“ Königs von England und des ganzen Westens des heutigen Frankreichs und ehemaligen Galliens.

 

Diese okzitanische Hochadelige und längst Herrscherin über ein Riesenreich, welches von ihren Söhnen (Richard Coeur de Lion und Jehan Sans Terre, Löwenherz und Ohneland) wieder ruiniert werden wird, soll von zu Hause (Großvater war Guilhem IX) eine Liebe zu der neuen Dicht- und Sangeskunst mitgebracht haben, was allerdings nicht dokumentiert ist. Ihrem Hof schließt sich Bernart nun möglicherweise an und vermutlich ist sie es, die er als seinen aziman verherrlicht, nämlich seinen Lebenspol oder Leitstern.

 

Über sie wird er Zugang bekommen zur zweiten das Abendland beeinflussenden Welt neben der islamischen: zum keltischen Kulturkreis Britanniens und der Bretagne, die damals gleich hießen: Britannia. Für ihn wird dabei vielleicht die Gralssage, aber auf jeden Fall die Geschichte von Tristan und Iseult wichtig werden, in der die „Liebe“ eine Naturgewalt ist, der man sich nur durch den Tod entziehen kann. Ähnlich wie im Süden wird auch im Norden das Begehren nicht nur durch das christliche Verbot gebrochen, sondern durch Vorstellungen von Gefolgschaft und Treue.

 

Zurück zu unserem Lied: Die hier beschriebene Liebe, genauer das erotische Begehren, wirkt wie eine Naturgewalt, aber sie wird nicht, wie in den vielen Jahrhunderten vorher, als solche eingesetzt. Der Sänger deutet an, was er gerne hätte, bittet aber die Dame um Erlaubnis, und da er sich an eine Dame wendet, vielleicht auch verheiratet, ist implizit im Text eingeschlossen, dass sie ihn nicht erhören muss - vielleicht auch nicht will. Dass aber nun Frauen wenigstens in diesem Sinne die Starken werden, denen die erotische Entscheidung überlassen wird, ist ein Wendepunkt. In der Wirklichkeit ist beim Adel und beim Bürgertum davon aber noch lange kaum etwas zu spüren.

 

In unserem Lied feiert Bernart die Liebe als solche, er feiert das Lustvolle an diesem nicht gleich eingelösten Begehren und das geht nur, wenn er sich eine „hohe“ und insofern eher unzugängliche Dame zum Gegenstand macht. In der Regel ist diese Dame zudem mit einem Mächtigen verheiratet. Zugleich feiert er das Leiden an diesem Begehren, denn letztlich sucht er eine „Liebe“, die stets in Gefahr ist, unerfüllt zu bleiben, und deren sexueller Vollzug ihre Zerstörung wäre, was er natürlich nicht sagt. Dann wäre die Voraussetzung für das spielerische Moment dieser Kultur verloren. Das neue lyrische Ich versteht seine Entfaltung als inneres Abenteuer, die phantasierte Beziehung ist die der kurzen amourösen Episode, die Ehe wäre ihr Tod.

 

Diese neue Form von Liebe ist nicht die Gottesminne des Mönches oder der Nonne, in der der Eros, das Begehren, sich von jedem physischen Aspekt abwendet, wir sagen gelegentlich, vergeistigt, spiritualisiert wird, was diesen Vorgang eher nebelhaft beschreibt. Aber indem der Eros des Trobadors sich idealiter einen ebenso sinnlich-handfesten wie schwer erreichbaren Gegenstand sucht, was dann später in den Festen der höfischen Liebe zusammen mit den Damen und Herren gefeiert werden wird, wird die Lust immerhin an das Leiden gekoppelt. Im intakten Kloster sollte es umgekehrt sein: Das Leiden sollte zu einer Form spiritualisierter Lust führen, der Lust am Eigentlichen, Spirituellen, jener Lust, welche aus der Abkehr von den Leiden der „fleischlichen“ Existenz herrührt, und doch eine erotische Komponente bei den dafür Begabten gewinnt.

 

Als Entstehungsort höfischer Vorstellungen und Verhaltensweisen lässt sich wohl am wahrscheinlichsten der Hof von Poitiers darstellen, für den vor allem Bernart seine Lieder/Gedichte schrieb. Ein, zwei Generationen nach unserem Wilhelm von Aquitanien tut sich hier ein Netzwerk ritualisierter Verhaltensformen auf. In allen möglichen Lebensbereichen werden solche eingeübt, beim Essen, Trinken, sogar manchmal bei der Gewaltausübung und der Einlösung sexuellen Begehrens. Dabei wird die Geduld zur ersten Tugend, das Abwarten-Können und eben auch die Pose der Demut vor der Dame.

 

Diese Formalisierung und Ritualisierung des Verhaltens, bis heute als Reminiszenz in der deutschen Sprache als „Höflichkeit“ erhalten, dem être poli, aus dem Verb polir entstanden, das zur politesse der französischen Spätrenaissance wird, taucht im Mittelfranzösischen am Ende des 12. Jahrhunderts als courtoisie auf, und auf der italienischen Halbinsel als cortesia.

 

Es ist zu unterscheiden von dem sich im Spätmittelalter entwickelnden être galant, woraus die französische Renaissance die galanterie macht. Dieses sprachlich aus dem fränkischen wala abgeleitete Verhalten wird zur gänzlich äußerlicher Form, während das „polierte“ Verhalten in seiner Entstehungszeit noch die Idee einer damit verbundenen inneren Einstellung enthielt.

 

Unser Wilhelm von Aquitanien war ein, zwei Generationen vor Bernart von den frühen Formen höfischen Verhaltens und damit verbundener Gesinnung beeinflusst, machte sie aber zugleich mit seinem Spott noch lächerlich. Indem diese „hövescheit“ zu einer Bedingung für Standeszugehörigkeit wird, wird sie unabdingbares „comme il faut“, wie es dann Andreas Cappelanus in den Dialogen seines 'De Amore' in seinem Latein um 1200 formuliert.

 

Bernart verpflichtet sich als erster dieser Trobadors/Troubadoure völlig diesen höfischen Konventionen. Aber er versucht, sie mit Gefühlen aufzuladen. Dabei verlässt er das intellektuelle Niveau des Guilhem, das ganz andere eines Macabru (ein Künstlername) oder eines Jaufre Rudel. Jois, Lebenslust, wird nur noch im Liebesdienst angestrebt, und dieser wiederum dient nur noch der Erweckung von Lebenslust, wird eine Art therapeutisches Anliegen.

 

Das Singen kann keinen Wert erlangen (no pot gaire valer), / wenn sich das Lied nicht aus dem Herz heraus bewegt (si d'ins dal cor no mou lo chans); / kein Lied kann sich aus dem Herzen heraus bewegen (no pot dal cor mover), wenn dort keine von Herzen kommende feine Liebe ist (si no i es fin'amors coraus).

 

Oder an anderer Stelle:

 

Jedermann (totz om), der nicht die Liebe zum Zustand seines Lebens macht, und der sein Herz und sein Begehren nicht zur Liebe führt, führt ein niedriges Leben; denn alles, was ist, verliert sich (s'abandona) in Freude (joy) und hallt davon wider: Wiesen, Gärten und Obsthaine, Röhrichte, Ebenen und Wälder. (Beide Originaltexte in Topsfield, Troubadours, S. 119, 124)

 

Die Welt dieser Lieder wirkt ein wenig, als ob sie schon den Keim jenes finalen Abgrundes enthielte, den die 'Liaisons dangereuses' beim Zusammenbruch des Ancien Régime' anbieten, wie die von Müßiggängern mit recht leeren Herzen, die Gefühle tanken, indem sie sich an der Liebe zu einer Dame entzünden. Das wirkt auch schon fast wie die Welt der Wohlstandsoasen des späten Kapitalismus Ende des 20. Jahrhunderts, in der die gelangweilte Gefühlsarmut ihre Reste an Emotionalität entweder durch sexuelles Aufputschen erreicht, durch Drogen oder aber durch Randalieren.

 

Das ist aber unfair gegenüber Bernart und seiner Zeit, in der die Poesie immerhin noch kunstvoll ist, und die Lieder darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um einen zunehmend auch von Damen kontrollierten höfischen Alltag handelt, bei dem solche wie Eleonore von Aquitanien, Herrin des Hofes von Poitiers, an der Seite des französischen Königs im Kreuzzug auf dem Landweg nach Jerusalem und in die Schlachten reiten und solche wie Ermengarde von Narbonne über ein halbes Jahrhundert ihr Fürstentum regieren.

 

Die Entmoralisierung und Entlassung der Liebe aus sozialverbindlichen Bindungen gelingt bei Bernart vor allem in der Konzentration auf diejenigen Damen, die ihn nicht zwischen ihre Schenkel lassen. Auf diese Weise kann sich dort seine poetische Version des himmlischen Jerusalem fixieren, dass ihm die auf Dauer vergleichsweise enttäuschende Erhörung nehmen würde. Zwar singt er:

 

Ach! Was ist mein Leben wert, wenn ich nicht jeden Tag unter dem Fenster meine wahre und meiner Natur gemäße Freude sehe (fi joi natural), ihr Körper weiß wie der Schnee an Weihnachten, so dass wir aneinander maßnehmen können?

 

Und: Oh Gott! Warum bin ich ich keine Schwalbe (ironda), so dass ich durch die Lüfte fliegen könnte und aus der tiefen Nacht in ihre Kammer kommen könnte. (Wenn ich ein Vöglein wär...)

 

Aber sein zentrales Thema ist nicht der kurze Genuss, sondern das lange Sehnen und Leiden daran, die Wollust des Schmerzes, das einzige, was ihn lebendig macht. Die lyrische Erfindung der Liebe neuen Typs besteht nicht in der Verfeinerung des Koitus oder des Weges dahin, es ist noch nicht erotisches Raffinement, sondern die Entdeckung des belebenden Elementes des Eros in seiner Unerfülltheit.

 

Wir müssen von Ausnahmen abgesehen nicht annehmen, dass es sich bei Trobadors oder deutschen Minnesängern um eine Praxis des Verzichtes auf Einlösung des Begehrens handelte. Ein Teil dieser Lyrik beschäftigt sich auch mit dem erotischen Vollzug. Aber das Besondere ist eben die Kultur des Sehnens und des Schmerzes, der Sensibilisierung des Innenlebens und des Wahrnehmungsvermögens. Bei Andreas Capellanus, noch eine Generation später, wird die fast schon ironische Spiegelung eine andere höfische sexuelle Praxis darstellen, aber darauf ist später zurückzukommen.

 

Eva und die hohe Minne

 

Das lateinische und christliche "Mittelalter" kennt zwei von der Kirche den Menschen vorgehaltene weibliche Leitfiguren: Die eine ist Eva, die im altjüdischen und zutiefst patriarchalischen Priester-Mythos Adam zur doppelten Sünde des Erkenntnisdrangs und des geschlechtlichen Begehrens verführt und damit die Gottähnlichkeit des Menschen in seiner Unsterblichkeit verspielt. Die andere ist Maria, die auf mysteriöse Weise von jenem Gott befruchtet wird, der einst nach dem Sündenfall die ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben hat, damit sie seinen Sohn gebiert, der den Menschen den Weg zu neuen paradiesischen Zuständen weisen soll, indem sie aus alledem aussteigen, was den Sündenfall hervorgerufen hat: Aus allem weltzugewandten Begehren nämlich.

 

Frauen spielten in der Kriegergesellschaft seit der Nachantike außer einigen wenigen Herrscherinnen eine geringe öffentliche Rolle. Die Kirche hatte sie abgewertet und erst die Verehrung der hohen Damen in der neuen höfischen Lyrik steigert ihr Ansehen wenigstens in solcher Literatur.  Im Kontext dieser Entwicklung steigt auch die Bedeutung sowohl von Eva wie auch der behaupteten Gottesmutter und der übrigen Marien der Evangelien. Dabei stehen beide weiter für zwei sehr verschiedene Formen von Weiblichkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zunächst ist da also die Doppeldeutigkeit der Frau als Eva und Maria. Die einst über einem der Portale der Kathedrale von Autun liegende Eva von etwa 1130 repräsentiert dann die Internalisierung von Ambivalenzen, wie sie die Entstehungszeit des Kapitalismus kennzeichnen. Die durchaus attraktiv-erotisch gemeinte Nacktheit der jungen Frau, die mit ihrer Linken gerade von der Schlange den Apfel empfangen hat, lädt zur Bewunderung ein, während sie doch gleich Adam zum Bösen verführen wird.In Kürze werden die Klagen über die Macht des Geldes und die materielle Gier anfangen, aber zugleich werden doch fast alle nach Möglichkeit fleißig mitmachen dabei.

Darstellungen von Eva und dem Sündenfall gab es, wenn auch selten, schon vorher, sie werden aber erst jetzt langsam häufiger, und Eva gewinnt dabei unumwunden an Attraktivität. Die zweite Eva, Maria, die den Menschen wieder aus der Hoffnungslosigkeit seines Daseins herausholt, wenn er nur will, gibt es zwar schon seit den Anfängen "romanischer" Kunst häufiger, aber sie verliert nun auch nach und nach ihre triumphale Stellung als Himmelskönigin und wandelt sich in eine liebliche junge Mutter, immer bekleidet, aber selbst darin von zunehmendem Liebreiz.

Das Bild vom Sänger Meinloh aus der Manessischen Handschrift verdeutlicht etwas von dem, was die Germanistik der letzten Jahrhunderte als "hohe Minne" bezeichnet wird: Die Herrin ist unnahbar, was hier verdeutlicht wird durch das lange Papierband, welches den sie verehrenden Sänger von seiner Dame trennt. Das Lied von der Liebe zur frouwe auf diesem Papier stellt sich zwischen sie und ihn.

 

Die Erfindung der "hohen Minne" bzw. des "reinen" amor / fin amor des okzitanischen Sängers verbindet das Begehren des Mannes zur Herrin mit der mit der (gedachten bzw. behaupteten) Voraussetzung seiner Nichterfüllung. Bei den mit größtem poetischen Raffinement ausgestatteten Sängern wie Bernart wird das Begehren in ein dienendes Verehren verwandelt.

 

Non es meravelha s'eu chan

melhs de nul autre chantador,

que plus me tra.l cors vas amor

el melhs sui faihz a so coman.

Cor e cors e saber e sen

e fors' e poder i ai mes.

Si.m tira vas amor lo fres

que vas autra part no.m aten.

 

Es ist kein Wunder, wenn ich / besser singe als jeder andere Sänger, / denn mich zieht das Herz mehr zur Liebe hin / und mehr ergebe ich mich ihren Befehlen. / Herz und Leib, Verstand und Sinn, / Kraft und Macht habe ich verwandt. / Die Zügel ziehen mich so sehr zur Liebe hin, / dass nichts anderes meine Aufmerksamkeit mehr erregt. (Im Original in Topsfield, Toubadours, S. 114)

 

Wer romanische Sprachen kennt, entdeckt einen begrifflichen Kanon, der bis in die Schnulzen der Gegenwart hineinreicht: Wunder, Singen, Herz, Liebe, Unterwerfung, und dann als Gegenpol (der in der Schnulze fehlt): Wissen und Sinn (sensus, bei einem englischen Übersetzer als Instinkt verstanden), Kraft und Macht. Was in der späteren spanischen (nicht katalanischen) Lyrik dazukommen wird, ist eine sehr mystisch-katholisch-kastilische Auffassung von Seele (alma), die mit der Säkularisierung mit einer etwas vagen Vorstellung von Gefühl verschwimmt. Ein solcher Seelenbegriff fehlt aber bei den Troubadouren noch.

Zunächst etwas zum Verständnis der von mir übersetzten ersten Zeilen dieses Liedes, dessen Text wie die Musik vom Sänger stammt. Bertrant, den manche damals wie heute für den wichtigsten okzitanischen Minnesänger seiner Zeit halten, ist nicht voller Arroganz, wenn er sagt, er sei besser als (melhs de) irgendein anderer Sänger. Er ist es eben nicht, weil er ein großes künstlerisches Genie ist, eine solche Vorstellung gab es damals noch nicht. Er ist besser, weil er sich mehr als alle anderen der Liebe (amor) widmet und ergibt. Das ist natürlich eine ernsthafte literarische Pose.

 

Die Liebe, der sich der Trobador Bertrant unterwirft, ist, wie leicht ersichtlich, zunächst einmal eine Personifikation. Das ist eine antike Tradition, die daher vertraut ist, dass indogermanische Götter Personifikationen waren. In ihnen stellte sich „etwas Lebendiges“ als „jemand“ dar. Das kaum Greifbare wird anschaulich, greifbar gemacht. Derart kann es in beiderlei Wortsinn „begriffen“ werden. Und so gibt es die Dame Liebe, in der verarbeitete Triebhaftigkeit zum Gegenstand werden kann, und jenen Herrn, der der Teufel ist, die Verkörperung des „Bösen“. Auf diese Weise konnten auch die Laster, das Ausagieren des Bösen in seiner vielfachen Gestalt, sogar in Statuen zur Anschauung gebracht werden.

 

Zunächst einmal ist „die Liebe“ die Nominalisierung einer Tätigkeit oder zumindest Aktivität, des Liebens. Das Lieben gibt es erfahrbar, die Liebe natürlich nicht. Deshalb ist Nominalisieren und Personifizieren derselbe Vorgang, etwas nicht unmittelbar Greifbares wird scheinbar zum Begriff, indem ihm die Betätigung und das Geschehen als Aspekte entzogen werden. Um das etwas zu verdeutlichen: Das „Schöne“ „gibt es“ auch nicht, es ist die Nominalisierung einer Eigenschaft, also eines Urteils, welches einem Gegenstand der Wahrnehmung angehängt wird. Nun ist natürlich die Benennung von Tätigkeit leichter zur Sprache zu bringen als die von Eigenschaften, besonders von solchen Aktivitäten, die nicht bloß gedanklich ausgetragen werden.

 

Mit dem Lieben wird es da schon schwierig, weil es als Begehren zunächst überhaupt nur vom Begehrenden wahrnehmbar ist, wenn mit dem Wort nicht nur das Ausagieren des Geschlechtstriebes gemeint ist, während es sich als gebende Liebe überhaupt in der Tätigkeit erst erweist.

 

In den Liedern der Trobadors spielt das christlich definierte Seelenheil auf den ersten Blick oft keine Rolle, und doch sind sie zutiefst christlich geprägt. Das wird aus dem Anfang dieses Liedes nur zur Hälfte deutlich: Die hier benannte begehrende Liebe ist kein integraler Teil des Menschen, sie ist vielmehr eine Kraft, der man sich entgegensetzen kann; der Sänger ist dabei gescheitert, sie hat ihn hinweggezogen. Das alles ist natürlich eine Pose.

 

Schon in den ersten vier Zeilen ist der Sänger also so großartig, weil er so erheblich gescheitert ist. Damit ist er in einen Widerspruch eingetreten, den er nun lyrisch reflektiert – aber er gibt auch nicht dem Begehren nach, sondern der Liebe (amor, nicht libido, luxuria, cupiditas oder voluptas). Er kann den Widerspruch aushalten, weil sich das Begehren ohnehin dorthin richtet, wo es keine gewisse Befriedigung gibt. Die Liebe ist nämlich tatsächlich eine Dame, kein leichtes, leicht zu habendes Mädchen, sie ist als poetische Vorstellung eine womöglich unerreichbare Frau.

 

Der erste Widerspruch löst sich im zweiten auf: Das Begehren richtet sich auf etwas Unerreichbares.

Wenn ich nun sehr keck wäre, würde ich einen großen Bogen zur Entstehung des Kapitalismus im noch christlichen Abendland schlagen, aber das wäre ein allzu großer Bogen; es fehlen unzählige Zwischenschritte, die unter anderem auch das personifizierte Begehren auf den Boden alltäglicher Wirklichkeit herunterholen müssten: Auf die Ebene der Produzenten, die die kleine kunstinteressierte Oberschicht versorgen und anfangen, Waren für einen Markt zu produzieren, auf den Boden der Machtverhältnisse und der gesellschaftlichen Verbindlichkeiten. Dann wäre von der Umleitung des Begehrens auf tote Dinge zu berichten, auf den Warencharakter dieser Dinge usw.

 

Zurück zu seinen Liedern. In einer Strophe heißt es:

 

Wenn ich sie sehe, sieht man es / in meinen Augen, meinem Gesicht (vis), meiner Farbe / denn so zittere ich vor Furcht / denn ich bin verrückt / hab weniger Verstand als ein Kind / so sehr bin ich von der Liebe eingenommen (entrepres); / und um einen so besiegten Mann / sollte die Dame (domna) sich Sorgen machen.

Ganz geschauspielert war so etwas nicht, es war auch nicht einfach nur „literarische“ Pose. Ein guter Schauspieler spielt zudem Gefühle so, dass er sie im Spiel in sich wahrnimmt.

 

Bernart hatte übrigens wie alle damals zwar einen Namen, aber keinen Nachnamen, Familiennamen, und das de Ventadorn ist kein Name, sondern wird nur von anderen verwendet, um ihn durch die Herkunft von anderen Bernarts zu unterscheiden. Es ist darüber hinaus schon gar kein „de“ als Adelsprädikat, so etwas gab es damals noch gar nicht. Den germanischen Ursprung seines Namens (Bernhard) erkannte er wohl auch nicht mehr, im Süden des ehemaligen Galliens war man Aquitanier, Provenzale oder was auch immer, die Erinnerung an die gotische und fränkische Herrschaft war geschwunden, die französische steht erst bevor, und die Sprache war ein etwas heruntergekommenes Regionallatein.

 

Unser Bernart war wohl das Kind von Dienstboten oder Handwerkern auf der Burg von Ventadorn. Bei Peire d'Alvernhe heißt es: Als Vater hatte er einen Dienstmann (sirven), der geübt war im Schießen mit dem Langbogen aus Goldregen (alborn), und seine Mutter beheizte den Ofen (forn) und sammelte dafür Zweige. (Topsfield, Troubadours..., S.112)

Die gräfliche Herrschaft dort war mit den frühen Trobadors in Kontakt gekommen und die Gräfin Alaiz hatte sich besonders darum bemüht, solche Sänger in ihre Burg zu bekommen. Deren neue Kunst hatte der Knabe aus kleinen Verhältnissen dann in sich aufgesogen, und er war darin offensichtlich von den Herrschaften gefördert worden.

 

Vielleicht auch deshalb, und wegen der räumlichen Nähe zu den feudalen Strukturen im französischen und anglonormannischen Gallien, analogisiert er den Frauendienst, Minnedienst mit dem Dienst des feudalen Vasallen, der zuallererst Waffendienst im kriegerischen Gefolge ist, und dessen materielle Gegenleistung in Land, einer Burg, einem Haus bestehen kann. Die handfeste Gegenleistung der "Herrin" wäre bzw. ist, dass sie ihn "erhört".

 

Irgendwann hatte er sich vielleicht seine Gräfing Alaiz zur Dame seines Herzens und seiner Gedichte auserkoren und ist dann in seinen Liedern so deutlich geworden, wie in dem obigen. Jedenfalls legt ihm der Herr von Ventadorn die Abreise nahe, und dessen Wille war für den Sänger dann selbstverständlich Befehl.

 

In ihrem heimischen Poitiers war gerade mal wieder Eleonore von Aquitanien eingetroffen, ehedem Gemahlin des Königs von Frankreich, eines damals noch ziemlich kleinen Königreiches, und inzwischen nach Scheidung „Königin der Normannen“, also Gemahlin des aus der angevinischen (vom Anjou abgeleiteten) Familie der Plantagenet stammenden „anglonormannischen“ Königs von England und des ganzen Westens des heutigen Frankreichs und ehemaligen Galliens.

 

Diese okzitanische Hochadelige und längst Herrscherin über ein Riesenreich, welches von ihren Söhnen (Richard Coeur de Lion und Jehan Sans Terre, Löwenherz und Ohneland) wieder ruiniert werden wird, soll von zu Hause (Großvater war Guilhem IX) eine Liebe zu der neuen Dicht- und Sangeskunst mitgebracht haben, was allerdings nicht dokumentiert ist. Ihrem Hof schließt sich Bernart nun möglicherweise an und vermutlich ist sie es, die er als seinen aziman verherrlicht, nämlich seinen Lebenspol oder Leitstern.

 

Über sie wird er Zugang bekommen zur zweiten das Abendland beeinflussenden Welt neben der islamischen: zum keltischen Kulturkreis Britanniens und der Bretagne, die damals gleich hießen: Britannia. Für ihn wird dabei vielleicht die Gralssage, aber auf jeden Fall die Geschichte von Tristan und Iseult wichtig werden, in der die „Liebe“ eine Naturgewalt ist, der man sich nur durch den Tod entziehen kann. Ähnlich wie im Süden wird auch im Norden das Begehren nicht nur durch das christliche Verbot gebrochen, sondern durch Vorstellungen von Gefolgschaft und Treue.

 

Zurück zu unserem Lied: Die hier beschriebene Liebe, genauer das erotische Begehren, wirkt wie eine Naturgewalt, aber sie wird nicht, wie in den vielen Jahrhunderten vorher, als solche eingesetzt. Der Sänger deutet an, was er gerne hätte, bittet aber die Dame um Erlaubnis, und da er sich an eine Dame wendet, vielleicht auch verheiratet, ist implizit im Text eingeschlossen, dass sie ihn nicht erhören muss - vielleicht auch nicht will. Dass aber nun Frauen wenigstens in diesem Sinne die Starken werden, denen die erotische Entscheidung überlassen wird, ist ein Wendepunkt. In der Wirklichkeit ist beim Adel und beim Bürgertum davon aber noch lange kaum etwas zu spüren.

 

In unserem Lied feiert Bernart die Liebe als solche, er feiert das Lustvolle an diesem nicht gleich eingelösten Begehren und das geht nur, wenn er sich eine „hohe“ und insofern eher unzugängliche Dame zum Gegenstand macht. In der Regel ist diese Dame zudem mit einem Mächtigen verheiratet. Zugleich feiert er das Leiden an diesem Begehren, denn letztlich sucht er eine „Liebe“, die stets in Gefahr ist, unerfüllt zu bleiben, und deren sexueller Vollzug ihre Zerstörung wäre, was er natürlich nicht sagt. Dann wäre die Voraussetzung für das spielerische Moment dieser Kultur verloren. Das neue lyrische Ich versteht seine Entfaltung als inneres Abenteuer, die phantasierte Beziehung ist die der kurzen amourösen Episode, die Ehe wäre ihr Tod.

 

Diese neue Form von Liebe ist nicht die Gottesminne des Mönches oder der Nonne, in der der Eros, das Begehren, sich von jedem physischen Aspekt abwendet, wir sagen gelegentlich, vergeistigt, spiritualisiert wird, was diesen Vorgang eher nebelhaft beschreibt. Aber indem der Eros des Trobadors sich idealiter einen ebenso sinnlich-handfesten wie schwer erreichbaren Gegenstand sucht, was dann später in den Festen der höfischen Liebe zusammen mit den Damen und Herren gefeiert werden wird, wird die Lust immerhin an das Leiden gekoppelt. Im intakten Kloster sollte es umgekehrt sein: Das Leiden sollte zu einer Form spiritualisierter Lust führen, der Lust am Eigentlichen, Spirituellen, jener Lust, welche aus der Abkehr von den Leiden der „fleischlichen“ Existenz herrührt, und doch eine erotische Komponente bei den dafür Begabten gewinnt.

 

Als Entstehungsort höfischer Vorstellungen und Verhaltensweisen lässt sich wohl am wahrscheinlichsten der Hof von Poitiers darstellen, für den vor allem Bernart seine Lieder/Gedichte schrieb. Ein, zwei Generationen nach unserem Wilhelm von Aquitanien tut sich hier ein Netzwerk ritualisierter Verhaltensformen auf. In allen möglichen Lebensbereichen werden solche eingeübt, beim Essen, Trinken, sogar manchmal bei der Gewaltausübung und der Einlösung sexuellen Begehrens. Dabei wird die Geduld zur ersten Tugend, das Abwarten-Können und eben auch die Pose der Demut vor der Dame.

 

Diese Formalisierung und Ritualisierung des Verhaltens, bis heute als Reminiszenz in der deutschen Sprache als „Höflichkeit“ erhalten, dem être poli, aus dem Verb polir entstanden, das zur politesse der französischen Spätrenaissance wird, taucht im Mittelfranzösischen am Ende des 12. Jahrhunderts als courtoisie auf, und auf der italienischen Halbinsel als cortesia.

Es ist zu unterscheiden von dem sich im Spätmittelalter entwickelnden être galant, woraus die französische Renaissance die galanterie macht. Dieses sprachlich aus dem fränkischen wala abgeleitete Verhalten wird zur gänzlich äußerlicher Form, während das „polierte“ Verhalten in seiner Entstehungszeit noch die Idee einer damit verbundenen inneren Einstellung enthielt.

 

Unser Wilhelm von Aquitanien war ein, zwei Generationen vor Bernart von den frühen Formen höfischen Verhaltens und damit verbundener Gesinnung beeinflusst, machte sie aber zugleich mit seinem Spott noch lächerlich. Indem diese „hövescheit“ zu einer Bedingung für Standeszugehörigkeit wird, wird sie unabdingbares „comme il faut“, wie es dann Andreas Cappelanus in den Dialogen seines 'De Amore' in seinem Latein um 1200 formuliert.

 

Bernart verpflichtet sich als erster dieser Trobadors/Troubadoure völlig diesen höfischen Konventionen. Aber er versucht, sie mit Gefühlen aufzuladen. Dabei verlässt er das intellektuelle Niveau des Guilhem, das ganz andere eines Macabru (ein Künstlername) oder eines Jaufre Rudel. Jois, Lebenslust, wird nur noch im Liebesdienst angestrebt, und dieser wiederum dient nur noch der Erweckung von Lebenslust, wird eine Art therapeutisches Anliegen.

 

Das Singen kann keinen Wert erlangen (no pot gaire valer), / wenn sich das Lied nicht aus dem Herz heraus bewegt (si d'ins dal cor no mou lo chans); / kein Lied kann sich aus dem Herzen heraus bewegen (no pot dal cor mover), wenn dort keine von Herzen kommende feine Liebe ist (si no i es fin'amors coraus).

 

Oder an anderer Stelle:

Jedermann (totz om), der nicht die Liebe zum Zustand seines Lebens macht, und der sein Herz und sein Begehren nicht zur Liebe führt, führt ein niedriges Leben; denn alles, was ist, verliert sich (s'abandona) in Freude (joy) und hallt davon wider: Wiesen, Gärten und Obsthaine, Röhrichte, Ebenen und Wälder. (Beide Originaltexte in Topsfield, Troubadours, S. 119, 124)

 

Die Welt dieser Lieder wirkt ein wenig, als ob sie schon den Keim jenes finalen Abgrundes enthielte, den die 'Liaisons dangereuses' beim Zusammenbruch des Ancien Régime' anbieten, wie die von Müßiggängern mit recht leeren Herzen, die Gefühle tanken, indem sie sich an der Liebe zu einer Dame entzünden. Das wirkt auch schon fast wie die Welt der Wohlstandsoasen des späten Kapitalismus Ende des 20. Jahrhunderts, in der die gelangweilte Gefühlsarmut ihre Reste an Emotionalität entweder durch sexuelles Aufputschen erreicht, durch Drogen oder aber durch Randalieren.

 

Das ist aber unfair gegenüber Bernart und seiner Zeit, in der die Poesie immerhin noch kunstvoll ist, und die Lieder darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um einen zunehmend auch von Damen kontrollierten höfischen Alltag handelt, bei dem solche wie Eleonore von Aquitanien, Herrin des Hofes von Poitiers, an der Seite des französischen Königs im Kreuzzug auf dem Landweg nach Jerusalem und in die Schlachten reiten und solche wie Ermengarde von Narbonne über ein halbes Jahrhundert ihr Fürstentum regieren.

 

Die Entmoralisierung und Entlassung der Liebe aus sozialverbindlichen Bindungen gelingt bei Bernart vor allem in der Konzentration auf diejenigen Damen, die ihn nicht zwischen ihre Schenkel lassen. Auf diese Weise kann sich dort seine poetische Version des himmlischen Jerusalem fixieren, dass ihm die auf Dauer vergleichsweise enttäuschende Erhörung nehmen würde. Zwar singt er:

 

Ach! Was ist mein Leben wert, wenn ich nicht jeden Tag unter dem Fenster meine wahre und meiner Natur gemäße Freude sehe (fi joi natural), ihr Körper weiß wie der Schnee an Weihnachten, so dass wir aneinander maßnehmen können?

Und:

Oh Gott! Warum bin ich ich keine Schwalbe (ironda), so dass ich durch die Lüfte fliegen könnte und aus der tiefen Nacht in ihre Kammer kommen könnte. (Wenn ich ein Vöglein wär...)

 

Aber sein zentrales Thema ist nicht der kurze Genuss, sondern das lange Sehnen und Leiden daran, die Wollust des Schmerzes, das einzige, was ihn lebendig macht. Die lyrische Erfindung der Liebe neuen Typs besteht nicht in der Verfeinerung des Koitus oder des Weges dahin, es ist noch nicht erotisches Raffinement, sondern die Entdeckung des belebenden Elementes des Eros in seiner Unerfülltheit.

 

Wir müssen von Ausnahmen abgesehen nicht annehmen, dass es sich bei Trobadors oder deutschen Minnesängern um eine Praxis des Verzichtes auf Einlösung des Begehrens handelte. Ein Teil dieser Lyrik beschäftigt sich auch mit dem erotischen Vollzug. Aber das Besondere ist eben die Kultur des Sehnens und des Schmerzes, der Sensibilisierung des Innenlebens und des Wahrnehmungsvermögens. Bei Andreas Capellanus, noch eine Generation später, wird die fast schon ironische Spiegelung eine andere höfische sexuelle Praxis darstellen, aber darauf ist später zurückzukommen.

 

 

Freud nennt so etwas Sublimation von Triebhaftigkeit, also: Verfeinerung. Dieser Vorgang im Minnesang war ein "Spiel", ein Wort, welches wohl ursprünglich eine Art lebhafter Bewegung benennt (wie in „Mienenspiel“). Darum waren die Minnesänger auch "Spielleute". Sie spielten, anders als im späteren Schau"spiel", nicht nur etwas vor, sondern etwas durch. Sie spielten das Sich Versagen des Ausagierens eines Triebes durch, indem sie es vorspielten. Im Unterschied zu Schauspielern trugen sie ihre eigenen Texte vor, und zwar sangen sie sie.

 

Im Anschluss an die christliche Liebesvorstellung, griechisch agape und lateinisch caritas, die nicht eine begehrende und nehmende Liebe war, sondern eine gebende, übt sich eine feine, "höfische" Gesellschaft nun wenigstens gedanklich darin ein, im Bereich des sexuellen Begehrens noch vor das Nehmen das Geben zu stellen. Das betrifft natürlich so nicht das wirkliche Leben, den Alltag, der im neuen Spiel der Geschlechterrollen dabei etwas auf den Kopf gestellt wird, aber es soll in ihn hineinwirken.

 

Der Sänger erwählt sich dafür des öfteren eine Herrin, die er dann "besingt", aber er kann auch ein Lied vortragen, in dem er eine fiktive Dame zum Gegenstand seiner kunstvollen und seine Geschlechtlichkeit "kultivierenden" Exerzitien macht. Die Herrin ist manchmal von hohem Stand, gelegentlich verheiratet, und zudem das, was man damals etwas ungenau alles so unter "keusch" versteht, d.h. sie widersteht erotischen Abenteuern, zumindest hat sie diesen Ruf. Diese frouwe wird anonymisiert, denn eine auf Ehe, Familie und dem Sozialverband des "Hauses" begründete recht patriarchale Gesellschaft muss das neue sensibilisierte erotische Spiel in den Rahmen einer Fest- und Feierkultur eingrenzen, sie würde sonst an ihr zerbrechen.

 

Damit entsteht eine Sphäre weltlicher Laien-"Kunst", die allerdings erst in der Neuzeit so bezeichnet werden wird. Sie hat starken Unterhaltungscharakter und erwirbt sich nach und nach immer mehr erzieherisch-propagandistische Elemente. In ihrer Selbstreflektion entwickelt sie manchmal ein gewisses intellektuelles Niveau. Aus dieser Sphäre wird die hybride Ausgrenzung von sogenannter "Kultur" in den neuen künstlerischen Bereich hinein hervorgehen. Parallel dazu werden "ständische" Verhaltensformen entwickelt, die im Laufe der Zeit so künstlich werden wie die entstehende Kunst.

 

Im kunstvollen Spiel kultiviert der Sänger also einen Widerspruch: Voraussetzung des Spiels ist jenes Begehren, welches im Geschlechtstrieb begründet ist. Indem im Extremfall ein Objekt des Begehrens gewählt wird, welches den Spannungsabbau, die sexuelle Befriedigung unter gar keinen Umständen gewährt, wird die innere Spannung des Begehrens unendlich aufrechterhalten, nicht eingelöst. Dieses Dehnen der Spannung lässt sich als Sensibilisierung beschreiben. Es ist eine kunstvolle Verarbeitung und zugleich Erarbeitung dessen, was Freud als Neurose bezeichnet, der Zustand des Menschen unter den Bedingungen von Kultur und Zivilisation.

 

Im Spiel muss der Sänger aber so tun, als ob er die Triebabfuhr, die sexuelle Entspannung in dieser erwählten Frau, dringend brauchte (vermutlich braucht er sie tatsächlich). Poetisch ist das die Bitte um die "Erfüllung" seiner Liebe. Nur deshalb kann er das thematisieren, was (vorläufig oder dauerhaft) unerfüllte Liebe immer auch bedeutet: Schmerz.

 

Nun vermeidet er dabei einen anderen Schmerz: Den der Ent-Täuschung seiner phantasierten Verzauberung der geliebten Frau nach der Triebabfuhr, wenn der hormonelle Abschwung einsetzt, wie wir heute formulieren können, und die Idealisierung vielleicht schon ihren ersten Rückschlag erleidet. Zudem vermeidet er die Verbindung von Lust und Schmerz im Ausagieren des triebhaften Verlangens, das auf und ab von Aggression und Depression. Aber dazu wird er sich kaum offen äußern. Stattdessen formuliert er die Schmerzlust verfeinerten Begehrens - dieser spezifischen und eher neuartigen Ausformung von Liebe.

 

Neben dem Einüben der Sublimierung des Geschlechtstriebes, der bekanntlich nicht auf Liebe, sondern auf Fortpflanzung abzielt, einer Übung, die überhaupt erst einen neuen Begriff von "Liebe" hervorbringt, übt er sich zugleich ein in das Ertragen von seelischem Schmerz. Was daraus hervorgeht, können wir eben in moderner Ausdrucksweise als "Sensibilisierung" bezeichnen.

 

Das "Ich" wird auf eine Weise "lyrisch", wie es das so zuvor nicht gab. Voraussetzung dafür ist natürlich das stärkere Eindringen des Christentums in den "weltlichen" Raum, also aus den engen Kreisen von Klerus und Kloster heraus. Zudem musste bei den Laien der Oberschichten die Literalität steigen, was zuerst im anglonormannischen und im Mittelmeerraum geschieht. Die deutschen Lande kommen dabei erst mit deutlicher Verspätung hinterher.

 

Zunächst etwas zum Phänomen der "Sensibilisierung". Das Wort "sensibel" kommt erst im 18. Jahrhundert in die deutsche Sprache und damit tritt für Deutsche die Empfindsamkeit (Sensibilität) neben das Gefühl.

Tatsächlich werden diese hochmittelalterlichen Sänger auch nicht in unserem heutigen Wortsinn gefühlvoll, sondern sie werden vielmehr und zuallererst sensibel für etwas, was sie nur durch diese Sensibilität überhaupt fühlen können. Gefühle, wie wir sie heute benennen, sind dem Menschen wie jedem Tier nicht unmittelbar gegeben, aber Menschen können sie entwickeln: (er)finden, okzitanisch trobar.

Ursprünglich war das Wort "Fühlen" ganz stark mit dem Tastsinn verbunden; indem Menschen "Gefühle" entwickelten, entwickelten sie dann in sich etwas, was eines neuen "Sinnes", sensus bedarf. Der große Newton hat im viel späteren Barockzeitalter mit seiner Affektkultur, in der Gefühle in viele verschiedene "Affekte" zerlegt werden, ein schönes neues Wort aus naturwissenschaftlichem Denken geboren: Das "Sensorium".

Was sich im Hochmittelalter entwickelt, ist ein neues Sensorium für sich und den anderen. Auf das parallele Übungsfeld, den religiösen Raum, wird später eingegangen werden.

Bekanntlich bestehen zwischen dem emotionalen, dem gefühlvollen und dem sensiblen Menschen Unterschiede, ganz ungeachtet der Tatsache, dass viele Menschen längst alle drei Aspekte in unterschiedlicher Weise in sich vereinen können. Wenn wir heute sagen, jemand sei übersensibel, dann meint man, er sei sehr verletzlich. In der hohen Minne wird Sensibilität (im weltlichen Raum) eingeübt, Verletzlichkeit, und damit Empfindlichkeit für seelischen Schmerz.

 

Wie anderswo allgemeiner darzustellen ist, ist Selbstbeherrschung das höfische Ideal des Herrn als Machthabers. Um diesem Ideal Ausdruck zu verleihen, wird hier der Wirklichkeit der Gewalt, die Männer über Frauen bis hin zur Vergewaltigung ausüben, in der hohen Minne als extremer Gegenpol das Ideal der Beherrschung des männlichen Geschlechtstriebes bis in den völligen Verzicht seines Auslebens formuliert. So wie extreme Asketen (Robert d'Abrissel etc). das fromme Ideal formulieren, neben einer (attraktiven) Frau zu liegen, ohne sie zu berühren, so kniet der höfische Verehrer vor seiner Dame, um ihr durch schiere Verehrung zu dienen wie in einem feudalen Kontext. Nahe am frommen Asketen dran ist ein provenzalisches Lied, in dem ein Sänger nackt neben seiner nackten domna liegt und alles darf, nur nicht sein Glied in sie einführen, und es ist ihr Recht, ihm das zu verweigern und er darf sein Begehren nicht mit Gewalt einlösen, sicherlich ein nur vorgestellter Fall. (R. Schnell in: Heinzle, S.115)

 

Die Welt adeliger Gewalttäter wird zivilisiert im Gewaltverzicht gegen Frauen. Im Lied von Wenzel von Behein gegen Ende des 13. Jahrhunderts heißt es, seine Liebe und ir kuschu werdekeit  schützen sie, hätte er sie doch vergewaltigen können:  nu hab er dank, der siner frowen also pflege als ich der reinen, senften fruht. ich brach der rosen niht und hete ir doch gewalt. (LDM Wenzel von Böhmen: Us hoher aventúre ein suͤsse werdekeit (C) (ldm-digital.de))

 

In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist "der Stricker"  noch deutlicher: sol er daz obez (Obst, Geliebte) erwerben, da enhoeret niht gewaltes zuo. (...) er enmac gewalticliche daz obez niemer bejagen. (in: Heinzle, S.112) Thomasin von Zerclaere erklärt im 'Welschen Gast': er hât gar einn unhüfschen muot, der den wîben gwalt tuot. (Welscher Gast digital (uni-heidelberg.de))

 

Eines wird sehr deutlich: Der immer wieder betonte Gewaltverzicht gegenüber der begehrten Frau impliziert, dass wohl allzu oft Gewalt im Spiel ist.

 

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Das Konzept der hohen Minne, amour fin, hat einiges an Implikationen. Idealiter wird sie an die verheiratete bzw. unerreichbare Dame gerichtet und konterkariert so das andere (realere) Extrem, das rohe Nehmen der Frau. Mindestens stillschweigend impliziert es, dass "Liebe" im sich erfüllenden Geschlechtsakt sich abnutzt bzw. (auf Dauer) vergeht. Andererseits ist unter den Herrenmenschen zumindest die Eheschließung ein Akt der Machterhaltung oder der Machterweiterung, letztlich ein Geschäft (fast) wie unter Kapitaleignern und fast immer alles andere als das Konzept der Liebesheirat. Die Ehe wiederum dient hier der Kinderproduktion, zu allererst der eines Erben. Die Frau hat sich ganz den Interessen des Gemahls unterzuordnen, was sie meist auch tut, von einigen Ausnahmen wie der Eleonore von Aquitanien abgesehen. Zuneigung hat sich dabei en passant zu ergeben.

 

Für die Sangesbrüder der Minne, der amour fin ist also klar, dass in der Ehe ihre besungene "Liebe" wenig oder gar keinen Platz hat. Wenn überhaupt, findet diese der Ehemann in seinen außerehelichen Amouren, die weiterhin bei sehr vielen üblich gewesen zu sein scheinen und oft auch recht ungeniert stattfinden. Eine Konsequenz ist, dass der dergestalt edle Ehemann sich naheliegende (stillschweigende) Sorgen um die Treue seiner Gemahlin machen muss, die eben Liebe auch außerhalb der Ehe suchen müsste. Dazu kommt die Sorge der Väter um die ehrenhafte Unbeflecktheit der Töchter, die womöglich in den Dunstkreis dieser Liebesäuseleien geraten.

 

Die wichtigste Konsequenz aber ist, dass mit dem Kult der (notgedrungen) außerehelichen "Liebe" diese immer mehr frei flottierend wie ein Vögelchen in die Gemüter einkehrt. Ziemlich genau mit der Christianisierung der Ehe kommt so die Verherrlichung der Bindungslosigkeit des Sexus auf, die allerdings immer im Gewand "ewiger Liebe" auftritt. In den noch etwas altertümlicheren deutschen Landen wird daraus das Plädoyer für die Liebesheirat, illusorisch in jeder Beziehung.

 

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Die hohe Minne ist ein Aspekt des Unterhaltungsmediums Troubadour-Gesang unter Verzicht auf Wirklichkeitsbezug. Ein solcher fehlt auch dem dann aufkommenden Plädoyer für die Liebesheirat.

 

Um 1200 singt Gottfried von Straßburg ein ebenso archaisches wie ganz neuartiges Hohelied der Liebe. Darin gibt es ein ganzes Kapitel (XIII), in dem sich die irische Isolde zusammen mit ihrer gleichnamigen Mutter dagegen wehren, dass der falsche Truchsess die schöne blonde Maid nur wegen ihres Vaters Ehrenwort bekommt. Die Königinmutter verlangt von ihm ganz unzeitgemäß: (Zeilen 9919ff) lâz uns unser vrouwen art / dune bist niht wol dar mite bewart. / habe dînes mannes sinne / und minne, daz dich minne. /welle, daz dich welle. Und wenig später: si waere ze gemeine, / ob si iegelîchen solte / wellen, der si wolte.

 

Dies Plädoyer für die einverständliche Liebesbeziehung und Heirat ist vielleicht das Innovativste an Gottfrieds (sehr weltlichem) Text, und seine Umsetzung in die Wirklichkeit der Kreise der Herren (und Damen) wird noch einige Zeit brauchen.

Das Problem mit der Liebesheirat, also der Synchronisierung von Lieben und Begehren, wird zwar unendlichen literarischen Schund hervorbringen, aber nur für die funktionieren, die das sexuelle Begehren nicht an die erste Stelle setzen. Das aber wird dem sich entfaltenden Kapitalismus zur Gänze widersprechen, denn erst das immer wieder frustrierte sexuelle Begehren wird dessen Umleitung in immer mehr (überflüssigen) Konsum ankurbeln.

 

 

Daneben führt eine Linie von der lateinischsprachigen ungeniert erotischen Dichtung zu einer solchen in der Volkssprache, allerdings nicht an die Masse des "Volkes" gerichtet. In wenigen Liedern betreibt Bertran de Born so etwas, mit seinen Brüdern Herr von Hautfort am Rand des Périgord und vor allem (nicht nur) literarischer Vertreter eines kriegerischen Rittertums. In seinem Gedicht 'Chazutz sui de mal en pena' klagt er über die Langeweile am Hofe von Henry II., lobt aber sehr ungeniert eine schöne Sächsin (Saissa) im Gefolge Heinrichs ("des Löwen"):

Der frohe junge schöne liebevolle Leib betrügt an Schönheit nicht und ist kein Traumgebild. Und schöner wird er, wenn man ihn entgürtet. Und wie man mehr an Kleidung von ihr nähme, so hätte man immer noch mehr Lust danach, denn ihre Brust lässt Nacht wie Tag erscheinen, und könnte man noch tiefer schau'n, so würd' die ganze Welt von ihr erleuchtet. (in: EhlersHeinrich, S.359)

 

Zwar sind wir hier etwas näher an höfischer Wirklichkeit dran als bei dem gängigen Minneschmachten, aber wir nähern uns auch der ganzen Banalität erotischer Literatur der Zukunft, die sexuelles Begehren in erotische Stereotypen verpackt dem schönen Schein anheimgeben wird.

 

 

Lust, Leid und Schmerz

 

Im Zentrum des Kirchenchristentum steht bis in das hohe Mittelalter hinein der triumphierende Christus (Erlöser) am Kreuz. Er repräsentiert vorbildhaft für alle Christen den Triumph über den Tod, denn mit ihm kehrt er via "Auferstehung" zu seinem Vatergott zurück, der sich damit von seinem einst "auserwählten" Volk abkehrt und nun zum Gott all derer wird, die daran glauben, dass er seinen Sohn zur Erlösung der Gläubigen auf Erden durch den Opfertod geschickt hat. Seit er mit der konstantinischen Wende wieder zum jüdischen Gott des Krieges und des Schlachtenglücks geworden ist, ist er auch akzeptabel für die Machthaber der neuen nachantiken Reiche.

 

Das war theologisch korrekt, denn sein kurzer Opfergang und Leidensweg war nichts im Vergleich dazu, dass er wieder in seinen "Vater" eingegangen war. Er hatte das Ziel erreicht, welches er zu Lebzeiten gepredigt hatte: Der Bürden des Fleisches und des Erdenlebens ledig tritt er in den Zustand der Wahrheit ein, den des ewigen unveränderlichen Seins, einen Zustand ewiger "Seligkeit", eines spirituellen Glückes (was immer das sein mag).

Ähnlich triumphal wird dann auch die Vorstellung von Maria, die in der Regel fast wie eine Herrscherin thronend sitzend dargestellt wird, das Kind Gottes in den Händen, Ausdruck ihrer göttlichen Erwähltheit.

 

In der Zeit des ersten Aufblühens eines frühen Kapitalismus, der mit ihm verbundenen Städte und darüber höfischer Lebensformen ändern sich diese Vorstellungen. Das Augenmerk richtet sich in den Darstellungen stärker auf das Menschsein Jesu bis in seinen Tod hinein und damit auf seinen Leidensweg, die Passion. Gott hatte eben seinen Sohn nicht nur einfach geopfert, sondern durch Demütigung, Hohn und Spott, Folter und langes Sterben geführt. In seinem Leiden tritt der Gottessohn den Gläubigen nun viel stärker in seinem Menschsein gegenüber. Er teilt (vorübergehend) die Schmerzgefühle und selbst die Angst der Gläubigen.

Seine Anforderungen an die Gläubigen sind natürlich für die meisten nicht hinnehmbar und werden weitgehend ignoriert, aber es kommt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Jesus, der für andere leidet. Und dieser lenkt bequem von dem ab, was den Jesus der Evangelien wesentlich ausmacht.

 

In etwa derselben Zeit verbreitet sich auch das Bild einer Maria, die nicht mehr triumphierende Gottesgebärerin ist, sondern Schmerzensmutter: Die Mutter trauert um ihren toten Sohn, den sie nun als erwachsenen Mann auf ihrem Schoß hält. Der Schmerz und das Leid treten stärker als je zuvor in den Mittelpunkt der Religion. Sie wird geradezu etwas vermenschlicht.

 

Als Pietà oder Vesperbild bezeichnet man in der christlichen Kunst das Bild von der Schmerzensmutter, also von Maria, die ihren toten Sohn hält. Solche Bilder oder Statuen sind auch ein Ergebnis jenes Wandels im Hochmittelalter, der sich zugleich in der neuen Lyrik abzeichnet. Die meisten Pietàs entstehen erst, als die hohe Zeit des Minnesangs bereits vorbei ist. Zu den ganz frühen gehört die hier abgebildete aus der romanischen Basilika von Aquileja im heutigen Nordost-Italien.

 

Pietà meint im christlichen Raum „Mitgefühl“ und „Frömmigkeit“, und es ist kein Zufall, dass Frömmigkeit nun auch für Laien das Hineingehen in und das Durchhalten von Schmerzen in der Verehrung Jesu meinen kann. In säkularisierter Form wird diese "Kultivierung" desSchmerzes zwischen Barock und der Romantik zum Beispiel ein wesentlicher Aspekt von kunstvoller Musik sein, selbst die Volksmusik dieser Zeit, soweit noch bekannt, beschäftigt sich bald (etwas unbefangener) damit.

 

Ein ganz deutlicher Ausdruck dieses Wandels ist die theologisch durch nichts zu begründende (religiöse) Bedeutungszunahme der Frau und Mutter, deren Rolle für das evangelische Heilsgeschehen an und für sich mit der Empfängnis, Geburt und Aufzucht Jesu erledigt war. In etwa derselben Zeit steigt auch eine zweite biblische Frau im Ansehen: Maria Magdalena, das evangelische Idealbild der Frau, die weder Ehefrau noch Mutter ist, der Frau, die Jesus liebte. (siehe Großkapitel 'Körper')

 

Das Aufblühen des Kapitalismus und der neuartigen Städte fällt zeitlich mit den Trobadors und der Verherrlichung der hohen Minne im adeligen Kontext zusammen, aber auch mit der wachsenden Bedeutung des leidenden Jesus und der Schmerzensmutter.

Kreuzwege wird es erst in der frühesten Neuzeit geben, aber schon spätestens im hohen Mittelalter beginnt die szenische Darstellung des Leidensweges Jesu, über deren Anfänge allerdings wenig bekannt ist. Zudem nimmt das faszinierte Interesse an den Folterqualen von Märtyrerheiligen weiter zu. Der heilige Schmerz hält zunehmend Einzug in die christliche Religion, ohne diese allerdings vorläufig völlig zu durchsetzen.

 

Zurück zur Propagierung des Schmerzes in den Geschlechterbeziehungen. Die Herz-Schmerz-Sublimationen des Sexus haben, wie schon beschrieben, einen Ausgangspunkt in dem literarischen Verzicht auf Triebabfuhr in der hohen Minne, einen weiteren in den Versionen des Trennungsschmerzes. Was in der deutschen Poesie die Morgenlieder mit der Trennung des Paares nach der sogenannten Liebesnacht sind, die kunstvoll aufrechterhaltene Illusion, dass es im Sexus um Liebe ginge, findet einen anderen Ort auch in den poetischen Inszenierungen des Abschieds des Ritters, des Trägers kunstvoller Liebesvorstellungen, beim Ausritt in Kampf und Krieg. Besonders kunstvoll veredeln lassen sich solche Herz-Schmerz-Trennungssituationen, wenn sie auch noch christlich-religiös veredelt werden wie beim Aufbruch zum Kreuzzug, der ja ab 1095 in Permanenz stattfindet, sich allerdings in Schüben zu großangelegten Kriegszügen auswächst.  

 

Rainald von Aquino ist nicht nur Bruder des großen Scholasten Thomas, sondern als gehobener Diener (Valet) und Falkner Kaiser Friedrichs II. am Hof aufgestiegen. In einem Kreuzlied lässt er eine Frau über den Abschied vom Geliebten klagen, der ins sogenannte "Heilige Land" der Christen aufbricht. "Gott, das Kreuz, des Kaisers Friedenswerk, ihre eigene Liebe" , alles wird ihr nun "zum Grund für Leid und Verzweiflung" (Stürner S.373).

 

Religiöse Erlösung durch das Leiden veredelt durch implizite Analogisierung die bodenständigere und handfestere Thematik der vorübergehenden Erlösung des sich anhäufenden sexuellen Triebpotentials in seiner dynamischen Entladung, in der Lust und Schmerz kurz zusammenfinden, männliches Aggressionspotential und weibliche Empfänglichkeit. Das ist allerdings kein Thema für höfische Lyrik und auch nicht für alltäglichere Formen der Prüderie. Aber in der literarisch (wohl von den beiden) in Szene gesetzten Liebesgeschichte von Abaelard und Heloysa, ohnehin von Leidensmomenten durchzogen, taucht es in faszinierender Offenheit auf. Für die intimen Details sind wir allerdings auf die viel späteren Texte der beiden angewiesen. (Genaueres in Anh.....).

 

Ein Fulbert übergibt dem hochgelehrten Abaelard seine schon erheblich vorgebildete junge Verwandte Heloysa zum weiteren Unterricht, und zwar offensichtlich mit dem dem Lehrer eigenen und üblichen Züchtigungsrecht ihr  gegenüber. Wenn er nämlich mit schönen Worten, den blanditia, nichts erreichte, solle er sie mit minis et verberibus unterkriegen, willfährig machen (facilius flecterem). Minae sind die Drohungen und verbera die Schläge oder Peitschenhiebe.

 

Er beginnt sie zu begehren und im stillen Kämmerchen zu verführen, et si quid insolitum amor excogitare potuit, est additum – und sie fügen alles hinzu, was über das Lehrbuch hinausgeht, sind also von erotischem Erfindungsreichtum.

 

Um weniger dem Verdacht ausgesetzt zu sein, gab die Liebe, nicht die Wut, die Gunst, nicht der Zorn, gelegentlich Schläge, die die Genüsse aller Salböle übertrafen. Er bringt sie also hörbar zum Schreien, damit sich das Ganze nach Unterricht anhört– schlägt sie aber um des Genusses beim Schmerzzufügen willen oder ihres Genusses beim Erleben des Schmerzes.  Sind die intensiveren Lustschreie der Frau überhaupt noch von Schmerzensschreien unterscheidbar – sind am Ende Lust und Schmerz noch unterscheidbar, wo der Schmerz erotisch definiert ist?

 

...verbera ... quae omnium unguentorum suavitatem transcenderent. Die Schläge sind also süß und angenehm. Viel später wird Abaelard in einem Brief an sie noch hinzufügen: Ja, mehr als einmal habe ich dich, selbst wenn du nicht wolltest, obwohl du ja von Natur schwächer warst, mit Drohungen und Schlägen gezwungen, mir zu Willen zu sein, auch wenn du, so sehr du konntest, dich sträubtest und widersprachst. Denn so sehr kettete mich die Glut meiner Begierde an dich, dass ich jene elenden Genüsse, deren Namen uns schon erröten macht, Gott und mir selbst vorzog. (Hier in der Übersetzung von Hans-Wolfgang Krautz).

 

Für Heloysa sieht das im viel späteren Rückblick so aus: Meine Liebe schlug um in solchen Wahnsinn, dass sie sich selbst das, was sie einzig begehrte, raubte ohne Hoffnung auf Wiedererlangung, indem ich selbst auf deinen Befehl zugleich mit dem Gewand auch meine Seele umwandelte, um zu zeigen, dass du allein Herr meines Leibes und meiner Seele seist (at tuam statim iussionem tam habitum ipsa quam animum immutarem / ut te tam corporis mei quam animi unicum possessorem ostenderem.)

 

Das, was sie begehrte, klingt bei ihr im Rückblick so: Nichts habe ich bei dir je gesucht ... als dich selbst: dich schlechthin (te pura) begehrte ich (concupiscens), nicht das, was dein war (non tua). Kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet; nicht meine Lust und meinen Willen suchte ich zu befriedigen, sondern die deinen, das weißt du wohl (sicut ipse nosti). Mag dir der Name >Gattin< heiliger und ehrbarer erscheinen, mir war allzeit reizender die Bezeichnung >Geliebte<, oder gar – verarg es mir nicht – deine >Konkubine<, deine >Dirne<. ... (Brief II,7)

 

Heloysa wird schwanger und von Abaelard als Nonne verkleidet, zu seinen Verwandten gebracht. Das Kind wird dann dort zurückgelassen. Er heiratet sie und veranlasst sie, als Nonne in ein Kloster einzutreten. Dort besucht er sie dann:

 

Du erinnerst dich: Als du nach unserer Verheiratung bei den Nonnen im Kloster Argenteuil lebtest, kam ich eines Tages privat, um dich zu besuchen, und du weißt wohl noch, was dort die Unbändigkeit meiner Leidenschaft mit dir trieb, und zwar in einem Winkel des Refektoriums selber, da wir sonst keinen Ort hatten, wohin wir uns hätten zurückziehen können. Du weißt, dass damals unser Tun den ehrwürdigen, der heiligen Jungfrau geweihten Ort geschändet hat. (Brief V, 14)

 

Inzwischen geht das alles dem Fulbert zu weit und er schickt ein paar Leute zu Abaelard, die ihn kastrieren. Die beiden gehen nun getrennte Wege,sie landet in einer Klosterneugründung, wo sie Äbtissin wird.Aber ihr einmal erwecktes Begehren, weiter auf ihn gerichtet, bleibt, und sie fordert ihn auf, ihr zu helfen, ihrer neuen Rolle nun gerecht zu werden:

Als du mich einst für die Freuden der Welt begehrtest, besuchtest du mich in zahlreichen Briefen, und deine Heloisa, in so manchem Lied gefeiert, legtest du in aller Munde; mich besangen alle Gassen, mich jedes Haus. Wieviel mehr solltest du mich jetzt zur Gottesliebe wie einst zur Wollust erwecken! (Brief II,11)

 

Denn: ... jene Wonnen der Liebenden, die wir miteinander genossen, waren mir so süß, dass sie mir weder missfallen noch eben aus dem Gedächtnis verschwinden können. Wohin ich mich wende, immer stehen sie mir vor Augen und wecken sehnsüchtiges Verlangen. Nicht einmal in meinem Schlummer verschonen mich die lockenden Phantasien. Mitten im feierlichen Hochamt, wo das Gebet reiner sein soll als sonst, haben mein armes Herz so ganz jene wollüstigen Phantasiegebilde eingenommen, dass ich nur für ihre Lüsternheiten offen bin, nicht für das Gebet. Die ich aufstöhnen müsste über das Begangene, seufze lieber nach der Vergangenheit (que cum ingeminscere debeam de commissis, suspiro potius de amissis... Brief IV, 9.)

 

Inwieweit es sich bei den kunstvoll-literarischen Texten dieser beiden sehr belesenen Menschen in den intimen Details um historische Wirklichkeit handelt, lässt sich wie bei all solchen Texten nicht mehr beweisen. Aber ihre "Liebesgeschichte" selbst ist in groben Zügen auch durch andere belegt. Und wir entfernen uns hier vom Hochadel und seinen Fiktionen und Phantasien und tauchen zugleich in den zu allen Zeiten seltenen Fall der vielleicht recht vorbehaltlosen Selbstreflektion ein.

Wir befinden uns in einer noch durchweg klerikal geprägten städtischen Gelehrtenwelt, die dabei ist, sich aus allzu engen Bindungen zu lösen. Die männliche sexuelle Initiation findet, sicher nicht nur bei Abaelard, bei Prostitutierten und leicht eroberbaren Unterschichtmädchen statt, die wenig "Ruf" zu verlieren haben. Die weibliche bei ehrbaren Mädchen hat durch die Hochzeitsnacht zu geschehen.

Der kirchliche Versuch, den Geschlechtstrieb zu diabolisieren, trifft auf eine weit davon entfernte Wirklichkeit, wie sie im Liedgut der Zeit und offenbar auch in den verlorenen, aber wohl wenig sexualmoralischen Liebesliedern eines Abaelard und anderer sich widerspiegelt. Bürgerliche Sexualmoral ist vielleicht am ehesten bei Handwerkern vorhanden.

 

Das Besondere bei Abaelard und Heloysa ist die Offenlegung unterschiedlicher Geschlechtlichkeit bei Mann und Frau und der unterschiedlich geformte Schmerzlust-Anteil daran. In der Erinnerung von Heloysa stört weder sein aggressives Anstacheln des Begehrens, das Zufügen von Schmerz noch die Gewalttätigkeit in seinen sexuellen Aktivitäten ihr Begehren noch ihre Liebe. Wohl ganz im Gegenteil! Er wiederum scheint Liebe ganz auf jene Verliebtheit zu reduzieren, die seinen Kopf hormonell überschwemmt und ihm den Verstand raubt, wie er das selbst beschreibt. Beide sind nicht an Ehe und Familie interessiert, die ihr Gelehrtendasein stören würden. Das Kind wird abgeschoben und die Ehe ist dann eine Notlösung für seine sexuelle Not.

 

 

Mit dem Einzug der Herz-Schmerz-Liebe-Thematik wird natürlich nicht nur einem gehobenen Stil ein Thema neben dem des Lobhudeln für die Mächtigen oder der Propaganda für den Konkurrenten um die Macht Tür und Tor geöffnet, sondern auch für die Verkitschung des Themas. Sublimation führt eben nicht nur zur Ausdifferenzierung und Verfeinerung von Gefühlen, sondern leichthin auch zu deren Verflachung, wie sie viel später in der Musik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann als sentimentales Rokoko überhand nehmen wird, um eine Etage tiefer später dann in völliger Verschnulzung zu verenden, in der sich reiner Warencharakter mit untertänigster Verblödung verbinden. 

 

Ohnehin setzt sich im Verlauf des 12. und dann besonders ins 13. hinein die Tendenz durch, die Liebeslyrik mit dem sexuellen Vollzug zu krönen und so etwas ungehemmter zu bejubeln durch, und das nicht nur bei Walter von der Vogelweide und bei Neidhart von Reuenthal. In der Manessehandschrift ist ein Lied von Kaiser Heinrich VI. enthalten, welches folgende Passagen modern eingedeutscht enthält: 

Ich grüße mit Gesang die süße Geliebte, von der ich nicht ablassen will noch kann. Dass ich sie mit meinem Mund in der rechten Weise grüßen konnte,  ist leider lange her (…) Mir sind die Reiche (diu rîch) und die Länder (diu lant) untertan, wenn ich bei der Geliebten (minneclîchen) bin, und wenn ich Abschied nehme, sind meine Macht (mîn gewalt) und Reichtum dahin. (…) was gibt mir die Geliebte zum Lohn? Sie belohnt mich schon richtig gut. Bevor ich auf sie verzichte, verzichte ich lieber auf die Krone. Wer nicht glaubt, dass ich lange glücklich leben könnte, auch wenn nie eine Krone auf meinen Kopf käme, der versündigt sich. Nur ihretwegen kann ich das sagen. Würde ich sie verlieren, was hätte ich dann? Dann würde ich weder Frauen noch Männern zur Freude taugen und meine beste Hoffnung wäre in Acht und Bann. (in Staufer und Italien, S.271)

 

Nirgendwo besser als hier kann man erkennen, dass solche Lyrik Pose ist, der es massiv an Substanz fehlt. Der idealisierenden lyrischen Höhe entspricht die Niedrigkeit, wenn sie der Verlogenheit entkleidet wird. Allerdings ist die Geliebte des kaiserlichen Machwerks ohnehin keine Person, sondern völlig entpersonalisierte Stellvertreterin für jedes weibliche Liebesobjekt, was das Posieren des Sängers ohnehin plausibel macht.

 

***Glaubenslust***

 

Wer sich bei der Abkehr von "dieser Welt" darauf konzentriert, seinen Geschlechtstrieb nicht unmittelbar auszuleben, also massiv zu sublimieren und zu transformieren, ein wohl oft zunächst schmerzlicher Prozess, landet manchmal am Ende bei Formen von Mystik, die durchaus sehr erotisch formuliert werden können. So schreibt der Mönch Rupert von Deutz in einem Matthäuskommentar um 1100 über sein Verhältnis zu seinem Gott:

Ich war zuerst zufrieden, wenn ich ihn mit Händen berührte, umarmte und küsste (...) ich hielt ihn, umarmte ihn, küsste ihn lange. Ich spürte, wie zögernd er diese Liebkosungen zuließ - da öffnete er selbst beim Küssen seinen Mund, damit ich tiefer küssen könne. (in: Goetz, S.14f)

 

Das sich Hineinphantasieren in eine erotische Beziehung zu einer imaginierten Person, hier nicht viel anders als eine Masturbationsphantasie gestaltet, findet etwa in der Zeit statt, in der nicht nur die neue Lyrik des fin amour entsteht, sondern auch dem alttestamentarischen sogenannten Hohelied Salomos mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser unverhohlen sehr irdisch-erotische Text fasziniert den einer ritterlichen Familie entstammenden Bernhard von Clairvaux, der neben einer Christusmystik vor allem eine mystische Verehrung der "Gottesmutter" Maria mit ähnlich erotischen Elementen entwickelt.

 

In die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts fällt die Geschichte der Christina von Markyate, die in Huntingdon als Theodora in eine reiche Kaufmannsfamilie geboren wird. Darin erfahren wir etwas über die mangelnde Keuschheit der höheren Geistlichkeit, über die Situation junger Frauen und vor allem über die Schmerzen fromm-sublimen Begehrens.

Unter dem Einfluss eines älteren Mannes und nach einem Besuch in der Abtei von St.Albans (Hertfordshire) schwört sie heimlich für sich Keuschheit. Ihre Tante ist Konkubine von Ranulf Flambard, einer der wichtigsten Amtsleute des anglonormannischen Königs und bald reicher und mächtiger Bischof von Durham. Sie ist auch Mutter von zweien seiner Kinder und bleibt in vertrauter Beziehung zu ihm, nachdem er sie an einen Bürger von Huntingdon verheiratet hat.

1114 besucht Theodora ihre Tante und es heißt, der Bischof habe nun ihr nachgestellt, um sie zu einer seiner Konkubinen zu machen. Als ihm das misslingt, soll er ihr einen Edelmann als Gatten aufgezwungen haben, den sie allerdings zunächst vom Geschlechtsverkehr abhalten und dann in Männerkleidung fliehen kann. Ein Einsiedler vermittelt ihr das Zusammenleben mit einer Einsiedlerin, und Theodora benennt sich nun in Christina um.

Schließlich findet sie Schutz bei einem Eremiten in Markyate. Dort gewinnt sie Lebensunterhalt durch Nähen. Schließlich wird ihre Ehe annulliert und sie kann nun ohne Heimlichkeit in eine kleine Hütte ziehen.

 

In einer zeitnahen Vita heißt es zu einem Geistlichen, mit dem sie eine Zeit lang keusch zusammenlebt:

In seiner Abwesenheit war sie gewöhnlich innerlich so heiß entflammt, dass sie dachte, die an ihrem Körper hängenden Kleider könnten Feuer fangen. Wäre das in seiner Gegenwart geschehen, hätte sich die Jungfrau kaum mehr beherrschen können. (in: Mazo Karras, S.117)

Ob das nun von den Worten der Frommen selbst herstammt oder aus der Vorstellungskraft des Autors entspringt, bleibt dahingestellt, und das gilt auch von der folgenden Christus-"Vision":

Denn im Gewande eines kleinen Kindes kam Er in die Arme seiner Braut, die in großer Versuchung stand und blieb einen ganzen Tag bei ihr. Und sie fühlte Ihn nicht nur, sondern sah Ihn auch. Dabei umfasste Ihn die Jungfrau mit den Händen, dankte Ihm und drückte Ihn an ihren Busen und mit unermesslicher Lust hielt sie Ihn in dem einen Augenblick an ihre jungfräulichen Brüste, im nächsten fühlte sie, wie Seine Gegenwart selbst die Grenzen Ihres Fleisches durchdrang. Wer kann die überbordende Süße beschreiben,von welcher die Magd des Herrn angesichts der Herablassung ihres Schöpfers erfüllt war? (s.o.)

 

Derartiges hält sich auch in den nächsten Jahrhunderten, wie folgende Passage einer Begegnung mit Christus aus dem um 1430 geschriebenen autobiographischen Buch belegt, welches Margery Kempe jemandem in die Feder diktiert. Darin spricht der Gottessohn zu ihr:

Dazu muss ich mich bei dir behaglich niederlassen und mit dir in deinem Bette liegen. Tochter, du begehrst so sehr, mich zu sehen, und du darfst mich, wenn du in deinem Bette liegst, herzhaft an dich drücken, wie deinen angetrauten Ehemann, als deinen dir allertauersten Liebling und als deinen allerliebsten Sohn, denn ich will geliebt werden, wie ein Sohn von seiner Mutter geliebt werden sollte, und ich möchte auch, dass du meine Tochter, mich liebst wie eine Eehfrau ihren Ehemann lieben sollte. Und zu diesem Zwecke darfst du mich fest in die Arme deiner Seele schließen und meinen Mund küssen, mein Haupt und meine Füße, so zart, wie du nur willst. (in: Mazo Karras, S.119)

 

Der Kommentar von Mazo Karras: "Die Keuschheit, welche diese Menschen zu leben versuchten, war nicht asexuell. Sie erfüllte sich nicht durch die Unterdrückung der Sexualität, sondern durch ihre Umlenkung." (s.o., S.119)

 

 

Tatsächlich sind diese Mystiker und anderen Frommen Ausnahme-Figuren, und die Vorstellung von den drei weiblichen ordines, wie sie schon Caesarius von Arles in seinen 'Sermones' um 500 frei nach dem Matthäusevamngelium predigt, und wie sie nun im 'Speculum virginum', dem mittelrheinischen Jungfrauenspiegel des 12. Jahrhunderts auch illustriert auftaucht, kommt dem, was der größte Teil der Bevölkerung unter seiner Religion versteht, schon etwas näher, auch wenn solche Handschriften nur wenigen zugänglich sind: Unten die Ehefrau, die mit Männerhilfe den dreißigfachen Ertrag erntet, in der Mitte die keusche Witwe mit dem 60fachen und oben die Jungfrau mit dem hundertfachen Ertrag. Ein Peregrinus erklärt einer Jungfrau Theodora in der Schrift die Vorzüge eines jungfräulichen Lebens im Kloster. Aber tatsächlich werden Eltern ihren Töchtern eher die Vorzüge der Ehe erklärt haben.

 

 

Hövescheit: Herrschaft und Selbstbeherrschung

 

Die höfische Wirklichkeit, wie sie entsteht, dürfte wenig mit obiger "Kultivierung" von Leid und Schmerz zu tun gehabt haben, eher ganz im Gegenteil. Aber die Tatsache, dass die (uns nur literarisch und bildlich überlieferte) Erotisierung des Sexus, der sexuellen Triebhaftigkeit mit ihrer Leid- und Schmerzthematik Hintergrund für neue höfische Verhaltensideale ist, ist dabei schon von Bedeutung. Immerhin ist das literarisch-öffentliche Auftreten des Eros mit seinem Aspekt geschlechtlicher Triebhaftigkeit wesentlicher Teil der Herstellung bzw. Behauptung eines weltlich-höfischen Raumes, der Religion ein Stück weit in Kapelle bzw. Kirche abdrängt.

 

"Höflichkeit" leitet sich zwar von der curialitas der mittelalterlichen Höfe ab, ist aber ohnehin als sozialverträgliches Verhalten schon Bestandteil aller Kulturen. Dass das besonders gewalttätige Herrentum des 10./11. Jahrhunderts für solche Leute dann höfescheit als Bestandteil eines allgemeinen Zivilisierungsschubes erfordert, kann nicht verwundern. Es handelt sich um Verhaltens- und Umgangsformen, die in erster Linie das Leben bei Hofe erleichtern sollen, dort, wo mehr Menschen als nur die Kernfamilie aufeinandertreffen. Erwünschter Nebeneffekt ist die deutliche Abgrenzung von allen "unhöfischen" Menschen darunter.

 

Was am Hof eingeübt werden soll, ist in einem größeren Rahmen eingeordnet: "Mit der Territorialisierung setzte eine Monopolisierung und Zentralisierung von Macht und Recht ein, die es vielen kleinen Adeligen nicht mehr gestattete, die eigenen politischen und rechtlichen Händel selbstherrlich mit der Waffe auszutragen. Stattdessen musste man den Rechtsweg über den Landesherrn suchen, wozu erhebliche Geduld und Zeit aufzubringen war. Eben dies aber hatte notwendigerweise eine Bändigung der gewalttätigen Affekte zur Folge. Die Geselligkeitsformen wie Tanz, Jagd, Turnier lassen sich also auch unter dem Aspekt der Domestizierung gewalttätiger Körper an einem Hof sehen." (Rüdiger Schnell in: Heinzle, S.128)

 

Das gilt allerdings auch, dabei des öfteren auf Seneca verweisend, für Monarchen: Et sicut dicit Seneca... Um 1275 schreibt Jacobus de Cessolis: Es ist nicht rechtens, dass du über andere herrschen willst, solange du nicht über dich selbst herrschen kannst. (in: Heinzle, S.119)

 

Es geht um das Verhalten in hierarchisch strukturierten Gesellschaften, weswegen Kernelemente höfischer Regeln zuerst im Kloster und dann in der Kirche eingeübt und dazu formuliert wurden. Wohl um 1130 schreibt der in Paris lehrende Hugo von St.Victor mit 'De institutione novitiorum' einen weitverbreiten Text über die Erziehung von Klosternovizen, wo es neben bonitas und scientia um disciplina geht, also um die mittelhochdeutsche zuht. Zur Zucht aber wird erzogen. Um 1215 schreibt der belesene Thomasin von Zerclaere, ein Ministeriale am Hofe des Patriarchen von Aquileia in 'Der welsche Gast': ir sult wizzen sicherlîchen,/ daz beidiu zuht und höfscheit, / koment von der gewonheit. (in: Heinzle, S.67) Gewohnheit ist die alte askesis, die Einübung, und zwar in die Disziplin der Selbstbeherrschung und die Formen höfischen Umgangs.

 

Nirgendwo ist das wichtiger als in der autoritär strukturierten klösterlichen Gemeinschaft. Bei Hugo heißt das: Wie nämlich aus der Unbeständigkeit des Geistes die ungeordnete Bewegung des Körpers (corpus) entsteht, so wird der Geist auch an die Beständigkeit (constantia) gebunden, wenn der Körper durch Beherrschung (disciplina) in Zaum gehalten wird. Und: Die Vollkommenheit der Tugend (virtus) ist gegeben, wenn die Glieder des Körpers durch die innere Kontrolle des Verstandes (interna mentis custodia) auf geordnete Weise gelenkt werden. (in: Heinzle, S.71)

 

Was in Kulturen tradiert und durch Integration des Nachwuchses durch Nachahmung gelingt, wird in den Gewaltstrukturen institutionalisierter Macht, und solche sind auch Kirche und Kloster, durch Erziehung beigebracht und oft genug auch eingeprügelt: Das Diktat des Kopfes über den Körper, Selbstbeherrschung, Impulskontrolle bis in die Körperhaltung, die Gebärden, die Mimik und die (bedachte) Redeweise. Die Klugheit des höfischen Menschen besteht im Wahren einer möglichst umfassenden Fassade in der Öffentlichkeit. Alles spricht dafür, dass ein Teil dieser unterdrückten Impulse in Aggressivität umgeleitet wird, die wiederum anderswo kanalisiert und ausagiert werden muss.

 

Wie weit diese Fassade gehen soll, diese Selbstkontrolle, schreibt Hugo von St.Victor den Klosternovizen direkt ins Gesicht: Das Gesicht ist nämlich ein Spiegel (speculum) der disciplina, ein Spiegel, der um so mehr kontrolliert werden muss, je weniger man verbergen kann, wenn in ihm ein Fehler ist (in ea peccatum fuerit). (in: Heinzle, S.82)

 

Bekannt sind die Tischsitten: Nicht "die Finger in den Becher tauchen, nicht die fettigen Hände am Gewand abwischen und dann wieder ans Essen greifen, nicht (...) die Finger statt des Löffels benutzen" usw. (Bumke in: Heinzle, S.93) Zurückhaltung und Hygiene sollen vorherrschen, jedenfalls keine Fressgier.

 

Laut dem 'Urbanus Magnus' des Danie of Beccles vom spätem 12. Jahrhundert soll man sich bei Hofe nicht öffentlich die Haare kämmen, "die Nägel putzen, sich nicht kratzen oder in seiner Hose nach Flöhen suchen." Man sollte nicht barfuß sein und möglichst nicht in der großen Halle pinkeln. (Ashbridge, S.75) Auch das Verhalten gegenüber Frauen wird geregelt.

 

Hier soll sicherlich neben der Impulskontrolle auch die Erinnerung an den animalischen Charakter des Körpers getilgt werden: Der Mensch ist als höfisch veredeltes (fast) Ebenbild Gottes nicht mehr einfach nur ein entartetes Sugetier. 

 

Sauberkeit: Im Roman de la Rose heißt es: Lave tes mains, tes denz escure (Zähne putzen), S'en tes ongles pert point de noir, Ne l'i laisse pas remenoir. Cous tes manches (enge Ärmel), tes cheveux pigne. Mais ne te farde ne ne guigne (nicht schminken) (Zeilen 2166-70). Hier geht es um das erfolgversprechende Rezept Amors für den Liebhaber, zu dem auch schöne Kleidung und schöner Schmuck gehören, allerdings nach den Möglichkeiten des Geldbeutels. Der Eros ist Teil des höfischen Ideals, gerne als "Liebe" bezeichnet. Was Guillaume de Lorris hier um 1235 fordert, scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein: Hände waschen, Zähne putzen, Fingernägel säubern, Haare kämmen. Aber wenigstens als Vorbereitung auf ein erotisches Abenteuer erscheint es nun erforderlich, um der Geliebten zu gefallen.

 

Das weltliche Ideal der Selbstkontrolle verlangt, wie auch die damaligen Romane immer wieder betonen, die Darbietung einer abgemessenen Heiterkeit und nicht klösterlichen Ernst. Aber auch diese ist eine mühsam anzuerziehende Fassade.

 

Auf dem Weg von Kloster und kirchlichem Hof zu seinem weltlichen Gegenpart, der ja demselben Adel angehört, wird den Frauen eine noch größere Selbstbeherrschung als Fassade auferlegt: Dazu gehören besonders gemessenes Schreiten, das Verbot des übereinander Schlagens der Beine beim Sitzen (ungeachtet der ohnehin bodenlangen Kleider) und das direkte Anblicken eines fremden Mannes. (Thomasin von Zerclaere).

 

Vieles von der hövescheit dringt aus dem im weitesten Sinne französischen Raum nach Osten und Norden. Dazu gehört bald die gotische Baukunst, aber schon vorher die neue Kleidung. Dabei beginnt ein Trend zu stärkerer Unbeweglichkeit der Frauen, der natürlich die arbeitende weibliche Mehrheit nicht betrifft.

"Der Franziskaner Salimbene von Parma berichtet zum Jahr 1240, dass ein päpstlicher Legat alle Frauen verschreckte mit der Verordnung, dass die Frauen kurze Kleider tragen sollten, die nur bis zur Erde und eine Handbreit darüber gingen:  die Frauen bevorzugten damals Kleider mit Schleppen, die anderthalb Armlängen auf dem Boden lagen. Der Legat ließ die neue Verordnung von den Kanzeln verkünden und drohte, den Frauen die Absolution zu verweigern, wenn sie dagegen verstießen. Das war den Frauen bitterer als der Tod, weil ihnen die Schleppe wichtiger war als jedes andere Kleidungsstück." (Bumke in: Heinzle, S.86)

 

Ebenfalls aus dem französischen Raum dringt die Sitte in alle Richtungen, dass mit der neuen Schneiderkunst der Körper der Frauen durch die Bekleidung immer enger eingepasst wird, was dem sexuellen Machtspiel der Damenwelt förderlich ist. Das geht im Laufe der Zeit so weit, dass das Oberteil regelrecht eingeschnürt werden muss, was der Beweglichkeit Abbruch tut, aber dem sexuellen Machtspiel förderlich ist.

Dazu Hugo von St. Victor schon um 1130: Die einen breiten ihre Kleider aus, um sich noch prächtiger aufzuführen, und spannen sie noch weiter auseinander (unten) soviel sie können. Andere ziehen ohne Grund die Falten in eins zusammen, andere umhüllen sich, indem sie die Kleidung herumschwingen und herumschlingen, andere schnüren und schlitzen sie, soviel sie können, und enthüllen alle Formen ihres Körpers, um sie mit schamlosester Unsittlichkeit den Blicken der Betrachter darzubieten. Andere offenbaren die Leichtfertigkeit ihres Geistes durch das Bewegen ihrer Kleidung, indem sie die Gewänder unruhig hin- und herschwingen. Andere fegen beim Gehen die Erde mit bauschigen Schleppen. (in: Heinzle, S.89)

Man sieht, die Strenge höfischer Eleganz bricht sich an jener sexueller Anmache und wir nähern uns da auch einmal der höfischen Wirklichkeit in einem kleinen Ausschnitt.

 

Selbstbeherrschung ist ein Ideal, über das wir deutlich mehr zu lesen bekommen als über die Wirklichkeit. Nur extrem impulsives und emotionsgeladenes Verhalten wird dort als das Gegenteil der Erwähnung wert befunden.

 

***Unhöfische Triebabfuhr***

 

Dem Kriegerideal aus Adrenalin und Testosteron entspricht die Einstellung, dass ein Herr sich von den Mädchen und Frauen nimmt, was er will. Üblich im 12. Jahrhundert ist, dass sich höhere Herren Mätressen halten, bei denen sich manchmal das sexuelle Bedürfnis und die Zuneigung die Waage halten. Ein König wie der angevinische zweite Heinrich heiratet die hochattraktive Eleonore von Aquitanien kurz nach deren Scheidung vom siebten französischen Ludwig, hat aber schnell öffentlich bekannte Maitressen, und wohl vorwiegend nacheinander sehr viele davon. Von der Maitresse zur Prostituierten ist es manchmal nur der Schritt, dass Maitressen besser bezahlt werden und länger als nur einen kurzen Fick zu dienen haben. Aber auch veritable (etwas "bessere") Prostituierte halten nach und nach Einzug in den unteren Etagen der vornehmeren Burgen. Nach Turnieren dienen sich im Rahmen der Abschlussfestivitäten nicht selten der ritterlichen sexuellen Notdurft.

 

Im Krieg kommt es immer wieder vor, dass nicht nur Söldner, sondern auch Ritter Frauen als Freiwild betrachten. Zu den Verheerungs- und Verwüstungsfeldzügen scheinen auch Vergewaltigungen fast als die Regel gehört zu haben, auch wenn oft darüber aus naheliegenden Gründen geschwiegen wird. In der Zeit, in der Richard ("Löwenherz") unter der Oberhoheit seines Vaters versuchte, Aquitanien sehr grausam unter seine Kontrolle zu bekommen, wird berichtet, er habe sich allenthalben Mädchen und Frauen nach Gutdünken "genommen", wie es schon damals hieß, und sie nach Gebrauch an seine Gefolgsleute weitergereicht.

 

Ehebruch der adeligen Damen wurde mit ganz anderem Maß gemessen. Der im 12. Jahrhundert wohl aufsehenerregendste soll auf jenem Kreuzug passiert sein, auf dem - erstaunlich für eine Dame - Eleonore ihren königlichen Gemahl Ludwig begleitet. Dabei soll die französische Königin mit ihrem Onkel, der ein Fürstentum im Morgenland beherrschte, in inzestuöser Weise verkehrt haben, was nie dementiert wurde und bald danach zur Scheidung führt. Niemand bezeifelt damals, anders als im 19. Jahrhundert, dass Frauen genauso Getriebene ihrer sexuellen Begierden sein können wie Männer, ja, einige vermuten sogar, dass sie viel unersättlicher seien.

Eleonore hatte danach Glück, so leicht davon zukommen, aber schlimm erging es wo möglich dem Ehebrecher an der verheirateten Frau. Deshalb vergibt der zeitgenössische Daniel of Beccles Ratschläge an Höflinge, denen die Dame des Hauses Avancen macht. Dazu gehört, dass man dem Herrn der Dame nichts davon erzählt und sich bei der Dame zugleich krank stellt.

 

In der Vorzeit der 'Fabliaux' mit ihrem modern gesprochen schlüpfrigen Inhalt findet sich beim satirisch den englischen Hof begleitenden Walter Map im 12. Jahrhundert die Geschichte "von einer Königin, die sich zu einem hübschen jungen Ritter am Königshof namens Galo hingezogen fühlte. Einer der Freunde des Ritters versuchte das Problem dadurch zu lösen, dass er der Königin erzählte, Galo sei ein Eunuch, woraufhin sie sofort eine ihrer Zofen mit dem Auftrag losschickte, den besagten Ritter anzumachen und ihren Finger auf die Stelle zu legen (und der Königin) zu melden, ob er ein Mann war oder nicht." (Ashbridge, S, 185) Ob das nun so geschehen ist, ist unwichtig, wichtig ist, dass es damals glaubwürdig klingt.

 

Ob 1175 der Ritter Walter von Fontaines tatsächlich die Ehe der Isabel de Vermandois mit dem Grafen Philipp von Flandern gebrochen hat, bleibt offen, denn der Ritter beteuert seine Unschuld und will seine Unschuld beweisen. Aber historisch ist wohl, dass der Graf das ablehnt und íhn wütend mit Knüppeln fast totschlagen lässt. "Dann wurde über einem stinkenden Latrinengraben eine Art Galgen errichtet. Walter wurde ausgezogen, gefesselt und an den Füßen aufgehängt. Sein Kopf versank in der Jauche, und dort hing er, bis er erstickt war." (Ashbridge, S.186) Wohlgemerkt: Graf Philippe galt als einer der edelsten Ritter seiner Zeit und wir wissen nicht, wie oft er die Ehe (ungestraft natürlich) gebrochen hat.

 

Ganz anders ist es mit den in den Pastourellen des 12. Jahrhunderts geschilderten Verführungen oder Vergewaltigungen junger Schäferinnen durch edle Herren.

 

Das Monopol der Männer auf sexuelle Ausschweifungen hat natürlich etwas mit der Tatsache zu tun, dass Frauen den Nachwuchs bekommen, und damals bis auf Nonnen eben noch fast alle, und dass es zwar adeliger Mannesstolz sein kann, dass man selbst von anderen Frauen Bastarde hat, dass dieser aber massiv gebrochen wird, wenn die eigene Frau einem solche unterschiebt.

 

***Alkohol***

 

Dem höfischen Ideal der Selbstbeherrschung tritt in der Wirklichkeit nichts deutlicher entgegen als der Kontrollverlust durch die alltägliche Rauschdroge Alkohol, im wesentlichen in der Form von Bier und Wein. Zwar betonen Historiker immer wieder - und in gewissem Sinne auch zu Recht - dass der Alkoholgehalt dieser Getränke niedriger war als heute, und dass sie auch getrunken wurden, weil in Städten reines Quellwasser fehlte, aber Alkohol ist immer wieder auch Genussmittel als Treibstoff von Geselligkeit und Festen.

 

Was sich da als rituelle Droge wie auch beim Messopfer darstellt und unter Kontrolle erscheint, taucht immer wieder auch als enthemmender Kontrapunkt von Arbeit, Disziplin und Machtausübung auf. Das wohl berühmteste Beispiel aus den Reihen der kleinen hochprivilegierten Elite beschreibt Wilhelm von Malmesbury in seinen 'Gesta Regum Anglorum' für 1120. Der siebzehnjährige Guillaume ("Aetheling"), einziger Tronerbe der Anglonormannen, gibt ein rauschendes Fest für seine hochadeligen Kumpane auf dem gerade fertiggestellten 'Weißen Schiff' im Hafen von Barfleur in der Normandie. Der Wein fließt in Strömen, enthemmter Übermut ergreift die 'Jeunesse d'orée' des anglonormannischen Reiches, man pöbelt gegen Geistliche, die das Schiff weihen wollen, und in betrunkenem Zustand beschließt die Horde hochadeliger Nichtsnutze mitten in dunkler Nacht, auszuprobieren, wie schnell man mit dem schicken Schiff nach England übersetzen könne. Man kollidiert gleich mit einem Felsen, das Schiff sinkt und fast alle ertrinken.

 

Wäre nicht der Thronfolger an Bord gewesen und mit ertrunken, hätte der zeitgenössische Historiker uns von der Havarie wohl kaum etwas berichtet. Anzunehmen ist, dass in solchen Kreisen bei adoleszenten Mannbarkeitsritualen (mit nicht erwähnten Huren oder verführten Mädchen niederer Kreise?) regelmäßig der Alkohol in Strömen fließt. Da alle Quellen jenen klerikalen Kreisen entspringen, die sich vor irgendeinem weltlichen Herren ducken, ist verständlich, dass hoher Alkoholkonsum solcher Herren selten erwähnt wird. Es wird noch dauern, bis Quellen von bäuerlichen Festivitäten berichten, die alkoholgetränkt sind, und von den städtischen Gesellschaften, deren Treffen mit Alkohol angereichert werden bis dahin, dass im späten Mittelalter dann sich Verordnungen mit dem Verhalten alkoholisierter Mitglieder beschäftigen. Erst dann erfahren wir auch mehr von der Tatsache, dass viele Gewalttaten in Stadt und Land auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind - wie dann auch bis heute.

 

Ein anderes Beispiel ist der offenbar nächtliche Überfall einer slawischen Flotte auf Lübeck, bei dem die Bevölkerung vor Trunkenheit weder aus Betten noch Booten zu bringen ist, mit dem Ergebnis, dass Stadt und Schiffe im Feuer untergehen. (Helmold von Bosau, Kap.63)

 

In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, als der Niedergang des Rittertums bereits eingeläutet ist, verweist der junge Helmbrecht des Wernher ("der Gaertener") auf das, was für ihn zum Beispiel Rittertum ausmacht:

Höfisches Leben sieht heute so aus: "Trinkt, Herr, trinkt und trinkt!" Früher traf man die vornehmen Herren bei den schönen Damen an, heute findet man sie im Wirtshaus. Von früh bis spät sind ihre größten Sorgen, dass ihnen der Wirt, falls der Wein ausgeht, auch ja eine ebenso gute Sorte herbeischafft wie die, die sie so in Hochstimmung versetzt hat. (etc.)

 

Festzuhalten ist hier, dass die angestrebte Disziplin höfischen Verhaltens, die Arbeitsdisziplin von Bauern und Handwerkern und die Perspektivlosigkeit von Armut allesamt oft in nicht unerheblichem Alkoholkonsum münden. Dabei geht es um Prozesse der Enthemmung, einer drogeninduzierten "Fröhlichkeit", die erst die Leitungsfunktion der Vernunft und dann zunehmend die ganze Verstandestätigkeit reduzieren. Vorübergehende Verblödung wird mit Lebensfreude in dem Maße gleichgesetzt, in dem sie ohne Drogenkonsum schwerer fällt, Das ist festzuhalten als wesentlicher Vorgang im Gesamtprozess der Zivilisierung.

 

Die heutige Bedeutung des Wortes Sucht erscheint erst im 19. Jahrhundert, während das Wort vorher noch an das Verb "siechen" gekoppelt ist, also krank sein. Vermutlich geschieht das im Zusammenhang mit einem alkoholisierten Industrieproletariat und dem Anwachsen entsprechender Slums in den Industriegebieten, vielleicht aber auch in der Wahrnehmung (nicht selten selbst süchtiger) Mediziner, dass auch die "feine Gesellschaft" von immer schickeren Drogen durchsetzt ist.

 

ff 

 

Höfe: Ehe, Familie und Verwandtschaft (in Arbeit)

 

Das Ideal der Selbstbeherrschung in der höfischen Welt im hohen und späten Mittelalter dürfte vor allem dort, wo diese wie in deutschen Landen erst später einzieht, in häufigem Konflikt mit der Wirklichkeit existiert haben. Wahrscheinlich wird es dort viel häufiger praktiziert, wo im unteradeligen Bereich Kapital angehäuft wird. Auch wenn die entsprechenden Quellen fehlen, ist zumindest klar, dass Kapital solange Konsumverzicht bedeutet, bis erhebliche Gewinne anfallen, also ein erhebliches Maß an Disziplin.

 

Wenn für das 11./12. Jahrhundert eine "Entwicklung der Adelsfamilie von locker verwandtschaftlich gebundenen Adelsgruppen des Frühmittelalters zu eng um die väterliche Linie geschlossenen Adelsgeschlechtern des Hochmittelalters" konstatiert wird (Ursula Peters in: Heinzle, S.146), so dürfte die ganz anders situierte Kernfamilie im bäuerlichen und stadtbürgerlichen Bereich abgesehen vom tradierten Erbrecht, welches für alle gilt, schon lange vorausgegangen sein. Aber während im 11. Jahrhundert Familie (familia) etwas ganz anderes bedeutet, nämlich die Mitglieder eines Hofverbandes (von famulus, der Diener), steht das Wort gesleht nun eingegrenzter für eine Adelsfamilie, die sich auf einen Ahnen zurückführt. Familie im heutigen Wortsinn wird erst im 17. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche übernommen. Das Geschlecht als Sexus taucht dann im späten Mittelalter auf, wo Lebewesen und Wörter ein Geschlecht bekommen.

 

Das Adelsgeschlecht der höfischen Zeit ist patrilinear, eine agnatisch konstruierte Familie, die sich immer mehr auf einen Stammsitz (Burg) konzentriert, davon einen Namen ableitet, die Ehefrau insofern aufwertet, als sie dem Herrn den legitimen Sohn gibt, während die außerehelichen Kinder langsam etwas abgewertet werden. Damit verengen sich die Verwandtschaftsbeziehungen, werden andererseits über Eheschließungen mit zunehmendem Zeremoniell unter kirchlicher Beteiligung kalkulierter. Auch zunächst im "französischen" Raum, wo ligne und lignage früh an Bedeutung gewinnen, sind nachgeborene Söhne unter Umständen zu ritterlichem Abenteurertum gezwungen und die sexuelle Treue der Ehefrauen wird noch wichtiger. (Ursula Peters)

 

Höherer männlicher Adel und Fürsten hingegen sind sehr häufig nicht tatsächlich monogam. Es ist fast normal, dass sie sich Geliebte oder Konkubinen halten, wie Heinrich ("der Löwe") mit einer Tochter des Grafen von Blieskastel. Die Tochter daraus, eine Mathilde, wird dann später an den Herren von Mecklenburg verheiratet. Für den angevinischen zweiten Heinrich von England sind mehrere Konkubinen namentlich überliefert, es sollen sehr viele gewesen sein.

 

Wo der pater familias (und vielleicht sogar die Mutter) fehlt, erhalten Kinder beim Adel und insbesondere dem höheren vom König in seienr Schutzfunktion einen Vertreter der munt, die das Kind zum Mündel macht. Solange das Kind (oder die Kinder) noch minderjährig ist, kann der Ersatz"vater" die diesem zustehenden Einkünfte nicht nur verwalten, sondern auch selbst nutzen. Schon soweit ist die Überlassung eines Mündels ein einträgliches Geschäft. Noch einträglicher wird es, wenn die Aufsichtsperson das weibliche Mündel dann heiratet, weil diesem dann erheblicher Besitz zusteht. Aber schon die Verheiratung des Kindes kann als Ehebündnis mit einem anderen Geschlecht Vorteile mit sich bringen.

 

 

Der Adel mit seiner Geschlechterbildung trägt sicher auch dazu bei, dass die Kirche jenen Weg beschreitet, der von der Akzeptanz der Ehe zwecks Produktion von Nachwuchs im 12./13. Jahrhundert zur Aufwertung der Ehe als Sakrament führt. Damit können nun auch Verheiratete als Heilige anerkannt werden und die Teilnahme Jesu an einer Hochzeit zu Kana im Johannes-Evangelium wird jetzt als dessen Akzeptanz der Ehe herangezogen. Dabei geht es hier um die Erfindung von Wundergeschichten, die die Tradition eines Lebens Jesu überformen, um möglichst früh auf seine Verwandlung in einen Christus hinzuweisen.

 

In Beispielen zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert wird deutlich, wie widersprüchlich die Haltung von Kirche und Welt zu Sexualität und Ehe bleibt. Die Ehe ist als Sakrament nun unauflöslich, es sei denn, die Eheleuten seien, wie sich nachträglich herausstellt, zu eng verwandt oder der Koitus könne nicht vollzogen werden. Beim Manne werden dann entweder besonders ehrbare verheiratete Frauen, aber auch schon mal erfahrene Prostituierte herangezogen, um durch u.a. manuelle Untersuchung die Potenz des Mannes festzustellen, und so sie fehlt können diese Frauen den Mann schon mal beschimpfen, dass er geheiratet habe, ohne der Frau die ihr gebürtige Lust zu schenken.

 

 

Kleidermoden

 

Das lateinische Hochmittelalter erfindet die Kleidermoden und überhaupt die Mode als Aspekt eines neuartigen Konsumbetriebes. Im nachherein werden solche Moden bis hin zum Rokoko als "Stile" bezeichnet werden.

 

Da der lateinische stilus das Schreibgerät war, meint "Stil" im ausgehenden italienischen Mittelalter den Schreibstil, wie er im Ausdruck dolce stil nuovo wohl zum ersten Mal auftritt, als Dante damit die norditalienische Variante der neuen Liebeslyrik bezeichnet. Der im Zentrum Franciens im 12. Jahrhundert entwickelte neue Baustil (der damals nicht so heißt) gilt lange als der "fränkische" bzw. später "französische", und wird erst in der sogenannten Renaissance (von Vasari) verächtlich als "gotisch" abgewertet.

 

Das französische Wort mode kommt erst am Ende des Mittelalters auf, und à la mode kann jemand erst im 16. Jahrhundert sein, als das Wort auch bald ins Deutsche übernommen wird. (Wir übersehen hier zunächst einmal das schon frühmittelalterliche modernus). Vom lateinischen modus, also der Art und Weise von etwas, abgeleitet, ergänzt es zunächst die hochmittelalterliche manière, vom lateinischen manus, Hand, also die Handhabung von etwas. Vor allem im Plural auch die Verhaltensformen, Manieren bezeichnend., gelangt es mit den "französischen" Schreibmoden der Liebeslyrik und des Heldenliedes, der "französischen" Baumode (der Gotik) und der neuen "französischen" Kleidermode mit einer Verspätung von fünfzig bis hundert Jahren in die deutschen Lande, vor allem in jene, die an das kapetingische und burgundische Königreich sowie die nordöstlichen Grafschaften romanischer Sprache angrenzen.

 

Kleidung war traditionell "Tracht", also das, was "man trägt", und sie ist traditionell bereits mehr als nur Tracht, als sie nicht nur vor der Witterung schützte und das bedeckt, was man sich schämt zu entblößen. Bereits im frühen Mittelalter beginnen die Wohlhabenden und Mächtigen, sich im Rahmen dieser Tracht durch die Qualität der Materialien und die Ausführung von denen zu unterscheiden, die sie unter sich sehen.

 

Der Bauer des frühen Mittelalters trägt drunter naturfarbenes Hemd und Unterhose, darüber einen Umhang, und derbe, einfache Schuhe. Materialien sind Wolle und Leinen. "Der Adelige der Karolingerzeit hingegen trägt einen Rock mit schmalen Ärmeln, der mit kostbaren Edelsteinen geschmückt ist, und einen Gürtel (...) Dazu gehören weiße Handschuhe und ein geschlitzter Umhang, der mit einer Fibel festgehalten wird." Damen sind besonders gekleidet: "Ein Unterkleid mit weiten Ärmeln wird von einem Umhang bedeckt. Die Taille ist eng und wird von einem edelsteinbesetzten Gürtel geziert. Auf dem Haupt befindet sich ein kostbarer Schleier oder eine aufwendig gearbeitete Haube; das Haar ist mit Schleifen und Haarnadeln zurechtgemacht." (Lieverkus in LHL, S. 186f)

 

Generell trägt man einen lose fallenden Rock, der von Schultern und Armen bis zu den Fußknöcheln herabfällt. Die Bekleidung von Männern und Frauen unterscheidet sich dabei nur wenig. Die Allegorie der Arithmetik der Herrad von Landsberg vom Ende des 12. Jahrhunderts zeigt an einem dem Thema entsprechend relativ keusch angezogenen Exemplar die wesentlichen Neuerungen, die die gotische Frauenmode betreffen und damit zugleich die Mode für Frauen ins Leben rufen.

Dadurch, dass man in Franzien den "Schnitt" in die Kleiderherstellung einführte, konnte man körpernahe, hautnahe Bekleidung herstellen. Hautnah wird das Damenkleid (zunächst) der Oberschicht von den Schultern bis zu den Hüften, oft auch an den Armen. Damit muss der Ritter nicht mehr erahnen, wie der Körper der Dame beschaffen ist, er kann es sehen. Diese Körpernähe ist auch der erste Ausgangspunkt für die Entstehung einer geschlechtsspezifischen Kleidung und für die Herausstellung des Geschlechtlichen.

 

Hautnah wird die Kleidung nicht nur dadurch, dass sie zugeschnitten wird, sondern auch dadurch, dass sie - oft seitlich - geschnürt wird. (Wie man bei der Superbia der Herrad von Landsberg sehen kann). Das Schnüren ist nötig, weil es noch keine Knopflöcher gibt, die sich dann aber auch im 14. Jahrhundert verbreiten, um die hautnahe Kleidung nun etwas bequemer zu schließen. Wo das Kleid nicht ganz hauteng am Oberkörper anliegt, wird es gegürtet und so die Taille definiert. Die lange, schmale gotische Taille der Damen und die Hervorhebung der Brüste wird auf diese Weise bewerkstelligt und zur Mode. Zugleich werden bei den Vornehmen die Stoffe dünner, so dass einige vermeinen, durch die Kleidung des nackten Körpers ansichtig zu werden. Auf jeden Fall werden die weiblichen Brüste nun wesentlich offenbarer als früher.

 

Um 1270 beschreibt Konrad von Würzburg in seinem Minneroman 'Engelhard', wie das Ergebnis bei den Männern ankam:

 

dô truoc diu schoene ein hemde von sîden (Seide) an ir lîbe, daz nie deheime wîbe ein kleid so rehte wol gezam (gepasst hatte). ez was sô kleine (fein), als ich vernam, daz man dar durch ir wîze hût (ihre weiße Haut)... sach liuhten (sah leuchten) bî den zîten. mit golde zuo den sîten gebrîset (Mit Goldfäden an der Seite geschnürt) was ir lîp dar în. man sach ir senften brüstelin (zarten Brüstchen) an dem kleide reine storzen harte kleine ( sehr zierlich hervortreten), als ez zwên epfel waeren.

 

Das "Hemd" ist das, was wir heute Kleid nennen. Über das Hemd konnte noch eine Überbekleidung, zum Beispiel eine Art vorne offener Mantel kommen.

 

daz hemde stuont gelenket nâch einem fremden schrôte (war nach ungewöhnlichem Schnitt geformt) und suochte sô genôte an ir lîp vil ûz erkorn (passte sich so genau ihrem auserkorenen Körper an) daz man des haete wol gesworn daz diu saeldenbaere (Wunderbare) einhalp (oberhalb) des gürtels waere nacket unde enbloezet gar. (Zeilen 3034ff und 3078ff; In:Bumke, Höfische Kultur 1, S.192)

 

Im fünften Teil des 'Willehalm' des Wolfram von Eschenbach trägt die Königin einen kostbaren Mantel: der mantl muos offener snüere Pflegn... ze etlîchen zîten si ein teil ûf swanc: swes ouge denne drunder dranc, der sah den blic von pard

 

Von den Rundungen von Hintern und Hüften fällt das Kleid dann weit, manchmal sehr weit über die Knöchel bis zum Boden. Der sexuelle Reiz des Oberkörpers - you (don`t) get what you see - mit dem die Frau sich als Objekt sexuellen Begehrens anbietet, wird so konterkariert durch das weite Verhüllen der Schenkel, die in die Scham und Scheide münden. Andererseits konnte die Dame durch geschickte Bewegungen das Kleid zwischen den Beinen so fallen lassen, dass diese wieder betont werden. Die Dame bietet sich also als Objekt der neuen Liebeslyrik dar.

 

Die massive Erotisierung der Leiber war eine extreme Gegenposition zur christlichen Kirche und ihrer Ermahnung, das Seelenheil nicht durch weltliche Gelüste zu gefährden. Entsprechend kracht es auch zwischen Geistlichkeit und der Laienwelt der Mächtigen. Im 'Reinfried von Braunschweig' trifft sich dann die geistliche mit der weltlichen Kritik im Heldenroman von der Orientfahrt Heinrichs des Löwen:

 

des muoz mich nemen wunder grôz, daz sî mê denn halber blôz gânt on des gürtels lenge (oberhalb des Gürtels). ir kleit sint alsô enge daz ez mich lasters vil ermant, wan ir in dem rocke spant der lîp mit lasterlîcher pfliht (mit lasterhafter Bereitwilligkeit). (in: Bumke, Höfische Kultur 1, S.208)

 

Zunächst allerdings bleibt die Dame allerdings noch vom Halsansatz bis zum Fuß bekleidet, bedeckt. Die eigentliche Entblößung wird eine Sache des Spätmittelalters und der Neuzeit. Wenn Riwalîn im Prozess des sich Verliebens in Blanscheflur an sie denkt, fällt ihm folgendes ein:

 

. do er dô sîn âventiure / von sîner Blanschefliure / von ende her betrahtete / und allez sunder ahtete: / ir hâr, ir stirne, ir tinne, / ir wange, ir munt, ir kinne, / den vröuderîchen ôstertac, / der lachende in ir ougen lac. (Zeilen 921ff)

 

Was er also unmittelbar sieht, ist ihr Gesicht. Was auf dem Markt weiblicher Machtspiele dann als erstes entblößt wird, ist ein immer größerer Halsausschnitt, das Décolleté.

 

Mit dieser Kleidung wird die Dame im Unterschied zur Frau "aus dem Volk" unbeweglicher. Da das Kleid über den Boden schleppt, ist es nur noch für Innenräume und zu Pferde (im Damensitz) brauchbar. Zudem wird es gelegentlich mit immer längeren Schleppen besetzt, die beim Gehen gerafft oder von Mägden hinter der Dame hergetragen werden müssen. Kriemhild trägt im Nibelungenlied bei feierlichem Anlass eine solche Schleppe, die von zweien getragen wird.

 

Ähnlich funktionslos und dekorativ sind die immer längeren angenähten Endstücke der Ärmel. Die höfische Dame dekoriert sich zum Luxusgegenstand, der seine Zeit mit textilem Arbeiten verbringt und tatsächlich hauptsächlich zur Fortpflanzung in dynastischer Absicht dient.

 

Kostbare und farbenprächtige Stoffe gehören dazu, ebenso wie bei den Herren, die jetzt ebenso den Moden des Kleiderluxus verfallen wie die Damen. Die Abbildung aus dem 'Hortus deliciarum' zeigt den Antichristen als König und daneben seinen Gehilfen in modischem Hemd, Beinkleidern und der Tendenz zum Vorzeigen von immer mehr (Ober)Schenkeln nach dem Stand von etwa 1180.

 Hortus Deliciarum - Antichrist.jpg

 

 

Ausgehend von im Kern derselben frühmittelalterlichen Bekleidung wie die Frauen verengt sich das Hemd jetzt auch bei den Männern am Oberkörper und den Armen. und wird nach unten weiter oder aber aufgeschlitzt. So wie die Damen nun Taille und Brüste betonen, so die Herren die Beine. Diese sind entweder nackt oder von eng anliegenden Beinkleidern, den (beiden) Hosen bedeckt. Um Hintern und Genitalien trug der Mann nun, da sein Rock immer kürzer wurde oder vorne hochgeschlitzt, eine eng anliegende Art Unterhose, die bruoch im Mittelhochdeutschen, welche den Punkt benennen, wo aus dem Leib die beiden Schenkel aufbrechen. Die wurde immer häufiger an die Hosen angeknüpft (zum Beispiel durch Hosenbänder), woraus die englischen breeches am Ende zu trousers (mit keltischer Wurzel) werden und die neuzeitlichen deutschen "Hosen" im 16. Jahrhundert entstehe

 

Im Kern zeigt der Herr damit mehr von seiner sexuellen Attraktivität (?) als die Dame, und je höher oben der männliche "Rock" aufhörte, desto näher kam man der spätmittelalterlichen Situation, wo der Mann seinen "Bruch" darbot, und damit das, was sich zeitgleich in der immer mächtiger werdenden Wölbung der Ritterrüstung über dem Penis manifestierte. Zudem entwickelte die Gotik mehr noch bei den Männern als bei den Frauen die kunstvolle Schlitzung am Gewand, bei den Herren besonders an den Beinkleidern, die nun entweder die nackte Haut oder aber eine feine Leinenunterlegung darboten. Was bei den Damen der Leib und die Brust, werden bei den Herren recht intensiv die Beine. Beim Reiterspiel, dem Buhurt der Ritter auf Tintajoêl in Gottfrieds 'Tristan' schaut die Damenwelt zu und spricht über Riwalîns Darbietung:

 

der ist ein saeliger man: / wie saeleclîche stêt im an / allez daz, daz er begât! / wie gâr sîn lîp ze wunsche stât! / wie gânt im sô gelîche in ein / diu sîniu keiserlîchen bein! (Zeile 705ff)

 

Und als Jung-Tristan zum ersten Mal auf Hof von König Marke erscheint, heißt es nach Beschreibung seiner übrigen Schönheit: sîne vüeze und sîniu bein, / dar an sîne schoene almeistic schein, / diu stuonden sô ze prîse wol, / als man'z an manne prisen sol. (Zeilen 3341ff). Dieser Blick findet statt, wiewohl sein Gewand nâch sînem lîbe gesniten ist und heute der Leib also die Aufmerksamkeit (neben dem Gesicht) auf sich ziehen würde.

 

In Frankreich kam schon im 11. Jahrhundert die Mode auf, sich die Barthaare abzurasieren, was bislang nur dem Klerus (wie die Tonsur) zustand. Die Haarpracht wurde länger und mit der Brennschere wurden künstliche Locken hergestellt. Am Ende kommen noch die höfischen Schnabelschuhe dazu, und der Modegeck ist komplett (Geck war das mittelalterliche Wort für den Narren).

 

Also: Das Reformchristentum in Kloster und Kirche, Minnesang und Heldenepik, höfische Pracht und Geselligkeit, Erotisierung der Bekleidung, zunehmende Bedeutung des Geldes (Dreifelderwirtschaft, neuer Pflug, Entstehung der Dörfer und Gemeindebildung in den Städten, Aufstieg des Fernhandels etc) finden alle in etwa gleichzeitig statt.

 

Der Kern all unserer Betrachtungen ist der beseelte, d.h. lebendige Körper der Menschen, und in der Bekleidung macht sich nun ein Trend zur vorgetragenen Schamlosigkeit breit, der als Erotisierung allerdings mit der Scham kalkuliert. Ohne die vorherige Verhüllung wären die neuen Enthüllungen keine Erotisierung, sondern schiere Nacktheit. Wenn Kulturen in südlichen Breiten vielleicht nur den Genitalbereich und den Analbereich bedeckten, war dies schließlich keine Schamlosigkeit, keine Erotisierung, sondern vermutlich besonders disziplinierte Schamhaftigkeit, wie Duerr in seinen fünf Bänden insgesamt überzeugend dargelegt hat.

 

Geschlechtlichkeit in Ritterromanen um 1200

 

Zu den  Aussagen, die man allgemein zum sogenannten Mittelalter machen kann, gehört die, dass noch die Mischung aus Prüderie und Pornographisierung der Sexualität fehlt, die die Neuzeit dann charakterisiert. Das belegen nicht nur die romanischen Kleinplastiken und erhaltene Malerei, sondern auch die "literarischen" Texte.

 

Der eheliche Koitus ist bekanntlich bis ins zwanzigste Jahrhundert eine Art Pflicht, und das betrifft in der historischen Wirklichkeit allemal beide Eheleute: Er hat der (reichlichen) Nachkommenschaft zu dienen und kirchlicherseits der Kanalisierung des Geschlechtstriebes. Und darum schläft Isolde alternierend und in wohl kurzen Abständen mit Marke und Tristan - abwechselnd pflichtschuldigst und dem Begehren folgend. Bei dem, was da geschieht, senkt Wolfram schamhaft den Vorhang. Gottfried hebt diesen Vorhang nur insofern geringfügig mehr, als er mit Isolde und Brangäne das Thema Lust ohne Ehre andeutet, die möglich ist: in aller Heimlichkeit.

 

Das, was das Nibelungenlied als heimliche dinge bezeichnet, sind die intimer-sexuellen (10,664 und: sîner heimliche 10,678). Vor der Hochzeit Kriemhilds mit Etzel wollte Rüdiger den künec niht lazen Kriemhilde heinliche pflegen (22,1355). Diese "Dinge" bleiben im Text überwiegend außen vor. Wolfram beschreibt nicht, wie Gawan und Orgeluse minne steln, denn: zuht sî daz sloz ob minne site (P13,643), und Chrétien del sorplos (...) me doi bein teisir, er schweigt von dem, was dann kommt. E5208). Immerhin wird er etwas deutlicher bei der ersten asanblée von Erec und Enide, wenn er vom Begehren spricht, welches am ganzen Körper ausgelebt wird, und vom Küssen bis hin zur Entjungferung (2020ff).

 

Es ist wohl nicht Prüderie, welche intime sexuelle Details aus der Beschreibung ausspart, sondern eben der Erhalt von Intimität. Darüber hinaus unterstellen die Texte wohl, dass beim Weg in den Koitus und bei diesem selbst nichts stattfindet, was nicht bekannt ist, und dass die Vielfalt sexueller Praktiken mehr oder weniger auch abartiger Natur der hocherotisierten Antike wie der Neuzeit ohnehin außen vor bleiben.

 

Minnen kann manches bedeuten. Einmal das, was bald lieben bedeuten wird, nämlich die Liebe/Minne von jemand erringen, ihn verliebt machen. Auf der anderen Seite kann es aber auch den Geschlechtsakt selbst bezeichnen. In der Regel tritt Minnen und nicht Lieben als Beischlaf auf (als bilager: geligen nâhen bî, NL10,619, laege bî NL10,622 / 20,1148 usw.). Zum verwundete Gawan heißt es: ob vrîundin waere bî im gelegen, hätte er minne gepflegen, daz waere im senfte unde guot. (P13,628). Das Ersetzen des Beilagers durch den "Beischlaf" ist dann später Resultat einer mit zunehmender Prüderie durchsetzten Verbürgerlichung der Volkssprache Ende des Mittelalters.

 

Liebe und Minne stehen nebeneinander und fallen gelegentlich ineinander, wobei Minne eher einen sexuellen Aspekt enthält, den körperlicher Lust, während Liebe oft das Gefühl der Zuneigung betont. Deshalb wird die einflussreicher werdende bürgerliche Sprache im Verlauf des späten Mittelalters mit einem prüden Unterton Minne nach und nach zugunsten von Liebe aus dem Wortschatz verdrängen. Aber beide sind nicht klar getrennt, Minne kann auch Freundschaft - auch - zwischen Männern meinen (T20,13467), und mit der Burgunden Besuch wäre Etzel liebe geschehen (NL24,1446). Da ist ebenso die libiu tohter von Rüdiger (NL20,1163) und man „liebt“ es, die Damen anzusehen (10,588). Minne als Dienst kann sich, um es ganz zu verwirren, sogar frommen Zielen zuwenden (P9,456), wie in der Liebe zu Gott, der gotes minne (P4,186).

 

Der Kommentar des Andreas Capellanus

 

Der Text wird irgendwann gegen Ende des 12. Jahrhunderts vielleicht am Hofe des französischen Königs oder dem der Marie de Champagne von einem unbekannten, aber belesenen Kleriker geschrieben und oft mit dem Titel 'De amore' versehen. Auf den ersten Blick wirkt der dreiteilige Text in den ersten beiden Teilen wie eine  von Ovids 'Ars Amatoria', wobei am ausführlichsten zur Verführung von Frauen unterschiedlicher Stände durch Männer ebenfalls verschiedener Stände angeleitet wird und dabei definiert werden soll, was höfische Liebe, also solche "am Hof der Liebe" zu sein hat. Im bereits erheblich kürzeren zweiten Teil geht es um die Bewahrung solcher "Liebe"

und im kurios kurzen letzten Teil um deren Vermeidung im Sinne christlicher Leistungs-Moral.

 

Unterschieden wird zunächst zwischen amor, dem sexuellen Begehren (offenbar) vor allem des Mannes, und der affectio, der Zuneigung, die alleine zwischen Eheleuten und Eltern und Kindern möglich ist. Dabei wird sich bereits ungeniert über die Kirche lustig gemacht, denn der Autor stellt implizit fest, dass, da das sexuelle Begehren der Ehefrau als Lust bereits Sünde sei, nämlich Ehebruch, schon so der wirkliche (!) Ehebruch mit der verheirateten Frau praktisch gerechtfertigt wird. (I,6G)

 

Mit einer Ausnahme wird unter amor nichts anderes als der möglichst schnelle Weg des Mannes in den Koitus mit der Frau verstanden, dem die beiden Stufen Kuss und Umarmung vorausgehen. Dabei wird das männliche Begehren (concupiscere) des miles amoris durch die sichtbaren Reize der Frau ausgelöst und bedeutet als Jagd (venatio) Leiden bis hin zur consolatio, dem  Trost in der Triebabfuhr.

Die Ausnahme belegt, dass der Autor weniger eine "Liebeskunst" abliefern als sich über eine solche lustig machen möchte. Sie setzt einen reinen (purus) amor einem vermischten (mixtus) gegenüber. Letzterer umfasst alle fleischlichen Vergnügen bis hin in extremo Veneris opere, also bis zum Koitus. (I,6H)) Das ist ein Scherz, denn hier ist von nichts als sexuellem Vollzug unvermischt mit Zuneigung die Rede. Umgekehrt bedeutet reiner amor in mentis contemplatio und cordis affectus, also Zuneigung. Und hier geht der Witz noch weiter, denn diese Zuneigung bedeutet auch Küssen des Mundes, Umarmen und verecundum amantis nudae contactum, extremo praetermisso solatio, also bei richtig entblößtem Körperkontakt, ohne dass der natürlich folgende Trost der Ejakulation dabei gespendet wird.

 

Was von Robert d'Abrissels extremsten Frömmigkeitsübungen berichtet wird, der physischen Nähe zu Frauen bei Vermeidung sexueller Erregung, wird hier  abstruser Weise in einen Text über höfische Liebe eingereiht. Und noch abstruser wird die Behauptung, der "reine amor" sei vorzuziehen, denn magis placet. Die Frau, der in diesem idealen Gespräch solches erklärt bekommt, glaubt dem Mann genau das denn auch nicht und hält es (verständlicherweise) für absolut widernatürlich, wenn jemand ins Feuer gerät und nicht brennt: si quis in igne positus non uratur.

 

Das höfische Liebes-Präzepte karikiert werden sollen, macht auch schon der Anfäng deutlich (I,2), wo es heißt, die Hingabe der Geliebten werde dadurch erreicht, das man alles tut, ea quae in amoris tractatibus reperiuntur inserta, womit die "Liebeskunst" zur Gebrauchsanweisung für höfische Liebe wird, man vollzieht also einen Katalog von Vorschriften.

 

Laut unserem Autor ist amor (natürlich der wenig reinen Art) neben sexueller Geilheit (servitus Veneris) vor allem durch Eifersucht ausgezeichnet, was ihn von der Ehe unterscheidet, in der ohne Eifersucht eben auch kein amor möglich sein soll. Die Eifersucht ist damit verbunden, dass amor illizit ist, oft genug ehebrecherisch, immer aber heimlich. Was der Autor höchstens impliziert, ist, dass amor eben unverbindlich ist, eine Verliebtheit also eine andere jederzeit ablösen kann.

 

Lustig macht sich der Text auch mittels unentwegter Widersprüche. Da ist die "reine Liebe" an einer Stelle vorzuziehen, an einer anderen wird den Frauen, die ihre Liebhaber nicht gänzlich erhören, eine sadistisch ausgemalte (Liebes)Hölle als Strafe angedroht. (I,6E)

Da wird dem "gemeinen Mann" eine lateinische Rede an die zu erobernde Frau angedichtet, die mit rhetorischen Spielereien versehen ist, wobei beide tatsächlich weder des Lateinischen noch rhetorischer Floskeln mächtig sind. (I,6A)

Da heißt es, höchste Voraussetzung für amor sei probitas, also Rechtschaffenheit und guter Charakter, andererseits entzündet er sich an der sehr visuellen sexuellen Attraktivität der Schönen und hat einen gewissen Reichtum als Voraussetzung. (I,6) Schließlich werden probitas und weibliche Bereitschaft zu amor (also dem Koitus mit dem Liebhaber) dann auch noch gleichgesetzt. (I,6E) und die Frauen, die letztere grundsätzlich verweigern, als unselig, elendigst (miserrimae) bezeichnet. (I,6E)

Dem kirchlich fundierten misogynen Frauenbild des extrem kurzen dritten Buchteils über nunmehr fornicatio und crimen amoris steht im langen ersten Teil die diametrale Aussage entgegen, sie seien von Gott mit Vorrechten ausgestattet, da sie omnium causa et origo bonorum sind, also Ursache und Ursprung alles Guten, was zwar die Minnelyrik zumindest andeutungsweise so sagt, während aber die Kirche mit Eva das Böse in die Welt gekommen sieht. (I,6H)

 

Noch erheiternder ist der Widerspruch zwischen den Liebhabern, die Krieger sind, welche große/gute Taten vollbringen sollen und entsprechend großmäulig auftreten (nullus in orbe vivens recte mihi esset coaequandus amator), andererseits aber dienstbare Sklaven ihrer Herrinnen sein sollen. Diese servitus (Dienstbarkeit/Sklaverei) ist so allumfassend, dass sie absurd klingt, und sie wird dann am Ende auch ad absurdum geführt. Zunächst heißt es: Dominarum praeceptis in omnibus obediens semper studeas amoris aggregari militiae. Die militia des amor bedeutet also, der Herrin (domina) in allem zu gehorchen, sich also vollständig zu versklaven. Deutlicher kann man sich nicht lustig machen über die fin amors der Sangeskünstler der Zeit.

 

Dabei wird der Liebhaber in einen hochneurotischen Angstzustand versetzt, der dann so kommentiert wird: Quis ergo tam fatuus reperitur et amens qui conetur illud appetere, quod tam feroci servitute cogit hominem alienae se potestati subiicere et alterius in cunctis penitus arbitrio colligari? Wer also unterwirft sich so weit brutaler Sklaverei unter einen anderen Menschen und bindet sich so stark an seinen Willen? So jemand muss einigermaßen verrückt sein, formuliert der Autor damit implizit.

 

Schließlich konstruiert er dann den Fall eines hoffnungslos verliebten Mannes, den die Dame dann nur unter der Bedingung annimmt, dass er ihr in allem untertan sei. Glücklich unterwirft der Mann sich mea domina. Nun verpflichtet sie ihn noch, nirgendwo öffentlich ihr Lob zu singen

Bald dann sitzt der Mann mit anderen Rittern zusammen und hört, wie jemand schlecht über seine Herrin redet. Er widerspricht heftig. Als seine Dame das mitbekommt, wendet sie sich von ihm ab, denn damit habe er nicht ihren Anforderungen entsprochen. Der Fall wird vor die Fürstin Marie de Champagne (ihren cours d'amour) gebracht und diese etnscheidet gegen die Dame, denn ihr dienender Ritter habe nur ihren Befehlen gehorcht.

Abstruser lassen sich die "Liebesurteile" der "Liebeshöfe" der Zeit nicht karikieren, oder vielleicht doch: Der Autor stellt klug fest, dass ältere Männer den Koitus mit jüngeren Frauen vorziehen, Frauen jeden Alters den mit jüngeren Männern und: quod quare contingat, physicalis potius videtur inquisitio rei. (II,6,20) Den Grund erfährt man also durch eine körperliche Untersuchung.

 

Dass im kurzen Schlussteil 'De reprobatione amoris' (III) nun weithin das Gegenteil von dem propagiert, was im ersten und zweiten Teil viel ausführlicher gesagt wurde, gehört dann ebenfalls zum Spaß des Buches: Nur in der Ehe ist Leidenschaftlichkeit erlaubt, aber: die Ehe ist dazu da, sie zu überwinden. Schließlich: Amor macht den Krieger schwach und krank und verkürzt sein Leben. Zudem sind Frauen habgierig,verlogen, klatschhaft, verfressen und versoffen, wie man überall (!) lesen kann, und darum meide das (sexuelle) Laster, damit du nicht dabei mit dem Tod überrscht und so erwischt wirst.

 

 

 

Natur und lyrisches Ich

 

Zu dieser Abbildung in der Manesse-Handschrift singt Heinrich von Veldeke in seinem Lied, dass die Tage gerade wieder heller und länger werden, die Amseln ihren lieblichen Gesang wieder vernehmen lassen, und jedermann Gott danken könne, der rechte Minne hat und dass er Liebe erleben darf: dat mich lîves ît geschît.

 

Im Minnesang wird Liebe zu einer neuen, anderen Passion, passio, als es die des Jesus war. Die vom Sänger nicht verantwortete Buchillustration weist auf die Lebenslust verkörpernden Blumen und Vögel. Das entstehende lyrische Ich entdeckt nicht nur die sich dehnende Lust am und im (Liebes)Leiden, sondern verknüpft das auch mit einer neuen Entdeckung von „Natur“, einer neuen Darstellung von ihr. Diese Natur wird teils idealisiert, teils idyllisiert, aber sie ist immer ein Garten des Frohsinns, ein Paradies-Gärtlein. Die belebende Kraft des Begehrens und der Frühling des Spießens der Blumen und des Auflebens der Vögel werden ausdrücklich als verwandt entdeckt.

 

Zunächst dazu die Vorläufer, hier in einem Lied von Bernart:

Wenn das Gras ergrünt und frische Blätter sprießen / Und Blumen blühen im ebenen Land, / Wenn Nachtigallen so süß singen, / und der Gesang den grünen Wald erfüllt, / dann freue ich mich am Gesang und den Blumen, / Freude in mir und über meine Dame ist noch mehr; / alles um mich herum verwandelt sich in Freude, / aber am stärksten steigt durch sie mein Entzücken in die Höhe.

joi ai de lui, e joi ai de la flor / e joi de me e de midons major; / daus totas partz sui de joi claus e sens, / mas sel es jois que totz autres jois vens.

 

Das ist die zweite Seite der Liebeslyrik, hier in Einzel-Zeilen von Bertrant: „ So voll ist mein Herz von Freude“ (tant ai mo cor ple de joya) - „Wenn ich die Blumen sehe, die grünen Kräuter und die Blätter“ (can vei la flor, l'erba vert e la folha) - „Welch süßer Gesang ist doch der der Nachtigall“ (pel doutz chan que.l rosinnhols fai). Man beachte die Unbefangenheit des (in die Pose gestellten) Gefühls im Vergleich zur inzwischen in den Metropolen des Kapitalismus Angst vor der Unmittelbarkeit solcher Gefühle, die längst Schwäche bedeuten, bedrohlich gewordene Verletzlichkeit.

 

Was der Sänger da sieht und hört, ist nicht für jedermann und zu jeder Zeit selbstverständlich. Im frühen Mittelalter sind die Wörter „Wald“ und „Wüste“ synonym, Wald ist unkultiviertes Land, wo Geister und Dämonen hausen, gefährliche wilde Tiere und Räuber. Bestenfalls taugt er als Holzlieferant und zur Schweine-Fütterung. Vögel behindern die Saat und die Ernte und werden verspeist. Ein Sinn für die „Schönheit“ von Blumen entwickelt sich ebenfalls erst langsam (soweit wir das überhaupt heute wissen können).

 

Bei Walter von der Vogelweise klingt das so: Ach, wer wollte da mürrisch sein. / Wo die Vögel so herrlich / ihre schönsten Melodien singen, / da wollen wir es so machen wie sie. Bei Wolfram von Eschenbach, mehr wegen seines 'Parzival' und 'Willehalm' bekannt, klingt es ähnlich: Der leuchtenden Blumen Glänzen, / wird überall durch den Tau erhöht: / die liebsten Vögel mit den hellsten Stimmen / wiegen ihre Kinder durch die Maienzeit mit ihrem Gesang. (al des meigen zît si wegent mit gesange ir kint.)

 

Da verbinden sich Lebenslust und die Wahrnehmung von Lebendigkeit in der Natur, das gehobene Gespür für sich selbst in der neuen Liebe mit der Wahrnehmung des nun als schön aufgefassten Fortpflanzungstriebes bei Vögeln (Nestbau, Singen) und Pflanzen, deren Blüten ihre Fortpflanzungsorgane sind. Solche Lieder werden gerne in den Mai, den Frühling versetzt.

 

Ästhetisierte Natur hat als Voraussetzung, dass sie weniger bedrohlich als Wildnis aufgefasst wird, sondern sich mit der Verwandlung in Kulturlandschaft stärker als lieblicher Garten phantasieren lässt.

Analog zur Kultivierung des Geschlechtstriebes, die als Erotisierung auch seine Ästhetisierung ist, beginnt eine zunächst noch auf wenige stehende Wendungen in der Lyrik beschränkte Ästhetisierung der Natur. Sie ist nun nicht nur da, um als Nahrung einverleibt zu werden, sondern gewinnt eine physischen Zwecken entzogene eigene Qualität. In dem Besingen der Liebe und zugleich der lebendigen Natur werden differenzierte Gefühle entwickelt, „ge- bzw. erfunden“ und an Texten und Bildern ausprobiert.

 

Sicher eine der schönsten derartigen deutschen Textpassagen beschreibt in Gottfrieds 'Tristan' die Situation zu Beginn des Festes in Tintajêl (Tintagel) im Reich des Königs Marke, auf jenem höfischen Fest, wo Riwalin und Blanscheflur aufeinander treffen und in Liebe entbrennen werden:

 

man vant dâ, swaz man wolte,

daz der meie bringen solte:

den schate bî der sunnen,

die linden bî dem brunnen,

die senften, linden winde,

die Markes ingesinde

sîn wesen engegene macheten.

die liehten bluomen lacheten

ûz dem betouwetem grase.

des meien vriunt, der grüene wase (Wiese)

der haete ûz bluomen ane geleit (angelegt)

sô wunneclîchiu sumercleit,

daz sî den lieben gesten

in ir ougen widerglesten. ()

diu süeze boumbluot (Baumblüte) sach den man

sô rehte suoze lachende an,

daz sich daz herze und al der muot

wider an die lachende bluot

mit spilnden ougen machete

und ir allez widerlachete.

daz senfte vogelgedoene, (Getöne)

daz süeze, daz schoene,

daz ôren (Ohren) unde muote

vil dicke (sehr) kumet ze guote,

daz vulte (füllte) dâ berge unde tal.

diu saelege nahtegal,

daz liebe süeze vogelîn,

daz iemer süeze müeze sîn,

daz kallete (rief) ûz der blüete

mit solher übermüete,

daz dâ manc edele herze van

vröude unde hôhen muot gewan. (Zeilen 549ff)

 

Andere wie Macabru verleihen der Liebe als fin amor metaphysische Überhöhung, geben ihr die Funktion, Sinn zu stiften. Niemand aber macht mehr als Bernart de Ventadorn deutlich, dass begehrende Liebe einen verlebendigenden Funken ins Herz senden soll, der die Emotionen in Bewegung setzt und dann der Kultivierung von Gefühlen dient. Dazu dient dann die Verpflanzung dieses Vorgangs ins Reich einer Natur, die sich im Frühling zu neuem Leben aufmacht:

 

„Die Liebe, welche in sein Herz hineinstrahlt" (qu'ins el cor me raya), schafft für ihn folgendes:

 

Die Wiesen werden für mich grün und scharlachrot (vermelh) / so wie die süße Zeit des Mai; / so hält mich die feine Liebe (fin'amors) fröhlich und freudvoll: / So dass der Schnee für mich zu weißen und scharlachroten Blüten wird / und der Winter wird zur Zeit des Mai, / und all das, weil die gnadenvollste und freudvollste Dame / hat versprochen, mir ihre Liebe zu schenken...

(Original in Topsfield, Troubadours, S. 121)

 

Und dazu noch einmal der weiter oben zitierte Vers im Original:

Ben es totz om d'avol vida / c'ab joi non a son estatge / e qui vas amor no guida / so cor e so dezidir; / car tot can es s'abandona / vas joi e refrim's sona: / prat e deves e verger, / landas, e pla e boschatge.

 

Das hochitalienische abandonare heißt sowohl verlassen wie loslassen. Jeder vergisst also seine übrige Existenz unter dem Einfluss der Liebe und erreicht jene Lebendigkeit, die in der lebendigen Natur widerklingt. Das ist spannender Text, denn die sublime, feine Liebe ist ein höfisches Produkt, dass aber, um gefühlvoll-poetisch zu werden, in einen Garten Eden transferiert werden muss, von dem der Sänger wissen kann, dass es sich für den Hof dabei um eine verschiebbare Kulisse handelt.

 

Und noch einmal eine Variante:

Mein Herz ist so erfüllt von Freude, / dass mir die Natur auf dem Kopf steht (tot me desnatura). / Als weiße Blume, scharlachrote und gelbe / erscheint mir die Kälte, / und aus dem Wind und dem Regen, erwächst mir die glückliche Begegnung (aventura), / durch die mein Ansehen (pretz) steigt / und durch die meine Lieder schöner werden. / Soviel Liebe habe ich im Herzen, / soviel Freude und Süße (doussor), / dass mir das Eis wie eine Blume erscheint und der Schnee als grüne Blätter. (Original in Topsfield, Troubadours, S,128)

 

Das Schlüsselwort hier ist "er-scheinen" (semblar) - gels me sembla flor ... Kultur ist ein Transformationsprozess von Natur in deren (Um/Aus)Deutung. Das lyrische Ich ist dabei an Natur nicht anders interessiert als im poetischen Prozess des Pflückens von Metaphern. Dass es frühe vorwissenschaftliche Versuche gibt, sich für die Natur als solche selbst zu interessieren, läuft gleichzeitig, parallel, wird aber wohl zunächst an den Höfen nicht wahrgenommen. Davon später mehr.

 

Als die Welt so in der lyrischen Episode kurz einmal in einen Garten verzaubert wird, beginnt die höfische Welt auch selbst mit dem Anlegen von Ziergärten. Das christlich gedeutete Judentum bot dazu seine biblische Paradiesgeschichte zur Überhöhung an.

Das die Ästhetisierung nicht nur topisch ist, also standardisiertes Gerede, erweist sich an der Kultivierung von Zierpflanzen. In der Karolingerzeit züchten Mönche die Gartenrose aus ihrer Wildform.

Nur wenige Schmuckformen wie die Primeln entstehen dabei aus heimischen Arten. Man importiert im 9. Jahrhundert Schwertlilien aus demöstlichen Mittelmeerraum in Klostergärten, "die aus Südeuropa stammende Pfingstrose wird im 12. Jahrhundert in unseren Breiten heimisch, aus Eurasien gelangten die Akelei im 12. und die Margerite im 15. Jahrhundert nach Europa. (SchubertAlltag, S.237)

 

Ganz anderes besteht aber daneben weiter, denn neben Troubadouren und Minnesang überlebt eine Tradition in lateinischer Sprache, deren Ursprünge einer anderen intellektuellen Tradition entsprungen sind, der durch das frühe Mittelalter hindurch gegangenen Antike. Eher von Mönchen und Klerikern tradiert, erhält sich das intellektuelle, wenig im modernen Sinn "lyrische" Spiel mit Bildern der Natur. Es wird die zweite Traditionslinie hin zu Dante, Petrarca und hinein in das, was man dann irgendwann als "Renaissance" bezeichnet hat.

 

Werner Robl führt in seinem E-Book zu Hilarius von Orléans folgendes Carmen VIII dieses Autors und Kanonikers unter dem Titel 'Caliastrum Fama predixerat' an:

 

Nil ualere, sed fallax fuerat, / Que peruerse dissimulauerat / Bona, quibus locus exuberat. / Regum aulas atque palatia / Clericorum equant hospitia: / Sunt nimirum loca regalia, / Non eremi uaste mapalia. / Vinetumque multum et fertile / Vinum confert firmum et nobile, / Nec Falernum est comparabile / Nec gustauit Silenus simile. / Fontis quoque susurrans riuulus, / Per quem alte uidetur calculus, / Pegaseo nimirum emulus, / Voluptatis accedit cumulus. / Fons sincerus, fons indeficiens, / Fons per solem siccari nesciens, / Ad quem tendat doctrinam sitiens, / Inde bibat et erit sapiens. / Fuit olim fons ille Musicus, / Quem sacrauit chorus poeticus, / Nunc ad istum festinet clericus, / Potet inde: sic fiet logicus. / Ad hoc gentis accedit largitas, / Cuius nobis summa benignitas / Res quas poscit nostra necessitas / Gratis confert et quasi debitas.

 

Chalautre sei, so hast du erwogen, / wertloser Ort, doch dies ist gelogen! / Um ein Haar hättest du mich betrogen: / Gutes kommt hier entgegengeflogen! / Des Königs Hof, der Geistlichkeit Palast / Bieten nicht gleichen Raum für den Gast! /Mit Vorliebe hält der König hier Rast. / Kein Eremit stöhnt unter seiner Last. / Erblickst du die Weinberge, die reichen? / Süffiger Wein sucht hier seinesgleichen: / Die Glut wird kein Falerner erreichen! / Silen würde hier vor Neid erbleichen! / Munter plätschert das Wasser der Quelle / Es blinkt am Grund das Steinchen so helle. / Der Dichtkunst begegnet auf der Stelle / als Konkurrent die Freude, die helle. / Nichts, reiner Quell, lässt dich je versiegen. / Sonnenglut bringt dich nicht zum Erliegen. / Wissensdurst hat sich zu dir verstiegen, / Dein Trank wird jede Torheit besiegen! / Die Quelle war einst jener Musiker, / der geweiht vom Reigen der Lyriker. / Nun eilt zu ihr hurtig der Kleriker / Und labt sich daran: Man wird Logiker! / Hinzukommt der Leute Großherzigkeit:´/ Welch’ feiner Stil, Gipfel der Gütigkeit! / Man achtet auf meine Bedürftigkeit. / Gibt umsonst, vergibt alle Schuldigkeit! (in: RoblHilarius)

 

„Alle in dem Gedicht genannten Orteigenschaften passen am besten zur in 12 km Entfernung südöstlich von Provins gelegenen Ortschaft Chalautre-la-Grande", fügt Robl hinzu.

Standardbilder einer idealen Landschaft dienen hier als Ort für die Entfaltung von Ironie bis hin zur Ironisierung der eigenen (Dichter-)Existenz. Natur ist bloßer Vorwand für die Darbietung von dem, was Franzosen der Neuzeit viel später als Esprit bezeichnen werden, Darstellung geistreichen Gebildetsein. Die Jahrhunderte später als Pose gefeierte Einsamkeit eines Petrarca fängt spritziger an, bevor der Alleszerstörer Kapitalismus die Distanz zur Antike als "Renaissance" auffassen wird.  

 

Die arbeitenden Menschen

 

Während sich im Umfeld der Herrenmenschen eine immer freier schwebende erotische Vorstellungswelt entwickelt, leben die ihnen Untertanen in einer wenig dokumentierten Welt, in der sie mit ihrer Arbeit abgewertet sind. Mit der christlichen Aufwertung der Ehe seit dem 11. Jahrhundert und der Eheschließung erst an der Kirchenpforte und dann später noch vor dem Altar wird ihre Ehe wie schon die des Adels zuvor nach und nach aus einer persönlich-privaten Sphäre in eine öffentlich-offizielle gehoben.

Dabei bleibt sie rechtlich bis tief in das hohe Mittelalter in die grundherrliche familia eingebunden: Regulär hat der Hörige und zunächst auch der Zensuale innerhalb dieser zu heiraten, was mit einer Heiratsabgabe verbunden ist. Ausnahmen müssen besonders genehmigt und extra bezahlt werden.

 

 

Noch in Wernher des Gärtners 'Meier Helmbracht' von um 1270 gibt es aber eine nach germanischen Rechtsvorstellungen vollzogene Heirat mit allerdings satirischen Überspitzungen.

Nach dem Aushandeln der Gabe des Bräutigams geht es so weiter:

Dô Lemberslint hêt vernomen, daz im Gotelint was komen, balde er gegen ir gienc. hœret wie er si enphienc: «willekomen, frou Gotelint!» «got lône iu, her Lemberslint!» friuntlîche blicke under in beiden dicke gegen einander giengen entwer: er sach dar, si sach her. Lemberslint schôz sînen bolz mit gefüegen worten stolz gegen Gotelinde;

daz galt si Lemberslinde ûz wîplîchem munde, sô si beste kunde. Nû sul wir Gotelinde geben Lemberslinde und sulen Lemberslinde geben Gotelinde. ûf stuont ein alter grîse, der was der worte wîse; der kunde sô getâniu dinc.

er staltes beide in einen rinc. er sprach ze Lemberslinde: «welt ir Gotelinde êlîchen nemen, sô sprechet jâ!» «gerne» sprach der knabe sâ. er fraget in aber ander stunt: «gerne» sprach des knaben munt. zem dritten mâle er dô sprach: «nemt ir si gerne?» der knabe jach: «sô mir sêle unde lîp ich nîme gerne ditze wîp»

dô sprach er ze Gotelinde: «welt ir Lemberslinde gerne nemen zeinem man?» «jâ, herre, ob mir sîn got gan.» nemt ir in gerne?» sprach aber er. «gerne, herre, gebt mirn her!» zem dritten mâle: «welt irn?» «gerne, herre, nû gebt mirn!» dô gap er Gotelinde ze wîbe Lemberslinde und gap Lemberslinde ze manne Gotelinde.

si sungen alle an der stat, ûf den fuoz er ir trat.

Nû ist bereit daz ezzen. wir sulen niht vergezzen, wir schaffen ambetliute dem briutegomen und der briute. Slintezgeu was marschalc, der fulte den rossen wol ir balc; sô was schenke Slickenwider. Hellesac der sazte nider die fremden und die kunden: ze truhsæzen ward er funden. der nie wart gewære, Rütelschrîn was kamerære. kuchenmeister was Küefrâz, der gap swaz man von kuchen âz, swie manz briet oder sôt. Müschenkelch der gap daz brôt

diu hôchzit was niht arm.

 

Je weniger Eigentum der landwirtschaftlich oder handwerklich arbeitende Mensch hat, desto eher können Zuneigung und Verliebtheit bei der Eheschließung eine Rolle spielen. Diese ist für die arbeitende Bevölkerung spätestens mit ihrer Christianisierung unauflöslich.

Im Kern handelt es sich einerseits um eine Besitz- und Arbeitsgemeinschaft, wobei die Verfügung über den Besitz rechtlich weit überwiegend beim Manne liegt und die Arbeit geteilt ist. Zum anderen dient die Ehe zum Aufbau einer Familie, also der Erzeugung von Nachkommen, was auch die Formen von Arbeitsteilung teilweise erklärt. Zudem ist sie der einzige christlich legitimierte Ort des Auslebens des Geschlechtstriebes.

 

In die Familien der arbeitenden Bevölkerung des 11./12. Jahrhunderts können wir kaum hineinschauen. Anzunehmen ist, dass mehr eheliche Treue bei den Frauen erzwungen wird als bei den Männern, da diese verständlicherweise darauf bestehen, nur ihre eigenen Kinder großzuziehen, zu ernähren und zu beerben. Inwieweit hier bei der Eheschließung Virginität der Frauen eine Rolle spielt, bleibt unklar, immerhin heiraten auch Witwen wieder, und sei es auch nur aus Gründen der Versorgung und des Schutzes.

Hörige Mädchen, Mägde, dürften nicht nur immer wieder Opfer kurzweiliger sexueller Gelüste von adeligen Herren und Ministerialen geworden sein, wobei zumindest manchmal diese sich um die Versorgung der daraus erwachsenden Kinder kümmern und gelegentlich deren Tradierung in den freieren Zensualenstand erkaufen. Aus solchen Tradierungsurkunden geht auch hervor, dass "bürgerliche" Mittelschicht in den Städten Konkubinen und Kinder von ihnen haben, oft wohl mit Wissen der Ehefrau. Dasselbe gilt für servi (Knechte). Üblich ist darüber hinaus das oft eheähnliche Konkubinat von Priestern mit Mägden.

 

Das  Leben der noch reisenden Kaufleute nördlich der Alpen lässt sich nur in geringen Streiflichtern erahnen. Als 1199 ein Friede zwischen dem Fürsten von Nowgorod und den deutschen und gotländischen Kaufleuten dort erneuert wird, sind dort in auffälliger Fülle "Regelungen für unterschiedliche Formen sexueller Gewalt" enthalten, "von der gewaltsamen Annäherung (>wird der Frau eines anderen oder einem Mädchen die Bedeckung vom Haupt gerissen, sodass sie barhäuptig dasteht...<) bis hin zur Vergewaltigung." (Kümper, S.125)

 

Wie es um die voreheliche Virginität der Mädchen auf dem Lande bestellt ist, lässt sich kaum noch nachvollziehen. Während Neidhart von Reuental die Ausgelassenheit munterer Tänze und die Eroberung von Bauernmädchen feiert, und Walter von der Vogelweide den Beischlaf mit ihnen in freier Natur, ist doch zu bedenken, dass zwar vielleicht nicht jedes Mädchen darauf aus war, seinen Hymen zu verteidigen, aber doch seine "Ehre", die mit dem außerehelich erworbenen Kind dahinsank. Und die Möglichkeiten empfängnisverhütender Maßnahmen sind damals sehr unsicher. Immerhin kann man annehmen, dass diese Mägde/Mädchen nicht in bürgerlichen Keuschheitsvorstellungen des 18./19. Jahrhunderts befangen sind.

 

Was den Mädchen nicht gegeben war, nämlich der Zugang zu Prostituierten, steht jungen Männern, solange sie nicht verheiratet sind, durch das ganze Mittelalter offen, auch wenn es immer stärker reguliert wird.

ff

 

***Amüsement unterhalb der höfischen Sphäre***

 

Im 11./12. Jahrhundert trennt sich gehobenere Kunstfertigkeit in der entstehenden höfischen Welt an einzelnen Punkten von dem Amüsiergewerbe für das untergebene Volk. Dazu gehören eine teilweise stärker erotisierte Lyrik in der Volkssprache wie eine Helden verherrlichende erzählende Kunst und auch eine kunstfertigere Musik. 

Ab Vers 3505 beschreibt Gottfried von Straßburg in seinem 'Tristan', was höfische Kunst ausmacht, und zwar besonders an Hand des Harfenspiels. Als Spielmann Tantris verkleidet, behauptet er später vor den Dublinern: >diz sage ich iu<, sprach Tristan, / >ich was ein höfscher spilman / und kunde genuoge / höfscheit und vuoge (...) (Zeilen 7559)

In den Reiseaufzeichnungen des Passauer Bischofs Wolfger von Erlau tauchen nicht nur Honorar für Walter von der Vogelweide auf, sondern auch Kosten für weibliche Spielleute, eine Geigenspielerin und eine Sängerin zum Beispiel.

 

 

Die große Zeit der Troubadours, Trouvères und Minnesänger sowie der Ritterepen geht im Verlauf des 13. Jahrhunderts zu Ende mit dem Aufstieg des Kapitalismus, der Professionalisierung der Höfe und dem Niedergang des Rittertums. Das ist dann auch die Zeit zurück zu blicken und die Epigonen dieses höfischen Amüsiergewerbes nun endlich einmal abzugrenzen von dem "niederen Teil" der Unterhaltungskünstler.

 

Einer der letzten okzitanischen Troubadoure, Guiraut Riquier, der unter dem Vizegrafen von Narbonne und unter dem kastilischen König Alfons ("dem Weisen") dient, richtet 1275 in fiktiver Weise einen Text an letzteren und verfasst dann auch selbst die Antwort, sich und sein Gewerbe vom niederen Amüsement abzugrenzen. Darin heißt es unter anderem:

Wir raten und erklären daher von Rechts wegen, dass alle diejenigen, mögen sie nun Kenntnisse haben oder keine, die eine niedere Lebensart führen, und in keiner guten Gesellschaft erscheinen dürfen, so wie diejenigen, die Affen, Böcke und Hunde tanzen lassen, den Gesang der Vögel nachmachen, Instrumente spielen, oder für geringe Gaben vor dem Pöbel singen, dass alle diese unter dem Namen Jongleurs nicht begriffen werden sollen; ebensowenig diejenigen, die den Höfen nachgehend ohne jede Scham jede Erdniedrigung sich gefallen lassen und gefällige und edle Beschäftigungen verschmähen. Man nenne sie Bouffons, wie dies in der Lombardei der Fall ist.

Diejenigen, die sich mit Höflichkeit und angenehmen Künsten unter den Edlen zu benehmen wissen, indem sie Instrumente spielen, Verse und Canzonen anderer vortragen, und durch dergleichen einnehmende Fertigkeiten unterhalten, dürfen allein den Namen Jongleurs führen. Sie müssen an den Höfen erscheinen und belohnt werden, da sie Lust und Zeitvertreib mitbringen.

Diejenigen, welche die Geschicklichkeit besitzen, Verse und Melodien zu erfinden, von diesen zeigt die Vernunft, wie man sie nennen muss. Denn wer Tanzlieder, Coblas und Balladen, Albas und Sirventes meisterhaft zu dichten versteht, dem gebührt der Name Troubadours und von Rechts wegen größere Ehre als dem Jongleur., der durch die Werke des ersteren besteht. (in: Hartung, S.11)

 

Weit entfernt von einem romantischen Kunstbegriff entsteht hier doch eine Trennung in höfisches Unterhaltungsgewerbe der Meisterdichter und das für das "einfache Volk", welches letzteres nicht näher definiert wird.

 

 

Im occitanisch-höfischen Liebesroman 'Flamenca' der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, der Geschichte vom eifersüchtigen Ehemann und dem jugendlich-ritterlichen Verehrer der Titelfigur, taucht bei Hofe zu Bourbon anlässlich der Hochzeit allerdings noch die ganze Palette der Spielleute auf: Apres si levon li juglar ... Da hättet ihr Saiteninstrumente / verschiedener Beschaffenheit erklingen hören. / Wer eine neue Melodie auf der Drehleier kannte / oder ein Liebeslied, einen Descort oder ein Lai, / der andere das Lai von Tintagel; / ein dritter sang das Lai der vollkommenen Liebenden / und wieder einer das, welches Tristan komponierte./

Man spielte Harfe, Drehleier, Flöte, Pfeife, / der eine Geige, der andere Rotte; / der eine sagte den Text, der andere sang die Melodie, / wieder einer spielte Dudelsack, / ein anderer Hirtenflöte oder Schalmei / oder Mandoline, dazu stimmt ein anderer das Psalterion mit das Monocord ab; / einer führt Marionetten vor,  ein anderer Messerwerfen, / einer kriecht auf dem Boden, ein anderer macht Purzelbäume, / einer tanzt mit einem Glas in der Hand; / einer springt durch den Reif, einer in die Höhe, / Neguns a son mestier non fail. (keiner versagt in seinem Beruf) (Zeile 584ff. Original in: www: Google Books)

 

Danach stehen hier, in der idealisierenden Fiktion, kunstvolle Instrumentalmusik, Akrobatik und Posenreißen noch gleichwertig nebeneinander. Das erotische Moment kommt dabei selten zu kurz. In seiner Chronik beschreibt Matthäus Paris, was er um 1238 am Hof des Stauferkaiser Friedrich II. zu sehen bekam:

Zwei Sarazenenmädchen von schönem Wuchs traten auf dem glatten Fußboden auf vier runde Kugeln, und zwar setzte die eine die Füße auf zwei Kugeln und die andere auf die beiden anderen, und sie glitten hin und her und klatschten dabei in die Hände. Wohin sie wollten, bewegten sie sich auf den rollenden Kugeln, ließen ihre Arme spielen und drehten sich und sangen dabei auf verschiedene Weise und bewegten ihre Körper nach der Melodie, schlugen klingende Zimbeln und Hölzer mit den Händen zusammen, stellten Scherzhaftes zur Schau und führten sich auf sonderliche Weise auf. So gewährten sie denen, die zuschauten, ein wunderbares Schauspiel, und ebenso andere Spielleute. (Chronika,...)

 

Man sollte ohnehin nicht in Vorstellungen eines Bildungsbürgertums des 18./19. Jahrhunderts verfallen: Es geht so oder so um Unterhaltung, Zeitvertreib, Amüsement.

Eine Trennlinie zwischen höfischer Unterhaltung und solcher des unteradeligen Volkes ist auch insofern nicht ganz einfach zu ziehen, als Spielleute zwar überwiegend dem nichtadeligen städtischen Milieu entstammen, aber auch die kunstvolleren Dichter sowohl aus dem absinkenden niederen Adel entstammen können als auch aus Burgknechtsfamilien wie Bernart von Ventadorn oder aber sogar Findelkinder sein können wie Macabru.

 

In den aus Quellen des 12. bis 14. Jahrhunderts schöpfenden 'Leben der berühmtesten und ältesten Poeten der Provence' des Jehan de Nostredame von 1575 heißt es zu dem bedeutenden Troubadour Gaucelm Faidit:

Gaucelme Faydit war der Sohn eines Bürgers aus Avignon. Er war der beste Sänger der Welt und ein guter provenzalischer Dichter. Er war ein Künstler des Wortes und der von ihm komponierten Lieder (...) Er war ein Genussmensch, lebte leichtsinnig und verlor deshalb alles beim Würfelspiel. Anschließend wurde er zum Stückeschreiber. Er verkaufte die Komödien und Tragödien, die er schrieb (...) Er selbst organisierte die Auftritte und damit heimste er den ganzen Profit von den Zuschauern und Zuhörern dieser Aufführungen ein. Er war so verschwenderisch und zugleich ein Vielfraß beim Essen und Trinken, dass er alles, was er an seiner dichterischen Tätigkeit verdiente, wieder ausgab. Auf diese Weise wurde er über die Maßen dick. Lange Zeit lebte er dann sehr ärmlich in schlechten Umständen, weil ihm weder Einkünfte noch küsterlische Ehren zuteil wurden. Nur König Richard von England, in dessen Diensten er bis zu seinem Tode im Jahre 1189 stand, verlieh ihm schöne Geschenke.

Mehr als zwanzig Jahre lang zog Gaucelme zu Fuß durch die Welt. Er heiratete eine Dame namens Gauilhaumone de Soliers, die aus edlem provenzalischem Hause stammte. Er hatte sie mit schönen Worten aus einem Nonnenkloster zu Aix-en-Provence gelockt. Guilhaumone war sehr schön, gebildet und in allen guten Tugenden belehrt. Sie hat alle von Gaucelme geschaffenen Lieder wunderbar interpretiert.

Aber durch das ausschweifende Leben, das sie beide führten, wurde sie genauso dick wie Gaucelme und schließlich von einer Krankheit ereilt, worauf sie starb. Als Gaucelme nun alleine dastand, zog er sich zu Markgraf Bonifaz auf das Schloss Montferrat zurück. Der Marquis war ein freigebiger Gönner und als Liebhaber gebildeter Menschen bekannt. Gaucelme liebte und schätzte ihn in besonderem Maße.

Und als er in seinen Diensten stand, brachte er eine Komödie heraus mit dem Titel 'Die Ketzerei der Priester. Das Werk hatte er lange Zeit geheimgehalten ohne es jemand anderem zu zeigen als dem Markgrafen.  Dieser stand zu der Zeit auf Seiten des Grafen Raimond von Toulouse, dessen Ruhm er auf seinem Gebiet verkünden ließ. Der Marquis hielt Gaucelme lange Zeit bei sich und reichte ihm schöne und teure Geschenke: Gewänder, Harnische und Pferde; er belohnte seine schönen und erfindungsreichen Werke.  Schließlich zog Gaucelme zu Agoult, dem Herrn von Sault. Dieser hielt ihn lange Zeit in großen Ehren und belohnte ihn reichlich mit Gut und Ehre. In seinen Diensten schließlich verschied Gaucelme Faydit im Jahre 1220. (in: Hartung, S.100)

 

Neben der bürgerlichen Herkunft erfahren wir hier, dass erste Dichter anfangen, ihre Texte aufzuschreiben und zu verkaufen, dass sie auf Protektion durch den Hochadel angewiesen sind, dieser sie nicht mit Geld, sondern anderen Geschenken belohnt, und dass Frauen manchmal mit joglars mitziehen und selbst auftreten.

 

Zwei weitere Gruppen, aus denen vor allem Textproduzenten hervorgehen, sind die mehr oder weniger ausgebildeten Kleriker, die als Lotterpfaffen herumziehen, und die Studenten, die als Vaganten bzw. Goliarden zum fahrenden Volk gehören, und von denen die teils frechen Texte der Camina Burana bekannt sind.

 

So sehr Spielleute von der Kirche verurteilt werden, sie etablieren sich immer mehr und gründen sogar Bruderschaften. Eine ganz frühe ist jene confraternitas, die sich in der Kapelle von Leprosen bei Fécamp in der Normandie gründet. (Hartung, S. 261) Um 1100 entsteht in Arras eine weitere religiöse Bruderschaft der Spielleute, der Puy d'Arras, später die Confrérie de la Chandelle d'Arras, der dann auch Jean Blondel und Adam de la Halle angehören werden.

 

Im 'Livre des Métiers' des Étienne de Boileau wird um 1268 bestimmt:

Die Affen eines Händlers kosten 4 Deniers, wenn er sie zum Zwecke des Verkaufs mit sich führt. Wenn der Affe jedoch einem Mann gehört, der ihn zu seinem Vergnügen gekauft hat, ist er zollfrei. Und wenn der Affe einem Spielmann gehört, dann muss dieser vor dem Zöllner Kunststücke vorführen (jouer) lassen. Dafür soll er dann für alles, was er zu seinem persönlichen Gebrauch kauft, von jeglichen Abgaben befreit sein. Auf diese Weise sollen die Spielleute (jougleur) auch durch den Vortrag eines Liedes von Abgaben befreit sein. (in: Hartung, S.49)